* Sommerregen

Eine Inspector-Banks-Geschichte

 

* 1

 

»Wie oft sind Sie denn nun gestorben, Mr Singer?«

  »Vierzehnmal. Das heißt, ich habe bis jetzt vierzehn herausgefunden. Jeder Mensch wird ungefähr zwanzigmal wiedergeboren, sagt man. Aber ich spreche nur von meinem letzten Leben. Verstehen Sie, ich starb eines gewaltsamen Todes. Ich wurde ermordet.«

  Detective Constable Susan Gay notierte etwas auf dem vor ihr liegenden Block. Dabei fiel ihr auf, dass sie in den wenigen Minuten, die sie nun mit Jerry Singer gesprochen hatte, Kreise und Kringel gemalt hatte, ein wirres Gekritzel.

  Sie bemühte sich, ihre Skepsis zu verbergen. »Aha. Und wann war das?«

  »1966, im Juli. Das heißt, diese Woche ist es genau zweiunddreißig Jahre her.«

  »Verstehe.«

  Jerry Singer hatte sein Alter mit einunddreißig Jahren angegeben, das würde bedeuten, dass er ein Jahr vor seiner Geburt ermordet wurde.

  »Woher wissen Sie, dass es 1966 war?«, fragte Susan.

  Singer beugte sich vor. Er machte auf Susan einen sehr zerbrechlichen Eindruck: dünn, um nicht zu sagen mager, blitzende grüne Augen hinter einer Nickelbrille.

  Er sah aus, als würde er vom kleinsten Windstoß fortgeweht. Sein rotes Haar war so dünn und fein, dass Susan an Spinnweben denken musste. Er trug eine Jeans, ein rotes T-Shirt und einen grauen Anorak, dessen Schultern dunkel vom Regen waren. Singer hatte zwar behauptet, aus San Diego zu stammen, Susan konnte jedoch nicht die geringste Sonnenbräune an ihm erkennen.

  »Das ist so«, hob Singer an. »Es gibt keinen festen Zeitraum zwischen den einzelnen Inkarnationen, aber mein Channeller hat gesagt -«

  »Ihr was?«, unterbrach ihn Susan.

  »Mein Channeller, eine Art Verbindungsperson zur Welt der Seelen.«

  »Ein Medium?«

  »Nicht ganz.« Singer rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Aber so ähnlich. Eher eine Mittlerin, würde ich sagen.«

  »Aha, verstehe«, sagte Susan, obwohl sie gar nichts verstand. »Weiter!«

  »Also, sie hat mir gesagt, dass zwischen meinem letzten Leben und meinem jetzigen ein Zeitraum von ungefähr einem Jahr liegt.«

  »Woher weiß sie das?«

  »Sie weiß es halt. Das ist von Seele zu Seele unterschiedlich. Manche brauchen viel Zeit, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten und Pläne für die nächste Inkarnation zu machen. Andere Seelen wiederum können es gar nicht erwarten, in einem neuen Körper zu wohnen.« Jeff Singer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist man nach mehreren Leben auch einfach mal müde und braucht eine kleine Pause.«

  Nach Tagen wie diesem auch, dachte Susan. »In Ordnung«, sagte sie, »machen wir weiter. Sind Sie zum ersten Mal in Yorkshire?«

  »Ich bin zum ersten Mal überhaupt in England. Ich habe gerade meinen Abschluss in Zahnmedizin gemacht und wollte mir noch etwas gönnen, bevor es mit dem täglichen Trott losgeht.«

  Susan staunte. War das ein Witz gewesen? Singer lachte nicht. Ein esoterischer Zahnarzt, na, das war ja mal was Neues. Darf ich Ihnen beim Bohren die Tarot-karten deuten? Möchten Sie vielleicht eine kleine Reise zum Neptun machen, während ich die Wurzelfüllung vornehme? Susan musste sich zusammenreißen, um weiter mit ernster Miene zuzuhören.

  »Verstehen Sie«, fuhr er fort, »da ich ja noch nie hier war, muss es so gewesen sein, nicht wahr?«

  Susan merkte, dass sie etwas verpasst hatte. »Bitte?«

  »Es kam mir alles so bekannt vor, die Landschaft, alles. Das ist nicht einfach nur ein Dejä-vu-Erlebnis. Ich habe da auch so einen Traum. Bei der hypnotischen Rückführung sind wir noch nicht so weit, deshalb -«

  Susan hob die Hand. »Moment mal kurz! Ich komme nicht mehr mit. Was kam Ihnen so bekannt vor?«

  »Ach, ich dachte, das hätte ich bereits erklärt.«

  »Mir nicht.«

  »Der Ort. Wo ich ermordet wurde. Das war hier in der Nähe, in Swainsdale.«

 

 

* 2

 

Mit den Füßen auf dem Schreibtisch und einem dicken Lederordner auf dem Schoß saß Banks in seinem Büro, als Susan Gay den Kopf zur Tür hereinsteckte. Banks hatte den obersten Hemdknopf geöffnet, seine Krawatte hing schief.

  Eigentlich hätte er an der monatlichen Kriminalitätsstatistik arbeiten müssen, aber er lauschte lieber dem Sommerregen hinter dem angelehnten Fenster. Er harmonierte wunderbar mit Michael Nymons Soundtrack von Das Piano, der leise auf dem Walkman lief. Banks hatte die Augen geschlossen, träumte von Wellen, die auf einen sauberen weißen Sandstrand schäumten. Das Meer und der Himmel waren strahlend blau; hohe Palmen wiegten sich in der leichten Brise. Das Dorf am steilen Hang sah aus wie eine kubistische Collage.

  »Entschuldigen Sie die Störung, Chef«, sagte Susan, »aber ich glaube, wir haben da was.«

  Banks rieb sich die Augen. Er hatte das Gefühl, von ganz weit her zu kommen. »Schon gut«, sagte er. »Die Statistik geht mir sowieso auf den Geist.« Er warf den Ordner auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Was denn?«

  Susan trat ein. »Das ist etwas schwer zu erklären, Sir.«

  »Versuchen Sie's einfach!«

  Susan berichtete Banks von Jerry Singer. Banks' blaue Augen funkelten vor Belustigung und Neugier. Als Susan fertig war, dachte er kurz nach, richtete sich dann auf und stellte die Musik ab. »Warum nicht?«, meinte er. »Diese Woche ist noch nicht viel passiert. Lassen wir uns mal überraschen! Bringen Sie ihn herein!« Banks schloss den obersten Knopf seines Hemdes und rückte die Krawatte zurecht.

  Kurz daraufkehrte Susan mit Jerry Singer im Schlepptau zurück. Nervös sah sich der junge Mann im Büro um und nahm Banks gegenüber Platz. Sie stellten sich einander vor. Banks lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er fand es herrlich, wenn sich die Gerüche von Sommerregen und Qualm vermischten.

  »Vielleicht fangen Sie am besten noch mal ganz von vorne an«, sagte er.

  »Gut«, erwiderte Singer und schnupperte den blauen Dunst. »Ich beschäftige mich nun schon seit ein paar Jahren mit Rückführung, ich gehe zurück in frühere Leben, teils durch Hypnose. Es ist eine faszinierende Erfahrung, ich habe dabei sehr viel über mich gelernt.« Singer beugte sich vor und legte die Hände auf den Schreibtisch. Er hatte kurze, schmale Finger. »Beispielsweise war ich im fünfzehnten Jahrhundert die Frau eines venezianischen Kaufmanns. Ich hatte sieben Kinder und starb bei der Geburt des achten, mit nur neunundzwanzig Jahren. In meinem nächsten Leben war ich Schauspieler in einer elisabethanischen Truppe, den Lord Chamberlain's Men. Ich kann mich  erinnern, 1599 den Bardolph in Heinrich V. gespielt zu haben. Danach war ich -«

  »Ich verstehe«, unterbrach ihn Banks. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Mr Singer, aber könnten wir vielleicht ins zwanzigste Jahrhundert springen?«

  Singer dachte nach und sah Banks stirnrunzelnd an. »Sorry. Also, wie ich Detective Constable Gay schon erklärt habe, ist mir dieses Leben am wenigsten klar. Ich war ein Hippie. Glaube ich zumindest. Ich hatte lange Haare und lief in Kaftan und Schlaghosen herum. Als ich gestern Nachmittag durch Swainsdale fuhr, hatte ich ein wirklich überwältigendes Déja-vu.«

  »Wo genau war das?«

  »Kurz vor Fortford. Ich kam von Helmthorpe hoch, da wohne ich. Am Fluss erhebt sich ein kleiner Hügel. Die Bäume daraufsind ganz schief vom Wind. Kennen Sie den vielleicht?«

  Banks nickte. Er kannte die Stelle. Der Hügel war eigentlich ein Drumlin, eine Art Grundmoränenbuckel, den die letzte Eiszeit zurückgelassen hatte. Darauf standen sechs Bäume, vom starken Nordwestwind leicht nach Südosten geneigt. Der Hügel befand sich ungefähr zwei Meilen westlich von Fortford.

  »Ist das alles?«, fragte Banks.

  »Ob das alles ist?«

  »Ja?« Banks beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Sie wissen doch bestimmt, dass es verschiedene Erklärungen für Déja-vus gibt, Mr Singer, oder? Vielleicht waren Sie schon mal an einem ähnlichen Ort, und der Drumlin erinnert Sie daran?«

  Singer schüttelte den Kopf. »Ich kann verstehen, dass Sie mir nicht glauben«, sagte er. »Ich kann Ihnen auch keine konkreten Beweise vorlegen, aber dieses Gefühl ist unmissverständlich. Ich bin da schon mal gewesen, in einem früheren Leben. Das weiß ich genau. Und das ist noch nicht alles. Es gibt ja auch noch diesen Traum.«

  »Was für einen Traum?«

  »Es ist immer derselbe. Ich fahre durch eine Landschaft, die sehr stark der von Swainsdale ähnelt, und es regnet, so wie heute. Ich komme zu einem sehr alten Haus aus Ziegelsteinen. Da sind Menschen, sie sprechen laut, aber ich weiß nicht, ob sie sich freuen oder streiten. Ich fühle mich eingesperrt und habe das Gefühl zu ersticken. Irgendwo weint ein Baby, es hört einfach nicht auf. Ich gehe eine knarrende Treppe hoch. Oben finde ich eine Tür und öffne sie. Dann habe ich das schreckliche Gefühl, unendlich tief zu fallen, und wache meistens schweißgebadet auf.«

  Banks dachte einen Augenblick nach. »Klingt sehr interessant«, sagte er, »aber haben Sie schon mal überlegt, dass Sie bei uns vielleicht an der falschen Adresse sind? Das Deuten von Träumen und Visionen gehört nicht zu unseren Spezialgebieten.«

  Singer war beharrlich. »Es war wirklich so«, sagte er. »Da wurde ein Verbrechen begangen. Und ich war das Opfer.« Er wies mit dem Daumen auf sich. »Es war Mord. Sie könnten mir wenigstens einen Gefallen tun und im Archiv nachsehen.« Singers sonderbare Mischung aus Naivität und Beharrlichkeit ließ die Luft beinahe knistern.

  Banks schaute ihn nachdenklich an und sah dann zu Susan hinüber, deren Miene ein gewisses Interesse verriet. Da auch Banks schon immer ein neugieriger Mensch gewesen war, ließ er sich zu einer positiven Antwort hinreißen. »Na gut«, meinte er und erhob sich. »Wir sehen uns das mal an. Wo wohnen Sie noch mal, sagten Sie?«

 

 

* 3

 

Am Rose and Crown in Fortford, einem weiß gekalkten Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, bog Banks rechts ab. Hinter der kleinen Steinbrücke, die über den Fluss führte, hielt er an.

  Es regnete noch immer. Die höher gelegenen grünen Hänge und das Netz aus Trockenmauern waren nicht zu sehen. Lyndgarth, eine Ansammlung von Kalksteincottages rund um eine Kirche und einen kleinen Dorfanger, sah aus wie das Werk eines Impressionisten. Die vom Regen geschwärzte Ruine von Devraulx Abbey auf dem Hügel links von Banks erhob sich über den Bäumen wie eine Szenerie für den Film Camelot.

  Banks kurbelte das Fenster herunter und lauschte dem Regen, der aufs Laub prasselte und auf dem Fluss tanzte. Im Westen sah er den Drumlin, mit dem Jerry Singer so starke Erinnerungen verband.

  Im Regen wirkte der Hügel unheimlich; es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass er ein Hügelgrab aus grauer Vorzeit war, in dem die Geister von Menschen der Bronzezeit spukten. Aber ein Drumlin ist kein Hügelgrab, sondern eine Endmoräne aus Gletscherschutt. Und Jerry Singer war in seinem letzten Leben kein Mann aus der Bronzezeit gewesen, sondern ein Hippie aus den sechziger Jahren. Zumindest glaubte er das.

  Mit offenem Fenster fuhr Banks durch Lyndgarth und parkte am Ende von Gristhorpes tief gefurchter Einfahrt vor einem gedrungenen Bauernhaus aus Kalkstein. Im Haus saß Gristhorpe am hinteren Fenster und starrte trübsinnig auf einen Steinhaufen und eine zur Hälfte fertige Trockenmauer. Banks wusste, dass der Superintendent sich eine Woche freigenommen hatte, weil er hoffte, an seiner Mauer arbeiten zu können, die ins Nichts führte und nichts schützte. Aber Gristhorpe hatte nicht mit dem Sommerregen gerechnet, der nun schon seit zwei Tagen ununterbrochen vom Himmel fiel.

  Er schenkte Banks eine Tasse Tee ein, die so stark war, dass man einen Löffel hineinstellen konnte, und bot ihm Scones an. Zusammen nahmen sie in Gristhorpes Arbeitszimmer Platz. Trollopes The Vikar of Bullhampton lag als Taschenbuch auf einem kleinen Tisch neben dem abgewetzten braunen Ledersessel.

  »Glauben Sie an Wiedergeburt?«, fragte Banks.

  Gristhorpe dachte kurz nach. »Nein. Warum?«

  Banks berichtete ihm von Jerry Singer. »Ich hätte gerne Ihre Meinung gewusst. Außerdem waren Sie damals hier, oder?«

  Gristhorpes buschige Augenbrauen hoben sich. »1966?«

  »Ja.«

  »Da war ich hier, aber das ist über dreißig Jahre her, Alan. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste. Außerdem, wieso glauben Sie, dass mehr dahintersteckt als esoterisches Gerede?«

  »Ich weiß nicht, ob mehr dahintersteckt«, erwiderte Banks. Sein Chef war zwar ein toleranter Mensch, dennoch wusste Banks nicht, wie er ihm sein Interesse erklären sollte. Teilweise war es Langeweile und die Abwegigkeit von Singers Behauptung, aber auch die Beharrlichkeit, mit der der Mann sie vortrug. Aber sollte Banks seinem Vorgesetzten etwa sagen, er sei so unterbeschäftigt, dass er nun schon im Übernatürlichen ermittelte? »Der Mann hatte so etwas Argloses«, erklärte er. »Es schien ihm so ernst zu sein, so wichtig.«

  »Den Besten erlahmt der Glaube, und die Schlimmsten sind voll von leidenschaftlicher Hingabe. W.B. Yeats«, entgegnete Gristhorpe.

  »Mag sein. Egal, ich bin jedenfalls später mit Jenny Füller verabredet.« Jenny war eine Psychologin, die schon mehrmals mit der Polizei von Eastvale zusammengearbeitet hatte.

  »Gute Idee«, gab Gristhorpe zurück. »In Ordnung. Also, nehmen wir einfach mal an, es stimmt, was er sagt. Er ist überzeugt, ein Hippie gewesen zu sein, der im Sommer 1966 in Swainsdale ermordet wurde, verstehe ich das richtig?«

  Banks nickte.

  »Weil er nämlich an Wiedergeburt glaubt, ein Deja-vu-Erlebnis und immer wieder denselben Traum hatte?«

  »Genau.«

  »Hm«, machte Gristhorpe. »Wenn wir mal beiseitelassen, ob Sie oder ich an Wiedergeburt glauben oder ob es so etwas überhaupt gibt - eine philosophische Spekulation, die man eh nicht bei Tee und Scones klären könnte -, gibt er uns nicht gerade viele Anhaltspunkte, oder?«

  »Das ist das Problem. Ich dachte, Sie würden sich vielleicht an etwas erinnern.«

  Seufzend rutschte Gristhorpe in seinem Sessel herum. Das abgewetzte Leder knarzte. »1966 war ich Sergeant, dreißig Jahre alt und hockte hier in der Einöde. Genau genommen bildeten wir damals nur eine Unterabteilung, aber ich trug die Verantwortung. Meistens untersuchte ich Einbrüche, hin und wieder einen Schafdiebstahl oder die Fälle von Marktschreiern, die mit Hehlerware handelten.« Gristhorpe trank einen Schluck Tee. »Wir hatten ein, zwei Mordfälle - ich erzähle Ihnen irgendwann mal davon, sie waren wirklich interessant -, aber nicht viel. Was ich damit sagen will, Alan, ist, dass ich mich an einen ermordeten Hippie erinnern würde, auch wenn mein Gedächtnis noch so schlecht ist.«

  »Passt denn nichts ins Muster?«

  »Nein. Ich will nicht sagen, dass es hier nicht den einen oder anderen Hippie gab, aber von denen wurde keiner umgebracht. Ich denke, Ihr Mr Singer hat sich geirrt.«

  Banks stellte seinen Becher auf den Tisch und erhob sich. »Dann setze ich mich mal lieber wieder an die Kriminalitätsstatistik«, sagte er.

  Gristhorpe grinste. »Ach so, deshalb interessieren Sie sich für dieses Ammenmärchen! Kann ich irgendwie verstehen. Tut mir leid, dass ich keine Hilfe bin. Aber Moment mal«, sagte er auf dem Weg zur Tür. »Da war natürlich der Sohn von Bert Atherton. Ich würde sagen, das war ungefähr zu der Zeit, die Sie meinen, plus/ minus zwei Jahre.«

  Banks blieb an der Tür stehen. »Atherton?«

  »Ja, genau. Hat einen Hof zwischen Lyndgarth und Helmthorpe. Hatte er jedenfalls. Ist längst tot. Ich meine nur, weil Athertons Sohn Joseph Hippie war.«

  »Was passierte damals?«

  »Er fiel die Treppe runter und brach sich das Genick. Die Familie ist nie drüber weggekommen. Wie gesagt, der alte Atherton ist vor ein paar Jahren gestorben, aber seine Frau wohnt immer noch da oben.«

  »Gab es keine Verdachtsmomente?«

  Gristhorpe schüttelte den Kopf. »Nein. Die Athertons waren ein anständiges Ehepaar, arbeiteten schwer. Der Sohn stattete ihnen offenbar auf dem Weg nach Schottland einen Besuch ab, wollte da oben in einer Kommune leben oder so. Er fiel die Treppe runter. Der Hof ist ziemlich abgelegen. Als der Krankenwagen eintraf, war es längst zu spät. Die nächste Telefonzelle war ja eine Meile weiter die Landstraße runter. Die Athertons waren völlig erschüttert. Er war ihr einziges Kind.«

  »Wieso stürzte er?«

  »Er wurde nicht gestoßen, falls Sie das meinen. Auf der Treppe lag kein Teppich, die Stufen waren ein wenig glatt. Der alte Atherton sagte, Joseph sei ohne Hausschuhe rumgelaufen und auf den Socken ausgerutscht.«

  »Und Sie hatten keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln?«

  »Nein. Aber damals hatte ich durchaus einen Verdacht.«

  »Nämlich?«

  »Die Leichenschau ergab, dass Joseph Atherton heroinsüchtig war, auch wenn zum Zeitpunkt des Todes keine Drogen in seinem Blut nachzuweisen waren. Ich vermutete, dass er in seinem Zimmer Marihuana geraucht hatte oder so. Und dass er deshalb etwas wacklig auf den Beinen war.«

  »Haben Sie das Haus durchsucht?«

  Gristhorpe schnaubte verächtlich. »Ach was, Alan! Warum sollten wir den Eltern noch mehr Kummer bereiten? Was wäre gewesen, wenn wir etwas gefunden hätten? Hätten wir ihnen Drogenbesitz zur Last legen sollen?«

  »Verstehe.« Banks öffnete die Tür und stellte seinen Kragen hoch. »Ich seh mir vielleicht trotzdem mal die Akte an«, rief er auf dem Weg zum Auto. »Viel Spaß noch mit den restlichen Urlaubstagen!«

  Gristhorpes Fluch ging im Geräusch des aufheulenden Motors und im donnernden Finale von Mussorgskis Das große Tor von Kiew auf Classic FM unter. Banks hatte beim Aussteigen vergessen, das Radio auszuschalten.

 

 

* 4

 

Im Untergeschoss des Polizeipräsidiums von Eastvale waren außer den Arrestzellen und der Stube des Wachhabenden die alten Akten untergebracht. Der feuchte Lagerraum mit seinen verstaubten Regalen wurde von einer einzigen nackten Glühbirne beleuchtet. Banks hatte bisher 1965 und 1966 geprüft, aber noch nichts über die Athertons gefunden.

  Plus / minus zwei Jahre, hatte Gristhorpe gesagt. Ohne große Hoffnung griff Banks zu den Akten von 1964. Das wäre ein bisschen früh für Hippies gewesen, insbesondere im ländlichen Yorkshire.

  1964 nahmen die Beatles noch Balladen wie I'll Follow the Sun und alte Rocksongs wie Long Tall Sally auf, erinnerte sich Banks. John war noch ohne Yoko, auch von einem Sitar war noch keine Rede. Die Rolling Stones brachten Not Fade Away und It's All Over Now heraus, die Kinks hatten einen großen Hit mit You Really Got Me. In den Charts tummelten sich Dusty Springfield, Peter and Gordon, die Dave Clark Five und Herman's Hermits.

  Was tote Hippies anging, konnte man 1964 allerdings abschreiben. Trotzdem schaute Banks nach. Vielleicht war Joseph Atherton seiner Zeit voraus gewesen. Oder Jerry Singers Channeller hatte sich vertan, was den Zeitraum bis zur nächsten Geburt anging. Warum bloß erschien Banks dieses Verwirrspiel so irreal?

  Sein Magen knurrte. Abgesehen von dem Scone bei Gristhorpe hatte er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Er legte die Akte zur Seite. Es war zwar so gut wie sinnlos, nach 1966 weiterzusuchen, dennoch ließ ihm seine Neugier keine Ruhe. Als er gerade aufhören wollte, fand er den Fall: Joseph Atherton. Das Urteil des Gerichtsmediziners lautete: Unfalltod. Es gab nur ein Problem: Joseph Atherton war 1969 gestorben.

  Die Athertons hatten ausgesagt, sie hätten einen Brief von ihrem Sohn bekommen, er würde ihnen auf dem Weg nach Schottland einen Besuch abstatten. Er wolle sich einer Art Kommune anschließen und würde am 11. Juli 1969 um Viertel vor vier mit dem Zug von London am Bahnhof in Eastvale eintreffen. Um zehn Uhr abends war er tot. Er besaß kein Auto, sein Vater hatte ihn mit dem Landrover vom Bahnhof abgeholt.

  Banks entdeckte ein liniertes Blatt Papier mit vergilbten Rändern. Eine beigefügte Notiz erklärte, es handele sich um ein anonymes Schreiben, das ungefähr eine Woche nach dem Befund des Gerichtsmediziners im Polizeirevier von Eastvale eingegangen sei. Auf dem Blatt stand in Blockbuchstaben: FRAGEN SIE ATHERTON NACH DEM ROTEN VW.

  Dann kam ein kurzer Bericht über eine Vernehmung. Ein Police Constable Wythers hatte protokolliert, er habe die Athertons nach dem Wagen gefragt, aber sie hätten nicht gewusst, wovon er spreche. Das war's.

  In Banks' Augen bestand die Möglichkeit, dass der Fahrer des roten VWs Joseph Atherton umgebracht hatte. Aber warum sollten die Eltern lügen? Im Protokoll stand, sie hätten auf dem Hof gemeinsam zu Abend gegessen, Neuigkeiten über Verwandte ausgetauscht, Joseph sei hoch aufsein Zimmer gegangen, um auszupacken, und auf Socken wieder heruntergekommen. Vielleicht hatte er tatsächlich Marihuana geraucht, wie Gristhorpe vermutet hatte. Er rutschte auf dem Treppenabsatz aus und brach sich das Genick. Ein tragischer Unfalltod. Aber Banks suchte eigentlich etwas anderes.

  Er hörte ein Geräusch an der Tür. Als er aufschaute, sah er Susan Gay.

  »Was gefunden?«, erkundigte sie sich.

  »Vielleicht«, erwiderte Banks. »Ein oder zwei Ungereimtheiten. Aber ich habe keine Ahnung, was die bedeuten können. Langsam wäre mir lieber, Jerry Singer wäre hier nie aufgekreuzt.«

  Susan grinste. »Wissen Sie was, Sir?«, sagte sie. »Ich war kurz davor, ihm zu glauben.«

  Banks legte die Akte zur Seite. »Wirklich? Ich denke, es lohnt sich immer, für alles offen zu sein. Weshalb wir Mrs Atherton einen Besuch abstatten werden.«

 

 

* 5

 

Der Hof der Athertons lag so abgeschieden, wie Gristhorpe es beschrieben hatte. Der unaufhörliche Regen hatte die Zufahrt aufgeweicht. Mehrmals fürchtete Banks, aussteigen und schieben zu müssen, aber beim dritten Versuch fanden die Reifen Halt, und der Wagen machte einen Satz nach vorn.

  Der Hof machte einen vernachlässigten Eindruck: Überall wucherte Unkraut, das Scheunendach war zum Teil eingefallen, die Räder und Zinken des alten Heuwenders rosteten vor sich hin.

  Mrs Atherton öffnete augenblicklich die Tür. Banks hatte vorher angerufen, um sie nicht zu erschrecken. Eine Frau, die allein an so einem verlassenen Ort lebte, konnte schließlich nicht vorsichtig genug sein.

  Sie führte Banks und Susan in die große Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd. Die Steinwände wirkten durchaus sauber und gepflegt, aber Banks nahm den Geruch von vergammelndem Gemüse oder Fleisch wahr.

  Bei Mrs Athertons Anblick musste man unwillkürlich an Krankheit denken. Sie hatte eine gräuliche Gesichtsfarbe und schütteres graues Haar, ihre Augen waren gelblich trüb, die Pupillen milchig blau, sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Beim Teekochen bewegte sie sich langsam, als überlege sie genau, wie viel Energie sie für jeden Schritt aufbringen müsse. Wie sie hier bloß ganz allein zurechtkam, fragte sich Banks. Die Sturheit der Menschen in Yorkshire war legendär, manchmal grenzte sie aber auch an Selbstüberschätzung.

  Mrs Atherton stellte die Teekanne auf den Tisch. »Wir wollen ihn ein bisschen ziehen lassen«, sagte sie. »So, über was möchten Sie mit mir reden?«

  Banks wusste nicht, wie er anfangen sollte. Er hatte nicht die Absicht, Mrs Atherton von Jerry Singers früherem Leben zu erzählen oder sie zum Tod ihres Sohnes zu befragen. Das ließ ihm nicht viele Möglichkeiten.

  »Wie kommen Sie so zurecht?«, fragte er.

  »Muss ja irgendwie.«

  »Aber es muss schwer sein, so ganz allein den Hof zu bewirtschaften.«

  »Ach, is' ja nich' mehr viel zu tun. Jack Crocker passt auf die Schafe auf. Muss nur 'n paar Kühe melken.«

  »Haben Sie kein Geflügel?«

  »Nee, lohnt nicht mehr, bei den ganzen Legebatterien. Aber Sie sind doch von der Polizei, Sie sind doch bestimmt nich' hier, weil Sie mit mir über das Leben aufm Bauernhof reden wollen. Na los, sagen Sie schon!«

  Banks merkte, dass Susan den Kopf senkte und lächelte. »Tja, also«, begann er. »Es ist mir wirklich unangenehm, das schmerzliche Thema anzuschneiden, aber wir würden gerne mit Ihnen über den Tod Ihres Sohnes sprechen.«

  Mrs Atherton sah Susan an, als nähme sie sie erst jetzt wahr. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Dann wandte sie sich an Banks. »Über Joseph?«, fragte sie. »Aber der ist doch schon fast dreißig Jahre tot.«

  »Ich weiß«, sagte Banks. »Wir wollen Sie auch nicht lange belästigen.«

  »Da gibt's nichts zu erzählen.« Sie goss den Tee ein, gab Milch und Zucker dazu und setzte sich wieder.

  »Sie haben damals gesagt, Ihr Sohn hätte Ihnen vorher geschrieben?«

  »Ja.«

  »Haben Sie den Brief aufbewahrt?«

  »Was?«

  »Den Brief. Über den war nirgends etwas zu finden. In der Akte ist er auch nicht.«

  »Na, kann er wohl auch nicht. Wir lassen hier schließlich kein Papier rumliegen.«

  »Das heißt, Sie haben ihn weggeworfen?«

  »Ja, Bert oder ich.« Mrs Atherton schaute Susan an. »Das war mein Mann, Gott hab ihn selig. Woher hätten wir denn sonst gewusst, dass er kommen würde? Damals konnten wir uns noch kein Telefon leisten.«

  »Ich weiß«, sagte Banks. Leider hatte niemand am Bahnhof nachgefragt, ob Bert Atherton seinen Sohn tatsächlich abgeholt hatte. Jetzt war es zu spät. Er trank einen Schluck Tee. Er schmeckte, als sei der Teebeutel zum zweiten Mal verwendet worden. »Sie können sich nicht zufällig daran erinnern, damals einen roten VW in der Gegend gesehen zu haben?«

  »Nein. Das wurden wir damals schon gefragt. Hab damals nichts gewusst und weiß jetzt auch nicht mehr.«

  »War sonst noch jemand im Haus, als der Unfall passierte?«

  »Nein, natürlich nicht. Meinen Sie nicht, dass ich das längst gesagt hätte? Hören Sie, junger Mann, worauf wollen Sie hinaus? Wollen Sie mir irgendwas sagen? Muss ich irgendwas wissen?«

  Banks seufzte und trank noch einen Schluck. Auch der Duft des schwachen Tees konnte den Fäulnisgeruch in der Küche nicht vertreiben. Banks gab Susan ein Zeichen und erhob sich. »Nein«, sagte er. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Mrs Atherton. Ich jage ein Phantom, das ist alles.«

  »Hm, tut mir leid, aber das müssen Sie wohl woanders jagen, mein Junge. Ich hab noch zu tun.«

 

 

* 6

 

Um vier Uhr am Nachmittag war es still im Queen's Arms. Weil es regnete, waren kaum Touristen unterwegs, und die meisten Einwohner von Eastvale arbeiteten noch in den Büros und Geschäften rund um den Marktplatz. Banks bestellte eine Schweinepastete an der Theke, dann nahm er die Getränke und setzte sich mit Jenny Füller an einen Tisch in der Ecke. Mit dem ersten großen Schluck Theakston's Bitter spülte er den Archivstaub und den Fäulnisgeruch hinunter.

  »Und?«, sagte Jenny und hob das Glas wie zu einem Trinkspruch. »Welchem Umstand verdanke ich die Ehre?«

  Sie sieht umwerfend aus, dachte Banks: Das dicke rote Haar fiel ihr auf die Schultern, die smaragdgrünen Augen funkelten voller Humor und Lebensfreude, ihr frischer Duft vertrieb den kalten Rauchgeruch und ließ ihn an die Apfelgärten seiner Kindheit denken. Banks war zwar verheiratet, hätte aber einmal fast etwas mit Jenny angefangen. Hin und wieder verspürte er einen Stich des Bedauerns, es nicht versucht zu haben.

  »Wiedergeburt«, erwiderte Banks und stieß mit ihr an.

  Jenny hob die Augenbrauen. »Also, ich trinke ja auf so manches«, sagte sie, »aber ist das jetzt nicht ein bisschen hoch gegriffen, Alan?«

  Banks erklärte ihr, was er bisher herausgefunden hatte. Als er fertig war, wurde seine Schweinepastete serviert, dazu eine große eingelegte Zwiebel. Während Jenny über seine Schilderung nachdachte, viertelte er die Zwiebel und gab sich zum Dippen einen Klecks HP-Sauce auf den Teller.

  »Phantasie«, sagte sie schließlich.

  »Könntest du ein wenig deutlicher werden?«

  »Es gibt unglaublich viele sonderbare Phänomene, für die man eine logische Erklärung finden muss, wenn man nicht an Wiedergeburt glaubt. Ich bin natürlich keine Expertin für Parapsychologie, aber die meisten Menschen, die behaupten, schon einmal gelebt zu haben, kommen durch Hypnose, Träume oder Deja-vu-Erlebnisse auf diese Idee, wie du eben selbst gesagt hast. Manchmal auch durch spontane Erinnerungen.«

  »Was versteht man darunter?«

  »Wie der Name schon sagt: wenn man sich unvermittelt an ein anderes Leben erinnert. Kinder, die ohne Unterricht Klavier spielen können, Menschen, die plötzlich Fremdsprachen beherrschen, solche Sachen. Oder Erinnerungen, die man sich nicht erklären kann, die nicht aus dem eigenen Repertoire stammen können.«

  »Du meinst, wenn ich die Straße entlanggehe, plötzlich an einen römischen Soldaten denken muss und mir irgendein Wort auf Lateinisch einfällt, dann erinnere ich mich an ein früheres Leben?«

  Jenny warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Tu nicht so dumm, Alan! Natürlich glaube ich das nicht. Aber manche Leute schon. Die sind dermaßen naiv, das ist unglaublich, besonders wenn es ums Leben nach dem Tod geht. Nein, ich wollte damit nur sagen, dass die Anhänger der Wiedergeburtstheorie solche Erlebnisse als Beweis ansehen.«

  »Und wie würde eine logisch denkende Psychologin das erklären?«

  »Sie könnte argumentieren, dass das, woran sich jemand unter Hypnose, in Träumen oder unter welchen Umständen auch immer erinnert, nur ein Phantasiegebilde aus Versatzstücken ist, die er einmal gesehen oder gehört und dann vergessen hat.«

  »Aber Singer behauptet, noch nie hier gewesen zu sein.«

  »Es gibt Fernsehen, Bücher, Filme.«

  Banks hatte aufgegessen, trank einen Schluck Theaks-ton's und zündete sich eine Silk Cut an. »Du willst also sagen, dass unser Mr Singer vielleicht eine Folge zu viel von Der Doktor und das liebe Vieh geguckt hat?«

  Lachend warf Jenny das Haar zurück. »Würde mich nicht wundern.« Sie sah auf die Uhr und trank das Glas aus. »Tut mir leid, aber ich muss mich beeilen.« Augenblicklich sprang sie auf, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und war weg. Jenny war immer in Eile. Manchmal fragte Banks sich, wohin sie so schnell wollte.

  Er ließ sich durch den Kopf gehen, was sie gesagt hatte. Es leuchtete ihm ein, jedenfalls mehr als Singers Theorie von der Wiedergeburt und als der Verdacht, Joseph Athertons Eltern könnten den Mord an ihrem Sohn vertuscht haben.

  Aber es blieb die nicht überprüfbare Behauptung mit dem Brief und die anonyme Nachricht über den roten VW. Wenn Joseph Atherton von einem Fremden zum Hof gefahren worden war, dann hatten seine Eltern gelogen, was den Brief anging. Aber warum? Und wer könnte das Auto gefahren haben?

 

 

* 7

 

Als Banks zwei Tage später seine Post durchging, stieß er auf ein in Schreibschrift an ihn adressiertes Kuvert. Inmitten der Umläufe und offiziellen Mitteilungen stach es heraus wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Banks faltete den Brief auseinander, legte ihn vor sich auf den Tisch und las.

 

Lieber Mr Banks,

  ich bin kein großer Briefeschreiber, deshalb entschuldigen Sie meine Fehler. Weil ich ein kränkliches Kind war, habe ich nicht viel Unterricht bekommen, aber mein Vater hat uns immer gesagt, Lesen und Schreiben ist wichtig. Ich weiß nicht, warum Sie gekommen sind und die ganzen Fragen gestellt haben, aber Sie haben mich zu dem Entschluss gebracht, dass es Zeit ist, nach all den Jahren meinen Frieden mit Gott zu machen und die Wahrheit zu sagen. Was wir der Polizei gesagt haben, stimmt nicht. Unser Joseph hat uns nicht geschrieben, dass er kommen würde, und Bert hat ihn auch nicht vom Bahnhof abgeholt. Joseph tauchte eines Tages einfach so in einem roten Auto auf. Ich weiß nicht, wer der Polizei von dem roten Auto erzählt hat, vielleicht war es Len Grimond vom Hof weiter unten, er hatte sich nämlich mit Bert gestritten, wer die Ausbesserung der Mauer bezahlen soll.

  Aber es war nicht das Auto von unserem Joseph. Er kam mit einer amerikanischen Frau, die Annie hieß und selber fuhr. Sie hatten ein kleines Kind dabei, und sie sagten, es wäre ihres. Also war das wohl unser Enkelsohn, auch wenn wir noch nie von ihm gehört hatten. Unser Joseph hatte uns vier Jahre lang nicht besucht und nichts von sich hören lassen. Wir wussten gar nicht, ob er noch lebte. Der Kleine war ein lieber Junge, zwei oder drei Jahre alt, er guckte immer ganz ernst.

  Also, von Anfang an war klar, dass irgendwas nicht stimmte. Wir versuchten, gute, freundliche Eltern zu sein und die drei in unserem Haus aufzunehmen, aber die Frau hatte schlechte Laune und wollte nicht bleiben. Der Kleine weinte ständig, ich glaube, die kümmerten sich nicht richtig um ihn, aber das ging mich ja nichts an. Und Joseph benahm sich wirklich komisch. Er hatte ganz kleine, glasige Augen. Wir wussten nicht, was los war. Ich glaube, er wollte nur Geld, so hörte es sich jedenfalls an. Sie wollten nichts essen, obwohl ich einen guten Braten und Yorkshire-Pudding machte, aber unser Joseph stocherte nur im Essen herum, und die Frau saß mit langem Gesicht daneben, den Kleinen auf dem Arm, und wollte gehen. Sie meinte, sie wäre Vegetarierin. Nach dem Essen wurde Joseph irgendwie nervös und meinte, er müsste zur Toilette. Aber Bert fand schon komisch, wie er sich benahm, außerdem war er ein bisschen sauer, weil die beiden so unhöflich waren. Auch wenn Joseph unser Sohn war. Joseph blieb lange auf der Toilette. Bert rief zu ihm hoch, aber es kam keine Antwort. Die Frau meinte, wir sollten ihn in Ruhe lassen, und lachte, aber das war ein hässliches Lachen. Wir dachten, er wäre vielleicht krank, deshalb ging Bert nach oben und fand Joseph mit einem Strick um den Arm. Er hatte einen Löffel in der Hand und hielt ein Streichholz darunter. Es war einer von unseren Löffeln von der Silberhochzeit, den er, ohne zu fragen, aus der Küche genommen hatte. Wir waren nur dumme Bauern, wir wussten nicht, was es damals für Verbrechen und Drogen gab, nicht so wie Sie, Mr Banks, aber wir wussten, dass unser Joseph etwas Schlimmes tat. Bert verlor die Geduld und zerrte Joseph aus dem Badezimmer. Oben auf der Treppe beschimpfte Joseph seinen Vater. Er sagte Wörter, die ich noch nie gehört hatte und auch nicht wiederholen kann. Da verlor Bert die Geduld und schlug Joseph. Er wollte ihn nicht verletzen, weiß Gott nicht. Joseph war unser einziger Sohn, und wir liebten ihn, auch wenn er mir das Herz brach. Aber als Bert ihn schlug, fiel Joseph die Treppe runter, und als er unten lag, war sein Kopf so komisch verdreht. Ich wusste sofort, dass er sich das Genick gebrochen hatte. Die Frau fing an zu schreien, packte sich das Kind, lief nach draußen und fuhr weg. Wir haben sie nie wiedergesehen, unseren Enkel auch nicht, wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist. Als der Motor vom Auto nicht mehr zu hören war und Joseph ganz verdreht unten vor der Treppe lag, war es so still, wie man es sich nicht vorstellen kann. Wir fühlten nach seinem Puls, und Bert hielt ihm sogar einen Spiegel unter die Nase, um zu sehen, ob er von seinem Atem beschlug, aber es war nichts zu sehen. Ich weiß, wir hätten die Wahrheit sagen sollen, wir haben es all die Jahre lang bereut. Wir wurden zu anständigen, ehrlichen Menschen erzogen, die die Eltern, den lieben Gott und das Gesetz achten. Bert schämte sich, dass sein Sohn drogensüchtig war, er wollte nicht, dass es in der Zeitung stand. Ich wollte nicht, dass er ins Gefängnis kam, weil es ja eigentlich ein Unfall gewesen war und weil es ungerecht war. Ihm ging es sowieso schlecht genug, weil er seinen einzigen Sohn umgebracht hatte. Deshalb sagte ich, wir müssten die Drogen wegschmeißen und die Nadel und alles und Joseph die Schuhe ausziehen und sagen, er wäre auf der Treppe ausgerutscht. Wir wussten, dass die Polizei uns glauben würde, weil wir anständige Leute sind und keinen Grund hatten zu lügen. Das war am schwersten. Die Knoten in den Schnürsenkeln zogen sich fest und meine Fingernägel brachen ab, und am Ende habe ich so gezittert, dass ich eine Schere holen musste. Und das ist die ganze Wahrheit, Mr Banks. Ich weiß, dass wir einen Fehler gemacht haben, Bert war danach nicht mehr derselbe. Es gab keinen Tag, an dem er nicht weinte, weil er das getan hatte, und ich habe ihn nie wieder lachen sehen. Bis zum heutigen Tage wissen wir nicht, was aus unserem Enkelsohn geworden ist, aber wir hoffen, dass er gesund und glücklich ist und nicht so dumm wie sein Vater. Wenn Sie diesen Brief lesen, habe auch ich meine endgültige Ruhe gefunden. Ich habe schon seit zwei Jahren Krebs, und so oft sie ihn auch wegschneiden, er kommt immer wieder. Ich habe mir Tabletten aufgespart. Da ich jetzt mein Gewissen erleichtert habe, kann ich nur hoffen, dass der Herr mir meine Sünden vergibt und mich in seinen Schoß aufnimmt.

Mit freundlichen Grüßen

Betty Atherton

 

Banks legte den Brief beiseite und rieb sich mit dem Handrücken das linke Auge. Draußen regnete es noch immer, ein sanftes Hintergrundrauschen zu Finzis Klarinettenkonzert auf dem Walkman. Banks starrte auf das blaue Briefpapier mit Betty Athertons krakeliger Schrift, dann fluchte er vor sich hin, schlug mit der Faust auf den Tisch, ging zur Tür und rief nach Susan Gay.

 

 

* 8

 

»Sie heißt Catherine Anne Singer«, sagte Susan am nächsten Nachmittag. »Und sie war froh, mit mir reden zu können. Aber erst musste ich ihr versichern, dass wir ihr nichts anhängen würden, weil sie den Tatort verlassen hatte. Sie stammt aus einem Ort namens Garden Grove in Kalifornien und kam wie viele junge Amerikaner in den sechziger Jahren rüber, um durch Europa zu touren.«

  Die drei - Banks, Susan und Jenny Füller - saßen mit ihren Getränken an einem gehämmerten Kupfertisch im Queen's Arms und lauschten dem Sommerregen, der gegen die bunten Rauten der Fensterscheibe prasselte.

  »Das ist die Mutter von Jerry Singer?«, fragte Banks.

  Susan nickte. »Ja. Ich habe ihn gerade nach ihrer Telefonnummer gefragt, ohne ihm den Grund zu nennen.«

  Banks nickte. »Gut. Und?«

  »Sie landete irgendwann in London. Damals war es einfach, eine Stelle schwarz zu bekommen, einen Job, wo keiner große Fragen stellte. Irgendwann geriet sie an Joseph Atherton. Sie wohnten zusammen in einem möblierten Zimmer in Notting Hill. Joseph hielt sich damals für einen begnadeten Musiker -«

  »Wer nicht?«, fragte Banks. Er selbst hatte ein paar fruchtlose Gitarrenstunden genommen. »Sorry. Erzähl weiter!«

  »Viel mehr gibt's nicht zu erzählen. Sie wurde schwanger und behielt das Kind, obwohl Joseph sie offenbar zur Abtreibung überreden wollte. Sie nannte das Kind Jerry nach einem Gitarristen, den Joseph ganz toll fand, Jerry Garcia. Der Kleine kann von Glück sagen, dass Annie kein Heroin nahm. Bei Haschisch und LSD war bei ihr Schluss. Auf jeden Fall waren sie auf dem Weg zu einer buddhistischen Kommune irgendwo in Schottland, als Joseph meinte, sie könnten bei seinen Eltern vorbeischauen und versuchen, denen etwas Geld aus den Rippen zu leiern. Annie hielt nicht viel davon, machte aber mit.

  Es lief genau so ab, wie Mrs Atherton es geschildert hat. Annie bekam es mit der Angst zu tun und flüchtete. Wieder in London, beschloss sie, es sei an der Zeit, in die Staaten zurückzukehren. Sie verkaufte das Auto und hob ihre Ersparnisse von der Bank ab, nahm den erstbesten Flug und zog zurück nach Kalifornien. Sie ging zur Uni und fand in San Diego eine Stelle als Meeresbiologin. Sie heiratete nicht und erzählte Jerry nichts von ihrer Zeit in England und dem Abend bei den Athertons. Sie sagte ihm, sein Vater hätte sie kurz nach der Geburt verlassen. Bei Josephs Tod war Jerry erst zweieinhalb Jahre alt. Er glaubt, sein ganzes Leben in Südkalifornien verbracht zu haben.«

  Banks leerte sein Glas und schaute Jenny an.

  »Kryptomnesie«, sagte sie.

  »Wie bitte?«

  »Kryptomnesie. Das sind Erinnerungen, derer man sich nicht bewusst ist, Erinnerungen an Begebenheiten im eigenen Leben, die man vergessen hat. Jerry Singer erlebte, wie sein Großvater seinen Vater die Treppe hinunterstieß, ihm war aber nicht bewusst, je in Swainsdale gewesen zu sein, wie also sollte er sich an den Unfall erinnern können? Als er sich der New-Age-Bewegung anschloss, kamen ihm die Erinnerungen, von denen er nichts geahnt hatte, mehr und mehr wie ein Beweis für seine Wiedergeburt vor.«

  Manchmal, dachte Banks, mischt man sich besser nicht ein. Der Gedanke überraschte ihn, er widersprach sowohl seiner Arbeit als auch seiner angeborenen Neugier. Doch was hatte es genützt, dass Jerry Singer vor drei Tagen auf dem Revier aufgetaucht war? Gar nichts. Vielleicht war das einzig Positive an der ganzen Geschichte, dass Betty Atherton sanft und friedlich mit Hilfe ihrer Tabletten entschlafen war, so wie sie es sich gewünscht hatte. Jetzt hatte ihr Leiden ein Ende. Und wenn es einen Gott gibt, dachte Banks, dann ist er bestimmt nicht so gemein, Betty auch im nächsten Leben leiden zu lassen.

  »Sir?«

  »'tschuldigung, Susan, ich war ganz woanders.«

  »Ich habe gefragt, wer es ihm sagen soll. Sie oder ich?«

  »Ich mache das«, entgegnete Banks seufzend. »Es bringt ja nichts, es ihm noch länger zu verheimlichen. Aber zuerst brauche ich noch ein Bier. Ich hole was.«

  Er stand auf und ging zur Theke. In dem Moment öffnete sich die Tür, und Jerry Singer kam herein. Sofort entdeckte er die Polizisten und steuerte auf sie zu. Er hatte wieder diesen naiven, eindringlichen Blick. Instinktiv griff Banks nach seinen Zigaretten.

  »Man hat mir gesagt, ich könnte Sie hier finden«, sagte Singer verlegen und wies durch die Tür auf das Polizeirevier im Tudor-Haus gegenüber. »Ich fliege morgen zurück und wollte nur mal fragen, ob Sie schon was herausbekommen haben.«