* Die gute Gattin

Eine Inspector-Banks-Geschichte

 

* 1

 

Der bedrohlich tief hängende Himmel war so schwarz wie das Herz eines Finanzbeamten, als Detective Chief Inspector Alan Banks um acht Uhr an einem Abend Mitte November vor dem Haus am Oakley Crescent Nr. 17 hielt. Ein eisiger Wind wirbelte das Laub auf und trieb die Blätter raschelnd um Banks' Füße, als er zu der Tür mit den Glasscheiben ging.

  Detective Constable Susan Gay wartete bereits im Haus. Peter Darby, der Polizeifotograf, war mit seiner neuen Videokamera beschäftigt. Zwischen dem gläsernen Couchtisch und dem Backsteinkamin lag die Leiche einer Frau. Das Haar an ihrer linken Schläfe war blutverklebt. Banks zog Latexhandschuhe an, bückte sich und hob den Gegenstand neben ihr auf. Auf einem kleinen Bronzeschild stand: »Golfclub Eastvale, Turnier 1991. Erster Platz: David Fosse«. Am Fuß des Pokals war Blut. Der Mann, den Banks für David Fosse hielt, saß auf dem Sofa und starrte vor sich hin.

  Auf dem Tisch lagen Fotos. Banks nahm sie in die Hand und sah sie durch. Jedes zeigte am unteren Rand ein Datum, den 13. 11. 93. Die ersten Bilder waren Gruppenaufnahmen - Menschen mit roten Kaninchenaugen aßen, tranken und tanzten auf irgendeiner Feier -, aber die letzten beiden Fotos zeigten einen hübschen jungen Mann in einem marineblauen Anzug, weißem Hemd und auffälliger Krawatte. Mit einem Glas Whisky in der Hand grinste er den Betrachter an. Auf dem nächsten Bild war im Hintergrund ein Hotelzimmer, der Mann hatte seine Krawatte gelockert. Andere Gäste waren nicht zu sehen. Auf dem letzten Foto trug er kein Jackett mehr. Das Datum war auf den 14. 11. 93 umgesprungen.

  Banks wandte sich an den Mann auf der Couch. »Sind Sie David Fosse?«, fragte er.

  Der Mann schien aus großer Ferne zurückzukommen. »Ja«, bestätigte er schließlich.

  »Können Sie das Opfer identifizieren?«

  »Das ist meine Frau Kim.«

  »Was ist passiert?«

  »Ich ... ich war mit dem Hund spazieren. Als ich zurückkam, lag sie -« Er wies auf den Boden.

  »Wann sind Sie losgegangen?«

  »Um Viertel vor sieben, so wie immer. Um kurz nach halb war ich zurück, da lag sie so da.«

  »War Ihre Frau zu Hause, als Sie aufbrachen?«

  »Ja.«

  »Erwartete sie Besuch?«

  Fosse schüttelte den Kopf.

  Banks hielt ihm die Fotos hin. »Haben Sie die gesehen?«

  Mit einem Stöhnen wandte sich Fosse ab.

  »Wer hat die aufgenommen? Was glauben Sie?«

  Fosse starrte auf den Axminster-Teppich.

  »Mr Fosse?«

  »Ich weiß es nicht.«

  »Dieses Datum hier, der 13. November, das war letzten Samstag. Sagt Ihnen das was?«

  »Am letzten Wochenende war meine Frau geschäftlich in London. Ich nehme an, sie hat diese Fotos da gemacht.«

  »Was war der Anlass?«

  »Sie ist Dienstleisterin für Büros und kleinere Unternehmen. Dienstleisterin«, sagte er verächtlich. »Passender Ausdruck.«

  Banks suchte die Aufnahme des Mannes mit der grellen Krawatte hervor. »Wissen Sie, wer das ist?«

  »Nein.« Fosses Gesicht wurde rot, er ballte die Hände zu Fäusten. »Nein, aber wenn ich den jemals in die Finger bekommen sollte -«

  »Mr Fosse, haben Sie sich mit Ihrer Frau wegen des Mannes auf den Fotos gestritten?«

  Fosses Unterkiefer fiel herunter. »Als ich losging, waren die Fotos doch noch gar nicht hier.«

  »Und wie erklären Sie sich, dass sie nun hier liegen?«

  »Keine Ahnung. Sie muss sie herausgeholt haben, während ich mit Jasper unterwegs war.«

  Banks schaute sich im Zimmer um und entdeckte einen Fotoapparat auf dem Sideboard, eine Canon. Offenbar ein teures Modell mit Autofokus. Vorsichtig nahm er sie in die Hand und steckte sie in eine Plastiktüte. »Ist das Ihre?«, fragte er Fosse.

  »Nein, sie gehört meiner Frau. Ich habe sie ihr zum Geburtstag geschenkt. Wieso? Was haben Sie damit vor?«

  »Könnte ein Beweismittel sein«, entgegnete Banks und wies auf die Belichtungsanzeige. »Mit dem neuen Film hier drin wurden bisher sieben Bilder gemacht. Ich muss Sie noch einmal fragen, Mr Fosse - haben Sie sich mit Ihrer Frau wegen des Mannes auf den Fotos gestritten?«

  »Und ich sage es Ihnen noch mal: Nein. Wie sollte ich auch? Die Fotos waren ja noch gar nicht da, als ich rausging, und als ich wiederkam, war meine Frau tot.«

  In der Küche bellte der Hund. Die Haustür ging auf, und Dr. Glendenning kam herein - eine große, eindrucksvolle Gestalt mit seinem weißen Haar und dem nikotinvergilbten Schnauzbart.

  Mürrisch warf Glendenning Banks und Susan einen Blick zu und beschwerte sich, ihn an so einem Abend aus dem Haus geholt zu haben. Banks entschuldigte sich. Obwohl Glendenning der Pathologe des Innenministeriums war und selbst ein bescheidener Polizeiarzt den Tod feststellen konnte, wusste Banks, dass Glendenning ihm niemals verziehen hätte, wenn er ihn nicht gerufen hätte.

  Als das Tatortteam eintraf, sagte Banks zu David Fosse: »Ich glaube, wir machen besser auf der Dienststelle weiter.«

  Fosse zuckte mit den Schultern und stand auf, um seinen Mantel zu holen. Im Gehen hörte Banks Glendenning murmeln: »Ein Golfpokal, unglaublich, ein Golfpokal! Was für ein Frevel!«

 

 

* 2

 

»Glauben Sie, dass er's getan hat?«, fragte Susan Gay ihren Chef.

  Banks ließ den letzten Schluck Theakston's auf dem Grunde seines Glases herumwirbeln und betrachtete die Flüssigkeit. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall hatte er Mittel, Motiv und Gelegenheit. Aber irgendwas gefällt mir nicht.«

  Es war kurz vor Schluss. Banks und Susan saßen im warmen Licht des Queen's Arms und gönnten sich ein spätes Abendessen: Steak-and-Kidney-Pie aus der Mikrowelle. Dass sie überhaupt noch etwas bekommen hatten, verdankten sie Cyril, dem Wirt, der ihre unpraktischen Arbeitszeiten kannte. Von draußen peitschte der Regen gegen die roten und bernsteingelben Fensterscheiben.

  Banks schob seinen Teller fort und zündete sich eine Zigarette an. Er war müde. Der Anruf wegen Fosse hatte ihn erreicht, als er gerade nach einem langen Tag voller Papierkram und langweiliger Besprechungen nach Hause gehen wollte.

  Bei der zweistündigen Vernehmung auf der Dienststelle hatten sie nicht viel Neues erfahren. Kim Fosse war am Freitag nach London aufgebrochen und am Montag mit ihrer Geschäftspartnerin Norma Cheverel zurückgekehrt. Die Tagung hatte im Ludbridge Hotel in Kensington stattgefunden.

  David Fosse bestand auf seiner Unschuld, seine Eifersucht war jedoch ein starkes Motiv. Jetzt schmachtete er in einer Zelle im Keller des Polizeipräsidiums von Eastvale. Schmachten war vielleicht ein zu starker Ausdruck, denn die Zellen waren behaglicher als so manches Bed & Breakfast, Essen und Bedienung sogar sehr viel besser. Das einzige Problem war, dass man nicht einfach die Tür öffnen und einen Spaziergang durch die Yorkshire Dales machen konnte, wenn einem danach war.

  Die Befragung der Nachbarn hatte ergeben, dass Fosse tatsächlich mit seinem Hund unterwegs gewesen war - mehrere hatten ihn gesehen -, und nicht einmal Dr. Glendenning konnte den Todeszeitpunkt auf die Dreiviertelstunde festlegen, in der Fosse außer Haus gewesen war.

  Er hätte seine Frau vor oder nach dem Spaziergang umbringen können. Oder aber kurz hinten herumgegangen (ein Pfad führte am Fluss entlang), ungesehen durch die Hintertür ins Haus eingedrungen sein und anschließend seinen Spaziergang fortgesetzt haben.

  »Letzte Runde bitte, die Herrschaften!«, rief Cyril und ließ die Glocke hinter der Theke erklingen. »Das gilt auch für Bullen.«

  Grinsend trank Banks sein Bier aus. »Heute Abend können wir sowieso nicht mehr viel tun«, sagte er. »Ich gehe besser nach Hause und hau mich aufs Ohr.«

  »Ich auch.« Susan griff nach ihrem Mantel.

  »Als Erstes morgen früh unterhalten wir uns mit Norma Cheverel«, erklärte Banks. »Mal sehen, ob sie Licht auf das werfen kann, was letztes Wochenende in London los war.«

 

 

* 3

 

Norma Cheverel war eine attraktive Frau von Anfang dreißig mit roter Mähne, einer hohen Stirn voller Sommersprossen und den grünsten Augen, die Banks je gesehen hatte. Bestimmt Kontaktlinsen, entschied er hartherzig, vielleicht, um die sexuelle Energie zu bekämpfen, die von ihr ausging.

  Sie saß in ihrem großen, mit Teppich ausgelegten Büro hinterm Schreibtisch und drehte sich im Ledersessel. Nachdem ihre Assistentin einen Kaffee gebracht hatte, holte Norma eine lange Zigarette hervor und zündete sie an. »Das gehört zu den Vorzügen, wenn man selbst Chef ist«, sagte sie. »Keiner kann einem das Rauchen verbieten.«

  »Sie haben von Kim Fosse gehört, nehme ich an?«, fragte Banks.

  »Gestern Abend in den Nachrichten. Die arme Kim.« Norma schüttelte den Kopf.

  »Es gibt ein paar Dinge, die uns nicht einleuchten. Könnten Sie uns vielleicht helfen?«

  »Ich werd's versuchen.«

  »Hat sie bei der Tagung viele Fotos gemacht? Wissen Sie das noch?«

  Norma Cheverel runzelte die Stirn. »Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es haben so einige Leute fotografiert, insbesondere beim Essen. Irgendwie benehmen sich die Leute auf solchen Kongressen immer völlig albern. Diese Manie, irgendeinen Moment im Bild festzuhalten, konnte ich noch nie verstehen. Sie, Inspector Banks?«

  Da Banks' Frau Sandra Fotografin war, konnte er das nur zu gut, auch wenn er nicht einverstanden war mit dem Ausdruck »den Moment im Bild festhalten«. Ein guter Fotograf, ein richtiger Profi, hatte Sandra ihm schon mehrmals erklärt, tat noch viel mehr: Er verwandelte den Moment. Aber Banks beließ es dabei.

  Norma Cheverel hatte allerdings recht, was die Knipserei anging. Seit es idiotensichere, billige Fotoapparate gab, knipsten Hinz und Kunz bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Schon oft war Banks von dem Blitzlicht der Touristen, die in einem Pub oder Restaurant »den Moment festhalten« wollten, fast erblindet. Beinahe so schlimm wie der Wahnsinn mit den Handys.

  »War Kim Fosse auch so?«, fragte er.

  »Sie hatte eine schicke neue Kamera, die hat sie immer mitgenommen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Hören Sie, ich -«

  »Haben Sie Nachsicht mit mir, Ms Cheverel!«

  »Norma, bitte.«

  Banks überhörte das Angebot. Die vertrauliche Anrede mit dem Vornamen behielt er sich für den Umgang mit Verdächtigen vor, nicht für die Zeugenvernehmung. »Wissen Sie, ob Kim Affären hatte?«

  Diesmal ließ Norma Cheverel das Schweigen wirken. Banks hörte, dass der Lüfter in ihrem Computer die Festplatte kühlte. Sorgfältig drückte sie ihre lange Zigarette aus, überzeugte sich, dass sie nicht mehr vor sich hin glomm, trank einen Schluck Kaffee, drehte sich ein wenig im Stuhl und sagte: »Ja, doch, hatte sie. Auch wenn ich in dem Fall nicht von Affären sprechen würde.«

  »Wie würden Sie es dann nennen?«

  »Eigentlich waren es reine Zufallsbekanntschaften. Sie bedeuteten ihr nichts.«

  »Und mit wem?«

  »Sie hat keine Namen genannt.«

  »Hatte sie letztes Wochenende in London auch so ein Techtelmechtel?«

  »Ja. Sie hat mir auf der Rückfahrt davon erzählt. Hören Sie, Inspector Banks, Kim war kein schlechter Mensch. Sie brauchte bloß etwas, was David ihr nicht geben konnte.«

  Banks holte das Foto des Mannes im dunkelblauen Anzug aus seiner Aktentasche und schob es über den Tisch. »Kennen Sie den?«

  »Das ist Michael Bannister. Er arbeitet bei einer Büroeinrichtungsfirma in Preston.«

  »Hatte Kim Fosse etwas mit ihm an diesem Wochenende?«

  Norma drehte sich auf dem Stuhl und biss sich auf die Lippe. »Sie hat nicht gesagt, dass er es war.«

  »Wundert Sie das?«

  Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist verheiratet. Nicht dass das heutzutage etwas heißen würde. Angeblich liebt er seine Frau heiß und innig, aber sie ist nicht sehr kräftig. Hat irgendwas am Herzen oder so.« Norma zog die Nase hoch, nieste und nahm sich ein Taschentuch.

  »Was hat Kim Ihnen über das Wochenende erzählt?«

  Norma Cheverel verzog die Mundwinkel zu einem seltsamen schiefen Grinsen. »Ach, Inspector Banks, wollen Sie das wirklich wissen? Wenn Frauen über Sex reden, ist das viel schmutziger als bei Männern, wissen Sie.«

  Obwohl Banks merkte, dass er rot anlief, sagte er: »Das habe ich schon gehört. Hat sie sich jemals Sorgen gemacht, ihr Ehemann könnte etwas herausfinden?«

  »O ja. Ich durfte es unter keinen Umständen David erzählen. Als ob ich das getan hätte! Er ist sehr eifersüchtig und jähzornig.«

  »Hat er ihr jemals etwas getan?«

  »Nur einmal. Beim letzten Mal, als wir auf einer Tagung waren. Er hatte offenbar versucht, sie nach zwölf auf ihrem Zimmer zu erreichen - irgendetwas war mit dem Hund -, aber sie war nicht da. Als sie nach Hause kam, flippte er aus, beschimpfte sie als Nutte und schlug sie.«

  »Wie lange waren die beiden verheiratet?«

  Norma schniefte wieder und putzte sich die Nase. »Vier Jahre.«

  »Wie lange arbeiten Sie schon mit Kim Fosse zusammen?«

  »Seit sechs Jahren. Als wir angefangen haben, hieß sie noch Kim Church. Da hatte sie gerade ihren Master gemacht.«

  »Wie kamen Sie miteinander aus?«

  »Sehr gut. Ich kümmere mich um das Finanzielle, und Kim war zuständig für Marketing und Verkauf.«

  »Sind Sie verheiratet?«

  »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Inspector Banks, aber nein, bin ich nicht. Mir ist einfach noch nicht der Richtige über den Weg gelaufen«, sagte sie kühl, und dann, mit einem Blick auf ihre goldene Uhr: »Haben Sie noch weitere Fragen?«

  Banks erhob sich. »Nein, das wär's fürs Erste. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

  Sie stand ebenfalls auf und kam um den Tisch herum, um ihn zur Tür zu bringen. Ihr Handschlag zum Abschied war etwas forscher und kühler als bei der Begrüßung.

 

 

* 4

 

»Das heißt, Kim Fosse war diskret, machte aber dennoch Fotos?«, fragte Susan, als sie sich am späten Vormittag in Banks' Büro trafen. »War sie frivol?«

  »Könnte sein. Oder einfach unvorsichtig. Die Bilder sind relativ harmlos.« Die sieben Aufnahmen des Films, der noch im Fotoapparat gewesen war, zeigten denselben Mann im Hotelzimmer, auch das Datum war identisch: 14. 11. 93.

  »Michael Bannister«, las Susan ab. »Verkaufsdirektor bei Office Comforts Ltd in Preston, Lancashire. Wohnt mit seiner Frau Lucy in Blackpool. Keine Kinder. Seine Frau hat einen angeborenen Herzfehler, muss Medikamente nehmen, braucht viel Aufmerksamkeit. Seine Kollegen sagen, er betet sie an.«

  »Also nur ein kleiner Fehltritt?«, vermutete Banks. Er ging zur kaputten Jalousie und schaute hinunter auf den verregneten Marktplatz, auf dem nur zwei Autos standen. Die goldenen Zeiger auf dem blauen Zifferblatt der Kirchturmuhr zeigten elf Uhr neununddreißig.

  »So was kommt vor. Vielleicht öfter, als wir glauben.«

  »Ich weiß. Ich schätze, wir lassen es bei ihm besser etwas vorsichtig angehen.«

  »Wir haben ja keinen Grund, die Gesundheit seiner Frau zu gefährden, oder?«

  »Stimmt. Versuchen Sie, mit ihm einen Termin im Büro zu vereinbaren.« Banks sah aus dem Fenster und erschauderte. »Bei diesem grässlichen Wetter habe ich eh keine große Lust auf eine Fahrt ans Meer.«

 

 

* 5

 

Die Fahrt über die Pennines war ein Alptraum. Auf der A59 hatten sie fast durchgängig Lastwagen vor sich, die schmutzige Gischt aufwirbelten. In der Gegend um Clitheroe war die Sicht so schlecht, dass die Autos nur noch kriechend vorankamen. Im Regen waren die walförmigen Hügel entlang der Straße nur noch graue Umrisse. Banks hatte Birth of the Cool von Miles Davis eingelegt. Susan schien die Musik zu gefallen, zumindest beschwerte sie sich nicht.

  Das dreistöckige Bürogebäude in der Ribbleton Lane, östlich des Stadtzentrums, war aus rotem Ziegelstein. Die Empfangsdame führte Banks und Susan zu Bannisters Büro im ersten Stock.

  Im Vorzimmer saß eine Frau und tippte auf einer Computertastatur. Sie hatte Locken, war etwas draller und über vierzig. Zur Begrüßung kam sie ihnen entgegen. »Hallo, ich bin Carla Jacobs, Mr Bannisters Sekretärin. Im Moment ist jemand bei ihm, aber es dauert nicht mehr lange. Er weiß, dass Sie hier sind.«

  Banks und Susan betrachteten die Bilder der Firmenprodukte und die Auszeichnungen an den Wänden. Banks merkte, dass Carla Jacobs mehrmals herüberschaute. Nach ein paar Minuten drehte er sich um und sah gerade noch, wie sie den Blick abwandte.

  »Stimmt was nicht?«, fragte er.

  Sie errötete. »Ähm, nein. Doch. Ich meine, ich will nicht neugierig sein, aber hat Mr Bannister irgendwelchen Ärger?«

  »Warum fragen Sie?«

  »Ich bin eine gute Freundin von Lucy, also von Mr Bannisters Frau, und ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber -«

  »Doch, wir wissen von ihren Gesundheitsproblemen.«

  »Gut. Gut. Also, dann ...«

  »Haben Sie Grund zur Annahme, dass Mr Bannister in Schwierigkeiten sein könnte?«

  Sie hob die Augenbrauen. »Nein, nein! Aber wir haben ja nicht jeden Tag die Polizei im Haus.«

  In dem Moment ging die Tür auf. Ein kleiner, frettchenartiger Mann in einem schlechtsitzenden Anzug strahlte Carla an und huschte hinaus. In der Tür stand der Mann von den Fotos, Michael Bannister. Er winkte Banks und Susan herein.

  Es war ein großes Büro. Bannisters Schreibtisch, die Aktenschränke und Bücherregale nahmen die eine Hälfte ein, ein großer ovaler Konferenztisch die andere.

  Sie setzten sich an den Tisch, der so glattpoliert war, dass Banks sich darin spiegeln konnte. Susan holte ihren Block hervor.

  »Am letzten Wochenende waren Sie auf einem Geschäftskongress in London, stimmt das?«, begann Banks.

  »Ja, das stimmt.«

  »Haben Sie dort eine Frau namens Kim Fosse kennengelernt?«

  Bannister wandte den Blick ab. »Ja.«

  Banks zeigte ihm Fotos des Opfers, als es noch lebte. »Ist sie das?«

  »Ja.«

  »Haben Sie die Nacht mit ihr verbracht?«

  »Ich wüsste nicht, was das -«

  »Ja oder nein?«

  »Hören Sie, um Himmels willen! Meine Frau ...«

  »Wir fragen nicht nach Ihrer Frau.«

  »Und wenn?«

  »Hat sie diese Fotos von Ihnen gemacht?« Banks hielt Bannister die Bilder unter die Nase.

  »Ja«, erklärte Bannister.

  »Sie haben also mit Kim Fosse geschlafen, und sie hat Fotos gemacht.«

  »Das war aus einer Laune heraus. Ich meine, wir hatten was getrunken, ich -«

  »Verstehe«, sagte Banks. »Sie müssen sich nicht vor mir rechtfertigen.«

  Bannister fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Um was geht es überhaupt? Zieht das noch mehr nach sich?«

  »Kann ich nicht sagen«, erwiderte Banks und gab Susan ein Zeichen aufzustehen. »Kommt drauf an. Wir halten Sie auf dem Laufenden.«

  »Mensch, ich bitte Sie!«, sagte Bannister. »Denken Sie auch an meine Frau.« Unglücklich schaute er ihnen nach. Banks entdeckte einen besorgten Ausdruck auf Carla Jacobs' Gesicht.

  »Das war irgendwie ein Satz mit x, oder?«, sagte Susan auf dem Rückweg nach Eastvale.

  »Finden Sie?«, gab Banks lächelnd zurück. »Ich weiß nicht genau. Ich hatte den Eindruck, dass Bannister lügt. Und ich würde gerne wissen, was in Carla Jacobs' Kopf vorgeht.«

 

 

* 6

 

Sandra war unterwegs. Banks hängte seinen Regenmantel auf, ging direkt ins Wohnzimmer seiner Doppelhaushälfte im Süden von Eastvale und goss sich einen starken Laphroaig ein. Er hatte das Gefühl, bis auf die Knochen nass geworden zu sein. Er bereitete sich ein Sandwich mit Käse und Zwiebeln zu, zappte durch alle Fernsehsender, fand nichts Sehenswertes und legte eine CD von Bessie Smith ein.

  Vor der Hintergrundmusik von Woman's Trouble Blues dachte er über den Fosse-Fall nach. Der Single Malt wärmte ihn von innen. Warum bloß fühlte er sich so unwohl? Weil David Fosse so unschuldig wirkte? Weil er Norma Cheverels sexuellen Hunger gespürt hatte und es ihm unangenehm gewesen war? Weil Michael Bannister log? Und war Carla Jacobs in ihren Chef verliebt, oder schützte sie nur Lucy Bannister? Banks legte die Fotos auf den Couchtisch.

  Ehe er seine Fragen beantworten konnte, kehrte Sandra vom Fotografie-Unterricht zurück, den sie am örtlichen College erteilte. Sie beklagte sich bei Banks, dass es nur so wenig Menschen gebe, die den Unterschied zwischen einer Blende und einem Loch im Boden kannten. Banks hielt das für einen schlechten Vergleich, weil eine Blende doch irgendwie schon ein Loch war. Dann warf Sandra einen Blick auf die Fotos auf dem Couchtisch.

  »Was sind das, Beweise?«, fragte sie und wollte sie in die Hand nehmen, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück.

  »Du kannst ruhig«, sagte Banks. »Wir haben sie bereits untersucht.«

  Sandra nahm zwei Gruppenfotos in die Hand, sechs Personen in Abendkleidung, die dem Fotografen ihre Sektflöten entgegenhielten. Alle hatten rote Augen, Zeichen eines billigen automatischen Blitzes.

  »Ah«, machte Sandra. »Furchtbare Bilder.«

  »Angeberin«, sagte Banks. »Sie hat ja nicht so eine tolle Kamera wie du.«

  »Daran liegt es nicht«, entgegnete Sandra. »Das könnte ein fünfjähriges Kind mit einer Brownie besser machen. Was war das denn für ein Apparat?«

  »Eine Canon«, erklärte Banks und nannte das Modell. Der Aufkleber am Plastikbeutel hatte sich in sein Gehirn gebrannt.

  Sandra legte die Fotos zurück und runzelte die Stirn. »Eine was?«

  Banks wiederholte die Bezeichnung.

  »Das kann nicht sein.«

  »Warum nicht?«

  Sandra beugte sich vor, schob die langen blonden Strähnen hinter die Ohren und breitete die Fotos aus. »Na, weil alle hier drauf rote Augen haben«, sagte sie. »Aber die Kamera, von der du sprichst, macht keine roten Augen.«

  Banks machte ein fragendes Gesicht.

  »Weißt du, wie rote Augen entstehen?«, fragte Sandra.

  »Ich kann eine Blende nicht von einem Loch im Boden unterscheiden.«

  Sie stieß ihn an. »Bleib ernst, Alan. Wenn man in einem dunklen Zimmer ist, weiten sich die Pupillen. Die Iris öffnet sich, um mehr Licht hereinzulassen, damit man richtig sehen kann, genau wie die Blende des Fotoapparats. Verstehst du? Du weißt doch, wie das ist, wenn man ins Dunkle geht, und die Augen passen sich erst langsam an, oder?«

  Banks nickte. »Und weiter?«

  »Wenn man nun plötzlich in einen Lichtblitz guckt, hat die Iris keine Zeit mehr, sich zu schließen. Die roten Augen entstehen, weil der Blitz die Adern im Auge beleuchtet.«

  »Aber warum sieht man das nicht auf allen Blitzlichtfotos? Der Blitz hat doch nur Sinn, wenn man ihn im Dunkeln benutzt, oder?«

  »Normalerweise schon, aber man sieht rote Augen nur dann, wenn der Blitz direkt auf die Iris gerichtet ist. Wenn der Blitz von oben kommt, sieht man ihn nicht. Das ist ein anderer Winkel. Verstehst du?«

  »Ja. Aber ich kenne nicht viele Leute, die so einen Fotoapparat und einen separaten Blitz in der Hand halten.«

  »Stimmt. Weil es nämlich noch eine andere Möglichkeit gibt, rote Augen zu vermeiden. Die teureren Modelle, so wie das, das du eben genannt hast, geben vor der Belichtung mehrere kurze Blitze ab, so dass die Iris sich schließen kann. Eigentlich ganz einfach.«

  »Du meinst also, diese Fotos können auf keinen Fall mit dieser Kamera gemacht worden sein?«

  »Genau.«

  »Interessant«, meinte Banks. »Sehr interessant.«

  Sandra grinste. »Habe ich deinen Fall gelöst?«

  »Noch nicht, nein, aber ich hatte schon so meine Zweifel, und die hast du bestärkt.« Banks griff nach dem Telefon. »Nach dem, was du mir gerade gesagt hast, kann ich wenigstens dafür sorgen, dass David Fosse heute Nacht in seinem eigenen Bett schläft.«

 

 

* 7

 

Norma Cheverel war nicht erfreut, Banks und Susan am nächsten Morgen wiederzusehen. Sie begrüßte sie so ungeduldig und unhöflich, als sei sie eine schwerbeschäftigte Managerin, blätterte in Akten, während Banks sprach, und erwähnte zweimal einen Termin zum Mittagessen, der immer näher rückte. Eine Zeitlang ignorierte Banks ihre Unhöflichkeit, dann sagte er: »Lassen Sie jetzt vielleicht mal Ihr Rumgehampel und hören mir zu, Ms Cheverel?«

  Sie sah ihn herausfordernd an. Jetzt kam sie nicht mehr mit »Nennen Sie mich Norma«, und die sexuelle Spannung lief auf Sparflamme. Sie saß, so still sie konnte, und legte die Hände auf den Tisch.

  »Jawohl«, sagte sie. »Irgendwie erinnern Sie mich an einen alten Lehrer.«

  »Haben Sie einen Fotoapparat, Ms Cheverel?«

  »Ja.«

  »Was für einen?«

  Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. So einen billigen, wie heute alle haben.«

  »Hat der einen automatischen Blitz?«

  »Ja. Haben die doch alle, oder?«

  »Was ist mit roten Augen?«

  »Was soll damit sein? Hab ich vielleicht welche?«

  Banks erklärte es ihr. Sie fing wieder an, mit ihren Unterlagen herumzuspielen. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir Ihren Fotoapparat untersuchen dürften, Ms Cheverel.«

  »Aber warum -?«

  »Weil die Fotos auf dem Couchtisch am Tatort auf keinen Fall von Kim Fosses Kamera stammen. Darum.« Banks gab wieder, was Sandra ihm erklärt hatte und was am Vormittag durch Tests bestätigt worden war.

  Norma Cheverel breitete die Hände aus. »Dann hat sie halt jemand anders gemacht. Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun haben soll.«

  Banks warf Susan einen kurzen Blick zu. Sie sagte: »Ms Cheverel, stimmt es, dass Sie bei einer Grundstücksspekulation Anfang des Jahres fast fünfzigtausend Pfund verloren haben?«

  Norma Cheverels Blick hätte töten können. Durch zusammengebissene Zähne stieß sie hervor: »Meine Geschäfte gehen Sie einen -«

  »Irrtum«, widersprach Banks. »Susan und ich haben heute Morgen ein bisschen herumgeforscht. Es sieht aus, als ob Sie in den letzten zwei Jahren des Öfteren schlecht investiert hätten. Woher kam das Geld?«

  »Das war mein Geld. Alles.«

  Banks schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es kam aus Ihrer Firma.« Er beugte sich vor. »Wissen Sie, was ich noch glaube?«

  »Ist mir doch egal!«

  »Ich glaube, Ihre Kokainsucht kostet Sie ein Vermögen, habe ich recht?«

  »Wie können Sie es wagen!«

  »Ich habe doch gemerkt, wie nervös Sie sind, dass Sie nicht still sitzen können. Und dann dieses ständige Schniefen. Komisch, heute Morgen scheint es besser zu sein mit Ihrer Erkältung. Wie viel ziehen Sie sich im Jahr durch die Nase, hm? Zehn-, zwanzigtausend?«

  »Ich will meinen Anwalt sprechen.«

  »Ich glaube, dass Sie Ihre Geschäftspartnerin betrogen haben, Ms Cheverel. Sie trieben es so weit, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Kim Fosse es herausfinden würde. Sie haben uns gesagt, dass Sie die Buchführung machen und Mrs Fosse für das Marketing verantwortlich war. Besser ging es doch gar nicht! Es dauerte eine Zeit lang, bis Ihre Kollegin merkte, dass etwas nicht stimmte, aber ewig konnten Sie es nicht vor ihr verheimlichen. Also haben Sie sich einen Plan zurechtgelegt, wie Sie Mrs Fosse loswerden und die Schuld ihrem Ehemann in die Schuhe schieben könnten. Wir wissen nur von Ihnen, dass Kim Fosse promisk gewesen sein soll. Wir haben nur Ihre Aussage, dass David Fosse angeblich so eifersüchtig war, dass er nicht vor Gewalt zurückschreckte.«

  »Da können Sie jeden fragen«, sagte Norma Cheverel. »Das werden Ihnen alle bestätigen. Alle haben Kims blaues Auge nach dem letzten Kongress gesehen.«

  »Darüber wissen wir Bescheid. David Fosse hat es uns heute Morgen erzählt. Es hat ihm sehr, sehr leidgetan. Der einzige Mensch, dem sich Kim anvertraut hat, waren allerdings Sie, und Sie haben die Gelegenheit ergriffen, den unglücklichen Ausrutscher zu einem großen Lügengebilde aufzubauschen.«

  »Das ist doch völlig absurd!« Norma drehte sich im Stuhl und griff zum Telefon. »Ich rufe jetzt meinen Anwalt an.«

  »Bitte sehr«, sagte Banks. »Auch wenn Ihnen noch nichts zur Last gelegt wird.«

  Der Telefonhörer schwebte zwischen Kopf und Gabel. Norma grinste. »Stimmt«, sagte sie. »Meinetwegen können Sie mir sonst was vorwerfen. Beweisen können Sie nämlich gar nichts! Die Sache mit dem Fotoapparat hat nichts zu bedeuten, das wissen Sie genauso gut wie ich.«

  »Es beweist, dass Kim Fosse diese Fotos nicht gemacht hat. Was wiederum bedeutet, dass sie ihr jemand untergeschoben haben muss, damit es so aussieht, als sei sie nicht nur leichtsinnig, sondern richtig dumm gewesen.«

  Norma legte den Hörer wieder hin. »Sie können nicht beweisen, dass ich es war. Das möchte ich sehen.«

  Banks stand auf. Er gab es nur ungern zu, aber die Frau hatte recht. Falls sie niemanden auftreiben konnten, der sie oder ihr Auto zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Hauses gesehen hatte, hatten sie nichts in der Hand. Und Norma Cheverel gehörte nicht zu den Menschen, die etwas gestehen. Sie waren mit ihrem Latein am Ende. Aber wenigstens wussten Banks und Susan beim Verlassen des Büros, dass Norma Cheverel Kim Fosse umgebracht hatte. Der Rest war lediglich eine Frage der Zeit.

 

* 8

 

Es dauerte zwei Tage, bis der Durchbruch kam, und er kam von völlig unerwarteter Seite.

  Nach der Vernehmung von Norma Cheverel ordnete Banks als Erstes eine zweite Haus-zu-Haus-Befragung in Fosses Nachbarschaft an, diesmal, um herauszufinden, ob jemand am fraglichen Abend Norma Cheverel oder ihr Auto bemerkt hatte. Ein Zeuge konnte sich erinnern, einen grauen Wagen deutschen Fabrikats gesehen zu haben, aber näher kamen sie nicht heran an eine Beschreibung von Normas silbernem BMW.

  Als Nächstes erhielt Banks eine Liste von allen 150 Kongressteilnehmern und stellte ein Team zusammen, das herumtelefonieren und herausbekommen sollte, ob sich jemand erinnern konnte, dass Norma Cheverel beim Abendessen Fotos gemacht hatte. Ohne Erfolg hatten sie bereits einundsiebzig Personen angerufen, da klingelte Banks' Telefon.

  »Hier ist Carla Jacobs, Inspector Banks. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern; ich bin Mr Bannisters Sekretärin.«

  »Ich weiß Bescheid«, erwiderte Banks. »Was gibt es?«

  »Tja, das wollte ich eigentlich Sie fragen. Wissen Sie, ich habe mit Lucy gesprochen, und sie macht sich solche Sorgen, dass Michael irgendwelchen Ärger hat, es beeinträchtigt schon ihre Gesundheit.«

  »Mr Bannister hat keinen Ärger, soweit mir bekannt ist«, entgegnete Banks. »Er hat lediglich eine unglückliche Taktlosigkeit begangen, mehr nicht. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«

  »Aber das ist es ja gerade«, sagte Carla Jacobs. »Wissen Sie, Lucy meint, dass er sich sonderbar benimmt. Er sei trübsinnig. Und verschlossen. Er spricht nicht mit ihr. Selbst wenn die beiden zusammen sind, kommt sie nicht an ihn heran. Es macht sie fertig. Ich dachte, ob Sie vielleicht mit ihr sprechen könnten - sie einfach beruhigen.«

  Banks seufzte. Er sollte also das Kindermädchen spielen. »Na gut«, sagte er. »Ich rufe sie an.«

  »Ja, wirklich? Vielen Dank! Das ist unheimlich lieb von Ihnen!« Carla senkte die Stimme. »Mr Bannister ist in seinem Büro. Sie sitzt zu Hause am Telefon.«

  Schon beim ersten Klingeln nahm Lucy Bannister ab. »Ja?«

  Banks stellte sich vor.

  »Ich mache mir solche Sorgen um Michael«, platzte sie heraus, als hätte sie die ganze Woche darauf gewartet, diesen Satz loszuwerden. »So war er noch nie, noch nie! Hat er etwas Schlimmes getan? Sie wollen ihn doch nicht verhaften, oder? Bitte, Sie können mir ruhig die Wahrheit sagen!«

  »Nein«, antwortete Banks. »Nein, er hat nichts getan, und nein, wir verhaften ihn nicht. Er hat uns lediglich bei unseren Ermittlungen geholfen.«

  »Das kann ja sonst was heißen. Was für Ermittlungen?«

  Kurz überlegte Banks, ob er es sagen sollte. Egal, entschied er. »Er war am letzten Wochenende auf einem Kongress in London. Wir interessieren uns für eine andere Person, die ebenfalls da war, mehr nicht.«

  »Und das ist alles?«

  »Ja.«

  »Es ist nichts Ernstes?«

  »Für Ihren Mann nicht.«

  »Vielen Dank. Sie wissen gar nicht, was das für mich bedeutet.« Banks hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. »Weil ich herzkrank bin, nimmt Michael immer besonders viel Rücksicht auf mich, verstehen Sie. Ich bestreite nicht, dass ich schwächlich bin, aber manchmal denke ich, dass er es ein bisschen übertreibt.« Sie überlegte und lachte leise. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle. Wahrscheinlich, weil ich so erleichtert bin. Michael ist ein ganz normaler Mann. Mit ganz normalen Bedürfnissen. Ich weiß, dass er manchmal andere Frauen hat, aber ich spreche ihn nicht darauf an, weil ich weiß, dass es ihm peinlich wäre. Er verheimlicht es vor mir, um mir keinen Kummer zu machen, und für mich ist es einfacher, ihn in dem Glauben zu lassen.«

  »Das kann ich nachvollziehen«, sagte Banks und hörte doch nur mit halbem Ohr zu. Warum war er nicht schon vorher auf die Idee gekommen? Jetzt wusste er, in welcher Hinsicht Michael Bannister gelogen hatte und warum. »Hören Sie, Mrs Bannister«, unterbrach er sie, »vielleicht könnten Sie uns helfen. Glauben Sie, dass Sie eventuell mit Ihrem Mann reden könnten, ihm sagen, dass Sie Bescheid wissen?«

  »Ich weiß nicht. Ich möchte ihn nicht aufregen.«

  Banks spürte Ärger in sich aufsteigen. Die Bannisters waren so sehr damit beschäftigt, die Gefühle des Partners zu schonen, dass kein Platz für die Wahrheit blieb. Fast konnte er hören, wie sie auf ihrer Unterlippe herumbiss. Er versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Es könnte sehr wichtig sein«, sagte er. »Und ich bin mir sicher, dass es nicht schaden wird. Wenn er deswegen Schuldgefühle haben sollte, könnten Sie ihm helfen, sie zu überwinden, oder?«

  »Wahrscheinlich schon.« Sie zögerte noch, freundete sich jedoch langsam mit der Vorstellung an.

  »Damit würden Sie ihm sicherlich helfen, und auch Ihrer Beziehung würde es guttun.« Innerlich wand sich Banks ob seiner Wortwahl. Erst Kindermädchen und jetzt Eheberater.

  »Vielleicht.«

  »Machen Sie es also? Sprechen Sie mit ihm?«

  »Ja.« Entschlossenheit in der Stimme. »Ja, ich rede mit ihm, Mr Banks.«

  »Und würden Sie mir noch einen Gefallen tun?«

  »Wenn ich kann.«

  »Würden Sie ihm meine Telefonnummern geben und ihm sagen, dass er mich anrufen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass ihm etwas zur Last gelegt wird, falls ihm noch irgendetwas einfallen sollte?« Er nannte ihr seine Nummer auf der Dienststelle und zu Hause.

  »Ja.« Sie wusste nicht, wovon er sprach, aber das war egal.

  »Es ist sehr wichtig, dass Sie ihm sagen, dass keine Klage gegen ihn erhoben wird und dass er mit mir persönlich sprechen soll. Haben Sie das verstanden?«

  »Ja. Ich weiß ja nicht, worum es geht, aber ich mache, was Sie mir gesagt haben. Und vielen Dank.«

  »Ich danke Ihnen.« Banks ging zum Mittagessen im Queen's Arms. Es war noch zu früh, um zu feiern, aber er drückte die Daumen, als er über die Market Street in den schwachen November-Sonnenschein ging.

 

 

* 9

 

Norma Cheverels Luxuswohnung war so elegant und teuer eingerichtet, wie Banks erwartet hatte. Einige der Bilder an den Wänden waren Originale. All ihre Möbel sahen handgefertigt aus. Sie hatte sogar einen Eichentisch aus der Werkstatt von Robert Thompson in Kilburn. Banks erkannte das Markenzeichen: In eins der Beine war eine Maus geschnitzt.

  Als Banks und Susan am Abend um halb acht auftauchten, hatte Norma gerade das Geschirr vom Abendessen in der Spülmaschine verstaut. Sie hatte die Businesskleidung abgelegt und trug schwarze Leggings, die ihre wohlgeformten Beine betonten, dazu einen grünen Wollpullover, der ihr kaum über die Hüften reichte. Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander, eine Zigarette in der Hand.

  »Und?«, fragte sie. »Muss ich meinen Anwalt anrufen?«

  »Ich glaube, ja«, entgegnete Banks. »Aber zuerst möchte ich, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten.«

  »Ohne meinen Anwalt werde ich kein einziges Wort sagen.«

  »Auch gut«, meinte Banks. »Ist Ihr gutes Recht. Dann rede ich halt alleine.«

  Sie schniefte und klopfte ein kleines Stück Asche ab. Das übergeschlagene Bein wippte auf und ab, als ob ein Arzt unablässig ihren Reflex prüfte.

  »Ich kann Ihnen auch gleich sagen, dass Michael Bannister eine Zeugenaussage gemacht hat«, begann Banks.

  »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

  »Ich glaube schon. Sie waren es, die beim Essen und hinterher im Hotelzimmer diese Fotos gemacht hat. Sie haben die Nacht mit Michael Bannister verbracht, nicht Kim Fosse.«

  »Das ist doch albern!«

  »Nein, ist es nicht. Sie sagten ihm hinterher, falls ihn jemand fragte, sollte er sagen, er hätte mit Kim Fosse geschlafen, sonst würden Sie es seiner Frau erzählen. Sie wussten, dass Lucy herzkrank ist und er Angst hatte, der Schock würde sie umbringen.«

  Norma wurde blass. Banks kratzte an der kleinen Narbe neben seinem rechten Auge. Wenn sie juckte, bedeutete das oft, dass er auf der richtigen Spur war. »Wie sich herausgestellt hat«, fuhr er fort, »war Lucy Bannister durchaus bewusst, dass ihr Mann gelegentlich mit anderen Frauen schlief. Sie sprachen nur nicht darüber. Er glaubte, er müsse ihre Gefühle schonen; sie glaubte, dasselbe zu tun. Ich habe den beiden vorgeschlagen, darüber zu sprechen.«

  »Schwein!«, zischte Norma Cheverel. Banks wusste nicht, ob sie ihn oder Michael Bannister meinte.

  »Sie verführten Bannister und legten die inkriminierenden Fotos auf Kim Fosses Couchtisch, nachdem Sie sie umgebracht hatten. Wir sollten glauben, dass ihr Mann es in einem Anfall von Eifersucht getan hatte. Eifersucht, an die zu glauben Sie uns eingeredet hatten. Außerdem haben wir im Fotolabor nachgefragt. Sie waren mit Sicherheit bei Fotomat, weil es unpersönlich, voll und schnell ist, aber der Verkäufer konnte sich erinnern, dass Sie am Mittwoch die Bilder abholten, nicht Kim Fosse. Schönheit hat auch ihre Nachteile, Norma.«

  Sie stand auf, warf das Haar nach hinten und goss sich etwas zu trinken ein. Banks und Susan bot sie nichts an. »Sie haben vielleicht Nerven«, sagte sie. »Und eine unglaubliche Phantasie. Sie sollten zum Fernsehen gehen.«

  »Sie wussten, dass David Fosse jeden Abend zwischen Viertel vor sieben und halb acht mit dem Hund vor die Tür ging, egal bei welchem Wetter. Es war kein Problem für Sie, zum Haus zu fahren, den Wagen in einiger Entfernung zu parken, von der arglosen Kim hereingelassen zu werden, sie schließlich mit dem Pokal zu erschlagen - Handschuhe hatten Sie noch an - und die Fotos auf den Tisch zu legen. Danach mussten Sie uns nur noch von Kims Untreue und der Aggressivität und Eifersucht ihres Mannes überzeugen. Es steckte ja auch ein Körnchen Wahrheit drin. Nur mit Lucy Bannister hatten Sie nicht gerechnet, was?«

  »Das ist absolut lächerlich«, entgegnete Norma. »Was ist mit dem Film im Fotoapparat? Die Fotos hat Kim gemacht!«

  »Ich habe nicht gesagt, dass ein Film im Fotoapparat war«, widersprach Banks. »Das schien anfangs einleuchtend zu sein, aber dieser Film konnte auf gar keinen Fall auf Kims Kamera belichtet worden sein, denn dann hätte Michael Bannister keine roten Augen auf den Bildern.«

  »Das sind nichts als Indizien.«

  »Kann sein. Aber es passt alles zusammen. Glauben Sie mir, Norma, wir haben schlüssige Beweise, und die Chancen stehen gut, dass irgendetwas haften bleibt. Der erste Film hat Ihnen nicht gereicht, was? Wir hätten auf die Idee kommen können, dass er untergeschoben war. Aber mit einem zweiten Film in der Kamera, von dem ein Bild die gleiche Szene und dieselbe Person zeigt, war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir den fotografischen Beweis näher untersuchen würden. Wie haben Sie das gemacht? Ich denke, Kim hatte an dem Abend vielleicht ein bisschen zu viel getrunken, Sie brachten sie zu Bett. Dabei nahmen Sie Kims Zimmerschlüssel an sich. Irgendwann nachts, als Sie mit Michael Bannister fertig waren, drehten Sie den zweiten Film manuell im Dunkeln zurück, bis nur noch ein kleines Stück aus der Spule schaute, dann gingen Sie zu Kim Fosse und legten ihn in deren Kamera. Den Film, der drin war, warfen Sie in den Müll.«

  »Ah, verstehe. So schlau bin ich also? Dann haben Sie ja bestimmt meine Fingerabdrücke auf dem Film gefunden, oder?«

  »Die Bilder waren verschmiert, wie Sie ohne Zweifel wissen dürften, Sie haben Fotos und Apparat abgewischt. Als Sie den neuen Film eingelegt hatten, machten Sie im Dunkeln sieben Fotos mit ausgestelltem Blitz und verschlossenem Objektiv. Auf diese Weise würde der bereits belichtete Film nicht zum zweiten Mal belichtet. Als Sie ihn zum achten Bild gedreht hatten, brachten Sie ihn in Kim Fosses Zimmer zurück.«

  »Es freut mich ja, dass Sie mich für so genial halten, Inspector Banks, aber ich muss -«

  »Ich halte Sie überhaupt nicht für genial«, erklärte Banks. »Sie sind genauso dumm wie alle, die glauben, mit dem perfekten Verbrechen davonzukommen.«

  Blitzschnell griff Norma Cheverel zum Aschenbecher und warf ihn nach Banks. Er duckte sich zur Seite. Der Aschenbecher sauste an seinem Ohr vorbei und flog in die Scheibe der Bar.

  Banks erhob sich. »Jetzt können Sie Ihren Anwalt anrufen, Norma.«

  Aber Norma Cheverel hörte ihm gar nicht zu. Sie trommelte mit den Fäusten auf ihre Knie und schrie immer wieder: »Du Schwein! Du Schwein!«