* Mord in Utopia

 

Gerade hatte ich die Operation beendet und den Stumpf von Ezekiel Metcalfes linkem Arm kauterisiert. Er musste amputiert werden, weil Metcalfe in eine Wollkämmmaschine geraten war. Da kam der junge Billy Ratcliffe hereingeplatzt und rief, es sei jemand in das Wehr gefallen.

  In der Annahme, meine ärztlichen Fähigkeiten könnten vonnöten sein, überließ ich die Versorgung von Ezekiel meinem Assistenten Benjamin und schickte mich an, mit dem jungen Billy Schritt zu halten, der mir voraus in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Victoria Road hinunterlief. Damals war ich zwar noch kein alter Mann, verbrachte mein Leben aber, wie ich zugeben muss, eher im Sitzen, und so keuchte ich bereits bei den Schrebergärten vor der Weberei. In gemäßigtem Tempo überquerten wir die Eisenbahnschienen und den Kanal, ehe wir die gusseiserne Brücke erreichten, die sich über den Aire spannt.

  Mehrere Männer hatten sich auf der Brücke eingefunden und schauten ins Wasser hinunter, wiesen auf eine dunkle Gestalt, die in der Strömung auf und ab hüpfte. Kaum hatte ich einen ersten Blick auf den Schauplatz geworfen, war mir klar, dass meine Fähigkeiten der armen Seele nichts mehr nützen würden. Der Mantel hatte sich in einer Baumwurzel verfangen, die aus der Uferbefestigung ragte.

  »Hat ihn jemand fallen sehen?«, fragte ich.

  Alle schüttelten den Kopf. Ich suchte mehrere kräftige Burschen aus und führte sie durch das Gebüsch hinunter ans Ufer. Nach mehreren Versuchen gelang es den Männern, den Toten an beiden Armen zu fassen, indem sie sich nah am Ufer auf den Bauch legten. Langsam zogen sie die tropfnasse Leiche aus dem Wasser.

  Die Menschen auf der Brücke schnappten nach Luft. Auch wenn das weiße Gesicht des Toten durch Schnitte und Wunden stark entstellt war, durfte es kaum einen unter den Anwesenden geben, der in ihm nicht Richard Ellerby erkannt hätte, einen der Wolleinkäufer von Sir Titus Salt.

  Saltaire, wo sich im Frühjahr 1873 die traurige Begebenheit zutrug, die ich hier schildere, war damals ein »Modelldorf«, der utopische Entwurf für vier- bis fünftausend Webereiarbeiter, errichtet von Sir Titus Salt im Tal des Aire zwischen Leeds und Bradford. Das Dorf mit dem Straßennetz im schlichten Schachbrettmuster gibt es noch immer, es hat sich seit damals kaum verändert. Man findet es hinter den Eisenbahnschienen ein wenig südwestlich der gewaltigen, sechs Stockwerke hohen Wollweberei, der es seine Existenz verdankt.

  Da es in Utopia keine Kriminalität gab, brauchte man keine Polizei. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es Unannehmlichkeiten oder Unruhe gab, verließen wir uns auf die Wachtmeister der nächstgelegenen Ortschaften. Bei Richard Ellerbys Tod gab es sicherlich keinen Grund, ein Verbrechen zu vermuten, aber wann immer die Todesumstände nicht auf den ersten Blick erkennbar waren, mussten die gesetzlichen Vorschriften befolgt werden.

  Mein Name ist Dr. William Oulton, ich arbeitete damals als Arzt und Wissenschaftler am Krankenhaus von Saltaire, wo ich die Verbindung zwischen Rohwolle und Milzbrand erforschte. Obendrein fungierte ich als Gerichtsmediziner, daher machte ich es mir zur Aufgabe, die Umstände von Richard Ellerbys Tod zu untersuchen.

  In diesem Fall hatte ich auch ein persönliches Interesse, denn der Verstorbene war ein Bekannter von mir, mehrmals hatte ich mit ihm und seiner bezaubernden Gattin Caroline zu Abend gegessen. Richard und ich waren Mitglieder des Saltaire-Instituts, Sir Titus' aufgeklärter Alternative zu den übel beleumundeten Lokalen, wo wir oft gemeinsam Kammermusikkonzerte besucht, Billard gespielt oder uns im Raucherzimmer entspannt hatten, einmal sogar über die mit der Einfuhr von Wolle verbundenen möglichen Gesundheitsrisiken diskutiert hatten. Ich würde nicht unbedingt behaupten, dass ich Richard gut kannte - er war in meiner Gesellschaft in vielerlei Hinsicht reserviert und zurückhaltend -, aber ich wusste, dass er ein ehrlicher, fleißiger Mann war, der aufrichtig an Sir Titus' Vision glaubte.

  Die Obduktion am nächsten Tag ergab lediglich, dass Richard Ellerby genug Wasser in der Lunge hatte, um das Urteil »Tod durch Ertrinken« zu rechtfertigen. Ich möchte wiederholen: Es gab keinerlei Anlass, ein Verbrechen zu vermuten. Schon öfter waren Menschen in das Wehr gefallen und ertrunken. Überfall und Mord waren keine Verbrechen, die den Einwohnern von Utopia in den Sinn kamen. Dass Richards Schädel hinten gebrochen und Gesicht und Körper mit Kratzern und blauen Flecken übersät waren, ließ sich leicht mit dem Sturz über das Wehr erklären. Es war Mai, das Tauwetter hatte hoch oben in den Pennines so viel Schnee schmelzen lassen, dass die Wassermassen von den Quellen mit großer Wucht herunterdonnerten. Zweifellos konnten sie die an der Leiche festgestellten Verletzungen hervorgerufen haben.

  Natürlich war auch eine andere Erklärung denkbar, und vielleicht war ich deshalb nicht willens, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

  Wer aus meinem Ton schließen möchte, dass ich nicht so überzeugt von Saltaires Status als modernem Utopia war wie meine Zeitgenossen, darf sich zu seiner Empfindlichkeit in Bezug auf die Nuancen unserer Sprache beglückwünschen. Wenn ich an jene Tage zurückdenke, frage ich mich jedoch, ob das Glas, durch das ich in die Vergangenheit schaue, nicht durch meine heutige Meinung getrübt wird. Ein wenig vielleicht. Ich weiß jedoch, dass ich völlig überzeugt war von Sir Titus' Glauben an die Sache, dennoch vermute ich, dass ich schon damals, nach nur dreißig Jahren auf dieser Erde, viel zu viel von der menschlichen Natur gesehen hatte, um an eine utopische Gemeinschaft wie Saltaire zu glauben.

  Außerdem besaß ich noch eine weitere Eigenschaft, die mir einfach keine Ruhe ließ: Wäre ich eine Katze, wäre ich inzwischen tot, trotz der neun Leben - ich bin einfach zu neugierig.

  Es war wieder ein schöner Morgen, als ich Benjamin die Visite übergab und das Krankenhaus in einer Angelegenheit verließ, die mich bereits seit zwei Tagen beschäftigte. Die Wohnheime auf der anderen Straßenseite, zurückgesetzt hinter einem breiten Grasstreifen, boten einen hübschen Anblick. Auf Bänken unter Bäumen mit rosafarbenen und weißen Blüten saßen Rentner und schmauchten ihre Pfeifen. Als Männer von »vorbildlichem Charakter« profitierten sie von Sir Titus' Großzügigkeit, bekamen eine freie Unterkunft und eine Pension von sieben Shilling sechs Pence die Woche, doch nur solange ihr »vorbildlicher Charakter« als gesichert galt. Wohltaten sind schließlich nicht für jeden, sondern nur für Menschen, die sie verdienen.

  Damit niemand meint, ich sei in meinem jungen Alter schon zynisch, muss ich zugeben, dass ich vieles an Saltaire bewundernswert fand. Anders als Bradford mit seinen engen, stickigen, schmutzigen Elendsvierteln, wo sich zehn oder mehr Menschen einen dunklen feuchten Keller teilten, der bei jedem Regenguss unter Wasser stand (ich hatte es mit eigenen Augen gesehen), war Saltaire als offener, luftiger Ort angelegt. Alle Straßen waren gepflastert und besaßen einen Rinnstein, was die Verbreitung von Krankheiten unterband. Jedes Haus hatte einen Abtritt im Hof, der regelmäßig geleert wurde. So konnten sich keine Krankheiten ausbreiten, die durch die gemeinsame Benutzung solcher Einrichtungen entstehen. Darüber hinaus forderte Sir Titus Maßnahmen zur Verminderung des Rauchausstoßes aus der Weberei, damit wir nicht unter einer Wolke erstickender Dämpfe lebten und unsere hübschen Sandsteinhäuser nicht von einer Rußschicht überzogen wurden. Dennoch: Alles hat seinen Preis. In Saltaire war es das Gefühl, unablässig die moralische Vision eines anderen leben zu müssen.

  Ich bog nach links in die Titus Street, vorbei an dem Haus mit dem »Späher«-Turm auf dem Dach. Der Turm bestand aus einem einzigen Raum voller Fenster, wie ein Leuchtturm. Oft hatte ich da oben eine schattenhafte Gestalt gesehen. Man munkelte, Sir Titus habe einen Mann angestellt, der das Dorf mit einem Fernrohr überwache, um jedes Anzeichen einer Störung aufzuspüren und Sir Titus zu melden. Ich meinte, im Vorbeigehen jemanden dort oben zu sehen, möglicherweise spielte mir aber auch die Sonne einen Streich.

  Wie gewöhnlich hatten einige Frauen ihre Wäsche zum Trocknen auf die Ada Street gehängt. Zwar wusste jeder, dass Sir Titus diese Angewohnheit missfiel - er hatte sogar großzügig öffentliche Waschhäuser errichten lassen, um die Leute davon abzuhalten -, aber auf diese Weise demonstrierten sie ihre Unabhängigkeit, drehten der Obrigkeit eine lange Nase.

  Wie es sich für einen Wolleinkäufer gebührte, wohnte Richard Ellerby mit seiner Gattin und zwei Kindern in einem der größeren Häuser auf der Albert Road mit Blick gen Westen, in die offene Landschaft, fort von der Mühle. Wie es der örtlichen Tradition bei einem Trauerfall entsprach, waren die Vorhänge im ersten Stock zugezogen.

  Ich klopfte an die Tür und wartete. Caroline Ellerby persönlich öffnete mir die Tür und bat mich herein. Sie war eine hübsche Frau, aber ihre Haut war blass und ihre Augen vom Weinen rot unterlaufen. Sie war schwarz gekleidet. Ich nahm in ihrem geräumigen Wohnzimmer Platz, sie bot mir einen kleinen Sherry an. Sir Titus erlaubte zwar keine Kneipen in Saltaire, weil er überzeugt war, dass sie Laster, Faulheit und Verschwendung förderten, hatte jedoch keine Einwände, wenn die Einwohner zu Hause Alkohol zu sich nahmen. Es war kein Geheimnis, dass er selbst einen gut sortierten Weinkeller besaß. Jetzt aber lehnte ich ab, berief mich auf die frühe Stunde und den Umfang der Arbeit, die im Krankenhaus auf mich wartete.

  Caroline Ellerby strich ihren weiten schwarzen Rock glatt und setzte sich auf das Sofa. Nachdem ich ihr mein Beileid ausgesprochen und sie höflich den Kopf geneigt hatte, kam ich auf das Anliegen zu sprechen, das mich nun schon länger beschäftigte.

  »Ich muss Ihnen einige Fragen zu Richards Unfall stellen«, erklärte ich, »das heißt, wenn Sie sich in der Lage fühlen, sie zu beantworten.«

  »Natürlich«, sagte sie und faltete die Hände im Schoß. »Fahren Sie bitte fort.«

  »Wann haben Sie Ihren Gatten zum letzten Mal gesehen?«

  »Am Abend bevor ... bevor man ihn fand.«

  »War er die ganze Nacht außer Haus?«

  Sie nickte.

  »Aber Sie müssen doch bemerkt haben, dass er nicht da war.« Mir wurde klar, dass ich kurz davor war, sie zu beleidigen, sie vielleicht schon beleidigt hatte, aber die Angelegenheit verwirrte mich, und wenn mich etwas verwirrt, denke ich so lange darüber nach, bis ich eine Lösung finde. Ich konnte genauso wenig aus meiner Haut, wie ein Tiger sein Fell ablegen kann.

  »Ich habe ein Schlafmittel genommen«, erklärte sie. »Ich wäre wohl nicht einmal aufgewacht, wenn ich in der Weberei gelegen hätte.«

  Angesichts der Tatsache, dass dort zwölfhundert kraftbetriebene Webstühle standen, die gleichzeitig donnerten und klapperten, verdächtigte ich Caroline der Übertreibung, aber ich verstand, was sie sagen wollte.

  »Glauben Sie mir«, fuhr sie fort, »dass ich mir seitdem große Vorwürfe mache: Hätte ich doch nur kein Schlafmittel genommen. Hätte ich doch gemerkt, dass er nicht nach Hause kam. Hätte ich doch versucht, ihn zu finden ...«

  »Das hätte nichts geholfen, Caroline«, entgegnete ich. »Der Tod muss sehr schnell eingetreten sein. Sie hätten nichts ausrichten können. Es hat keinen Sinn, sich zu quälen.«

  »Das ist sehr nett von Ihnen, aber trotzdem ...«

  »Wann haben Sie denn bemerkt, dass Richard nicht heimgekommen war?«

  »Erst als George Walker aus dem Büro es mir sagte.«

  Ich überlegte, ehe ich weitersprach, denn ich wusste nicht, wie ich meine Fragen höflicher stellen sollte. »Caroline, glauben Sie mir, ich möchte Ihnen nicht unnötig weh tun oder Kummer bereiten, aber haben Sie irgendeine Vorstellung, wo Richard an dem Abend war?«

  Meine Frage schien sie zu verwirren. »Wo er war? Wieso, er war im Travellers' Rest, draußen an der Otley Road.«

  Jetzt war ich erstaunt. Ich meinte, Richard Ellerby gekannt zu haben, hatte aber nicht gewusst, dass er Kneipengänger war. Wir waren einfach nie auf das Thema zu sprechen gekommen. »Im Travellers' Rest? Ist er da oft gewesen?«

  »Nein, nicht oft, aber hin und wieder genoss er die Atmosphäre eines guten Gasthauses. Richard behauptete, das Travellers' Rest wäre ein anständiges Lokal. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln.«

  »Natürlich nicht.« Ich kannte das Haus und hatte nie etwas vernommen, was seinen Ruf verunglimpft hätte.

  »Sie wirken erstaunt, Dr. Oulton.«

  »Nur weil Ihr Gatte es mir gegenüber nie erwähnte.«

  Caroline brachte ein kurzes Lächeln zustande. »Richard kommt aus einfachen Verhältnissen, wie Sie sicher wissen. Er hat sowohl in Bradford als auch hier in Salt-aire sehr hart gearbeitet, um die gehobene Position zu bekleiden, die er innehatte. Er glaubte fest an Samuel Smiles und seine Theorie der Selbsthilfe. Doch trotz seines persönlichen Erfolgs und Aufstiegs bildete er sich nie etwas ein. Er hat nie vergessen, woher er kommt. Richard genoss gerne die Gesellschaft seiner Kollegen in der fröhlichen Atmosphäre eines guten Gasthauses. Mehr nicht.«

  Ich nickte. Das war nichts Ungewöhnliches. Ich für meinen Teil begab mich gelegentlich ins Shoulder of Mutton oben an der Bingley Road. Schließlich sollte das Dorf kein Gefängnis sein. Dennoch dämmerte mir langsam, dass Richard wohl angenommen hatte, Kneipen seien unter meiner Würde, weil ich den höheren Berufsständen angehörte, oder dass ich sie als Arzt aus Gesundheitsgründen ablehnen würde. Ich spürte einen Stich des Bedauerns, niemals mit ihm bei einem Glas Bier und einer Pfeife zusammengesessen zu haben. Jetzt war er tot; die Gelegenheit würde nicht mehr kommen.

  »Hat er es manchmal übertrieben?«, fuhr ich fort. »Ich frage nur, weil ich einen Grund für das suche, was geschehen ist. Falls Richard an dem Abend vielleicht zu viel getrunken haben sollte und den Halt verlor ...?«

  Caroline schürzte die Lippen und runzelte die Stirn, tief in Gedanken versunken. »Ich würde nicht behaupten, dass er niemals einen über den Durst trank«, gab sie zu, »aber ich kann Ihnen versichern, dass er nicht gewohnheitsmäßig trank.«

  »Und er hatte keine Sorgen, es gab nichts, was ihn in Versuchung geführt haben könnte, an dem Abend mehr als das Übliche zu trinken?«

  »Richard hatte immer viel um die Ohren, besonders in Bezug auf seine Arbeit, aber nichts Ungewöhnliches, nichts, was ihn zum Glas hätte greifen lassen. Das kann ich Ihnen versichern.« Sie hielt inne. »Dr. Oulton, gibt es sonst noch etwas? Ich bin leider sehr müde. Selbst mit dem Schlafmittel waren die letzten beiden Nächte ... Sie verstehen sicherlich. Ich musste die Kinder zu meiner Mutter schicken. Im Moment kann ich mich einfach nicht um sie kümmern.«

  Ich erhob mich. »Aber sicher. Sie waren mir schon eine große Hilfe. Aber noch eine Kleinigkeit.«

  Sie neigte den Kopf. »Ja?«

  »Hatte Richard irgendwelche Feinde?«

  »Feinde? Nein. Nicht dass ich wüsste. Sie wollen doch nicht andeuten, dass jemand anders seine Finger im Spiel hatte?«

  »Ich weiß es nicht, Caroline. Ich weiß es einfach nicht. Das ist das Problem. Bitte bemühen Sie sich nicht, ich finde allein hinaus.«

  Als ich zurück zum Krankenhaus ging, erkannte ich, wo das Problem lag: Ich wusste gar nichts. Ebenso fragte ich mich, was Richard am Wehr zu suchen gehabt hatte, wenn er doch vom Travellers' Rest gekommen war. Der Treidelpfad entlang dem Kanal war natürlich ein idealer Weg zum Gasthaus und zurück, aber der Fluss befand sich nördlich des Kanals und Richard Ellerbys Haus südlich.

  Am Abend überlegte ich mir auf dem Weg zum Travellers' Rest, ob ein Ganove oder eine ganze Bande auf Richard aufmerksam geworden sein könnte, ob er verfolgt, ausgeraubt und seine Leiche über das Wehr geworfen wurde. Soweit ich sehen konnte, war der einzige Haken an meiner Theorie, dass er noch mehrere goldene Sovereigns in der Tasche gehabt hatte. Kein ordentlicher Dieb hätte sich so eine Beute entgehen lassen.

  Wie sich herausstellte, war das Travellers' Rest tatsächlich so anständig, wie Richard seiner Frau gegenüber behauptet hatte, und so fröhlich, wie ich nach meinen trüben Gedanken nur hätte hoffen können. Es war alles andere als eine Absteige für Taschendiebe und Raufbolde. Ganz im Gegenteil: Die mit Gas beleuchtete Kneipe war erfüllt von Unterhaltungen und herzlichem Gelächter. Ich erkannte kleine Gruppen von Webereiarbeitern, von denen ich viele schon wegen dieser oder jener Unpässlichkeit behandelt hatte. Manche schauten auf, überrascht, mich dort zu sehen, stammelten verlegene Grüße. Unverfrorene Gemüter begrüßten mich lauter, verstanden meine Anwesenheit als Billigung ihres Alkoholgenusses. Jack Liversedge war auch da. Er saß in einer Ecke und trank bedächtig sein Bier. Er tat mir leid; seit der arme Jack vor zwei Monaten seine Frau verloren hatte, war er sehr niedergeschlagen. Nichts konnte ihn trösten. Er schaute nicht einmal auf, als ich hereinkam.

  Ich trat an die Theke und machte den Wirt auf mich aufmerksam. Er war ein dicker Kerl mit einer rot geäderten Nase, wie ein Radieschen, was mir ein Hinweis zu sein schien, dass er seiner eigenen Ware möglicherweise ein wenig zu oft zusprach. Er nickte knapp zur Begrüßung, ich bestellte ein Glas Ale. Er gab es mir. Kurz darauf bemerkte ich ein leichtes Abflauen des Geschäfts und stellte mich ihm vor. Ich fragte, ob er sich an Richard Ellerbys letzten Besuch erinnern könne. Ich musste ihn kurz beschreiben, dann wusste der Wirt Bescheid.

  »Ein richtig feiner Mann, dieser Mr Ellerby. Hat mir wirklich leidgetan, als ich gehört hab, was passiert ist.«

  »Ist an dem Abend vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen?«

  »Was Ungewöhnliches?«

  »Hatte er zu viel getrunken?«

  »Nein, Sir. Zwei oder drei Ale. Mehr trank er nie.«

  »Er war also nicht betrunken, als er aufbrach, er hatte noch einen sicheren Gang?«

  »Ja, Sir. Entschuldigen Sie mich bitte.« Der Wirt bediente einen anderen Gast und kam zurück. »Nein, Sir, ich kann nicht behaupten, dass ich Mr Ellerby jemals betrunken gesehen hätte.«

  »Waren an dem Abend anrüchige Elemente anwesend?«

  Der Wirt schüttelte den Kopf. »Anrüchige Elemente werfe ich sofort raus, die schicke ich ins Feathers in der Leeds Road. Der Laden ist schummrig genug. Aber dies hier ist ein anständiges Haus.« Er beugte sich über die Theke. »Ich sag Ihnen mal was: Wenn Salt schon keine Kneipen im Dorf haben will, dann gibt's für seine Arbeiter keinen besseren Platz für ein, zwei nette Stunden als das Travellers' Rest, und das ist die volle Wahrheit.«

  »Da haben Sie bestimmt recht«, sagte ich, »aber hin und wieder gerät das Ganze hier doch auch mal außer Kontrolle, oder?«

  Er lachte. »Damit komme ich zurecht.«

  »Und Sie wissen genau, dass am Abend von Mr Ellerbys letztem Besuch nichts Auffälliges geschah?«

  »Fragen Sie doch besser ihn da drüben.« Der Wirt wies mit dem Kinn auf Jack Liversedge, der im Flüsterton mit sich selbst redete. »Ein Mann, der seine Frau verloren hat. Tut mir ehrlich leid. Der arme Teufel! Aber so, wie der da sich aufführt ...« Er schüttelte den Kopf.

  »Was ist passiert?«

  »Sie sind sich ein bisschen in die Haare geraten.«

  »Weswegen?«

  Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Hab gehört, wie Liversedge zu Ellerby sagte, er wäre nicht besser als ein Mörder, dann hat er ausgetrunken und ist gegangen.«

  »Wie lange danach ist Mr Ellerby aufgebrochen?«

  »Fünf Minuten später vielleicht. Nicht lange danach.«

  Ich dachte darüber nach. Der Wirt entschuldigte sich und bediente andere Gäste. Flora, die Frau von Jack Liversedge, war Wollsortiererin gewesen und zwei Monate zuvor an Milzbrand gestorben. Das ist eine furchtbare Krankheit, die wir erst langsam zu verstehen lernen. Durch meine Forschung stand ich im Austausch mit zwei wichtigen Wissenschaftlern, die auf diesem Gebiet arbeiteten: Casimir-Joseph Davaine aus Frankreich und Robert Koch aus Deutschland. Bisher hatten wir ermitteln können, dass die Krankheit von lebenden Mikroorganismen hervorgerufen wird, die sich wahrscheinlich in der Alpakawolle von südamerikanischen Lamas und im Mohair von Angoraziegen verbergen, Wollarten, die Sir Titus für seine feinen Stoffe importierte. Wir waren jedoch noch weit davon entfernt, etwas zur Vorbeugung oder ein Heilmittel zu finden.

  Ich trank mein Ale und beobachtete Jack Liversedge. Richard Ellerby war Wolleinkäufer gewesen. Hatte Jack in seiner Trauer und Verwirrung geglaubt, Richard trage die Schuld an Florence' Tod? Möglich war das, besonders in Anbetracht dessen, was ich über Jacks unberechenbares Verhalten seit dem Tod seiner Frau gehört hatte. Außerdem war er ein großer, starker Mann.

  Gerade wollte ich zu ihm gehen (ohne genau zu wissen, was ich sagen wollte), da beendete er den Streit mit sich selbst, knallte seinen Humpen auf den Tisch und erhob sich. Auf dem Weg zur Tür stieß er mit mehreren Personen zusammen. Ich beschloss, ihm zu folgen. Ich lief ihm die Stufen zum Treidelpfad hinunter nach und rief ihn beim Namen. Er drehte sich um und fragte, wer ich sei. Ich stellte mich vor.

  »Ach, Sie sind's, Herr Doktor«, sagte er.

  Der Treidelpfad war nicht beleuchtet, aber der Kanal verlief gerade, und das Licht des zunehmenden Mondes lag wie ein Schleier über dem Wasser. Es reichte, um den Weg zu finden.

  »Ich habe Sie im Travellers' Rest gesehen«, erklärte ich. »Sie wirkten aufgebracht. Ich dachte, wir könnten vielleicht gemeinsam heimgehen, wäre das in Ordnung?«

  »Wie Sie wollen.«

  Schweigend gingen wir vorwärts, kamen der Fabrik immer näher. Sie erhob sich vor uns im silbrigen Licht, ein geisterhafter Sandsteinblock vor dem schwarzen sternenbeschienenen Himmel. Ich wusste nicht, wie ich das Thema anschneiden sollte, das mich beschäftigte. Ich hatte Angst, Jack würde anfangen zu streiten, wenn ich recht hätte, oder beleidigt sein, falls ich mich irrte. Schließlich entschied ich mich, einfach drauflos-zufragen.

  »Ich habe gehört, Richard Ellerby war vorgestern Abend im Travellers'?«

  »Ach, ja?«

  »Ja. Angeblich haben Sie sich mit ihm gestritten.«

  »Kann schon sein.«

  »Worum ging es, Jack? Haben Sie mit ihm gekämpft?«

  Jack blieb stehen und sah mich an. Kurz dachte ich, er würde mich angreifen. Ich machte mich darauf gefasst, aber es geschah nichts. Hinter ihm erhob sich drohend die Fabrik. Im Mondlicht sah ich, wie verschiedene Gefühle über sein Gesicht hinweghuschten, Angst und Kummer, schließlich Resignation. Irgendwie schien er erleichtert, dass ich ihn auf Richard angesprochen hatte.

  »Er hat doch die Wolle eingekauft, oder?«, sagte er, die Stimme voller Zorn. »Er hätte es wissen müssen.«

  Ich seufzte. »Ach, Jack! Niemand konnte das wissen. Er hat die Wolle doch nur gekauft. Es gibt keine Untersuchungen. Man kann es gar nicht wissen.«

  »Das stimmt nicht. Er hat die Wolle gekauft, die meine Frau umgebracht hat. Irgendjemand musste für ihren Tod büßen.«

  Er wandte sich ab und ging weiter. Ich folgte ihm. Wir gelangten ans Ende der Victoria Road, ich hörte das Wehr zu unserer Rechten rauschen. Jack lief zur gusseisernen Brücke und schaute in das brausende Wasser. Ich stellte mich neben ihn. »Und wessen Aufgabe ist es, zu entscheiden, wer büßen muss, Jack?«, fragte ich mit erhobener Stimme, um das Wasser zu übertönen. »Wessen Aufgabe ist es, Gott zu spielen, was meinen Sie? Ihre?«

  Voller Mitleid und Verachtung sah er mich an, dann schüttelte er den Kopf. »Sie verstehen gar nichts.«

  Ich blickte hinunter ins Wasser, in dessen Schaum sich das Mondlicht fing. »Haben Sie ihn getötet?«, fragte ich. »Haben Sie Richard Ellerby getötet, weil Sie ihm die Schuld am Tod Ihrer Frau Florence gaben?«

  Eine Weile schwieg Jack, dann nickte er kurz. »Da stand er«, sagte Jack, »in seinem besten Mantel, trank und lachte, und meine Florence liegt unter der Erde.«

  »Wie passierte es?«

  »Ich habe ihm gesagt, er wäre nicht besser als ein Mörder, wenn er Wolle kauft, durch die Menschen sterben. Ich meine, es war ja nicht das erste Mal, oder? Er meinte, es wäre nicht seine Schuld, niemand hätte es wissen können. Als ich ihm sagte, er müsste besser aufpassen, erwiderte er, ich hätte keine Ahnung, das sei nun mal die Gefahr in diesem Beruf und Florence hätte das Risiko kennen müssen, als sie die Stelle annahm.«

  Wenn Richard sich Jack gegenüber tatsächlich so geäußert haben sollte, war er sicherlich der Sünde schuldig, ihn völlig gefühllos behandelt zu haben. So ein Verhalten hätte ich bei ihm nicht für möglich gehalten. Selbst wenn es zutraf - wir konnten alle im falschen Moment etwas Unpassendes sagen, besonders wenn wir so in die Enge getrieben wurden, wie Jack es mit Richard gemacht hatte. Was Richard getan hatte, rechtfertigte jedoch auf keinen Fall den Mord an ihm.

  »Wie ist es passiert, Jack?«, fragte ich erneut.

  Nach kurzem Schweigen sagte er: »Ich habe am Treidelpfad auf ihn gewartet. Auf dem ganzen Heimweg haben wir gestritten, irgendwann habe ich die Nerven verloren. Im Gebüsch lag eine Holzlatte von einer Kiste oder so. Er ging einfach weiter. Ich hab die Latte genommen, ihm von hinten auf den Kopf geschlagen, er ist hingefallen.«

  »Aber was war mit dem Wehr?«

  »Mir wurde plötzlich klar, was ich getan hatte.« Jack stieß ein raues Lachen aus. »Schon komisch, wissen Sie, gerade wo es jetzt egal ist. Aber als ich es gerade getan hatte, als ich wusste, dass ich jemanden getötet hatte, da bekam ich Panik. Ich dachte, wenn ich ihn über das Wehr werfe, dann würde man denken, er wäre reingefallen. War ja nicht weit, und er war nicht schwer.«

  »Aber er war nicht tot, Jack«, entgegnete ich. »Er hatte Wasser in der Lunge. Das heißt, er lebte noch, als er ins Wasser fiel.«

  »Ist egal«, sagte Jack. »So oder so habe ich ihn umgebracht.«

  Das Wasser rauschte in meinen Ohren. Jack sah mich an. Ich erschrak und machte einen Schritt zurück, streckte den Arm aus, um Jack von mir fernzuhalten.

  Langsam schüttelte er den Kopf, Tränen in den Augen, dann sprach er so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Nee, Herr Doktor, Sie haben von mir nichts zu befürchten. Ich, ich habe was von Ihnen zu befürchten.«

  Jetzt schüttelte ich den Kopf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, mein Herz schlug noch immer wie wild, ich hatte Angst, dass er mich ebenfalls über die Brüstung werfen würde.

  »Also«, begann er, »ich möchte Sie nur bitten, bis morgen früh zu warten. Noch eine Nacht in dem Haus, wo ich mit Florence gelebt habe. Wollen Sie wenigstens das für mich tun, Herr Doktor?«

  Ich nickte wie betäubt, und er ging von dannen.

  Früh am nächsten Morgen, nach einer furchtbaren Nacht, in der ich mich im Kampf mit meinem Gewissen unablässig hin und her geworfen hatte, wurde ich zum Bürogebäude der Fabrik an der westlichen Seite der Weberei gerufen. Auf der Victoria Road fragte ich mich, um was es sich bloß handeln mochte. Bald wurde ich in ein großes, teuer eingerichtetes Büro mit einem dicken türkischen Teppich, dunkler Vertäfelung und mehreren Landschaftsbildern an den Wänden geleitet. Hinter einem gewaltigen Mahagonischreibtisch saß Sir Titus persönlich, trotz seines Alters und seiner nachlassenden Gesundheit noch immer eine große, imposante Gestalt.

  »Dr. Oulton«, sagte er, ohne von seinen Unterlagen aufzublicken. »Nehmen Sie bitte Platz.«

  Ich fragte mich, weshalb er die gut zwölf Meilen von seinem Landsitz Crows Nest hergefahren war. Zur damaligen Zeit tauchte er nur noch selten in der Fabrik auf.

  »Ich habe gehört«, sagte er mit seiner tiefen, gebieterischen Stimme, immer noch aufs Papier starrend, »dass Sie die näheren Umstände des Todes von Richard Ellerby untersucht haben?«

  Ich nickte. »Jawohl, Sir Titus.«

  »Und, was haben Sie bitte herausgefunden?«

  Ich holte tief Luft, dann berichtete ich ihm alles. Während ich sprach, stand er auf, faltete die Hände hinter dem Rücken und schritt gesenkten Kopfes durch den Raum. So reichte ihm sein grauer Bart fast bis an den Hosenbund. Obwohl seine Wangen und Augen eingefallen waren, als sei er krank, beherrschte er mit seiner Gegenwart das Zimmer. Als ich endete, setzte er sich wieder und bedachte mich mit einem langen Schweigen. Dann sagte er: »Und was werden wir deswegen unternehmen?«

  »Die Polizei wird benachrichtigt werden müssen.«

  »Bisher sind also Sie und ich die Einzigen, die die ganze Wahrheit kennen?«

  »Und Jack selbst.«

  »Ja, natürlich.« Sir Titus strich sich über den Bart. Ich hörte die gedämpften Geräusche aus der Weberei und spürte, wie die Vibrationen der kraftbetriebenen Webstühle den Raum erschütterten. Es war ein warmer Tag, und trotz des offenen Fensters war es stickig im Zimmer. Ich merkte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn und meiner Oberlippe sammelte. Ich blickte aus dem Fenster und sah das Wehr, wo Richard Ellerby zu Tode gekommen war. »Das ist nicht gut«, sagte Sir Titus schließlich. »Ganz und gar nicht.«

  »Wie bitte?«

  Er machte eine Geste, die ganz Saltaire einschloss.

  »Was ich meine, Dr. Oulton, ist, dass das sehr schlecht für den Ort sein könnte. Sehr schlimm. Glauben Sie an das Experiment?«

  »Welches Experiment, Sir?«

  »An das moralische Experiment Saltaire.«

  »Ich habe nie Zweifel gehegt, dass es Ihr Motiv ist, Gutes zu tun, Sir.«

  Sir Titus rang sich ein knappes Lächeln ab. »Eine sehr erhellende Antwort.« Wieder folgte langes Schweigen. Sir Titus stand auf und lief erneut auf und ab. »Wenn ein Mann eine Kneipe besucht und so betrunken herauskommt, dass er in den Fluss fällt und ertrinkt, dann ist das ein Exempel für uns alle, meinen Sie nicht?«

  »Doch, Sir.«

  »Und wenn ein Mann nach dem Besuch einer Kneipe von einer Bande Raufbolde verfolgt und angegriffen wird, die ihn beraubt und in den Fluss wirft, worauf er ertrinkt, haben wir auch ein Exempel, nein, eine Geschichte mit einer Moral, nicht wahr?«

  »Allerdings, Sir. Aber Richard Ellerby wurde nicht ausgeraubt.«

  Ungeduldig winkte er ab. »Nein, natürlich nicht. Das weiß ich. Ich denke nur laut. Bitte vergeben Sie einem alten Mann diese Schwäche. Dieser Ort, Saltaire, bedeutet mir alles, Dr. Oulton. Verstehen Sie das? Er bedeutet mir alles.«

  »Ich glaube schon, Sir.«

  »Das ist nicht nur eine Frage von Profitmaximie-rung, obwohl ich nicht leugnen kann, dass diese Fabrik durchaus profitabel ist. Aber ich glaube, ich habe etwas Einzigartiges geschaffen. Ich nenne es >mein Experiment<, doch für andere ist es eine Heimat, eine Lebensart. Das hoffe ich jedenfalls. Ich wollte, dass Saltaire all das hat, was Bradford fehlt. Saltaire wurde angelegt, um Selbsthilfe, Anstand, ordentliches Verhalten und Gesundheit der Arbeiter zu fördern. Ich wollte beweisen, dass Geldverdienen nicht unvereinbar ist mit dem materiellen und geistigen Wohl der Arbeiterklasse. Das empfand ich als meine Pflicht, meine gottgegebene Pflicht. Wenn der Herr es so gut mit mir meint, dann verstehe ich es als Verpflichtung, es ebenfalls gut mit meinen Arbeitern zu meinen. Können Sie mir folgen?«

  »Ja, Sir.«

  »Und jetzt das hier: Mord, Totschlag - wie auch immer man es nennen will. Das Experiment wird einer Zerreißprobe ausgesetzt. Dieser Vorfall könnte jedes Vertrauen zerstören, das sich inzwischen in der Gemeinschaft entwickelt hat. Sie erinnern sich doch bestimmt noch an den Ärger, den wir vor einigen Jahren wegen Milzbrands hatten?«

  »Aber sicher, Sir.« 1868 hatte ein gewisser Sutcliffe Rhodes auf seinem Feldzug gegen Milzbrand viel Unterstützung im Dorf gewonnen; die ganze Angelegenheit hatte Sir Titus ernsthaft in Verlegenheit gebracht. »Aber Sie können doch kaum erwarten, dass ich vergesse, was ich weiß«, sagte ich, »dass ich lüge.«

  Sir Titus lächelte grimmig. »Ich würde niemals jemanden bitten, gegen seine Überzeugungen zu handeln, Herr Doktor. Ich bitte Sie nur, der Stimme Ihres Gewissens zu folgen, dabei aber bitte die Folgen zu bedenken. Wenn dieses Thema noch einmal aufkommt, besonders auf diese Weise, dann sind wir erledigt. Dann wird niemand mehr an Saltaire glauben, und ich wollte immer, dass es ein guter Ort ist, ein Ort, in dem es niemals einen Grund zum Töten geben würde.«

  Traurig schüttelte er den Kopf und ließ die Stille wirken. Plötzlich hörte ich Rufe, die Fabrikgeräusche übertönend. Es klopfte an der Tür, dann kam jemand ins Büro gestürmt, ohne Zeit auf Höflichkeiten zu verschwenden. Ich war mir nicht sicher, doch mein erster Eindruck war, es sei die schattenhafte Gestalt aus dem »Spion-Turm«.

  »Sir Titus«, sagte der Eindringling nach einer kurzen Verbeugung, »entschuldigen Sie, dass ich so hereinplatze, aber Sie müssen kommen. Auf dem Fabrikdach steht ein Mann.«

  Mit gerunzelter Stirn sahen Sir Titus und ich uns an, dann folgten wir dem Mann nach draußen. Mit Rücksicht auf Sir Titus' Alter ging ich langsam; wir brauchten einige Minuten, um zu den Schrebergärten zu gelangen, von wo aus man einen guten Blick auf die Fabrik hatte.

  Der Mann stand oben auf dem Dach der Weberei, sechs Stockwerke hoch, zwischen den beiden Zierlaternen. Ich konnte eine zweite Gestalt an einer der Laternen ausmachen, vielleicht sprach sie mit ihm. Doch der Mann auf dem Dach schien nicht zuzuhören. Er stand am Rand, und noch während wir hinsahen, breitete er die Arme aus, als wolle er fliegen, und sprang hinunter. Kurz schien er in der Luft zu schweben, dann schlug er mit einem dumpfen Geräusch im Vorhof auf.

  Es war ein sonderbares Gefühl. Obwohl ich vom Verstand und vom Herzen her wusste, dass ich den Tod eines Mitmenschen erlebt hatte, hatte das Geschehen etwas Distanziertes. Zum einen war die Gestalt im Vergleich zur Weberei winzig klein, zum anderen wühlte direkt vor uns ein Hund im Dreck, als grabe er nach einem Knochen. Während der Mann herunterfiel, hörte der Hund nicht mit dem Scharren auf.

  Ein Webereiarbeiter kam auf uns zugelaufen und meldete, der Tote sei Jack Liversedge. Wieder hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, aber ich glaube, dass ich es irgendwie längst gewusst hatte.

  »Ein Unfall und ein Selbstmord«, murmelte Sir Titus und sah mich mit seinen tiefliegenden Augen an. »Das ist schlimm, aber wir können es überwinden, nicht wahr, Herr Doktor?« In seiner Stimme lag Hoffnung.

  Meine Kieferknochen arbeiteten. Ich war versucht, ihm zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren; seine Vision, sein Experiment, sei das Lügen nicht wert. Doch vor mir sah ich einen kranken alten Mann, der immerhin versucht hatte, etwas für die Menschen zu tun, die ihn reich gemacht hatten. Ob das genug war, hatte nicht ich zu beurteilen. Saltaire war nicht perfekt - diesen Zustand werden wir auf dieser Erde niemals erreichen -, aber es war besser als die meisten Weberstädte.

  Ich schluckte meinen Zorn hinunter, nickte Sir Titus knapp zu und machte mich auf den Weg die Victoria Road hinauf zum Krankenhaus.

  In den folgenden Tagen und Wochen versuchte ich, meine Arbeit weiterzuführen - schließlich brauchten die Einwohner von Saltaire einen Arzt und ein Krankenhaus -, aber nach Jack Liversedges sinnlosem Tod war ich nicht mehr so recht mit dem Herzen bei der Sache. Der dramatische Selbstmord drückte eine Weile auf die Stimmung in der Stadt, überall sah man lange Gesichter, hinter vorgehaltener Hand wurde Kritik geäußert, aber schließlich war die Angelegenheit vergessen, und die Bewohner stürzten sich wieder in ihre Arbeit: Sie webten feine Stoffe aus Alpaka und Mohair für die, die reich genug waren, sie sich leisten zu können.

  Doch sosehr ich mich auch zu überzeugen versuchte, die Geschichte hinter mir zu lassen und weiterzumachen, mir war immer bewusst, dass in dieser Gemeinschaft etwas fehlte. An dem Tag, als Jack sich umbrachte, war mehr gestorben als ein einzelner Mensch.

  Nachdem ich einem Wollsortierer in seiner schwersten Stunde beigestanden hatte, der schließlich an Milzbrand starb, traf ich meine Entscheidung. Einen Monat später - ich hatte meine Angelegenheiten geregelt und meinen Nachfolger eingearbeitet - verließ ich Saltaire und ging nach Südafrika, wo ich schließlich die Frau kennenlernte, die ich heiraten sollte. Wir zogen unsere drei Kinder groß. Dreißig Jahre lang übte ich meinen Beruf in Kapstadt aus. Als ich in den Ruhestand ging, beschlossen wir, zurück nach England zu ziehen, wo wir uns in einem hübschen kleinen Fischerdorf in Cornwall niederließen. Jetzt sind meine Kinder erwachsen, verheiratet und fortgezogen, meine Frau ist gestorben, und ich bin ein alter Mann, der seine Tage damit verbringt, auf den Felsen über dem Meer zu wandern und den Flug der Vögel zu beobachten.

  Und manchmal erinnert mich das Geräusch der Wellen an das Brüllen des Wehrs von Saltaire.

  Inzwischen sind mehr als vierzigJahre seit jener Nacht am Wehr vergangen, als Jack Liversedge mir gestand, Richard Ellerby getötet zu haben, mehr als vierzigJahre sind vergangen, seit Sir Titus und ich bei den Schrebergärten standen und Jacks Körper durch die Luft auf den Vorhof der Weberei fallen sahen.

  VierzigJahre. Eine lange Zeit für ein Geheimnis.

  Außerdem hat sich die Welt seitdem so sehr verändert, dass die Geschehnisse jenes fernen Tages in Saltaire heute nur noch wenig Bedeutung haben. Sir Titus starb drei Jahre nach Jacks Tod, und mit ihm starb sein Traum. Die Mode änderte sich, die Damen verlangten nicht mehr nach den strahlenden bunten Stoffen, die Sir Titus produziert hatte. Sein Sohn, Titus junior, hielt sich mit dem Geschäft über Wasser, bis er 1887 ebenfalls starb. Die Weberei wurde von einem Konsortium Bradforder Geschäftsleute übernommen. Heute ist Saltaire kein gesellschaftliches Experiment mehr, nicht mehr die Utopie einer Weberstadt, sondern nur noch ein Unternehmen.

  Heute, im Juli 1916, glaubt niemand mehr an Utopien.