Selbstverständlich werden im Krieg ständig Menschen vermisst, normalerweise jedoch keine neunjährigen Jungen. Außerdem hatte der Krieg noch gar nicht richtig begonnen. Wir schrieben den 20. September 1939, als Mary Critchley gegen drei Uhr nachmittags an meine Haustür hämmerte und meinen Nachmittagsschlaf unterbrach.
Es war Mittwoch, eigentlich hätte ich den Fünftklässlern an der Silverhill Grammar School Shakespeare beibringen müssen (die undankbarste Aufgabe, die man sich vorstellen kann), aber das Ministerium war nun endlich dazu gekommen, dort Luftschutzbunker zu errichten, weshalb die Schule in dieser Woche geschlossen war. Wir wussten nicht einmal, ob sie wieder öffnen würde, weil man plante, die Kinder zu evakuieren und aufs Land zu schicken. Nun wäre ich ganz sicher einer der Ersten, der zugegeben hätte, dass die größte Sehnsucht eines Lehrers eine Schule ohne Schüler ist, aber in der Zwischenzeit hatte die Regierung in ihrer unendlichen Weisheit uns unterbeschäftigten Lehrern so komplexe intellektuelle Aufgaben zugewiesen, wie Lebensmittelkarten für das Lebensmittelministerium vorzubereiten. (Die wussten immerhin, was uns bevorstand.)
Das war nur ein kurzer Blick auf das Chaos, das damals herrschte. Nicht das Chaos des Krieges, das ich aus den Schützengräben von Ypern im Jahr 1917 kannte, sondern das Chaos der Regierungsbürokratie, die das Land auf den Krieg vorzubereiten versuchte.
Immerhin hatte ich das Glück, Special Constable zu sein, ein ziemlich pompöser Titel für einen Teilzeit-Wachtmeister mit besonderen Aufgaben, und deshalb kam Mary Critchley zu mir gelaufen. Deshalb und weil ich ein wenig in dem Ruf stand, die Probleme der Menschen zu lösen.
»Mr Baschcombe! Mr Baschcombe!«, rief sie. »Unser Johnny! Er ischt verschwunden! Sie müschen mir helfen.«
Eigentlich heiße ich Bascombe, Frank Bascombe, aber Mary Critchley hatte einen leichten Sprachfehler, deshalb die falsche Aussprache. Da die eine Hälfte der Kinder dieser Stadt sich auf der Straße herumtrieb und die andere Hälfte auf überfüllten Bahnsteigen stand, in der Hand kleine Pappkartons mit Micky-Maus-Gas-masken, um mit Zügen in nahe gelegene Orte wie Graysthorpe, Kilsden oder Acksham gebracht zu werden, fand ich allerdings, dass Mrs Critchley ein wenig überreagierte. Und besonders willkommen war mir ihr Besuch auch nicht, da ich erst die Hälfte meines Nickerchens genossen hatte.
»Wahrscheinlich ist er mit Freunden unterwegs«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Nicht mein Johnny«, erwiderte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Nicht seit ... Sie wischen schon ...«
Ich wusste Bescheid. Mrs Critchleys Mann - Ted für seine Freunde - war schon lange vor dem Krieg bei der Marine gewesen. Leider hatte er das Pech gehabt, auf dem Flugzeugträger Courageous zu dienen, der just vor drei Tagen von einem deutschen U-Boot vor der Südwestküste Irlands versenkt worden war. Über fünfhundert Mann waren verschollen, darunter Ted Critchley. Natürlich hatte man keine Leiche gefunden, würde man auch wohl nie, weshalb er offiziell nicht als tot, sondern als »Missing in Action« galt, als vermisst.
Ich kannte auch den kleinen Johnny Critchley und hielt ihn für einen ernsthaften Burschen, etwas zu phantasievoll und gutgläubig vielleicht. (Sicher, in dem Alter sind noch viele so, später greift ihnen die Welt zwischen die Beine und lehrt sie Mores.) Johnny vertraute jedem, auch fremden Menschen.
»Seit wir die Nachricht über Teds Schiff bekommen haben, hat Johnny keine grosche Luscht gehabt, mit seinen Freunden zschu spielen«, erklärte Mary Critchley.
Das konnte ich gut verstehen. Der kleine Johnny war ein Einzelkind und hatte seinen Vater immer angebetet. Dennoch wusste ich nicht, was seine Mutter von mir wollte. »Haben Sie schon herumgefragt?«
»Wasch glauben Sie, wasch ich getan habe, seit er um zschwölf Uhr nicht zschu Hause war, wie verabredet? Ich habe alle in der Strasche gefragt. Zschuletzt wurde er gegen elf Uhr unten am Kanal gesehen. Von Maurisch Richards. Wasch soll ich tun, Mr Baschcombe? Zschuerst Ted, und jetscht ... und jetscht mein Johnny!« Sie brach in Tränen aus.
Nachdem ich sie beruhigt hatte, erklärte ich ihr mit einem Seufzer, dass ich Johnny suchen würde. Es bestand eh keine große Hoffnung mehr, dass ich die zweite Hälfte meines Nickerchens genießen würde.
Es war ein herrlicher Tag, warm und sonnig. Man konnte sich kaum vorstellen, dass Krieg herrschte. Die späte Nachmittagssonne ließ selbst unsere schmalen Straßen mit den engen Reihenhäusern aus Ziegelstein schön aussehen. Als die Schatten länger wurden, wurde das Licht zu flüssigem Gold. Zuerst suchte ich Johnny auf dem örtlichen Spielplatz, wo die Kinder Kricket und Fußball spielten und Hunde herumtollten. Einige Soldaten hoben Gräben für Luftschutzbunker aus. Allein der Anblick dieser langen dunklen Furchen im Boden ließ mich erschaudern. Hinter den Gräben zerrten Sperrballons an ihren Leinen wie ausgelassene Delphine, orange und rosa in der Sonne. Ich fragte die Soldaten, aber keiner hatte Johnny gesehen. Auch niemand von den anderen Jungs.
Danach ging ich zu den verlassenen Häusern in der Gallipoli Street. Der Eigentümer hatte sie zwei Jahre zuvor aufgegeben, sie waren inzwischen so gut wie unbewohnbar, nicht einmal Soldaten konnte man dort noch unterbringen. Außerdem waren sie gefährlich und hätten eigentlich abgerissen werden müssen, aber ich glaube, der alte Geizkragen hoffte auf einen Bombeneinschlag, damit er sich das Geld von der Versicherung oder als Entschädigung von der Regierung wiederholen konnte. Türen und Fenster waren mit Brettern vernagelt, aber Kinder sind einfallsreich, und selbst mir fiel es nicht schwer, einige lose Sperrholzbretter zu entfernen und in eines der Häuser zu gelangen. Ich ärgerte mich, meine Taschenlampe nicht mitgenommen zu haben, so musste ich mit dem wenigen Licht auskommen, das durch die Löcher hereinfiel. Bei jeder Bewegung wirbelten Staubwolken auf, was meiner armen Lunge nicht gerade guttat.
Ich dachte, Johnny wäre vielleicht gefallen oder in einem der Häuser eingeschlossen. Die Treppenstufen waren verrottet, schon mehr als ein Kind war dort gestürzt. Die Böden waren in keinem besseren Zustand. Einige Wochen zuvor hatte einer der Viertklässler von Silverhill mit mehr als fünfzehn Stichen genäht werden müssen, nachdem er mit dem Bein durch das morsche Holz gebrochen war und sich Splitter ins Fleisch gebohrt hatten.
Ich suchte, so gut es in dem schwachen Licht möglich war, rief Johnnys Namen, erhielt aber keine Antwort. Bevor ich ging, blieb ich still stehen und lauschte, ob ich vielleicht ein leises Wimmern oder Keuchen hörte.
Nichts.
Nach drei Stunden Suche in der Nachbarschaft kehrte ich unverrichteter Dinge zurück. Um Viertel vor sieben war Verdunkelungszeit, mir blieben also noch anderthalb Stunden. Ich wusste nicht, wo ich noch suchen sollte. Hier und dort traf ich ein paar Jungen, aber keiner hatte Johnny gesehen, seit seine Familie die Nachricht von Teds Tod erhalten hatte. Es hatte den Anschein, als habe sich der kleine Johnny Critchley in Luft aufgelöst.
Um halb sieben besuchte ich Maurice Richards. Ich war dankbar für die angebotene Tasse Tee und die Möglichkeit, meinen schmerzenden Füßen eine Pause zu gönnen. Maurice und ich kannten uns schon lange. Wir hatten den ersten Krieg überlebt, Maurice unter Verlust eines Armes, ich mit einem stark vernarbten Gesicht und unregelmäßig auftretenden Hustenanfällen durch Senfgas, das bei der dritten Schlacht von Ypern in meine Maske gedrungen war. Wir sprachen nie über den Krieg, aber er war da, das wussten wir beide, als unsichtbares Band zwischen uns, das uns gleichzeitig vom normalen Umgang mit vielen anderen Menschen ausschloss. Nicht viele hatten das gesehen, was wir hinter uns hatten - Gott sei Dank.
Mit einer Hand entzündete Maurice eine Passing Cloud, dann schenkte er den Tee ein. Im Radio kamen die Sieben-Uhr-Nachrichten, irgend so ein Quatsch, dass wir schwören würden, so lange zu kämpfen, bis wir den Feind bezwungen hätten. Damals war es noch ein Krieg der Worte, und je pathetischer die Formulierungen klangen, desto besser gefielen sich die Politiker. Es hatte zwei kleinere Luftgeplänkel gegeben und natürlich die versunkene Courageous, aber die ernsten Kampfhandlungen fanden in Polen statt, und das war für die meisten Menschen so weit entfernt wie der Mond.
»Hast du gestern Abend Tommy Handley gehört?«, fragte Maurice.
Ich schüttelte den Kopf. Es gab ein großes Aufhebens um Tommy Handleys neue Radiosendung It's That Man Again, abgekürzt ITMA. Er hatte mir nie besonders gut gefallen. Auch wenn es eingebildet klingt - aber wenn es dunkel wird, lege ich mich lieber mit einem guten Buch hin oder höre mir ein interessantes Gespräch im Radio an, statt Tommy Handley zu lauschen.
»Apropos Witze«, sagte Maurice. »Es gab einen Sketch über das Ministerium der Verschlimmbesserung und das Amt der Nulpen. Ich bin fast gestorben vor Lachen.«
Ich lächelte. »Könnte fast schon wieder wahr sein«, sagte ich. Es gab inzwischen so viele obskure Ministerien, Ausschüsse und Abteilungen, die die sonderbarsten Aufgaben hatten - natürlich alles zum Besten des Gemeinwesens -, dass ich schon überlegt hatte, eine anti-utopische Satire zu verfassen. Ich wollte sie in der nahen Zukunft spielen lassen, als nur leicht verfremdete Version der Gegenwart. Bisher hatte ich nur eine tolle Idee für den Titel: Ich würde die letzten beiden Ziffern des Jahres umdrehen, so dass sie statt 1939 dann 1993 hieße. (Nun ja, ich fand die Idee jedenfalls gut.)
»Hör mal, Maurice«, sagte ich, »es geht um den kleinen Johnny Critchley. Seine Mutter hat gesagt, du wärst der Letzte gewesen, der ihn gesehen hat.«
»O ja«, erwiderte Maurice. »Sie war heute hier und hat nach ihm gefragt. Ist er immer noch nicht aufgetaucht?«
»Nein.«
»Dann muss man sich langsam Sorgen machen.«
»Denke ich auch. Wo hast du ihn gesehen?«
»Er ging am Kanal entlang, in der Nähe von Woodruffs Schrottplatz.«
»Was hat er gemacht?«
»Nichts.«
»War er allein?«
Maurice nickte.
»Hat er was gesagt?«
»Nein.«
»Und du hast auch nichts zu ihm gesagt?«
»Was sollte ich sagen? Er wirkte bedrückt, schaute aufs Wasser, die Hände in den Taschen. Ich hab gehört, was mit seinem Vater passiert ist. Ein Junge muss auch trauern.«
»Stimmt. Hast du sonst noch jemanden gesehen? Oder irgendetwas Auffälliges bemerkt?«
»Nein, nichts. Aber warte mal ...«
»Was?«
»Ach, ist wahrscheinlich nichts, aber kurz nachdem ich Johnny gesehen hatte, ging ich über die Brücke und traf Colin Gormond, du weißt schon, dieser Typ, der ein bisschen - na ja ist.«
Colin Gormond. Natürlich kannte ich ihn. Das war keine gute Nachricht, ganz und gar nicht.
Ausgerechnet den verdammten Detective Sergeant Longbottom mussten sie herschicken, diesen grobschlächtigen, unförmigen Klotz mit dem dicken Stirnwulst eines Neandertalers, der das Bein nachzog. Longbottom war dumm wie Bohnenstroh. Er hätte seinen eigenen Hintern nicht mal gefunden, wenn man ein Schild drangenagelt hätte. Aber von diesem Kaliber sind nun mal die Männer, die der elende Krieg zu Hause zurückgelassen hat. Zusammen mit den wenigen guten wie mir natürlich.
Sergeant Longbottom trug einen glänzenden braunen Anzug und die Krawatte der Silverhill Grammar School. Ich fragte mich, woher er die hatte; wahrscheinlich einem Schüler abgenommen, den er beim Diebstahl von Süßigkeiten im Eckladen erwischt hatte. Unablässig zupfte er mit seinen rosigen Wurstfingern am Kragen herum, während wir uns in Mary Critchleys Wohnzimmer unterhielten. Sein Gesicht war rot vor Hitze, der Schweiß sammelte sich über seinen dicken Augenbrauen und lief ihm die Wangen hinunter.
»Sie vermissen ihn also seit heute Mittag?«, wiederholte Sergeant Longbottom.
Mary Critchley nickte. »So gegen halb elf ischt er nach drauschen gegangen, wollte spatschieren gehen. Um zschwölf wollte er zschurück sein. Alsch esch drei Uhr wurde, bin ich zschu Mr Baschcombe gegangen.«
Longbottom verzog das Gesicht und grunzte. »Mr Bascombe, Special Constable. Ihnen ist doch klar, dass Sie keinerlei polizeiliche Vollmacht besitzen, nicht wahr?«
»Eigentlich dachte ich«, erwiderte ich, »dass mich das zu Ihrem Vorgesetzten macht. Sie sind doch schließlich kein Special Sergeant, oder?«
Er sah mich an, als wollte er mich erschlagen. Wäre Mary Critchley nicht gewesen, hätte er das vielleicht auch getan. »Ich will nichts mehr hören. Beantworten Sie meine Fragen!«
»Ja.«
»Sie sagen, Sie hätten überall nach dem Burschen gesucht?«
»Überall da, wo er sich normalerweise aufhält.«
»Aber keine Spur von ihm gefunden?«
»Sonst hätten wir Sie doch wohl nicht gerufen.«
»Ich warne Sie: Halten Sie sich zurück und beantworten Sie meine Fragen. Dieser - wie heißt er noch gleich - Maurice Richards war der Letzte, der den Jungen gesehen hat?«
»Johnny heißt der Junge. Und die Antwort lautet ja, soweit wir wissen.« Ich schwieg. Ich musste es ihm sagen. Wenn ich es nicht tat, würde Maurice es tun. Je länger es aufgeschoben wurde, desto schlimmer wäre es auf lange Sicht. »Es war noch jemand anders in der Gegend, ein Mann namens Colin Gormond.«
Mary Critchley gab einen erschreckten Laut von sich. Sergeant Longbottom runzelte die Stirn, leckte an der Spitze seines Bleistifts und notierte etwas auf seinem Block. »Ich werde ein Wörtchen mit ihm reden«, sagte er. Dann, an Mrs Critchley gewandt: »Sie scheinen den Namen zu kennen, ja, Ma'am?«
»Ich kenne Colin«, erwiderte ich, vielleicht ein bisschen voreilig.
Longbottom starrte Mary Critchley an, deren Unterlippe zu zittern begann. Dann wandte er sich langsam zu mir um. »Wer ist dieser Gormond?«
Ich seufzte. Colin Gormond war ein komischer Kauz. Manche sagten, er sei ein bisschen schwer von Begriff, aber davon war ich nicht überzeugt. Er lebte allein und hatte mit den Ortsansässigen nicht viel zu tun - für manche Menschen reichte das schon.
Und dann die Sache mit den Kindern.
Aus unerfindlichem Grund war Colin die Gesellschaft der Jungen aus dem Ort lieber als die der Erwachsenen. Um ganz ehrlich zu sein, konnte ich ihm das nicht verübeln, aber in so einer Situation war das verdächtig. Insbesondere wenn der ermittelnde Beamte jemand mit der Sensibilität und dem Einfühlungsvermögen eines Sergeant Longbottom war.
Colin ging mit den Jungs gerne zum Zügegucken auf den Hügel an der Hauptstrecke, spielte mit ihnen Kricket auf dem Sportplatz oder verteilte Kastanien, wenn die Jahreszeit kam. Manchmal kaufte er ihnen Süßigkeiten oder Eis, schenkte ihnen sogar Bücher, Murmeln oder Comichefte.
Meines Wissens hatte sich Colin Gormond niemals etwas zuschulden kommen lassen, nicht ein einziges Mal ein Kind angefasst, weder im Zorn noch mit anderen Absichten. Dennoch hatten sich einige Eltern kritisch geäußert - am deutlichsten Jack Blackwell, der Vater von Nick, einem von Johnnys Freunden -, es sei irgendwie nicht richtig, irgendwie nicht normal, dass ein Mann, der Ende dreißig oder Anfang vierzig war, so viel Zeit mit Kindern verbrachte. Irgendwie könne er nicht ganz richtig im Kopf sein, er müsse doch etwas im Schilde führen, deutete Jack Blackwell an, und wie immer, wenn jemand ein böses Gerücht in die Welt setzte, gab es genügend Menschen, die ihm bereitwillig glaubten. Diese Reaktion war zu erwarten, und ich wusste, dass so ein Gerücht bei Sergeant Longbottom auf fruchtbaren Boden fallen würde. Keine Ahnung, warum, aber ich spürte das sonderbare Bedürfnis, Colin zu beschützen.
»Colin ist aus dem Ort«, erklärte ich. »Wohnt hier schon seit Jahren. Er spielt manchmal mit den Jungs. Die meisten mögen ihn. Er ist ein harmloser Kerl.«
»Wie alt ist er?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Um die vierzig.«
Longbottom hob die schwere Augenbraue. »Um die vierzig und spielt mit Kindern, sagen Sie?«
»Hin und wieder. Wie ein Lehrer oder ein Jugendleiter.«
»Ist er Lehrer?«
»Nein.«
»Ist er Jugendleiter?«
»Nein, aber was ich damit sagen wollte -«
»Ich weiß genau, was Sie sagen wollten, Mr Bascombe. Aber jetzt hören Sie mal zu, was ich zu sagen habe. Wir haben hier einen Mann, der sich mit kleinen Jungen herumtreibt, und er wurde in der Nähe des Ortes gesehen, wo ein kleiner Junge verschwand. Meinen Sie nicht, dass das ein kleines bisschen verdächtig ist?«
Mary Critchley heulte laut auf und begann von neuem zu weinen. Longbottom ignorierte sie. Er konzentrierte sich mit seiner Boshaftigkeit auf mich, den Weichling, den Liberalen, den Verteidiger von Kinderschändern. »Was haben Sie dazu zu sagen, Mr Special Constable Bascombe?«
»Nur dass Colin ein Freund der Kinder ist und niemandem etwas zuleide tun könnte.«
»Freund«, schnaubte Sergeant Longbottom verächtlich und stand auf. »Wir können von Glück sagen, dass Sie kein richtiger Polizist sind, Mr Bascombe«, verkündete er mit einem Nicken, um seine Weisheit zu unterstreichen. »Das können wir wirklich.«
»Was wollen Sie denn nun machen?«, erkundigte ich mich.
Longbottom schaute auf die Uhr und runzelte die Stirn. Entweder versuchte er herauszufinden, was es bedeutete, wenn der kleine und der große Zeiger auf ihrer derzeitigen Position standen, oder er blinzelte, weil er schlecht sah. »Ich werde mich mit diesem Colin Gormond unterhalten. Abgesehen davon können wir heute Abend nicht mehr viel tun. Morgen früh werden wir als Erstes den Kanal mit einem Schleppnetz absuchen.« Er ging zur Tür, drehte sich um, wies auf die Fenster und sagte: »Und vergessen Sie nicht die Verdunkelungsvorhänge, Ma'am, sonst müssen Sie noch dem Luftschutzwart Rede und Antwort stehen.«
Erneut brach Mary Critchley in Tränen aus.
Selbst das weiche Morgenlicht konnte den Kanal nicht verschönern. Wie eine offene Kloake wand er sich durch die Stadt, Ölpfützen schimmerten in Regenbogenfarben in der Sonne, das braune Wasser war verdreckt mit industriellem Schaum und Lauge, dazwischen schwammen Treibholz und Papier. Auf der einen Seite befand sich Ezekiel Woodruffs Schrottplatz. Der alte Woodruff war ein wenig exzentrisch. Früher kam er immer mit seinem Pferd und einem Karren durch die Straßen und rief »Alteisen! Alteisen!«, aber da die Regierung jetzt andere Verwendungsmöglichkeiten für Schrott hatte - angeblich wurde er im Flugzeugbau gebraucht -, wusste der arme alte Woodruff nicht mehr, womit er sein Geld verdienen sollte. Neil, das alte Zugpferd, hatte er bereits zum Abdecker gebracht. Wahrscheinlich leistet sie als Pferdeleim ihren Beitrag zum Krieg. Alte Wäschemangeln und kaputte Möbelstücke erhoben sich aus den Schrotthaufen wie zerschossene Artilleriegeschütze nach der Schlacht.
Gegenüber grenzte das steile Ufer an die Rückfront der Häuser von der Canal Road. Die Anwohner schienen den Kanal als ihre private Müllkippe zu betrachten. Fliegen und Wespen summten um alte Jutesäcke und Papiertüten, in denen Gott weiß was verrottete. Zwei verbogene Fahrradfelgen und ein Kinderwagen ohne Räder vervollständigten das Bild.
Ich sah zu, wie Longbottom die Suche leitete, ein langsames, mühseliges Unterfangen, das alle möglichen besorgniserregenden Gegenstände an die Oberfläche beförderte, nur nicht die Leiche von Johnny Critchley.
Ich war nervös. Jeden Augenblick erwartete ich den Ruf eines Polizisten aus einem der Boote zu hören, sie hätten Johnny gefunden, rechnete damit, ein kleines, armseliges Bündel an der Wasseroberfläche treiben zu sehen. Ich glaubte nicht, dass Cohn Gormond Johnny etwas angetan hatte - genauso wenig wie Maurice, auch wenn Longbottom ihn verdächtigte -, aber angesichts von Johnnys verwirrtem Zustand konnte ich mir vorstellen, dass er einfach ins Wasser gesprungen war. Ich hätte ihn nicht für einen Selbstmörder gehalten, aber andererseits hatte ich keine Ahnung, ob Neunjährige über Selbstmord nachdenken. Ich wusste nur, dass die Sache mit seinem Vater ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte und man ihn zuletzt am Kanal gesehen hatte.
Deshalb wartete ich mit Longbottom und den anderen. Langsam wurde es wärmer, aber von Johnny keine Spur. Nach gut drei Stunden gab die Polizei auf und ging zu Betty's Café auf der Chadwick Road, um Schinken und Eier zu essen. Ich wurde nicht eingeladen und war froh, mir unangenehmes Essen und unangenehme Gesellschaft ersparen zu können. Noch etwas länger blieb ich am Kanal und starrte auf das ölige Wasser. Ich überlegte, ob es ein gutes Zeichen war, dass Johnny nicht ertrunken war, und fasste den Entschluss, mich mit Colin Gormond zu unterhalten.
»Was ist, Colin?«, fragte ich ihn freundlich. »Na los! Mir kannst du's doch sagen.«
Aber Colin blieb mit dem Rücken zu mir in der dunklen Ecke seines kleinen Wohnzimmers stehen, die Hände vors Gesicht geschlagen, gab seltsam schniefende Laute von sich und schüttelte den Kopf. Draußen war ein strahlend heller Tag, aber die Verdunkelungsvorhänge waren noch immer zugezogen, nicht ein Lichtstrahl fiel hindurch. Ich hatte schon versucht, das Licht anzuknipsen, aber entweder hatte Colin die Birne herausgedreht oder er besaß gar keine.
»Na los, Colin! Das ist doch albern! Du kennst mich doch, Mr Bascombe. Ich tue dir nichts. Sag mir, was passiert ist!«
Schließlich verstummte Colin und kam mit seinem sonderbar schlurfenden Gang aus der Ecke. Einmal hatte jemand behauptet, er habe einen Klumpfuß, jemand anders hatte gesagt, als junger Mann wäre er sehr oft an den Füßen operiert worden, aber niemand wusste genau, warum er so komisch ging. Als er sich setzte und sich eine Zigarette anzündete, beleuchtete das Streichholz seine große Nase, die glänzende Stirn und die wässrig blauen Augen. Mit demselben Streichholz zündete er eine Kerze auf dem Tisch neben sich an, und da sah ich es: Er hatte ein blaues Auge und eine Wunde auf dem linken Jochbein.
Longbottom, dieses Schwein.
»Hast du ihm irgendwas gesagt?«, fragte ich, weil ich befürchtete, Longbottom habe ein Geständnis aus Colin herausgeprügelt. Ich kam nicht auf die Idee, dass Colin längst verhaftet worden wäre, wenn er gestanden hätte.
Traurig schüttelte er den Kopf. »Nichts, Mr Bascombe. Ehrlich nicht. Es gibt ja nichts zu erzählen.«
»Hast du Johnny Critchley gestern gesehen, Colin?«
»Ja.«
»Wo?«
»Unten am Kanal.«
»Was hat er gemacht?«
»Steine ins Wasser geworfen.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
Colin überlegte und drehte sich zur Seite, ehe er antwortete. »Nein.«
Ich bekam einen kurzen Hustenanfall; der Zigarettenqualm ging auf meine vom Gas geschädigte Lunge. Dann sagte ich: »Colin, du verschweigst mir doch etwas, nicht? Sag es mir besser. Du weißt, dass ich dir nichts tue, und vielleicht bin ich der einzige Mensch, der dir helfen kann.«
Mit flehenden Blicken sah er mich an. »Ich habe ihn nur gerufen, von der Brücke aus, sonst nichts.«
»Und dann?«
»Nichts. Ich schwöre es.«
»Hat er geantwortet?«
»Nein. Er hat nur zu mir rübergeguckt und den Kopf geschüttelt. Da wusste ich, dass er nicht spielen wollte. Er kam mir traurig vor.«
»Er hatte gerade erfahren, dass sein Vater gefallen ist.«
Colins wässrige Augen füllten sich mit Tränen. »Der arme Junge.«
Ich nickte. Es war durchaus möglich, dass Colin auch an seinen Vater dachte. Nicht viele wussten es, aber der alte Gormond war im selben verfluchten Krieg ums Leben gekommen, dem ich eine kaputte Lunge und das vernarbte Gesicht zu verdanken hatte. »Was passierte dann, Colin?«
Colin schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nichts«, sagte er. »Es war so ein schöner Tag, da bin ich einfach weitergelaufen. Ich bin zum Park gegangen und hab zugeguckt, wie die Soldaten Gräben ausheben, dann hab ich mir Zigaretten geholt und bin nach Hause gegangen, um Radio zu hören.«
»Und danach?«
»Bin ich zu Hause geblieben.«
»Den ganzen Abend?«
»Ja. Manchmal gehe ich runter ins White Rose, aber ...«
»Aber was, Cohn?«
»Ähm, kennen Sie Mr Smedley, den Luftschutzwart?«
Ich nickte. »Kenne ich.«
»Er meinte, meine Verdunkelung wäre nicht ordentlich, ich müsste Strafe zahlen, wenn ich nicht bis gestern richtigen Stoff besorgen würde.«
»Verstehe, Colin.« Dicker, undurchdringlicher Verdunkelungsstoff von guter Qualität war knapp und teuer geworden. Offenbar hatte man Cohn übers Ohr gehauen.
»Jedenfalls deswegen und wegen der Zigaretten ...«
Ich griff in die Tasche und zog ein paar Schilling hervor. Beschämt sah Colin zur Seite, aber ich legte das Geld auf den Tisch, und er forderte mich nicht auf, es wieder einzustecken ... Ich wusste, dass es seinen Stolz verletzte, Almosen anzunehmen, und fragte mich, wie viel Geld er verdiente und mit welcher Arbeit. Ich hatte ihn niemals betteln sehen, hatte aber das Gefühl, er lebe von Gelegenheitsarbeiten, mehr oder weniger von der Hand in den Mund.
Ich erhob mich. »In Ordnung, Colin«, sagte ich. »Vielen Dank.« An der Tür blieb ich stehen, unsicher, wie ich ihm vermitteln sollte, was mir gerade durch den Kopf ging. Schließlich sprach ich das Thema einfach an. »Ist vielleicht besser, wenn du dich unauffällig verhältst, bis er gefunden wird, Cohn. Du weißt ja, wie manche Leute hier so sind.«
»Was meinen Sie damit, Mr Bascombe?«
»Sei vorsichtig, Colin, das ist alles. Sei einfach vorsichtig.«
Er nickte verständnislos, und ich ging.
Als ich Colins Haustür hinter mir schloss, entdeckte ich Jack Blackwell. Mit verschränkten Armen stand er auf der Schwelle seines Hauses, umgeben von einer kleinen Gruppe Ortsansässiger, deren Schatten auf dem Kopfsteinpflaster ineinander verschwammen. Immer wieder schauten sie zu Colins Haus hinüber, und als sie mich herauskommen sahen, schlurften sie davon, nur Jack blieb stehen und starrte mich grimmig an, ehe er ins Haus ging und die Tür hinter sich zuwarf. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und als ich nach Hause kam, konnte ich mich nicht auf mein Buch konzentrieren.
Als Johnny am nächsten Morgen seit über sechsunddreißig Stunden vermisst war, schlug die Stimmung auf der Straße in offene Feindseligkeit um. Meiner Erfahrung nach gibt es, wenn man es recht bedenkt, kein elenderes Schauspiel, nichts Schlimmeres und Gefährlicheres als die Mobmentalität des Menschen. Letztlich sind auch Armeen nichts anderes als Pöbelhaufen, nur ein wenig besser organisiert. Wie ich schon sagte, ich war in Ypern, ich lasse mir nicht viel über militärische Organisation vormachen. Als ich daher die Leute auf der Türschwelle flüstern hörte, hier und dort kleine Grüppchen herumstehen und Jack Blackwell wie einen Stimmenfänger von Tür zu Tür ziehen sah, wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste. Auf die Hilfe von Sergeant Longbottom konnte ich dabei kaum zählen.
Sowohl als Soldat wie als Lehrer hatte ich die Erfahrung gemacht: Wenn man nur die geringste Chance haben wollte, musste man den Anführer ausschalten. Das hieß in diesem Fall: Jack Blackwell. Jack war ein fieser Kerl, wir hatten bereits mehr als eine Auseinandersetzung wegen des unmöglichen Verhaltens und der schlechten Schulleistungen seines Sohnes Nick gehabt. Meiner Meinung nach war Nick ein Versager, der bei seiner Geburt hätte ertränkt werden sollen, eine Verschwendung von Sehnen, Haut und Knochen. Woher das kam, lag auf der Hand: Nicks älterer Bruder Dave saß bereits eine längere Haftstrafe ab, weil er bei einem Überfall einen Nachtwächter besinnungslos geprügelt hatte. Nicht mal die Armee fand eine Ausrede, um ihn einzuziehen und seine Dienste beim Töten von Deutschen in Anspruch zu nehmen. Mehr als einmal hatte man Mrs Blackwell mit blauen Flecken im Gesicht gesehen. Oft fiel ihr das Gehen schwer. Je eher Jack Blackwell seinen Einberufungsbefehl erhielt, desto besser für alle.
Zwischen dem Haus der Deakins und dem der Kellys fing ich Jack ab. »Was wollen Sie?«, blaffte er mich an. Offensichtlich wollte er nicht mit mir sprechen.
Aber ich blieb hartnäckig.
»Morgen, Jack«, grüßte ich ihn. »Schöner Tag für einen Spaziergang, hm?«
»Was geht Sie das an?«
»Bin nur höflich. Was haben Sie vor? Was ist los?«
»Geht Sie nichts an.«
»Wieder die alte Masche? Gerüchte verbreiten?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Er wollte gehen, doch ich hielt ihn am Arm fest. Böse sah er mich an, wehrte sich aber nicht. Auch gut. In meinem Alter und mit meiner Lunge würde ich nach zehn Sekunden den Kürzeren ziehen. »Jack«, sagte ich, »wäre es nicht besser für alle, wenn Sie mithelfen würden, den armen Jungen zu suchen?«
»Suchen? Dass ich nicht lache! Sie wissen doch genauso gut wie ich, wo der Junge ist.«
»Wo? Wo soll er denn sein, Jack?«
»Das wissen Sie doch!«
»Nein, weiß ich nicht. Sagen Sie's mir!«
»Tot und verbuddelt, das ist er.«
»Wo denn, Jack?«
»Wo genau weiß ich doch nicht. Wenn er nicht im Kanal ist, dann liegt er irgendwo in der Nähe.«
»Kann sein. Aber das wissen Sie nicht. Nicht mit Sicherheit. Und selbst wenn Sie das glauben, wissen Sie nicht, wer es gewesen ist.«
Jack entwand seinen Arm meinem Griff und lachte höhnisch. »Ich hab 'ne ganze Menge mehr Ahnung als du, Frank Bascombe! Mit der ganzen Schlauheit aus den Büchern!« Mit diesen Worten marschierte er davon.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, alles nur noch schlimmer gemacht zu haben.
Nach meinem kurzen Zusammenstoß mit Jack Blackwell war ich mit meinem Latein am Ende. Ich wusste, dass die Polizei noch immer nach Johnny suchte, Fragen stellte, freies Gelände durchkämmte. Ich konnte nicht groß helfen. Mit einem Gefühl der Ohnmacht ging ich hinunter zum Kanal, in die Nähe von Woodruffs Schrottplatz. Der alte Ezekiel Woodruff stocherte in den kümmerlichen Resten seines Unternehmens herum. Ich beschloss, mit ihm zu sprechen, allerdings mit gewissem Abstand, denn selbst an einem so heißen Tag wie diesem trug Woodruff seinen Mantel und die schwarzen Wollhandschuhe mit den abgeschnittenen Fingern. Er war nicht gerade bekannt für seine Sauberkeit, deshalb achtete ich darauf, dass der Wind nicht von ihm zu mir wehte. Auch wenn es nicht sehr windig war.
»Morgen, Ezekiel«, sagte ich. »Hab gehört, der kleine Johnny Critchley war vorgestern hier in der Gegend.«
»Angeblich«, murmelte er.
»Hast du ihn nicht gesehen?«
»Ich war nicht hier.«
»Du hast ihn also nicht gesehen?«
»Hat die Polizei auch schon gefragt.«
»Und was hast du geantwortet?«
Er wies auf das andere Ufer, auf die Rückseite der dortigen Siedlung. »Ich war da drüben«, erklärte er. »Manchmal werfen die Leute was Gutes weg, selbst heutzutage.«
»Aber hast du Johnny gesehen?«
Er schwieg, dann sagte er: »Ja.«
»Auf dieser Seite?«
Woodruff nickte.
»Um wie viel Uhr war das?«
»Ich hab keine Uhr, aber es war nicht lang, nachdem der Bekloppte vorbeigegangen ist.«
»Meinst du Colin Gormond?«
»Ja, der.«
Das hieß, Johnny war, auch nachdem Colin vorbeigegangen war, allein am Kanal gewesen. Das war Longbottom wahrscheinlich schon bekannt, trotzdem hatte er Colin geschlagen. Irgendwann bekommt er das zurück, dachte ich. Die Brise frischte auf, ich roch alten Schweiß und Schlimmeres. »Was hat Johnny gemacht?«
»Nichts Besonderes. Er lief da einfach entlang.«
»In welche Richtung?«
Woodruff zeigte es mir. »Da runter. Richtung Stadt.«
»Allein?«
»Ja.«
»Und es kam niemand auf ihn zu?«
»Nein. Nicht solange ich geguckt habe.«
Da ich nicht glaubte, dass ich von Ezekiel Woodruff noch mehr erfahren würde, verabschiedete ich mich. Ich kann nicht leugnen, dass mir der Gedanke durch den Kopf ging, der Alte könne etwas mit Johnnys Verschwinden zu tun haben, aber ich hätte mich schon sehr strecken müssen, um das Wie und Warum zu erklären. Auch wenn der alte Woodruff noch so sonderbar war, hatte es doch nie ein Gerücht oder den Verdacht gegeben, er sei über Gebot an kleinen Jungs interessiert, und ich wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen wie Jack Blackwell. Meinen Verdacht hob ich mir für später auf.
Über uns brummte ein Kampfflieger. Ich beobachtete, wie er sich im blauen Himmel fallen ließ und drehte. Wie gerne wäre ich an seiner Stelle gewesen. Ich hatte immer bedauert, im Krieg kein Pilot gewesen zu sein. Ein Boot voller Soldaten kam vorbei. Ich machte Platz für das Pferd auf dem Treidelpfad, das das Boot zog. Zu meinem Verdruss bekam ich den schweißigen Pferdegeruch mit voller Wucht ab und einen dampfenden Haufen Pferdeäpfel vor die Füße. Das roch noch schlimmer als Ezekiel Woodruff.
Ziellos lief ich in die Richtung, die Johnny laut Ezekiels Aussage genommen hatte: zur Stadt. Zwischendurch kam mir Jack Blackwells verächtlicher Satz in den Sinn, ich sei nicht in der Lage, Johnny zu finden. Meine Schlauheit aus den Büchern. So eine billige Beleidigung war von einem Schwachkopf wie Jack Blackwell zu erwarten, dennoch tat sie mir weh. Es war sinnlos, ihm zu erzählen, dass ich zwei Tage lang unter den Leichen meiner Kameraden im Dreck gelegen hatte. Ich konnte ihm nicht erklären, dass ich einen jungen deutschen Soldaten überrascht und mit dem Bajonett erstochen hatte, dass die Klinge in seinem Körper abgebrochen war. Jack Blackwell war zu ung, um im letzten Krieg im Einsatz gewesen zu sein, aber wenn es auf dieser Welt Gerechtigkeit gab, würde er bald an die Front müssen.
Der Kanal führte hinterm Bahnhof entlang. Ich überquerte die schmale Brücke und bahnte mir meinen Weg zwischen den Evakuierten hindurch zum Vorplatz. Mary Critchleys Ruf hallte mir in den Ohren: »Mr Baschcombe! Mr Baschcombe!«, hörte ich sie schreien.
Als ich auf die schwarze Fassade des Postamts und die Statue des Schwarzen Prinzen auf dem City Square schaute, traf mich unvermittelt die Erkenntnis. Plötzlich glaubte ich zu wissen, was mit Johnny Critchley geschehen war. Zuerst aber musste ich zurückgehen und eine wichtige Frage stellen.
Es war später Vormittag. Der Bahnhof roch nach feuchtem Ruß und warmem Öl. Gruppen von Kindern drängten sich auf den Bahnsteigen, wollten wissen, wohin sie fuhren. Sie trugen Namensschilder und kleine Pappkartons. Erwachsene mit Klemmbrettern - größtenteils vorübergehend arbeitslose Lehrer und Freiwillige aus dem Ort - verteilten sie auf die entsprechenden Schlangen. Wenn die Kinder in die Waggons stiegen, wurden ihre Namen abgehakt.
Obwohl ich weder ein evakuiertes Kind noch Aufseher war, gelang es mir, eine Fahrkarte zu erstehen. Ich fand mich in einem Abteil mit einer ziemlich ernst blickenden Dame in einer braunen, mir unbekannten Uniform und einem Zivilisten mit buschigem Schnauzer und Unmengen von Pomade im Haar wieder. Die beiden schienen für mehrere Kinder verantwortlich zu sein, die ebenfalls im Abteil waren und nicht still sitzen wollten. Ich konnte es ihnen kaum verübeln. Sie fuhren hinaus aufs Land, wo sie bei Fremden wohnen würden, weit weg von ihren Eltern, und nur Gott wusste, wann sie wieder zurückkehren konnten. Die Vorstellung machte ihnen große Angst.
Die Sitzkissen waren warm, die Luft im Waggon zum Schneiden dick, trotz der offenen Fenster. Als wir schließlich losfuhren, wehte Wind herein, das half ein wenig. Gegenüber an der Wand hing ein Bild des Strandes von Scarborough. Die meiste Zeit dachte ich an die sorglosen Ferien meiner Kindheit zurück, die ich dort Anfang des Jahrhunderts mit meinen Eltern verbracht hatte: eine andere Welt, eine andere Zeit. Den Rest der Fahrt sah ich aus dem Fenster, über den schäumenden Kanal hinweg, und ließ die industrielle Stadtlandschaft an mir vorüberziehen: Gärten, in die man kleine Bunker gebaut hatte, halb mit Erde bedeckt, um darauf Gemüse anzupflanzen, der dunkel aufragende Uhrenturm des Rathauses über den Häusern im Zentrum, ein Fabrikgelände, wo schwere Kisten auf einen Lkw geladen wurden, schwitzende Männer mit roten Gesichtern.
Dann waren wir auf dem Land, und der Geruch von Gras, Heu und Mist erfüllte die Luft, nicht länger der Mief der Stadt. Ich sah kleine, gedrungene Bauernhäuser, Trockenmauern, grasende Schafe und Kühe. Bald trennten sich die Bahnschienen vom Kanal. Mit Getöse fuhren wir durch einen langen Tunnel, die Kinder begannen zu weinen. Später wunderte ich mich über all die Armeekonvois, die sich über die schmalen Straßen wanden. Wir kamen an einem gewaltigen Flugplatz vorbei, der vor Geschäftigkeit nur so brummte.
Insgesamt dauerte die Fahrt etwas länger als zwei Stunden. Auf dem kleinen Landbahnhof, wo meine Reise endete, wurden nur zehn, elf Kinder hinausbugsiert. Sie wurden in Empfang genommen und zur Dorfhalle gebracht. Ich folgte ihnen. In der Halle warteten die Männer und Frauen, bei denen sie Aufnahme finden sollten. Das System war humaner als andere, von denen ich gehört hatte. In manchen Dörfern herrschte fast ein Sklavenmarkt wie in grauer Vorzeit; Bauern warteten auf dem Bahnsteig und suchten sich die stärksten Burschen heraus, die örtlichen Würdenträger winkten die gutgekleideten Jungen und Mädchen zur Seite.
Ich wandte mich an die zuständige ehrenamtliche Helferin, eine attraktive junge Landfrau in einem schlichten blauen Kleid mit weißem Spitzenkragen und einem Gürtel um die schmale Taille, und fragte sie, ob sie einen Nachweis über einen Evakuierten namens John oder Johnny Critchley habe. Sie schaute nach und schüttelte den Kopf. Ich hatte nichts anderes erwartet. Wenn ich recht hatte, dann war Johnny nicht unter seinem eigenen Namen hier. Ich erklärte der Frau mein Problem. Sie nannte mir ihren Namen: Phyllis Rigby. Sie hatte ein gelbes Band in ihren langen Locken und roch nach frischen Äpfeln. »Ich wüsste nicht, wie so etwas passieren könnte«, erklärte Phyllis. »Wir sind sehr gründlich. Aber ich muss zugeben, bisher ging es wirklich ein bisschen durcheinander.« Kurz runzelte sie die Stirn, dann delegierte sie ihre Aufgaben an eine andere Helferin.
»Kommen Sie!«, forderte sie mich auf. »Ich gehe mit Ihnen von Haus zu Haus. So viele Evakuierte gibt es hier nämlich nicht, wissen Sie. Viel weniger als erwartet.«
Ich nickte. Ich hatte gehört, dass viele Eltern noch nicht bereit waren, ihre Kinder zu evakuieren. »Es passiert noch nicht genug«, erklärte ich. »Aber warten Sie ab! Nach dem ersten Luftangriff kommen so viele Kinder, dass Sie gar nicht genug Platz für alle finden können.«
Phyllis lächelte. »Die armen Dinger! Was für eine Umstellung das für sie sein muss.«
»Allerdings.«
In vollen Zügen sog ich die Landluft ein, als Phyllis und ich von der Dorfhalle losmarschierten, um die auf ihrem Klemmbrett aufgelisteten Familien zu besuchen. Im Ort gab es rund zweihundert Häuser, weniger als die Hälfte hatte Evakuierte aufgenommen. Trotzdem gerieten wir ganz schön ins Schwitzen. Genauer gesagt, lief bei mir der Schweiß in Strömen, Phyllis schien so etwas nicht zu kennen. Wir unterhielten uns, ich erzählte ihr von meiner Arbeit als Lehrer, sie von ihrem Mann Thomas, der in der Royal Air Force zum Jagdflieger ausgebildet wurde. Nach einer guten Stunde gingen wir zu ihrem Cottage und nahmen einen erfrischenden Tee zu uns, dann machten wir weiter.
Am späten Nachmittag schließlich hatten wir einen Volltreffer.
Mr und Mrs Douglas waren offenbar ein sehr nettes Ehepaar. Traurig vernahmen sie die Kunde, dass sie Johnny Critchley, den sie bei sich aufgenommen hatten, nicht länger behalten konnten. Ich erklärte ihnen die Umstände und versicherte ihnen, sie würden ein anderes Kind geschickt bekommen, sobald wir die Angelegenheit geklärt hätten.
»Er ist nicht hier«, sagte Johnny, als wir mit Phyllis zum Bahnhof gingen. »Ich hab ihn überall gesucht, aber ich hab ihn nicht gefunden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ach, Johnny, du weißt doch, dass deine Mutter einen Sprachfehler hat. Deshalb musste ich, bevor ich hergekommen bin, sie noch einmal fragen, was genau sie zu dir gesagt hat. Sie hat gesagt, dein Vater sei vermisst, >Missing in Action<, wie man das nennt, aber bei ihr hörte es sich an, als sei er vermisst in Acksham, nicht wahr? Deshalb bist du hergekommen, stimmt's? Weil du ihn suchen wolltest?«
Mit Tränen in den Augen nickte der kleine Johnny. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hab nicht verstanden, warum sie ihn nicht sucht. Mom ist bestimmt furchtbar böse auf mich.«
Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Das glaube ich nicht. Sie wird sich freuen, dich zurückzubekommen. Aber wie hast du es geschafft, dich unter die Evakuierten zu mischen?«
Mit seinem schmutzigen Ärmel wischte sich Johnny über die Augen. »Am Bahnhof. Da waren so viele Leute, zuerst wusste ich gar nicht ... Dann hab ich einen Jungen gesehen, den kenne ich vom Kricketspielen auf dem Sportplatz.«
»Oliver Bradley«, sagte ich. Der Junge, unter dessen Namen Johnny registriert worden war.
»Ja, er geht zur Broad Hill School.«
Ich nickte. Oliver Bradley hatte ich noch nicht kennen gelernt, aber die Schule war mir ein Begriff. Sie war gegenüber auf der anderen Seite des Tals. »Und dann?«
»Ich hab ihn gefragt, wo er hinfährt, und er meinte, er müsste nach Acksham. Das passte genau.«
»Aber wie hast du ihn überredet, mit dir zu tauschen?«
»Er wollte nicht, zuerst nicht.«
»Und wie hast du es dann geschafft?«
Johnny senkte den Kopf und scharrte mit einer abgenutzten Schuhspitze im Schotter. »Ich musste ihm eine ganze Serie Kricketkarten geben, die aus den Zigarettenschachteln. Die habe ich von meinem Dad.«
Ich lächelte. Klar, das hatte natürlich geklappt.
»Und er hat mir versprochen, keinem was zu sagen. Er wollte nach Hause gehen und sagen, es wäre kein Platz für ihn, er müsste es in ein paar Tagen wieder versuchen. Ich brauchte etwas Zeit, um Dad zu finden ... wissen Sie.«
»Ich verstehe.«
Wir waren am Bahnhof angekommen. Johnny setzte sich auf die Bank, Phyllis und ich unterhielten uns im Licht des späten Nachmittags. Unsere Schatten auf den Schienen wurden immer länger. Außer dem Gesang der Vögel in den Bäumen und Hecken hörte ich Grashüpfer zirpen, ein Geräusch, das man in der Stadt nur selten vernimmt. Schon oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt, auf dem Land zu leben. Vielleicht in ein paar Jahren, nach meiner Pensionierung.
Wir mussten nicht lange auf unseren Zug warten. Ich dankte Phyllis für ihre Hilfe, wünschte ihr alles Gute für ihren Mann, und sie winkte dem alten Dampfross nach, das langsam aus dem Bahnhof tuckerte.
Die Verdunkelungszeit war bereits angebrochen, als ich mit Johnny an der Hand in unsere Straße einbog. Der Junge war müde von seinem Abenteuer, fast die ganze Fahrt lang hatte er an meiner Schulter geschlafen. Ein- oder zweimal hatte er aus den Tiefen seines Traums nach seinem Vater gerufen.
Kaum war ich um die Ecke gebogen, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es war nichts zu sehen, ich spürte nur eine plötzliche Kälte im Nacken. Wegen der Verdunkelung war nichts zu erkennen, aber ich hatte den Eindruck, in der Dunkelheit bewege sich eine Gruppe dunkler Gestalten, laufe vor Colin Gormonds Haus auf und ab.
Ich beschleunigte meinen Schritt. Als die Leute Johnny erblickten, vernahm ich ein Flüstern in der Menge. Dann verstreuten sich die Schatten, schlichen davon und verdrückten sich, lösten sich in Luft auf. Aus dem Nichts stürzte Mary Critchley mit einem Schrei hervor und schloss Johnny in die Arme. Ich ließ ihn los. Zwischen zwei Seufzern dankte sie mir, aber ich war schon weg.
Zuerst fiel mir auf, dass das Fenster von Colins Haus kaputt und der halbe Verdunkelungsvorhang abgerissen war. Dann sah ich, dass die Tür angelehnt war. Ich hatte Sorge, Colin könne verletzt sein, klopfte aber aus Höflichkeit an und rief seinen Namen.
Nichts.
Ich drückte die Tür auf und betrat das Haus. Es war finster. Ich hatte keine Taschenlampe dabei und wusste, dass Colins Lampe nicht funktionierte. Ich erinnerte mich an die Streichhölzer und die Kerze auf dem Tisch, zündete sie an und leuchtete mir damit den Weg.
Ich musste nicht lange suchen. Ohne die Kerze wäre ich vielleicht gegen Cohn gelaufen. Zuerst sah ich sein Gesicht, auf gleicher Höhe mit meinem. Er hatte Schaum um den Mund und blaue Lippen, unter seinem linken Nasenloch klebte geronnenes Blut. Das Verdunkelungstuch war wie eine Schlinge um seinen Hals geknotet und an einem Haken befestigt, der in den Sturz über der Küchentür gedreht war. Ich trat zurück und betrachtete die Szene. Da erkannte ich, dass seine Füße mehrere Zentimeter über dem Boden schwebten.
Nirgends war ein umgekippter Stuhl oder Hocker zu sehen.
Der harmlose Colin Gormond, der Freund der Kinder - tot.
Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg. Und ein Schuldgefühl. Es war mein Fehler. Ich hätte auf der Suche nach Johnny nicht einfach nach Acksham fahren dürfen, ich hätte Colin zumindest mitnehmen müssen. Ich wusste, dass er in Gefahr war; ich hatte mit Jack Blackwell gesprochen. Wie konnte ich nur so dumm und leichtsinnig sein und Colin seinem Schicksal überlassen? Mich mit einer ominösen Warnung zufriedengeben?
Vielleicht war es Colin irgendwie gelungen, sich ohne einen Hocker zu erhängen, doch das bezweifelte ich. Egal, ob Jack Blackwell und die anderen tatsächlich Hand an ihn gelegt hatten, in meinen Augen waren sie alle schuldig, ihn dazu getrieben zu haben. Falls Jack oder ein anderer aus der Straße Colin wirklich aufgeknüpft hatte, würde man Beweise finden - Fasern, Fingerabdrücke, Fußspuren und so weiter -, und selbst der dämliche Sergeant Longbottom würde sie nicht ignorieren können.
Ich taumelte nach draußen und steuerte auf die Telefonzelle an der Ecke zu. Nichts regte sich, doch plötzlich hörte ich, wie leise eine Tür geschlossen wurde. Es war die Haustür von Jack Blackwell, als glaube er, zu viel Lärm könne die Toten wecken, und sie könnten die eine oder andere Geschichte erzählen.