* Fanpost

 

Der Brief kam an einem sonnigen Donnerstagmorgen im August, zusammen mit einer Kreditkartenrechnung und einem Honorarscheck. Dennis Quilley nahm die Post mit nach draußen auf die Dachterrasse seines Hauses im Stadtteil Beaches in Toronto und schenkte sich auf dem Weg dorthin einen Gin Tonic ein. Er hatte an diesem Tag bereits drei Stunden ohne Unterbrechung geschrieben und fand, er habe sich einen Drink redlich verdient.

  Zunächst sah er nach, wie hoch der Honorarscheck war, dann legte er die Kreditkartenrechnung beiseite und griff mit spitzen Fingern nach dem Brief, als wäre er Gerichtsgutachter und würde ihn auf Fingerabdrücke untersuchen. Der Brief war vor vier Tagen in Toronto abgestempelt worden; die Adresse war in gedrängten, gleichmäßigen Buchstaben geschrieben, wie mit einer sehr feinen Kalligraphiefeder. Doch die Postleitzahl sah anders aus, sie war eilig mit Kugelschreiber eingefügt worden. Der Absender hatte Quilleys Adresse wahrscheinlich aus dem Telefonbuch und die Postleitzahl erst kurz vor Abschicken des Briefes auf dem Postamt nachgeschlagen.

  Mit seinen Schlussfolgerungen zufrieden, riss Quilley den Briefumschlag auf. In der gleichen sauberen, ordentlichen Handschrift stand da:

 

Sehr geehrter Mister Quilley,

  bitte entschuldigen Sie, dass ich mich privat an Sie wende. Ich weiß, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind. Es ist unverzeihlich von mir, Ihnen etwas von Ihrer wertvollen Zeit stehlen zu wollen. Doch glauben Sie mir bitte, dass ich niemals zu derartigen Mitteln greifen würde, wenn ich einen anderen Ausweg wüsste.

  Ich bin schon seit vielen Jahren ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Da ich außerdem Kriminalromane sammle, besitze ich Erstausgaben all Ihrer Bücher. Durch meine Lektüre weiß ich, dass Sie ein kluger Mann sind und deshalb hoffentlich genau der Richtige, um mir bei meinem Problem zu helfen. Seit zwanzig Jahren macht mir meine Frau das Leben zur Hölle. Den Kindern zuliebe habe ich es ertragen, doch jetzt sind alle ausgezogen und leben ihr eigenes Leben. Ich habe meine Frau um die Scheidung gebeten, doch sie hat mich nur ausgelacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der einzige Ausweg darin besteht, sie umzubringen, und deshalb benötige ich Ihren Rat.

  Sie denken nun sicher, dass ich verrückt bin, insbesondere, da ich so etwas in einem Brief schreibe, doch das beweist lediglich, wie verzweifelt ich bin. Ich könnte verstehen, wenn Sie sofort zur Polizei gingen, und ich bin sicher, dass man mich finden und bestrafen würde. Glauben Sie mir, das habe ich bedacht. Doch das wäre mir noch lieber als die Hölle, die ich Tag für Tag ertragen muss. Wenn Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, einem ergebenen Fan in Not zu helfen, so bitte ich Sie, mich am Mittwoch, dem 19. August, um 14 Uhr im Dachrestaurant des Park Plaza Hotels zu treffen. Ich habe mir den Nachmittag freigenommen und werde auf Sie warten, falls Sie aus irgendeinem Grund erst später erscheinen können. Seien Sie unbesorgt, ich werde Sie mithilfe der Fotos auf den Umschlägen Ihrer Bücher leicht erkennen. Mit hoffnungsvollen Grüßen

ein Fan

 

Der Brief glitt Quilley aus der Hand. Das war ja wohl unglaublich! Als Autor von Kriminalromanen bestand seine Spezialität darin, sich geniale Morde auszudenken - doch dass jemand annehmen konnte, er würde dies auch im wirklichen Leben tun, war absurd. Erlaubte sich hier jemand einen derben Scherz mit ihm?

  Er hob den Brief auf und las ihn erneut. Der flehende Tonfall des Mannes und sein gekünstelter Stil wirkten aufrichtig, und je mehr Quilley darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass keiner seiner Freunde so unverschämt war, ihm einen derartigen Streich zu spielen.

  Angenommen, der Brief war echt, wie sollte Quilley reagieren? Sein erster Impuls war, das Papier zu zerknüllen und in den Müll zu werfen. Oder sollte er zur Polizei gehen? Nein. Das wäre reine Zeitverschwendung. Anders als in seinen Romanen war die Polizei eine furchtbar schwerfällige, phantasielose Truppe. Sie würde wahrscheinlich annehmen, er wolle bloß die Aufmerksamkeit der Presse auf sich ziehen.

  Er merkte, dass er den Brief unbewusst in der Faust zerknüllt hatte. Gerade wollte er ihn in die Ecke werfen, da besann er sich eines Besseren. Gab es nicht noch eine andere Möglichkeit? Warum nicht hingehen und sich mit dem Mann treffen? Mehr über ihn herausfinden und abklopfen, ob er es ernst meinte. Das würde doch zu nichts verpflichten. Quilley müsste sich lediglich zur vereinbarten Zeit im Park Plaza einfinden und abwarten, was geschehen würde.

  Quilleys Leben war perfekt - keine lästige Frau, die ihm auf die Nerven ging, jede Menge Geld (hauptsächlich aus dem Verkauf seiner Bücher in Amerika), ein schönes Häuschen am See in der Nähe von Hunts-ville, ein bisschen Ruhm, die Anerkennung seiner Kollegen -, doch in jüngster Zeit war ihm ein wenig langweilig geworden. Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, so etwas wie ein Abenteuer zu erleben. Außerdem sprang für ihn bei dem Treffen vielleicht die Idee für eine neue Geschichte heraus. Warum also sollte er nicht einfach hingehen?

  Er leerte sein Glas und strich den Brief auf dem Knie glatt. Bei den letzten Sätzen musste er grinsen. Sicherlich würde der Mann ihn mithilfe des Umschlagfotos erkennen, auch wenn diese Aufnahme ziemlich alt und außerdem schon damals retuschiert worden war. Inzwischen war Quilleys Gesicht etwas runder geworden, und das dünner werdende Haar ergraute langsam. Dennoch fand er, dass er für seine fünfzig Jahre ein attraktiver Mann war - gut aussehend, klug und erfolgreich.

  Mit einem Lächeln nahm er Brief und Umschlag an sich und ging in die Küche, um Streichhölzer zu suchen. Es durfte keine Beweise geben.

  In den folgenden Tagen verschwendete Quilley kaum einen Gedanken an den geheimnisvollen Brief. Wie jeden Sommer blieb er die Woche über in Toronto und schrieb - er empfand die Stadt als stimulierend. Das Wochenende verbrachte er in seinem Haus am See. Dort ging er im Wald spazieren, plauderte in der Kneipe mit den Ortsansässigen, schwamm im klaren See und bräunte sich beim Faulenzen in der Sonne. Abends öffnete er eine Flasche Chardonnay, las zum wiederholten Male P. G. Woodhouse und hörte Bach. Sein Leben war perfekt: ruhig, zurückgezogen, unabhängig.

  Trotzdem fuhr er am Mittwoch in die Stadt, stellte sein Auto im Parkhaus Cumberland Street Ecke Avenue Road ab und ging zu Fuß zum Park Plaza. Es war heiß. Auf der anderen Straßenseite der Bloor Street befand sich das Royal Ontario Museum. Davor wimmelte es von Touristen, hauptsächlich Amerikaner aus Buffalo, Rochester oder Detroit: Männer in grellkarierten Hemden fotografierten alles, was ihnen vor die Linse kam, ihre Frauen in knappen kurzen Hosen wirkten durstig und erschöpft.

  Quilley fuhr mit dem Fahrstuhl hoch in den achtzehnten Stock und schlenderte durch die Bar, einen altmodisch anmutenden Raum mit tiefen Sesseln und gerahmten Drucken an den Wänden, Szenen aus der Kolonialzeit. Es war voller als gewöhnlich, und trotz der geöffneten Fenster störte ihn die verrauchte Luft. Quilley trat hinaus auf die Dachterrasse und sah sich die Gesichter der Menschen dort an. Schon nach wenigen Sekunden bemerkte er, dass jemand in seine Richtung blickte. Der Mann zögerte den Bruchteil einer Sekunde, vielleicht, um das Umschlagfoto mit der Realität abzugleichen, dann bedeutete er Quilley mit hochgezogenen Augenbrauen und einer Kopfbewegung, näher zu kommen.

  Der Mann erhob sich, schüttelte Quilley die Hand, nahm wieder Platz und blickte sich um, vergewisserte sich, dass niemand ihnen mehr Aufmerksamkeit als nötig schenkte. Er war klein und schmächtig, hatte aschblondes Haar und eine gräuliche Gesichtsfarbe, als wäre er gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er trug eine Nickelbrille und hatte die Angewohnheit, mit der Zunge im Mund herumzuspielen, wenn er nicht sprach.

  »Zunächst einmal, Mr Quilley«, sagte der Mann und hob sein Glas, »möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich mich sehr geehrt fühle, Sie treffen zu dürfen.« Er hatte einen starken englischen Akzent.

  Quilley verneigte sich leicht. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Mr ... äh ...?«

  »Peplow, Frank Peplow.«

  »Ja ... Mr Peplow. Doch ich muss gestehen, dass Ihr Brief mich etwas verwirrt hat.«

  Ein Kellner mit dunkelrotem Jackett kam zu ihnen, um Quilleys Bestellung aufzunehmen. Er entschied sich für ein Amstel.

  Peplow wartete, bis der Kellner außer Hörweite war. »Verwirrt?«

  »Was ich damit sagen will«, fuhr Quilley fort, nach den richtigen Worten suchend, »meinten Sie das wirklich ernst, beabsichtigen Sie wirklich -?«

  Peplow beugte sich vor. Seine wässrig blauen Augen hinter den Brillengläsern wirkten ganz normal. »Ich versichere Ihnen, Mr Quilley, dass ich es vollkommen ernst meinte und immer noch meine. Diese Frau richtet mich zugrunde, ich kann es einfach nicht länger ertragen.«

  Als er seine Frau erwähnte, bekam er rote Flecken auf den Wangen. Quilley hob die Hand. »Ist gut, ich glaube Ihnen. Ich nehme an, Ihnen ist klar, dass ich eigentlich zur Polizei gehen müsste?«

  »Tun Sie aber nicht.«

  »Ich hätte es aber tun können. Vielleicht ist die Polizei sogar hier und beobachtet uns.«

  Peplow schüttelte den Kopf. »Mr Quilley, wenn Sie mir nicht helfen wollen, würde ich sogar freiwillig ins Gefängnis gehen. Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass ich erwischt werden kann, dass kein Mord perfekt ist? Ich will doch nur eine Chance. Das ist das Risiko wert.«

  Der Kellner brachte Quilleys Bier. Die Männer schwiegen, bis er wieder gegangen war. Quilley war von seinem farblosen Gegenüber fasziniert, einem Mann, der offensichtlich nicht einmal genug Phantasie besaß, um sich selbst einen Mord auszudenken. »Was wollen Sie von mir?«, fragte er.

  »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, irgendetwas von Ihnen zu verlangen«, antwortete Peplow. »Es gibt nichts, was ich Ihnen als Gegenleistung anbieten könnte. Ich bin nicht reich. Ich habe keine Ersparnisse. Alles, was ich will, ist ein Hinweis, ein wenig Hilfe, damit wäre ich schon ein großes Stück weiter.«

  »Mal angenommen«, stellte Quilley klar, »nur mal angenommen, ich würde Ihnen helfen, dann tue ich nichts weiter, als Ihnen einen Rat zu geben. Verstanden?«

  Peplow nickte. »Heißt das, Sie wollen mir helfen?«

  »Wenn es in meiner Macht steht.«

  Und so kam es, dass Dennis Quilley einem Mann, den er nicht einmal besonders mochte, behilflich war, den Mord an einer Frau zu planen, der er niemals begegnet war. Als er später über die Gründe nachdachte, die ihn zum Mitmachen bewegt hatten, musste er sich eingestehen, dass es für ihn ein Spiel gewesen war - ein Rätsel, um das Gehirn zu trainieren, so als konstruiere er die Handlung eines Romans. Am Anfang hatte er keine Minute an einen wirklichen Mord gedacht, an reales Blut, an einen echten Toten.

  Peplow nahm ein Tuch aus seiner Hemdtasche und wischte sich einen dünnen Schweißfilm von der Stirn. »Sie wissen gar nicht, wie froh mich das macht, Mr Quilley. Endlich bekomme ich eine Chance. Ich habe es nicht weit gebracht im Leben und erwarte auch nicht mehr viel. Aber vielleicht finde ich wenigstens in meinen letzten Jahren ein wenig Ruhe und Frieden. Ich bin nicht gesund.« Mit einer pathetischen Geste legte er die Hand auf die Brust. »Die Pumpe. Ironie des Schicksals, was? Ich habe nie geraucht, ich trinke kaum und bin erst dreiundfünfzig. Wenn ich auf mich achte, gibt der Arzt mir noch ein paar Jahre. Alles, was ich will, sind meine Bücher, mein Garten und meine Ruhe.«

  »Erzählen Sie mir von Ihrer Frau«, forderte Quilley ihn auf.

  Peplows Miene verdüsterte sich. »Sie ist ein grausamer, egoistischer Mensch«, begann er. »Und unordentlich. Zu Hause macht sie keinen Handschlag. Ist viel zu beschäftigt, Tag und Nacht diese blöden Serien im Fernsehen zu gucken. Es dreht sich alles nur um sie, mich macht sie bei jeder Gelegenheit fertig. Wenn ich mich mit meinen Büchern entspannen will, macht sie sich über mich lustig, schimpft, ich wäre ein langweiliger Stubenhocker. Nicht einmal in meinem Garten hab ich Ruhe vor ihr. Ich weiß selbst, dass ich keine Phantasie besitze, Mut wahrscheinlich noch viel weniger, aber sogar ein Mensch wie ich verdient doch ein wenig Frieden im Leben, meinen Sie nicht?«

  Quilley musste zugeben, dass die Frau wirklich schrecklich zu sein schien - schlimmer als alle, die ihm bisher begegnet waren, und er hatte in seinem Leben einige wahre Schreckschrauben gekannt. Persönlich hatte er mit Frauen noch nie viel anfangen können, abgesehen von unverbindlichem Sex, als er jünger war. Doch selbst das war ihm mittlerweile lästig, und so mied er Frauen, so gut es ging. Beim Zuhören stellte er fest, dass er sich ziemlich gut in Peplow hineinversetzen konnte.

  »Was stellen Sie sich denn vor?«, fragte er.

  »Ich weiß auch nicht. Deshalb habe ich mich ja an Sie gewandt. Ich hatte gehofft, Sie könnten mich vielleicht auf eine Idee bringen. Ihre Bücher ... Sie scheinen sich ziemlich gut auszukennen.«

  »In meinen Büchern«, gab Quilley zu bedenken, »wird der Mörder immer gefasst.«

  »Das stimmt«, sagte Peplow, »klar. Aber doch nur, weil es so sein muss, oder? Ich meine, Ihr Inspector Baldry ist dreimal schlauer als jeder richtige Polizist. Wenn er der Täter wäre, käme er mit Sicherheit immer davon.«

  Damit hatte Peplow unbestritten recht, fand Quilley. »Was wäre Ihnen denn am liebsten?«, fragte er. »Ein Haushaltsunfall? Sagen wir, ein Stromschlag? Irgendein Gerät fällt in die Badewanne? Sie hat doch bestimmt einen Föhn oder einen Lockenstab?«

  Peplow schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »O nein«, flüsterte er. »Das geht nicht. So etwas könnte ich nicht tun. Genauso wenig könnte ich den Anblick von Blut ertragen.«

  »Wie steht es mit ihrer Gesundheit?«

  »Leider«, antwortete Peplow, »ist sie so gesund, dass es fast schon unverschämt ist.«

  »Wie alt ist sie?«

  »Neunundvierzig.«

  »Irgendwelche schlechten Angewohnheiten?«

  »Mr Quilley, meine Frau ist eine einzige schlechte Angewohnheit. Was sie aus irgendwelchen Gründen nicht leiden kann, ist Alkohol. Andere Männer hat sie bestimmt auch nicht - wahrscheinlich, weil keiner sie haben will.«

  »Raucht sie?«

  »Wie ein Schlot.«

  Quilley schüttelte sich. »Seit wann?«

  »Ich schätze, sie hat bereits als Jugendliche damit angefangen. Bevor wir uns kannten.«

  »Treibt sie Sport?«

  »Nie.«

  »Wie steht es mit ihrem Gewicht, ihrer Ernährung?«

  »Nun ja, man kann nicht sagen, dass sie richtig dick wäre, aber vollschlank ist noch höflich ausgedrückt. Sie isst zu viel Fertiggerichte. Das sage ich ihr ständig. Und Eier. Sie liebt Eier mit Speck zum Frühstück. Und sie stopft sich ständig mit Sahnetorten und kleinen Kuchen voll.«

  »Hm«, machte Quilley und trank einen Schluck Bier. »Klingt nach einer vielversprechenden Kandidatin für einen Herzinfarkt.«

  »Aber ich bin doch derjenige -« Peplow stockte, als der Groschen fiel. »Ach so, ich verstehe. Sie meinen, man könnte einen herbeiführen?«

  »Richtig. Glauben Sie, dass Sie das schaffen könnten?«

  »Nun ja, wenn ich nicht dabei sein und zusehen muss. Aber ich weiß nicht, wie das gehen soll.«

  »Mit Gift.«

  »Ich kenne mich mit Gift überhaupt nicht aus.«

  »Kein Problem. Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, ich werde mich schlaumachen. Aber ich gebe Ihnen nur einen Rat, mehr nicht, vergessen Sie das nicht.«

  »Selbstverständlich.«

  Quilley lächelte. »Schön. Noch ein Bier?«

  »Nein, lieber nicht. Sie wird schon so riechen, dass ich eins getrunken habe, also bekomme ich sowieso Ärger. Ich gehe jetzt besser.«

  Quilley schaute auf die Uhr. Halb drei. Er hätte noch ein Amstel vertragen können, aber er wollte nicht allein sitzen bleiben. Außerdem war er um drei mit seinem Agenten im Four Seasons verabredet, dort konnte er trinken, so viel er wollte. Die Zeit bis dahin könnte er in einer Buchhandlung totschlagen. »Gut«, sagte er. »Ich begleite Sie nach unten.«

  Draußen auf der heißen, überfüllten Straße gaben sie sich die Hand und verabredeten sich in einer Woche auf der Terrasse des Madison Avenue Pub. Es wäre nicht gut, wenn man sie zweimal zusammen am selben Ort sah.

  Quilley stand an der Ecke Bloor und Avenue Street inmitten der unermüdlich fotografierenden Touristen und sah Peplow nach, der in Richtung der U-Bahn-Station St. George verschwand. Jetzt, da das Treffen vorüber war, wunderte sich Quilley erneut, welcher Teufel ihn ritt, diesem armseligen Mann zu helfen. Nächstenliebe war es sicher nicht. Vielleicht war es die Herausforderung, die ihn reizte; schließlich klettern wir auf Berge, nur weil es sie gibt.

  Und außerdem war da noch Peplows Krimi-Sammlung. Möglicherweise besaß er ein bestimmtes Exemplar, das für Quilley von großem Interesse war. Vielleicht würde Peplow ihm so dankbar sein, dass er bereit wäre, sich davon zu trennen.

  Während Quilley überlegte, wie er dieses Thema beim nächsten Treffen zur Sprache bringen sollte, wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und steuerte auf die Buchhandlung zu.

  Atropin, Hyoscyamin, Belladonna ... Eines Abends blätterte Quilley in seinem Landhaus in Dreisbachs Handbook of Poisoning. Gift schien in letzter Zeit aus der Mode gekommen zu sein; Quilley selbst hatte es nur einmal rund sechs Jahre zuvor in einem seiner Romane verwendet. Damals hatte er sich für den Klassiker entschieden, Zyanid, mit seinem bekannten Bittermandel-Duft, von dem er so oft gelesen, den er jedoch nie selbst gerochen hatte. Seitdem verstaubte das kleine schwarze Handbuch im Regal.

  Beim Schreiben konnte man natürlich leicht dafür sorgen, dass der Mörder an den Stoff kommt: Man gab ihm einfach einen Job als Apotheker oder im Krankenhaus. Im wirklichen Leben dagegen war es wohl um einiges komplizierter, in den Besitz von Gift zu gelangen.

  Bisher hatte Quilley die Kapitel über Gifte in der Landwirtschaft, tödliche Substanzen im Haushalt und gefährliche Arzneimittel gelesen. Die Schwierigkeit bestand nun darin, für Peplow ein Gift zu finden, das leicht zu beschaffen war. Verschreibungspflichtige Medikamente schieden aus. Selbst wenn Peplow einen Arzt überzeugen könnte, ihm beispielsweise ein Schlafmittel zu verschreiben, stünde das später in seiner Krankenakte. Somit würde jeder Tod in seiner Nähe verdächtig erscheinen. Ein Schlafmittel wäre ohnehin nicht das Richtige, ebenso schieden leicht erhältliche Produkte wie Lösungsmittel, Insektizide oder Unkrautvernichtungsmittel aus - sie riefen alle nicht die Symptome eines Herzinfarkts hervor.

  Im Anhang des Buches befand sich eine Liste mit giftigen Pflanzen, die Quilley aufgrund ihrer schieren Länge beeindruckte. Ihm war bis dahin nicht bewusst gewesen, wie viel tödliche Gefahren in Wiesen, Gärten und Wäldern lauerten. Rhabarberblätter zum Beispiel enthielten Oxalsäure und verursachten Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Rinde, Holz, Blätter oder Samen der Eibe hatten eine ähnliche Wirkung. Buchsbaumblätter und -zweige verursachten Krämpfe, Schöllkraut konnte bis zum Koma führen, Hortensien enthielten Zyanid, und Goldregen bewirkte einen unregelmäßigen Puls, Halluzinationen, Zuckungen und Bewusstlosigkeit. Und so ging es munter weiter: Lupinen, Misteln, Wicken, Rhododendron - eine wahre Schatztruhe für jeden Giftmischer. Selbst der schöne Weihnachtsstern, der Jahr für Jahr so viele Fenster in Toronto schmückte, konnte eine Magen-Darm-Entzündung hervorrufen. Der Großteil dieser Pflanzen war einfach zu beschaffen, und in vielen Fällen konnten die aktiven Substanzen bereits durch einfaches Einweichen oder Abkochen extrahiert werden.

  Schon bald fand Quilley, wonach er gesucht hatte. Beim Oleander lautete der Eintrag: »Siehe Digitalis«. Und da stand es in aller Ausführlichkeit: Digitalis-Glykoside waren zum Beispiel im Roten Fingerhut enthalten. Er wuchs auf Brachflächen und an Waldhängen und blühte von Juni bis August. Eine akute Vergiftung führte zum Tod durch Herzkammerflimmern. In Anbetracht von Mrs Peplows Lebenswandel würde kein Arzt eine Autopsie für nötig halten. Man würde annehmen, dass sie an einem Herzinfarkt gestorben wäre, erst recht, wenn Peplow ihr zunächst ein paar kleinere Dosen verabreichte, um die typischen Symptome langsam zu verstärken.

  Quilley legte das Buch beiseite. Draußen war es bereits dunkel. Der Wolkenbruch, den der schwüle, bedeckte Tag lange angekündigt hatte, setzte ein: Regen trommelte aufs Dach, floss gurgelnd die Regenrinne hinunter, prasselte auf das Laub der über dem Dach hängenden Äste. Aus der Ferne vernahm Quilley, wie die Regentropfen auf die Wasseroberfläche des Sees peitschten. Blitze und tiefes Donnergrollen warnten vor dem heraufziehenden Gewitter.

  Zufrieden mit seinem abgeschiedenen Leben und seiner Gewitztheit, verschränkte Quilley die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Draußen hörte er etwas rascheln, vielleicht ein kleines Tier, das sich seinen Weg durchs Unterholz bahnte - ein Waschbär oder sogar ein Stinktier. Er schloss die Augen, stellte sich all die Bäume, Büsche und wilden Blumen vor, die das Landhaus umgaben, und staunte über das tödliche Potential, das so viele von ihnen bargen.

 

Die Sonne brannte auf den Hinterhof des Madison Avenue Pub herab. Dort befand sich ein kleiner Biergarten, der durch hohe Zäune vor dem Wind geschützt wurde. Quilley trug eine Sonnenbrille und hatte ein Pintglas mit Conner's Ale vor sich stehen. Der Hof war gerammelt voll. Hübsche Kellnerinnen liefen mit Tabletts voller Chicken Wings und golden schimmernder Biergläser hin und her.

  Die beiden Männer saßen etwas abseits an einem weißen Ecktisch in der Nähe der Feuertreppe. Ein gestreifter Sonnenschirm hielt die Sonne ab, doch es war immer noch zu hell und zu heiß. Peplows Frau musste ihrem Mann letztes Mal gehörig den Marsch geblasen haben, weil er Alkohol getrunken hatte, denn er bestellte nur eine Cola.

  »Es war ganz einfach«, sagte Quilley. »Das hätten Sie auch allein gekonnt. Der einzige Haken an der Sache ist, dass Fingerhut hier nicht wild wächst, anders als zum Beispiel in England. Doch Sie sind ja Gärtner, Sie pflanzen einfach welchen an.«

  Lächelnd schüttelte Peplow den Kopf. »Das ist ja gerade das Talent von klugen Leuten wie Ihnen: Bei Ihnen kommt einem das Komplizierteste plötzlich ganz einfach vor. Ich bin nicht besonders einfallsreich, Mr Quilley. Wirklich, ich hätte nicht einmal gewusst, wo ich anfangen soll. Ich hatte keine Ahnung, dass so ein Buch existiert, Sie kannten es durch Ihre Arbeit. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich mich nie getraut, es zu kaufen oder in der Bücherei auszuleihen. Ich hätte Angst gehabt, dass sich später jemand an mich erinnert. Sie haben das Buch schon seit Jahren. Es gehört einfach zu Ihrem Beruf. Nein, Mr Quilley, unterschätzen Sie Ihren Beitrag bitte nicht! Ich wusste nicht mehr aus noch ein. Durch Sie habe ich jetzt die Möglichkeit, meine Freiheit zurückzubekommen. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Sie tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Es wäre mir eine Ehre.«

  »Diese Sammlung, die Sie besitzen«, begann Quilley. »Woraus besteht die?«

  »Größtenteils aus britischen und kanadischen Kriminalromanen. Ich möchte ja nicht protzen, aber es ist eine sehr umfangreiche Sammlung. Los, stellen Sie mich auf die Probe! Nennen Sie mir einen Namen!«

  »E.C.R. Lorac.«

  »Ungefähr zwanzig Inspector-MacDonalds-Romane. Erstausgaben, tadelloser Zustand.«

  »Anne Hocking?«

  »Alles außer Night's Candles.«

  »Trotton?«

  Peplow hob die Augenbrauen. »Meine Güte, den kennt niemand! Wissen Sie was? Sie sind der erste Mensch, der diesen Namen kennt.«

  »Und?«

  »O ja.« Auf Peplows Gesicht erschien ein selbstgefälliges Lächeln. »X.J. Trotton, Signed in Blood, 1942 erschienen. Vor ein paar Jahren habe ich auf einer Auktion einen Haufen Schund ersteigert, da war das Buch dabei. Es ist selten, aber nicht besonders wertvoll. Es wurde während des Krieges in Großbritannien veröffentlicht und geriet vermutlich sofort in Vergessenheit. Soweit ich weiß, war es Trottons einziges Buch, es gibt keinerlei biographische Informationen. Vielleicht war es ja das Pseudonym eines berühmten Autors?«

  Quilley schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Haben Sie es gelesen?«

  »Natürlich nicht! Ich lese die Bücher nie. Die Buchrücken können viel zu leicht kaputtgehen. Viele Bücher sind sehr empfindlich. Wenn ich ein Buch lesen will - so wie Ihre Romane -, kaufe ich sie zusätzlich als Taschenbuch.«

  »Mr Peplow«, sagte Quilley langsam, »Sie haben mich gefragt, ob es etwas gäbe, das Sie für mich tun könnten. In der Tat gibt es etwas, womit Sie sich für meine Dienste erkenntlich zeigen könnten.«

  »Und was?«

  »Der Trotton.«

  Peplow runzelte die Stirn und schürzte die schmalen Lippen. »Warum um alles in der Welt ...?«

  »Für meine eigene Sammlung natürlich. Ich interessiere mich speziell für die Kriegsjahre.«

  Peplow lächelte. »Ah, ich verstehe, deswegen wussten Sie so viel darüber? Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie auch Sammler sind.«

  Quilley zuckte mit den Schultern. Er konnte Peplow förmlich ansehen, wie er mit sich rang, wie er sich die Lücke in seiner Sammlung vorstellte. Doch schließlich kam der arme Mann offenbar zu dem Schluss, dass der Mord an seiner Frau wichtiger war als ein unbekannter Kriminalroman. »Einverstanden«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Ich werde es Ihnen zukommen lassen.«

  »Wie kann ich sicher sein, dass ...?«

  Peplow machte ein beleidigtes Gesicht. »Ich halte mein Wort, Mr Quilley. Versprochen ist versprochen.« Er streckte die Hand aus. »Ehrenwort.«

  »In Ordnung.« Quilley glaubte ihm. »Lassen Sie es mich wissen, wenn es vorbei ist?«

  »Ja. Vielleicht eine kurze Nachricht in dem Trotton, wenn Sie so lange warten können. Sagen wir zwei oder drei Wochen?«

  »Wunderbar. Ich habe es nicht eilig.«

  Quilley hatte seit dem ersten Treffen nicht weiter über seine Beweggründe nachgedacht, doch als er die Informationen und Anweisungen weitergab, war ihm bewusst geworden, dass es in erster Linie die Herausforderung war, die ihn reizte. Seit vielen Jahren schrieb er Kriminalromane; indem er Peplow die Mittel an die Hand gab, um seine schlampige, arrogante Ehefrau umzubringen, konnte Quilley sich gleichzeitig beweisen, dass ihm - dem Erfinder von Inspector Baldry - auch im wahren Leben das gelang, was man an seinen Büchern so bewunderte.

  Quilley wusste auch, dass es in Wirklichkeit keine Polizisten gab, die über Baldrys ungewöhnliche Mischung aus Intellekt und Instinkt verfügten. Die meisten waren dick und überarbeitet und kämen niemals auf die Idee, dass der tumbe Mr Peplow seine Frau ausgerechnet mit einer Handvoll Fingerhut umgebracht hatte. Genauso wenig würden sie jemals ahnen, dass er, Dennis Quilley, der Kopf war, der hinter der ganzen Geschichte steckte.

  Beide Männer leerten ihre Gläser und verließen das Lokal. An der Ecke Bloor und Spadina Street stand eine lange Schlange von Touristen und Studenten, die an einem Straßenstand Hotdogs vom Holzkohlegrill kaufen wollten. Peplow wandte sich zur U-Bahn, und Quilley schlenderte eine Zeitlang zwischen den Möchtegernkünstlern und den Rollerbladern auf der Bloor Street West umher, dann ging er in ein Straßencafe, bestellte einen Daiquiri und ein Stück Kiwi-Käsekuchen und las die Globe and Mail.

  Jetzt muss ich nur noch warten, dachte er, trank einen Schluck und schlug das Feuilleton auf. In einigen Tagen würde ein kleines Päckchen bei ihm eintreffen. Dann wäre Peplow seine Frau los und Quilley stolzer Besitzer einer der wenigen erhaltenen Exemplare von X.J. Trottons erstem und einzigem Kriminalroman, Signed in Blood.

  Drei Wochen vergingen, ohne dass ein Päckchen kam. Dann und wann dachte Quilley an Mr Peplow und fragte sich, was wohl aus ihm geworden sei. Vielleicht hatte er doch noch die Nerven verloren. Gut möglich. Quilley wusste, dass er keine Möglichkeit hatte zu erfahren, was geschehen war, solange Peplow sich nicht mit ihm in Verbindung setzte. Er wusste weder, wo der Mann lebte, noch wo er arbeitete. Er wusste nicht einmal, ob Peplow sein richtiger Name war. Dennoch fand er, dass es so am besten war. Kein Kontakt. Nicht einmal der Trotton war es wert, in einen missglückten Mordversuch hineingezogen zu werden.

  Dann, um zehn Uhr an einem warmen Dienstagmorgen im September, klingelte es an der Tür. Quilley blickte auf die Uhr und runzelte die Stirn. Für den Postboten war es noch zu früh. Er seufzte, drückte die Speichertaste an seinem Computer und stieg die Treppe hinunter. Vor der Tür stand eine ihm unbekannte übergewichtige Frau in einem gelben gepunkteten Kleid mit kurzen Ärmeln und tiefem Ausschnitt. Sie hatte ein rundes Gesicht mit kleinen Schweinsäuglein und rotgefärbtes Haar, das nach einer billigen Dauerwelle stumpf und kraftlos herabhing. Über dem Arm trug sie eine Handtasche aus Krokodilleder-Imitat.

  Quilley hatte wohl zu lange mit verdattertem Gesichtsausdruck dagestanden. Die Augen der Frau verengten sich, fest kniff sie die Lippen zusammen, so dass rund um den roten Kreis ihres Mundes weiße Furchen entstanden.

  »Darf ich reinkommen?«, fragte sie.

  Überrumpelt machte Quilley einen Schritt nach hinten und ließ die Frau eintreten. Sie ging schnurstracks auf einen Korbsessel zu und setzte sich. Das Flechtwerk knarrte unter ihrem Gewicht. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, über den gebohnerten Parkettboden, den steinernen Kamin und die antiken Möbel aus Ontario.

  »Hübsch«, stellte sie fest und presste die Handtasche in ihren Schoß. Quilley setzte sich ihr gegenüber. Ihr Kleid war eine Nummer zu klein, der Stoff spannte über ihren roten fleischigen Oberarmen und dem rosafarbenen Dekollete. Als sie die Beine übereinanderschlug, rutschte der Saum hoch und gab den Blick auf einen unförmigen, fleckigen Oberschenkel frei. Prüde zog sie den Stoff wieder über ihre dicken Knie.

  »Ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen«, sagte Quilley, als er langsam seine Fassung zurückerlangte, »aber wer sind Sie überhaupt?«

  »Mein Name ist Peplow«, antwortete die Frau. »Gloria Peplow. Ich bin Witwe.«

  Quilley spürte ein Kribbeln an der Wirbelsäule, wie immer, wenn ihn Angst befiel.

  Stirnrunzelnd sagte er: »Ich fürchte, ich kenne Sie nicht, oder?«

  »Wir sind uns nie begegnet«, gab die Frau zurück, »aber ich glaube, Sie kannten meinen Mann.«

  »Ich kann mich an keinen Peplow erinnern. Sie müssen sich irren.«

  Gloria Peplow schüttelte den Kopf und blickte Quilley mit ihren Schweinsaugen an. Ihm fiel auf, dass sie schwarz waren, oder zumindest sehr dunkel. »Ich irre mich nicht, Mr Quilley. Sie kannten meinen Mann nicht nur, Sie haben auch mit ihm gemeinsam geplant, mich zu ermorden.«

  Quilley stieg die Röte ins Gesicht. Er sprang auf. »Das ist absurd! Hören Sie, wenn Sie gekommen sind, um wahnwitzige Unterstellungen zu machen, dann gehen Sie jetzt besser.« Er stand da wie eine antike Statue, eine Hand wies mit dramatischer Geste zur Tür.

  Mrs Peplow grinste selbstzufrieden. »Kommen Sie, setzen Sie sich wieder. Es sieht lächerlich aus, wie Sie da stehen.«

  Quilley gehorchte nicht. »Das hier ist mein Haus, Mrs Peplow, und ich bestehe darauf, dass Sie gehen. Sofort!«

  Mrs Peplow seufzte und öffnete den goldenen Plastikverschluss ihrer Handtasche. Sie zog einen Umschlag heraus, entnahm ihm zwei Farbfotos und warf sie neben die Wedgwood-Schale auf den antiken Beistelltisch vor ihrem Stuhl. Als Quilley sich vorbeugte, erkannte er deutlich, was darauf zu sehen war: Auf einem Foto stand er mit Peplow vor dem Park Plaza, das andere zeigte sie beide, wie sie sich vor der Scotiabank an der Ecke Bloor Street und Spadina Avenue unterhielten. Mrs Peplow drehte beide Fotos um, und Quilley sah, dass sie jeweils einen Datumsstempel vom Fotolabor trugen.

  »Sie haben sich mindestens zweimal mit meinem Mann getroffen, um meinen Tod zu planen.«

  »Das ist doch lächerlich. Jetzt, wo ich das Foto sehe, erinnere ich mich wieder an ihn. Ich habe seinen Namen vergessen. Er war ein Fan. Wir haben uns über Kriminalromane unterhalten. Es tut mir leid zu hören, dass er verstorben ist.«

  »Er hatte einen Herzinfarkt, Mr Quilley, und jetzt bin ich ganz allein auf der Welt.«

  »Das tut mir sehr leid, aber ich wüsste nicht ...«

  Mrs Peplow wischte seine Einwände mit einer Handbewegung beiseite. Quilley bemerkte einen dunklen Schweißfleck, der sich auf dem enganliegenden Stoff rund um ihre Achselhöhle ausbreitete. Sie nestelte erneut am Verschluss ihrer Handtasche und holte eine Packung Light-Zigaretten und ein Streichholzheftchen heraus.

  »Dies ist ein Nichtraucher-Haushalt«, sagte Quilley. »Ich vertrage den Qualm nicht.«

  »So ein Pech«, entgegnete Mrs Peplow, zündete die Zigarette an und warf das benutzte Streichholz in die Wedgwood-Schale. Sie blies Quilley den Rauch ins Gesicht. Er hustete und wedelte ihn fort.

  »Jetzt hören Sie mir mal zu, Mr Quilley«, sagte sie, »und passen Sie gut auf! Mein Mann mag ja dumm gewesen sein, aber ich bin es nicht. Er war nicht nur ein lächerlicher und langweiliger kleiner Mann, sondern auch leicht zu durchschauen. Fragen Sie mich nicht, warum ich ihn geheiratet habe. Er war nicht einmal besonders männlich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Denken Sie, ich wusste nicht schon längst, dass er nach einer Möglichkeit suchte, mich loszuwerden? Ich wollte nicht in eine Scheidung einwilligen, denn wenn er zu etwas gut war - das war aber auch das Einzige -, dann dafür, mich mit Geld zu versorgen, auch wenn das nicht besonders viel war. Bei einer Scheidung hätte ich die Hälfte von seinem Verdienst bekommen, aber das reicht nicht mal für ein Leben auf der Straße. Ich hätte arbeiten gehen müssen, und mit der Vorstellung konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden. Also fing ich an, ihn zu beobachten. Er wurde immer verzweifelter, immer geheimnistuerischer. Als er dann plötzlich mit so einem selbstgefälligen Ausdruck herumlief, war mir klar, dass er etwas ausheckte.«

  »Mrs Peplow«, fiel Quilley ihr ins Wort, »das ist ja alles schön und gut, aber ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun haben soll. Sie kommen hierher und verpesten mein Haus mit Ihrem Zigarettenqualm, und dann erzählen Sie mir irgendeine Geschichte über Ihren Mann, jemand, den ich zufällig ein- oder zweimal getroffen habe. Ich habe zu tun, Mrs Peplow, und wenn ich ehrlich bin, wäre es mir lieb, wenn Sie jetzt gehen würden und mich weiterarbeiten ließen.«

  »Das glaube ich Ihnen.« Sie schnippte ein Stück Asche in die Wedgwood-Schale. »Wo war ich stehen geblieben? Mir war klar, dass er etwas ausheckte, also bin ich ihm gefolgt. Ich dachte, dass er vielleicht eine andere Frau hätte, so unwahrscheinlich mir das auch erschien, deshalb nahm ich den Fotoapparat mit. Ich war nicht allzu überrascht, als er eines Tages nach der Mittagspause zum Park Plaza anstatt zurück ins Büro ging. Ich sah, dass der Fahrstuhl in den achtzehnten Stock fuhr, also wollte er in die Bar, und so wartete ich auf der anderen Straßenseite in der Menschenmenge, bis er wieder herauskam. Wie Sie wissen, musste ich nicht lange warten. Er kam mit Ihnen heraus. Und beim nächsten Mal war es genauso einfach.«

  »Mrs Peplow, ich sagte Ihnen bereits, er war ein Krimi-Fan, ein Sammlerkollege, das ist alles -«

  »Ja, ja, das weiß ich. Er mit seinen albernen Verzeichnissen und dieser Sammlung. Obwohl«, sinnierte sie, »es hatte auch seine Vorteile. So habe ich herausgefunden, wer Sie sind. Ich kannte Sie natürlich von dem Foto auf den Buchumschlägen. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, die Aufnahme rückt Sie ja in ein sehr positives Licht.« Sie sah an Quilley hinunter, als wäre er ein Stück Fleisch im Schaufenster eines Schlachters. Unwillkürlich zog er die Schultern hoch. »Wie ich bereits sagte, mein Mann war ein offenes Buch für mich. Ich wusste, dass er Sie um Rat fragen würde. Er flüchtete ständig in seinen Garten oder in seine kleine Bücherwelt, da erschien es mir folgerichtig, dass er eher einen Krimiautor um Rat fragen würde als einen echten Kriminellen. Ich kann mir außerdem vorstellen, dass Sie etwas zugänglicher waren. Ein bisschen Honig ums Maul geschmiert, und schon hatten Sie angebissen. Für Sie war es bloß eine Denksportaufgabe.«

  »Hören Sie, Mrs Peplow -«

  »Lassen Sie mich ausreden!« Sie drückte ihre Zigarette in der Schale aus. »Ausgerechnet Fingerhut! Glauben Sie, er hätte es fertiggebracht, eine Dosis Digitalis aufzubrühen, ohne überall Spuren zu hinterlassen? Wissen Sie, was er beim ersten Mal getan hat? Er hat mir gerade so viel in den Big Mac getan, dass mir ein bisschen schlecht wurde und mein Puls raste, doch er ließ die Blätter und Stängel einfach im Mülleimer liegen! Können Sie sich das vorstellen? O ja, danach wurde ich sehr vorsichtig in meinen Essgewohnheiten, Mr Quilley. So oder so, Ihr kleines Komplott hat nicht funktioniert. Ich bin hier, und er ist tot.«

  Quilley wurde blass. »O Gott, Sie haben ihn umgebracht, nicht wahr?«

  »Er hatte ein schwaches Herz, nicht ich.« Sie zündete sich die nächste Zigarette an.

  »Sie können mich wohl kaum erpressen, weil ich mit Ihrem Mann geplant habe, Sie umzubringen, wenn er jetzt tot ist«, sagte Quilley. »Außerdem gibt es keine Beweise. Nein, Mrs Peplow, Sie sollten jetzt besser gehen und froh sein, dass ich nicht die Polizei rufe.«

  Mrs Peplow machte ein erstauntes Gesicht. »Was reden Sie denn da? Ich habe nicht vor, Sie zu erpressen, weil Sie den Mord an mir geplant haben.«

  »Was denn ...?«

  »Mr Quilley, mein Mann hat Sie erpresst. Deswegen haben Sie ihn umgebracht.«

  Quilley sackte auf seinem Stuhl zusammen. »Ich habe was?«

  Sie holte einen Zettel aus der Handtasche und reichte ihn hinüber. Zwei Wörter standen darauf: Trotton - Quilley. Er erkannte die säuberliche Handschrift. »Das ist eine Kopie«, fuhr Mrs Peplow fort. »Das Original ist da, wo ich es gefunden habe, nämlich zwischen den Seiten eines Buches mit dem Titel Signed in Blood von X.J. Trotton. Kennen Sie es, Mr Quilley?«

  »Ich hab schon mal davon gehört.«

  »Ach, wirklich, haben Sie das? Es interessiert Sie vielleicht, dass sich zusammen mit dem Buch und dem Zettel auch eine Ausgabe Ihres ersten Krimis im Schrank meines Mannes befindet. Ich habe alles zusammen dort eingeschlossen.«

  Um Quilley begann sich alles zu drehen. »Ich ... ich ...« Peplow hatte ihm den Eindruck vermittelt, Gloria wäre dumm, doch das war meilenweit von der Wahrheit entfernt, wie sich nun herausstellte.

  »Mein Mann ist erst seit zwei Tagen tot. Wenn die Ärzte ihn untersuchen, werden sie wissen, dass er vergiftet wurde. Zunächst werden sie hohe Kaliumwerte ermitteln, und dann werden sie Eosiniphilie feststellen. Wissen Sie, was das ist, Mr Quilley? Ich habe es nachgeschlagen. Es handelt sich um weiße Blutkörperchen, die vermehrt nach allergischen Reaktionen oder Entzündungen auftreten. Wenn ich nun zur Polizei gehe und sage, ich sei in den letzten Wochen über das Verhalten meines Mannes beunruhigt gewesen, sei ihm gefolgt und hätte ihn zusammen mit Ihnen fotografiert, und wenn man dann die beiden Bücher und den Zettel in seinen Unterlagen findet ... Na gut, ich denke, Sie wissen, was die Polizei dann annehmen würde, nicht wahr? Besonders wenn ich erzähle, dass ihm übel war, als er vom Essen mit Ihnen nach Hause kam.«

  »Das können Sie nicht machen!«, sagte Quilley und schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. »Das ist verdammt noch mal nicht fair.«

  »Das Leben ist selten gerecht. Die Polizei kann ja nicht wissen, wie einfältig und phantasielos mein Mann war. Die wird bloß die Notiz sehen, die Bücher lesen und annehmen, er hätte Sie erpresst.« Sie lachte. »Selbst wenn Frank das Buch von Trotton gelesen hätte, wäre ihm höchstens eine gewisse >Ähnlichkeit< aufgefallen. Aber wir beide wissen, was es damit auf sich hat, nicht wahr? Es geschieht öfter, als die Leute glauben. Vor ein paar Jahren las ich in der Zeitung etwas über Ähnlichkeiten zwischen einem Buch von Colleen McCullough und The Blue Castle von Lucy Maud Montgomery. Meiner Meinung nach war es ein wenig zu offensichtlich, finden Sie nicht? In Ihrem Fall war es sehr viel einfacher, sehr viel weniger gefährlich. Sie waren ganz schön clever, Mr Quilley. Sie stießen auf einen unbekannten Krimi und übernahmen nicht nur die Handlung für Ihr erstes Buch, Sie stahlen auch noch die Hauptfigur und machten sie zum Detektiv ihrer Krimiserie. Sicher, ein kleines Risiko war dabei, aber es war überschaubar. Ihr Buch ist zweifelsohne besser. Sie verfügen über schriftstellerisches Talent, was X.J. Trotton völlig abging. Aber er hatte immerhin eine originelle Idee, und das ließ Sie nicht mehr los, nicht wahr?«

  Quilley stöhnte. Dreizehn solide Kriminalromane, zwölf davon ausschließlich sein Werk, doch für den ersten, ja, da hatte sie recht, hatte er einen schnell vergessenen Schundroman als Vorlage genommen. Er hatte erkannt, was Trotton daraus hätte machen können, und hatte es selbst geschrieben. Es war Quilley wie eine Vorsehung erschienen, als er den verstaubten Band vor Jahren in einem Antiquariat in Victoria entdeckte. Er hatte lediglich die Handlung von London nach Toronto verlegen, die Namen ändern müssen - und dann musste er das Original nur noch umschreiben. Und jetzt ...? Das Schlimmste war, dass er das blöde Buch gar nicht gebraucht hätte. Er hatte Peplows Ausgabe einfach nur in die Hände bekommen und vernichten wollen. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Signed in Blood hätte für immer ungelesen in Peplows Regal gestanden. Wenn dieser Idiot nur nicht diesen Zettel geschrieben hätte ...

  »Selbst wenn die Beweise vielleicht nicht ausreichen, um Sie wegen Mordes anzuklagen«, fuhr Mrs Peplow fort, »kann ich mir vorstellen, dass es Ihrem Ruf erheblich schaden würde, wenn das bekannt würde. Na ja, die breite Mehrheit der Leser würde sich vielleicht gar nicht daran stören. Möglicherweise würde ein Verfahren sogar den Umsatz steigern - wir wissen doch, wie sensationsgierig die Leute sind -, doch durch den Plagiatsvorwurf würden Sie zumindest den Respekt Ihrer Zunft verlieren. Ihr Agent und Ihr Verleger wären sicher nicht gerade begeistert. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

  Quilley nickte. Er war blass geworden und schwitzte. »Wie viel?«, brachte er mühsam hervor.

  »Wie bitte?«

  »Ich fragte, wie viel. Wie viel ist Ihr Schweigen wert?«

  »Ach, mir geht es nicht um Geld, Mr Quilley, oder darf ich Sie Dennis nennen? Zumindest nicht nur um Geld. Ich bin jetzt Witwe. Ich habe niemanden mehr auf der Welt.«

  Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, und ihre Schweinsäuglein glänzten. Dann warf sie Quilley einen derart widerwärtigen Blick zu, wie er ihn noch nie in seinem Leben gesehen hatte.

  »Ich habe mir immer ausgemalt, wie schön es wäre, am See zu leben«, sagte sie und zog die nächste Zigarette aus der Packung. »Sie wohnen hier ganz allein, nicht wahr?«