Katie starrte ihr Spiegelbild auf dem dunklen Küchenfenster an, während sie Kristallgläser abspülte, die sie nicht in die Maschine stellen konnte. Das Kofferradio auf dem Tisch spielte beruhigende klassische Musik, so leise, dass sie noch den Bach hören konnte, der am Grund des Gartens über die Steine plätscherte.
Jetzt, wo Stephen tot war und sie sich Banks anvertraut hatte, fühlte sie sich leer. Die Maximen ihrer Großmutter, die sie in der letzten Zeit verfolgt hatten, waren aus ihrem Kopf verschwunden, und der Druck auf ihre Brust, der ihr Herz einzuquetschen schien, hatte sich gelöst. Sie bemerkte sogar ein Lächeln in ihrem Gesicht, ein sehr merkwürdiges Lächeln, das sie nicht an sich kannte. Sie hatte keine Schmerzen mehr; sie fühlte sich betäubt, genau so, wie ihr Mund sich nach der Spritze vom Zahnarzt anfühlte.
Chief Inspector Banks hatte gesagt, sie sollte sich bei ihm melden, wenn ihr noch etwas einfiel. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich an nichts erinnern. Wenn sie die Jahre in Swainshead Revue passieren ließ, dann hatte sie immer wieder Hinweise darauf bemerkt, dass nicht alles in Ordnung war, dass Sachen passierten, von denen sie nichts wusste. Aber es gab keinen roten Faden, nur eine Reihe unzusammenhängender Vorfälle. Sie dachte an Sams Verhalten, als Raymond Addison bei ihnen aufgetaucht war. Das Gespräch der beiden hatte sie nicht gehört, doch Sam hatte danach sofort alle Arbeiten auf sie abgewälzt und war hinüber zum Haus der Colliers gelaufen. Später war Addison zu einem Spaziergang aufgebrochen und nie zurückgekehrt. Als man herausfand, dass der Mann ermordet worden war, war Sam für einige Tage ungewöhnlich bleich und still gewesen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie beobachtet hatte, dass Bernie innegehalten und zum Haus der Colliers rübergeschaut hatte, bevor er sich am Morgen seiner Abreise auf den Weg gemacht hatte. Außerdem hatte sie gesehen, wie er eines Abends kurz nach seiner Ankunft bei den Colliers geklingelt hatte. Schon damals fand sie es merkwürdig, denn normalerweise war er den reichen und privilegierten Colliers aus dem Wege gegangen.
Keiner dieser Vorfälle hatte zu seiner Zeit eine besondere Bedeutung für sie gehabt. Katie war eine Frau, die das Schlechte nicht in anderen, sondern in sich selbst suchte. Sie hatte viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen zu tun gehabt und ihre verdächtigen kleinen Beobachtungen deshalb schnell vergessen. Selbst jetzt konnte sie sich aus all dem keinen Reim machen. Als sie Banks sagte, dass sie Bernie und Stephen umgebracht hatte, meinte sie es so. Sie hatte die beiden nicht mit eigener Hand ermordet, aber sie wusste, dass sie dafür verantwortlich war.
Ihre Erinnerungen kamen ihr oft so vor, als wären sie jemand anderem passiert. Sie konnte wieder sehen, wie Bernard Allen sich an ihrem gleichmütigen Körper befriedigte, ganz objektiv, so als würde sie einen Stummfilm anschauen. Und Stephens zurückhaltender Kuss hatte weder eine eisige Kälte noch eine feurige Glut auf ihren Lippen hinterlassen. Sam hatte sie in der letzten Nacht brutal genommen, aber statt Angst und Abscheu hatte sie in ihrer Unterwürfigkeit eine Art Macht verspürt. Das war kein Genuss, das war ein neues Gefühl. Sie spürte, dass es sich ihr mit etwas Geduld letztlich offenbaren würde. Sie fühlte sich plötzlich im Besitz ihres Körpers, nicht aber ihrer Seele. Sie hatte immer auf eine reine und makellose Seele geachtet, und nun gab sie sich ihr von allein zu erkennen. Irgendwie war dieses neue Gefühl damit verknüpft, dass sie sich am Tod von Bernie und Stephen verantwortlich fühlte. Jetzt klebte Blut an ihren Händen; sie war erwachsen geworden.
Die Zukunft sah immer noch sehr unbestimmt aus. Das Leben würde so weitergehen wie immer, nahm sie an. Sie würde die Zimmer reinigen, die Mahlzeiten kochen, Sam im Bett nachgeben, sie würde tun, was er ihr sagte, und alles versuchen, um ihn nicht wütend zu machen. Alles würde genauso weitergehen wie bisher. Nur dass da ein neues Gefühl in ihr entstand. Wenn sie geduldig blieb, würde sich die Veränderung schon von selbst einstellen. Sie würde nichts tun müssen, bis sie genau wusste, was zu tun war.
Im Moment berührte sie nichts; nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Ganz gefangen in ihrem Spiegelbild rutschte ihr ein Satz sechs teurer Kristallgläser aus den Händen. Sie zersplitterten auf dem Linoleumboden. Doch selbst das machte ihr nichts aus. Katie schaute mit nachsichtiger und bedauernder Miene auf die Scherben und ging los, um Handfeger und Kehrblech zu holen.
Als sie die Küche durchquerte, hörte sie draußen ein Geräusch. Sie lief zum Fenster, schaute durch ihr eigenes Spiegelbild hindurch und sah einen Schatten an ihrer Gartenpforte vorbeihuschen. Einen Augenblick später, noch bevor sie die Tür abschließen konnte, hörte sie ein flüchtiges Klopfen. Die Tür ging auf, und Nicholas Collier steckte seinen Kopf herein und lächelte.
»Hallo, Katie«, sagte er. »Ich komme dich besuchen.«
Die Sonne hing wie ein aufgeblasener roter Ball über dem westlichen Horizont. Sie verströmte ein unheimliches Licht über die Landschaft des südlichen Yorkshire, das die still stehenden Fördertürme der Zechen wie Scherenschnitte aussehen und die Schlackenhalden glühen ließ. Auf der Kassette sang Nick Drake das bewegende »Northern Sky«.
Den größten Teil der Strecke hatten die beiden schweigend dagesessen, nachgegrübelt und überlegt, was zu tun war. Schließlich konnte es Hatchley nicht länger aushalten. »Wie können wir den Scheißkerl drankriegen?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, entgegnete Banks. »Wir haben nicht viel gegen ihn in der Hand.«
Hatchley knurrte. »Hätten wir schon, wenn wir ihn einbuchten und Sie und ich ihn uns vorknöpfen würden.«
»Er ist clever, Jim«, sagte Banks. Nach den ersten paar Malen ging ihm der Vorname des Sergeants mittlerweile recht leicht über die Lippen. »Schauen Sie nur, wie lange er es geschafft hat, nicht in der Schusslinie zu stehen. Der wird nicht gleich zusammenbrechen, nur weil wir beide mit ihm guter Bulle/böser Bulle spielen. Das wäre für ihn nur ein Zeichen unserer Schwäche. Er weiß genau, dass wir ein Geständnis brauchen, um ihn zu kriegen, also würde das nur seine Position stärken. Nein, Nicholas Collier ist ein eiskalter Typ. Und vergessen Sie nicht, dass er in ganz Swainsdale Beziehungen hat. Wir könnten gar nicht so schnell gucken, wie irgendein schicker Rechtsanwalt reinmarschiert käme, um uns die ganze Sache zu vermasseln.«
»Ich würde es trotzdem gerne auf einen schlagkräftigen Versuch ankommen lassen!« Hatchley haute auf das Armaturenbrett. »Entschuldigung. Nichts passiert. Es macht mich einfach wütend, wenn so ein hochnäsiger Scheißkerl ungeschoren davonkommt. Wie viel Menschen sind ermordet worden?«
»Drei, wenn man Stephen mitzählt, sogar vier. Aber noch ist er nicht ungeschoren davongekommen. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob er außer dem Mädchen, Cheryl Duggan, noch jemanden ermordet hat. Und wir können nicht mal beweisen, dass er sie ermordet hat. Nur weil Dr. Barber uns erzählt hat, Nicholas hatte den Ruf, die leichten Mädchen der Stadt zu belästigen, ist er noch nicht schuldig. Für eine Verurteilung reicht das beim besten Willen nicht.«
»Aber Cheryl Duggans Tod hat Addison nach Swainshead geführt.«
»Ja. Aber selbst das ist nur ein Indiz.«
»Wer hat Ihrer Meinung nach Addison und Allen ermordet?«
»Spontan würde ich sagen, Stephen. Er hat es getan, um seinen kleinen Bruder und den Ruf seiner Familie zu schützen. Aber wir wissen es nicht und werden es auch nie erfahren, wenn Nicholas nicht redet. Ich wette, dass Nicholas bei all seiner Cleverness eigentlich schwach ist. Ich bezweifele, dass er den Mumm für einen kaltblütigen Mord hat. Beide könnten am Tatort gewesen sein, schließlich hat keiner von ihnen ein gutes Alibi. Aber ich würde sagen, Stephen hat die Morde ausgeführt.«
»Was ist Ihrer Meinung nach mit Cheryl Duggan passiert?«
Banks wechselte die Fahrspur, um einen Lastwagen zu überholen. »Ich glaube, er hat sie in einem Pub aufgelesen und ist mit ihr runter zum Fluss gegangen. Sie war nur eine Prostituierte, ein Kind der Arbeiterklasse, und er stammte aus einer angesehenen Familie. Was zum Teufel scherte er sich also darum, was er tat? Ich glaube, er drehte völlig durch, verletzte sie vielleicht, und sie fing an, sich zu wehren, hat gedroht, zu schreien oder die Polizei zu rufen. Also kriegte er Panik und ertränkte sie. Entweder so, oder er hat es getan, weil es ihm Spaß machte.«
Die Kassette war zu Ende. Banks zündete sich eine Zigarette an und suchte im Dunkeln nach einer neuen Kassette. Ohne auf den Titel zu schauen, steckte er die erste ein, die er zu fassen bekam. Es war der SixtiesSampler, die Kassette, die er mit nach Toronto genommen hatte. Traffic spielten No Face, No Name and No Number.
»Ich glaube, Addison war ein gewissenhafter Ermittler«, fuhr Banks fort. »Das arme Schwein hat sein Geld mehr als verdient. Im Gegensatz zur Polizei hat er alles abgeklappert und eine Verbindung zwischen Cheryl Duggan und Nicholas Collier gefunden. Vielleicht wurden sie dabei gesehen, wie sie gemeinsam einen Pub verlassen haben. Oder vielleicht haben ihm ihre Freunde erzählt, dass sie schon früher mit Collier gesehen wurde. Wie auch immer, Addison hat den Namen aus irgendjemandem rausgequetscht oder die Information gekauft, und anstatt einen Bericht bei seinen Auftraggebern abzugeben, ist er gleich nach Swainshead aufgebrochen. Das war sein erster Fehler.
Sein zweiter Fehler war, Sam Greenock nach Nicholas Collier zu fragen. Greenock wollte sich unbedingt bei der örtlichen Oberschicht einschmeicheln und wurde bei den Fragen des Fremden misstrauisch. Also vertröstete er Addison und nutzte die erstbeste Gelegenheit, um über die Brücke zu laufen und Collier alles zu erzählen. An dem Abend muss bei den Colliers richtig Panik aufgekommen sein. Erinnern Sie sich, der Tod des Mädchens war damals fünfzehn Monate her, und die Colliers müssen gedacht haben, die Sache ist ausgestanden. Ich kenne die Einzelheiten nicht. Vielleicht hat es Sam so arrangiert, dass Addison rüber zu den Colliers geht, als im Dorf alles ruhig war, oder vielleicht hat er sogar mit den Colliers abgemacht, dass sie hoch in Addisons Zimmer gehen und ihn dort töten. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber ich glaube, es war Stephen, der zugeschlagen hat. Das würde auch den Zustand erklären, in dem er sich später am Abend mit Anne Ralston getroffen hat.«
»Und wie war es bei Bernard Allen?«, fragte Hatchley.
»Zuerst dachte ich, er hätte einfach Pech gehabt«, sagte Banks. »Er erzählte Katie Greenock, dass er Anne Ralston in Toronto getroffen hatte. Sie erzählte es Sam, der wie üblich alles hinausposaunte. Das wäre diesmal nicht so schlimm gewesen, wenn Allen nicht auf Erpressung aus gewesen wäre. Nach allem, was ich weiß, war Stephen Collier ein merkwürdiger, äußerst widersprüchlicher Kerl. Nachdem er Addison ermordet hatte, musste er sein Herz bei seiner Freundin ausschütten, aber ich bin mir sicher, dass er es schnell bereute. Nachdem Anne verschwunden war, muss er ein paar schlaflose Nächte gehabt haben. Aber egal. Bernard Allen wusste, dass Stephen in den Mord an Addison verwickelt war und dass er etwas mit einem Vorfall in Oxford zu tun hatte. Er nahm offenbar an, dass die Polizei, würde sie davon wissen, die Fäden verknüpfen könnte. Das haben wir dann auch geschafft, nur leider zu spät.«
»Sie sagten, zuerst dachten Sie, Allen hätte Pech gehabt«, sagte Hatchley. »Und jetzt?«
»Jetzt glaube ich, dass er die Colliers erpressen wollte. Ich hatte keine Zeit, Ihnen ausführlich von Toronto zu erzählen, aber ich habe dort ein paar Leute getroffen, die sagten, dass Bernard Allen tatsächlich zurück nach Swainshead wollte. Seine Schwester hat es auch bestätigt, während die Leute in Swainshead die Sache runtergespielt haben. Katie Greenock hat er gesagt, er würde sie nachkommen lassen, sobald er wieder zurück in Kanada ist. Aber nur, weil sie aus Swainshead weg und er ihr an die Wäsche wollte.
Ich habe mich gewundert, warum ich so viele widersprüchliche Beschreibungen von Allens Gemütszustand bekommen habe. Aber das war sein Motiv. Er hat die Colliers erpresst, um wieder nach Hause kommen zu können. Eine Stelle in der Schule, Geld auf der Bank - ich weiß nicht, was er haben wollte, aber ich bin mir sicher, das war seine Absicht. Und die hat ihn getötet. Natürlich hat nicht jeder, der ihm gesagt hat, >du kannst nicht wieder zurück nach Hause<, es so buchstäblich gemeint. Wie auch immer, die Colliers kamen zu dem Schluss, dass sie mit der Bedrohung nicht leben konnten, deshalb wartete einer oder beide an diesem Morgen in dem Seitental auf ihn. Sie wussten, dass er dort entlangkommen würde, weil er oft von dem Tal gesprochen hat und morgens in diese Richtung gegangen ist.«
»Und was ist mit Stephen passiert? Wenn ihn tatsächlich Nicholas umgebracht hat, welches Motiv hatte er?«
»Stephen war zu nervös geworden. Nicholas wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Bruder vollständig zusammenbrach, und er konnte es sich nicht erlauben, ihn so lange am Leben zu lassen, bis ich nach meinem Gespräch mit Anne Ralston aus Toronto zurück war. Stephen muss seinem Bruder erzählt haben, dass er Anne nichts über den Vorfall in Oxford gebeichtet hatte, dass er aber den schwerwiegenden Fehler begangen hatte, ihr gegenüber seine Verwicklung in den Mord an Addison angedeutet zu haben. Nicholas wusste, dass Annes Aussage mir genügend Verdachtsmomente gegen Stephen liefern würde, und er konnte sich bei seinem Bruder nicht darauf verlassen, dass er in einem Verhör standhaft blieb. Wenn wir das Motiv für den Mord an Addison erfahren würden, wüssten wir alles. Nicholas konnte das nicht geschehen lassen.
Seine Tat war riskant, aber für Nicholas stand eine Menge auf dem Spiel, mittlerweile nicht nur der Ruf der Familie, sondern auch seine persönliche Freiheit, seine Heimat, seine Karriere. Er musste seinen eigenen Bruder umbringen, um zu überleben. Und wenn der Plan gelang, sah es wie der Unfalltod eines gemütskranken Mannes oder wie der Selbstmord eines Schuldigen aus.«
Es war schon dunkel, als Banks auf der A1 östlich von Leeds versuchte, Licht in die schwierigen Zusammenhänge zu bringen. Cream spielten gerade »Strange Brew«, und Hatchley war verstummt.
Doch alles verstand Banks immer noch nicht. Stephen hatte getötet, um das zu erhalten, was ihm wichtig war. Aber Nicholas Collier blieb ihm ein Rätsel. Mit aller Wahrscheinlichkeit hatte er Cheryl Duggan ertränkt, aber was Banks nicht losließ, war die Frage nach dem Motiv. Hatte er es aus Vergnügen, Versehen oder Verzweiflung getan? Und war er außerdem für die Schwellungen und die Spuren sexueller Misshandlung verantwortlich, die an ihrer Leiche festgestellt wurden? Dr. Barber hatte gesagt, dass Nicholas ein- oder zweimal in Schwierigkeiten gewesen war, weil er mit Prostituierten verkehrt und Mädchen aus Oxforder Fabriken Geld für Sex angeboten hatte. Banks fragte sich, warum. Nicholas hatte alle Möglichkeiten. Warum hatte er sich nicht mit seinesgleichen rumgetrieben, mit Mädchen seiner gesellschaftlichen Schicht?
»Fahren wir zuerst ins Präsidium«, sagte Banks. »Vielleicht gibt es Neuigkeiten.« Sie näherten sich der Abfahrt auf die Nebenstraße, die sie durch die Heide nach Helmthorpe und auf die Hauptverkehrsstraße des Tales bringen würde. »Wenn es nichts Neues gibt, können wir immer noch nach Swainshead fahren.« Er schaute auf seine Uhr. »Es ist noch nicht spät, erst kurz vor neun.«
Hatchley nickte, und Banks verließ die Autobahn und fuhr auf die Straße nach Eastvale.
Im Präsidium war alles ruhig. Während Banks und Hatchley unterwegs gewesen waren, hatte es keine schweren Verbrechen gegeben. Aber es lag eine Nachricht von John Fletcher vor, eingegangen um fünf Uhr am Nachmittag. Er bat sie, ihn so schnell wie möglich aufzusuchen. Er sagte, es wäre wichtig und hätte mit Stephen Colliers Tod zu tun. Er würde den ganzen Abend zu Hause sein.
Außerdem lag eine Kopie von Dr. Glendennings vorläufigem Obduktionsbericht über Stephen Collier auf Banks' Schreibtisch. Der Doc hatte in Colliers Blutbahn das Äquivalent von ungefähr fünf Kapseln Nembutal gefunden, eine Menge, die allein noch nicht zum Tode führte, die aber in Verbindung mit Alkohol tödlich sein konnte. Und sein Alkoholgehalt war weitaus höher gewesen, als die Menge von fünf oder sechs Pints erklärten. Es sah so aus, als hätte Banks recht, und Collier waren tatsächlich im Pub Wodka und zu Hause weitere Drinks eingeflößt worden.
»Sollen wir Fletcher noch heute Abend einen Besuch abstatten?«, fragte Banks Hatchley. »Oder warten wir bis morgen?«
Unter normalen Umständen hätte er von Hatchley erwartet, dass er jede Gelegenheit zum Feierabend wahrnehmen würde, um ein Bier zu trinken oder zu einem Schäferstündchen zu Carol Ellis zu eilen, aber diesmal war der Sergeant angestachelt.
»Fahren wir«, sagte er. »Vielleicht hat Fletcher die Lösung. Ich will nicht so lange warten, bis er auch noch Selbstmord begeht. Und ich hätte auch nichts dagegen, gleich bei diesem Arschloch von Nicholas Collier vorbeizuschauen.«
»Geh weg!«, sagte Katie, lief los und versuchte, die Tür zu schließen.
Doch Nicholas hatte seinen Fuß dazwischengeklemmt. »Lass mich rein, Katie«, sagte er. »Ich muss mit dir über Stephen sprechen. Er mochte dich sehr gerne, weißt du.«
»Er ist tot«, sagte Katie und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Aber Nicholas war stärker. Er schob die Tür mit einem Ruck auf, der Katie zurück gegen den Küchentisch warf. Nicholas kam herein, schloss die Tür hinter sich und ging auf sie zu.
»Ich tue dir nichts«, sagte er. »Ich weiß, dass du mit Stephen am Tag vor seinem Tod gesprochen hast. Ich frage mich einfach, ob er etwas Dummes gesagt hat. Es ging ihm nicht gut, weißt du.« Als sie zurückweichen wollte, streckte er seine Hand aus und packte Katies Arm. »Du musst keine Angst vor mir haben«, sagte er und lockerte seinen Griff ein wenig. »Du musst nicht weglaufen. Ich tue dir nichts. Ich will nur mit dir reden.«
»Ich weiß nicht, was du willst«, sagte Katie. »Mit Stephen war alles in Ordnung.«
»Er war bedrückt. Vielleicht hat er Dinge gesagt, die er nicht so gemeint hat.«
»Was für Dinge?«
»Keine Ahnung. Das will ich ja von dir wissen, du dämliches Miststück«, herrschte Nicholas sie an und senkte gleich wieder seine Stimme. »Erzähl mir einfach, über was ihr gesprochen habt. Willst du mir nichts zu trinken anbieten?«
»Ich habe nichts da.«
»Lügnerin.« Nicholas öffnete Sams Barschrank und schenkte ein großes Glas Gin ein. »Ich war schon mal hier, erinnerst du dich? Mit Sam.« Er hielt ihr das Glas hin. »Na los, nimm einen Schluck. Du magst doch Gin, oder?«
Katie schüttelte den Kopf. Nicholas griff mit einer Hand um ihren Hals, hielt das Glas vor ihre verschlossenen Lippen und kippte es nach vorn. Der scheußlich schmeckende Alkohol strömte über Katies Kinn und tropfte auf ihr Kleid. Er brannte in ihrer Kehle und nahm ihr den Atem.
»Hör auf!«, schrie sie prustend und stieß ihn weg.
Nicholas lachte, bleckte seine gelben Zähne und setzte das Glas ab. Er ging wieder an den Barschrank und schenkte sich einen Scotch ein.
»Was hat dir Stephen erzählt?«, fragte er.
»Nichts.« Katie hustete und rieb mit dem Handrücken über ihre Lippen.
»Er muss etwas gesagt haben. Stephen vertraute sich immer den falschen Leuten an, besonders Frauen. Ich habe auch gesehen, dass du mit diesem Polizisten gesprochen hast. Wo ist er jetzt? Was macht er?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn seit gestern nicht gesehen.«
»Was wollte er von dir wissen? Was hast du ihm gesagt?«
»Nichts. Er weiß gar nichts.«
»Hör auf zu lügen, Katie. Hast du es mit ihm auch getan, genau wie mit all den anderen?«
Katie wurde blass. »Was meinst du?«
Nicholas grinste. Eine dunkle Haarsträhne war über seine Augenbrauen gefallen, seine Wangen waren erhitzt. »Du weißt genau, was ich meine. Das, was du mit Stephen und jedem anderen getan hast. Hast du ihn auch rangelassen, Katie, diesen Polizisten?«
»Nein!«
»Ach, tu nicht so schüchtern. Du hast es mit jedem getan, nicht wahr? Du weißt, dass du eine Schlampe bist. Eine dreckige Hure. Sag mir, dass du eine dreckige Hure bist, Katie, sag es!«
»Das bin ich nicht.«
Verzweifelt lief Katie zur Verbindungstür, doch Nicholas schnitt ihr den Weg ab.
»Du kommst hier nicht raus«, sagte er. »Deine ganzen Gäste sind im White Rose. Ich habe sie gesehen. Und Sam ist wie immer bei seiner Freundin.«
»Was?«
»Weißt du nichts davon? Ach komm, erzähl mir nicht, dass du es nicht weißt. Jedes Mal, wenn er angeblich seine Freunde in Leeds oder Eastvale trifft, ist er bei Frauen. Leichte Mädchen. Riechst du nicht ihr billiges Parfüm auf seiner Haut, wenn er nach Hause kommt? Oder magst du es, wenn er gerade von einer anderen Frau kommt und dich nimmt? Riechst du gerne andere Frauen auf der Haut deines Mannes?«
Katie hielt sich die Hände vor die Ohren. »Hör auf! Hör auf!«, kreischte sie. »Du bist schlecht.«
Nicholas applaudierte leise. »Tolle Vorstellung, Katie.«
Katie ließ ihre Hände sinken. »Was hast du vor?«
»Was ich vorhabe? Ich werde dich von hier wegbringen. Ich traue dir nicht, Katie. Wer weiß, was du weißt und vielleicht ausplauderst.«
»Ich weiß gar nichts.«
»Ich glaube, du weißt etwas. Stephen hat es dir erzählt, oder?«
»Was denn?«
»Über Oxford.«
Katie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Schau nur, wie rot du wirst«, sagte Nicholas und zeigte mit dem Finger auf sie. »Du weißt es, oder? Ich bin mir sicher, dass du es weißt. Du kannst deinen Sünden nicht entfliehen.«
Da wurde Katie klar, was er meinte. Plötzlich dämmerte ihr eine schreckliche Gewissheit.
»Du hast ihn getötet«, sagte sie leise. »Du hast Stephen getötet.«
Nicholas zuckte mit den Achseln und sprach mit kalter, gefühlloser Stimme. »Ich konnte ihm nicht mehr trauen. Er war nicht mehr auf meiner Seite.«
Katie verkrampfte sich. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Was hast du vor?«
»Ich werde dich wegbringen, weit weg. Was hat er dir über Oxford erzählt?«
»Nichts.«
»Hat er dir von dem Mädchen erzählt, von dieser dummen Schlampe?«
Katie schüttelte den Kopf.
»Er hat es erzählt, nicht wahr?«
»Nein! Er hat mir nichts erzählt.«
Nicholas lehnte sich an den Tisch. Seine hellen Augen funkelten, und er atmete in kurzen, hastigen Stößen. Für Katie sah er wie ein Verrückter aus. Wie ein furchteinflößender Verrückter.
»Sie war nichts weiter als eine Prostituierte, Katie«, sagte er. »Ein Flittchen. Sie hat sich an Männer verkauft. Und als ich ... als ich sie nahm, wollte sie nicht ... Sie sagte, ich wäre zu grob, und wollte, dass ich aufhöre. Ich! Nicholas Collier. Aber ich habe nicht aufgehört. Ich wusste, dass sie es genau so haben wollte. Eine ordinäre Nutte wie sie. Wie du.«
»Nein!«, sagte Katie. »Das bin ich nicht.«
»Doch, das bist du. Ich habe dich genau beobachtet. Du hast es mit jedem getrieben. Haben sie dich bezahlt, Katie, oder hast du es umsonst getan? Ich weiß, dass du dich gerne wehrst. Ich werde dich bezahlen, wenn du willst.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ich will, dass du es mir sagst. Sag, dass du eine dreckige Hure bist.«
»Das bin ich nicht.«
»Was ist los? Warum sagst du es nicht? Ich wette, du hast sogar diesen Polizisten rangelassen. Ich bin besser als all die anderen, Katie. Sag es!«
»Nein!«
Er sprach sehr ruhig und so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Ich möchte, dass du auf deine Knie gehst, Katie, und mir sagst, dass du eine dreckige Hure bist und dass ich es dir besorgen soll wie ein Tier. Wie ein Hund. Ich möchte, dass du dein Kleid hochziehst und vor mir auf dem Boden krabbelst, Katie.«
Jetzt kam er auf sie zu, sein Blick durchbohrte sie mit einer solchen Heftigkeit, dass die wenige Kraft, die sie noch besaß, von ihr abzufallen schien. Sie spürte, wie ihre Schultern an den Kaminsims stießen. Es gab keinen Fluchtweg mehr. Doch Nicholas kam immer näher, und als er nahe genug war, streckte er seine Hand aus und packte die Vorderseite ihres Kleides.
Banks jagte am Swain entlang durchs Tal, ließ Helmthorpe hinter sich und drang tiefer in die dunkle, von den Schatten der Berge gesäumte Landschaft ein. In Swainshead bog er mit quietschenden Reifen scharf nach rechts ab und folgte dem Tal hoch nach Upper Head. Als er am Haus der Colliers vorbeikam, bremste er ab, aber alle Lichter waren aus.
»Ich hoffe, der Scheißkerl hat sich nicht aus dem Staub gemacht«, sagte Hatchley.
»Nein, dafür ist er zu cool. Wir kriegen ihn, keine Angst.«
Der Lichtschimmer hoch oben am Berghang gut drei Kilometer nördlich des Dorfes kam von Fletchers abgelegenem Hof. Im Dunkeln war der Weg schwer zu befahren, aber schließlich hielten sie vor dem gedrungenen, soliden Haus mit den meterdicken Wänden. Flechter hatte sie kommen gehört und stand bereits im Hauseingang. Sie wurden wieder in das schlichte, weiß getünchte Zimmer mit dem Eichentisch und den Fotografien von Fletchers glamouröser Exfrau geführt.
Fletcher fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er vermied den direkten Blickkontakt und holte umständlich Biergläser hervor. Hatchley stand am Fenster und schaute raus in die Dunkelheit. Banks setzte sich an den Tisch.
»Worum geht es?«, fragte er, nachdem Fletcher ihm gegenüber Platz genommen hatte.
»Um Stephens Tod«, begann Fletcher zögernd. »Er war mein Freund. Die Sache ist jetzt zu weit gegangen. Viel zu weit.«
Banks nickte. »Ich weiß. Ich habe gehört, dass Ihr Verhältnis zu Nicholas nicht gerade herzlich ist.«
»Sie haben davon gehört? Nun, es stimmt. Ich hatte nie viel für ihn übrig. Aber der alte Mr Walter war wie ein Vater für mich, und ich habe mich immer wie Stephens älterer Bruder gefühlt.«
Banks reichte seine Zigarettenschachtel herum.
»Samstagnacht«, platzte Fletcher plötzlich heraus. »Damals habe ich mir nichts dabei gedacht, es schien ein dummes Spiel zu sein, typisch Nicholas. Jedes Mal, wenn er eine Runde an der Theke bestellte, hat er einen Klaren in Stephens Bier gekippt. Wie gesagt, ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich wusste, dass Stephen bedrückt war - weswegen, weiß ich nicht -, und er schien sich betrinken und seine Probleme vergessen zu wollen. Kein Grund, Ärger zu machen, dachte ich und hielt den Mund.
Diese Familie hat ein Geheimnis, Mr Banks, ein dunkles Geheimnis. Stephen hat es mehr als einmal angedeutet, und ich glaube, es hat etwas mit Nicholas und den Damen zu tun. Obwohl Damen nicht ganz das richtige Wort ist. Wussten Sie, dass er einmal fast Molly Stark aus Relton vergewaltigt hat?«
»Nein, wusste ich nicht.«
»Ja, es wurde vertuscht, wie fast alles, was Nicholas anstellt. Ganz elegant und sachlich.«
»Gab es nicht auch einmal Ärger mit einem Dienstmädchen, als sein Vater noch lebte?«
»Stimmt«, sagte Fletcher. »Er hat sie geschwängert. Aber sie wurde mit Geld zum Schweigen gebracht. Es wurden keine Kosten und Mühen gescheut, man hat ihr die Abtreibung bezahlt und sie weggeschickt. Er hat eine Vorliebe für Mädchen aus der unteren Schicht, wie man sagt. Mädchen aus der Arbeiterklasse, Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Mägde ... Bei Stephens Party letzte Woche habe ich ihn sogar dabei erwischt, wie er Katie Greenock belästigt hat.«
Endlich ergab die Sache einen Sinn, dachte Banks. Nicholas Collier konnte nicht von Frauen aus niederen sozialen Schichten lassen. Cheryl Duggan, Esther Haines, Katie Greenock, Anne Ralston, das Dienstmädchen, Molly Stark: Alle standen gesellschaftlich unter ihm. Auch wenn der Begriff in den letzten Jahren eine Menge von seiner Bedeutung verloren hatte, könnten sie immer noch als Frauen der Arbeiterklasse bezeichnet werden. Offenbar spielte es keine Rolle, was sie als Individuen darstellten; daran war Collier nicht interessiert. Wahrscheinlich besaß er irgendein viktorianisches Bild von der Arbeiterklasse als brodelnde, Gin trinkende, unzüchtige, gebärende Masse. Er drängte sich ihnen auf und wurde gewalttätig, wenn sie protestierten. Sein Zwang hatte wie die meisten perversen sexuellen Praktiken zweifellos eine Menge mit Macht und Demütigung zu tun.
»Als diese beiden Morde hier bekannt wurden, war mir klar, dass irgendetwas Ernstes vor sich ging«, fuhr Fletcher fort und füllte ihre Biergläser nach. »Dieser Detektiv und der junge Bernard Allen. Es war mir klar, aber ich wusste nicht, worum es ging. Immer wenn ich nachgefragt habe, machte Stephen zu. Und sagte mir nur, dass ich es dabei bewenden lassen sollte und es besser für mich ist, wenn ich von nichts weiß.« Er nahm einen Schluck Bier. »Vielleicht hätte ich nicht lockerlassen sollen. Vielleicht wäre Stephen dann noch am Leben ... Aber ich glaube nicht, dass er sich selbst getötet hat. Das wollte ich Ihnen sagen. Ich habe gesehen, dass Nicholas etwas in sein Bier getan hat, und als der Pub zumachte, war Stephen in einem katastrophalen Zustand, schlimmer, als wenn er nur ein paar Gläser getrunken hätte. Und als Nächstes höre ich, dass er tot ist. Angeblich eine Überdosis. Ich wusste, dass er Schlaftabletten genommen hat, aber eine Überdosis ...«
»Ja, Barbiturate«, sagte Banks. »Wenn sie mit so viel Alkohol gemischt werden, wie Stephen Collier im Blut hatte, sind sie so gut wie sicher tödlich.«
»Also war es Mord, nicht wahr? Dieses Arschloch von seinem Bruder hat ihn ermordet.«
»Es sieht so aus, Mr Fletcher, aber wir müssen vorsichtig vorgehen. Wir haben weder eine Aussage noch Beweise.«
»Ich werde bezeugen, was ich gesehen habe. Ich werde helfen, ihn einzusperren, so wahr Gott mein Zeuge ist.«
Banks schüttelte den Kopf. »Das wird helfen, aber es reicht nicht aus. Nicholas hat Wodka in das Bier seines Bruders gekippt, na und? Sie haben selbst gesagt, es könnte lediglich ein Streich gewesen sein, und genau das wird er auch behaupten. Das sind alles nur Indizien, reine Theorie. Wir brauchen eindeutige Beweise oder ein Geständnis.«
»Dann werde ich es verdammt noch mal aus ihm rausprügeln«, sagte Fletcher, knallte seine Hände auf den Tisch und erhob sich.
»Setzen Sie sich«, sagte Banks. »Das wird uns überhaupt nicht weiterbringen.«
»Was wollen Sie dann unternehmen?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht«, sagte Banks. »Vielleicht reicht es für eine Anklage, besonders wenn wir Anne Ralston vorladen, aber das will ich eigentlich nicht riskieren. Selbst wenn wir das Gericht überzeugen können, dass unsere Informationen einen Prozess gegen Nicholas rechtfertigen, wird er möglicherweise freigesprochen. Bei unseren spärlichen Indizien gegen ihn könnte das durchaus passieren.«
»Ich hätte früher reden sollen«, sagte Fletcher. »Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Wenn ich Ihnen das alles erzählt hätte, bevor Sie nach Toronto geflogen sind, dann hätten Sie möglicherweise Stephen mehr unter Druck setzen können, und er hätte Ihnen vielleicht die Wahrheit gesagt. Er war am Ende, Mr Banks. Deswegen musste Nicholas ihn wohl auch loswerden.«
»Ich denke, Sie haben recht«, sagte Banks. »Aber wir können es immer noch nicht beweisen. Und Sie sollten sich keine Vorwürfe machen. Sie haben wahrscheinlich gedacht, Sie würden Stephen in Schwierigkeiten bringen, wenn Sie reden. Ich nehme an, Sie haben ihn geschützt?«
Fletcher nickte. »Wahrscheinlich. Ihn und die Erinnerung an seinen Vater.«
»Um Nicholas zu kriegen, hätten Sie Stephen hintergehen müssen. Er hat seinen Bruder oder seinen Vater geschützt, genau wie Sie.«
»Was wird mit mir passieren ? Werden Sie strafrechtlich gegen mich vorgehen?«
»Weswegen?«
»Vorenthaltung von Beweisen? Beihilfe zum Mord?«
Banks lachte. »Sie haben sehr wenig Ahnung vom Gesetz, Mr Fletcher. Sicher, Sie hätten früher reden können, genau wie eine Reihe anderer Leute aus Stephen Colliers Umfeld. Aber er hatte dafür gesorgt, dass jeder im Dunkeln tappte, so dass es eigentlich nichts zu sagen gab, nichts als vage Befürchtungen und Verdächtigungen. Glauben Sie mir, damit kommen nur sehr wenige Leute zu uns - sie wollen am Ende nicht dumm dastehen.«
»Also habe ich nichts zu befürchten?«
Banks stand auf und deutete Hatchley an, dass es Zeit zum Gehen war. »Nein. Sie haben uns geholfen. Jetzt liegt es an uns, eine Anklage zusammenzukriegen oder eine Falle zu stellen.«
»Ich werde alles tun, um zu helfen«, sagte Fletcher. »Sagen Sie dem Arschloch, dass ich etwas weiß. Dann soll er herkommen und versuchen, mich abzumurksen.«
»Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt«, sagte Banks, »aber danke für das Angebot.«
Für ein paar Augenblicke saßen sie rauchend im Wagen. Draußen war es pechschwarz, und weit unter ihnen im Tal glitzerten die Lichter von Swainshead wie die Milchstraße.
»Wie sehr sollen wir Collier unter Druck setzen?«, fragte Hatchley.
»Wir setzen ihn gar nicht unter Druck«, sagte Banks. »Wenigstens nicht gleich. Ich sagte Ihnen ja, er ist clever. Er würde nur merken, dass wir ratlos sind.«
»Was machen wir dann?«
»Wir konfrontieren ihn mit dem, was wir wissen, und versuchen, ihn aus der Reserve zu locken. Wenn er zu clever ist, um sich eine Blöße zu geben, und ich nehme an, das ist er, dann versuchen wir es wieder und wieder.« Er startete den Wagen und durchbrach die Stille des Berghanges.
»Die Nerven von diesem Arschloch muss man schon bewundern, oder?«, sagte Hatchley. »Was wäre, wenn Freddie Metcalfe und Richmond gesehen hätten, dass er Wodka bestellt und ihn in Stephens Bier gekippt hat?«
»Dann muss er nur sagen, dass er einen Streich gespielt hat, so wie Fletcher richtig bemerkt hat. Durcheinanderzutrinken ist nicht illegal. So wie die Dinge liegen, steht nur Fletchers Wort gegen seines, und ein guter Verteidiger würde schnell beweisen, dass John Fletcher mehr als einen Grund hatte, Nicholas Collier zu belasten. Man würde zum Beispiel den Vorfall auf der Party erwähnen. Und können Sie sich Katie Greenock im Zeugenstand vorstellen?«
Hatchley schüttelte den Kopf. »Das Mädchen scheint nie zu wissen, wo oben oder unten ist.«
Aus irgendeinem Grund begann sich Banks beim Gedanken an Katie unwohl zu fühlen. Was, wenn sie wirklich mehr wusste, als sie gesagt hatte? Und was, wenn Nicholas Collier genau das vermutet? Er könnte sie leicht im Gespräch mit Stephen gesehen haben. Und Katie war genau die Sorte Frau, um sein gewalttätiges sexuelles Verhalten auszulösen.
Er bog auf die Straße und fuhr in südliche Richtung nach Swainshead. Im Haus der Colliers brannte immer noch kein Licht. Hatchley hämmerte gegen die Tür, aber es wurde nicht geöffnet.
»Versuchen wir es im Pub«, schlug Banks vor.
Hatchleys Miene heiterte sich auf. Trotz eines Anfalls von Arbeitseifer hatte er seine Vorlieben nicht vollständig vergessen.
»Wenn das nicht Chief Inspector Banks ist«, begrüßte sie Freddie Metcalfe. »Und Sergeant Hatchley, oder? Was kann ich für Sie tun?«
Banks bestellte zwei Pints Pedigree und zündete sich eine Silk Cut an. Vielleicht würde ein Bier seine flatternden Nerven beruhigen. Seine Nackenhaare sträubten sich schon.
»Haben Sie Nicholas Collier heute Abend gesehen?«, fragte er.
»Nein, der war nicht hier«, sagte Freddie. »Und, kommen Sie voran mit dem Mord?«
»Es wird«, sagte Banks, »es wird.«
»Genau, und Schweine können fliegen«, sagte Freddie und reichte ihnen ihre Gläser.
»War heute keiner von den Stammgästen hier?«
»Nee. Seit wir aufgemacht haben, ist es so ruhig«, antwortete Freddie bekümmert und trottete davon, um einen Jugendlichen in Wanderstiefeln zu bedienen.
»Wissen Sie was«, sagte Banks, »ich habe gerade darüber nachgedacht, was wir als Nächstes tun können. Da gibt es noch jemanden, der uns in diesem Fall weiterbringen könnte, wenn wir ihn in die Mangel nehmen.«
»Sam Greenock?«, sagte Hatchley.
»Genau. Wenn wir ihm als Mitschuldigem mit Haft drohen, kriegen wir vielleicht was aus ihm raus. Er hat eine große Klappe, aber ich glaube nicht, dass er so cool wie Nicholas ist. Stephen Collier ist tot. Wenn wir Sam davon überzeugen können, dass Nicholas mit oder ohne seine Hilfe in Ungnade fallen wird, können wir vielleicht mit ihm einig werden. Was bleibt Sam schließlich noch, wenn es keine Herrschaften mehr gibt, vor denen er kriechen kann? Wir müssen ihm klarmachen, dass Nicholas mit dem Mord an Stephen den Ast abgesägt hat, auf dem er selbst saß.«
»Wäre einen Versuch wert«, sagte Hatchley.
»Und Sam ist ein Angeber«, sagte Banks. »Angeber sind von allen am leichtesten in die Mangel zu nehmen, besonders solche, die ihre Frauen schlagen.«
»Ich glaube, dafür könnte ich ein bisschen Begeisterung aufbringen«, sagte Hatchley grinsend.
»Gut. Dann gehen wir.«
»Was? Jetzt? Wir haben noch nicht ausgetrunken.«
»Ich habe nur so ein komisches Gefühl. Wir können von mir aus wieder zurückkommen. Sehen wir einfach mal, ob Sam zu Hause ist.«
Sie verließen das White Rose und überquerten die Brücke. Die Zimmer auf der Vorderseite des Gasthauses der Greenocks waren alle dunkel.
»Er ist nicht da«, sagte Hatchley. »Gehen wir zurück in den Pub und versuchen es später wieder.«
»Sieht so aus, als wenn überhaupt keiner da ist«, sagte Banks. »Merkwürdig.« Er konnte nicht erklären, warum ihn das dunkle, stille Haus beunruhigte, ignorieren konnte er das Gefühl aber auch nicht. »Nein«, sagte er. »Ich gehe rein.«
Hatchley seufzte und folgte ihm. »Ich wette, die verdammte Tür ist abgeschlossen.«
Bevor sie die Gartenpforte hinter sich schließen konnten, hörten sie einen Wagen kommen. Es war Sams Landrover. Da es auf der Seite des Gasthauses keine Straße gab, parkte er in der Nähe des Pubs auf der anderen Seite des schmalen Flusses und kam über die Brücke gelaufen.
»'n Abend, Gentlemen«, rief er. »Was kann ich für Sie tun ... Ach, Sie sind es.«
»Seien Sie nicht so enttäuscht«, sagte Banks. »Vielleicht können wir etwas für Sie tun.«
»Ach ja?« Sams jungenhaftes Gesicht sah verdutzt aus. Er strich sich durch die lockigen Haare. »In Ordnung. Das Angebot eines Polizisten lehne ich natürlich nicht ab.«
»Können wir reinkommen?«
»Selbstverständlich. Meine Frau kann uns eine Kanne Tee machen.« Er suchte in der Hosentasche nach seinen Schlüsseln, fand schließlich den richtigen und steckte ihn in das Schloss. Für eine Weile stocherte und drehte er den Schlüssel im Schloss herum, dann drehte er sich zu Banks um und runzelte die Stirn. »Seltsam. Es war gar nicht abgeschlossen. Punkt zehn schließt Katie normalerweise ab, die Gäste kommen dann mit ihrem Zimmerschlüssel rein. Und so dunkel ist es sonst auch nicht. Sie macht für die Gäste das Dielenlicht an. Die Gäste sind wahrscheinlich alle noch im Pub, aber ich habe keine Ahnung, wo Katie steckt.«
Banks und Hatchley folgten ihm durch die Eingangstür in die dunkle Diele. Sam schaltete das Licht an. Auf dem lackierten Tisch lag neben einem Stapel Touristenführer, Landkarten und Werbebroschüren regionaler Firmen und Freizeitziele das geöffnete Gästebuch. Automatisch betrachtete sich Sam in dem Spiegel über dem Telefon und strich erneut durch seine Locken.
»Katie!«, rief er.
Keine Antwort.
Er ging in den Speisesaal und drückte auf den Lichtschalter. »Verdammte Scheiße!«
Banks ging hinter ihm her. »Was ist?« Alles, was er sehen konnte, war der Raum, in dem er und Hatchley gefrühstückt hatten. Im gedämpften Licht schimmerten die lackierten Tische dunkel.
»Sie hat die Tische für morgen früh nicht gedeckt. Sie hat nicht mal die Scheißtischtücher aufgelegt«, sagte Sam. Die Frage, warum und wann Katie verschwunden sein könnte, schien ihn eher wütend zu machen als mit Sorge zu erfüllen.
Vor dem Treppenabsatz blieben sie stehen. Sam rief erneut und erhielt wieder keine Antwort. »Sieht aus, als wäre sie nicht zu Hause«, sagte er verwirrt. »Ich habe keine Ahnung, wo sie um diese Zeit sein könnte.«
»Vielleicht hat sie Sie verlassen«, gab Banks zu bedenken.
»Werden Sie nicht komisch. Wohin sollte sie denn gehen? Und warum überhaupt?«
Sie gingen weiter bis zur Tür, die den Privatbereich der Greenocks vom Rest des Hauses trennte.
»Katie!«, rief Sam mit der Hand auf der Türklinke noch einmal.
Immer noch keine Reaktion. Die totale Stille im Haus ließ Banks' Alarmglocken läuten.
Sam machte die Tür auf und ging durch den kurzen, schmalen Flur, der die beiden Teile des Hauses verband. Banks und Hatchley schlossen sich ihm an. Als sie dicht gedrängt hinter Sam hergingen, streiften sie die Mäntel, die auf beiden Seiten an Haken hingen. Die einzige schwache Beleuchtung kam vom Ende des Durchgangs.
»Wenigstens hat sie hier das Licht angelassen«, sagte Sam.
Das Licht schien durch die Milchglasscheibe der Wohnzimmertür. Sam rief erneut den Namen seiner Frau, bekam aber keine Antwort. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer und blieb wie erstarrt stehen.
»Herr im Himmel«, stammelte er, stolperte dann rückwärts gegen Banks, schlug die Hände vor die Augen und sackte langsam zu Boden.
Banks erlangte sein Gleichgewicht wieder, schob Sam zur Seite und ging auf die Tür zu. Hatchley war gleich hinter ihm. Erschrocken und entsetzt von dem Bild vor ihnen hielten sie auf der Türschwelle inne. Banks hörte Hatchley ein Gebet murmeln. Vielleicht war es auch ein Fluch.
Das ganze Zimmer war voller Blut: Der Teppich, das Sofa, der Kamin und selbst die Wand über dem Kaminsims waren wie mit widerlichen Hieroglyphen bespritzt. Nichts bewegte sich. Nicholas Collier lag mit eingeschlagenem Schädel und zermanschtem Gesicht reglos halb auf dem Sofa, halb auf dem Teppich. Wenn nicht seine hervorstehenden gelben Zähne gewesen wären, die zersplittert und im Schmerz und Schock entblößt waren, wäre er überhaupt nicht mehr zu erkennen gewesen.
Katie saß auf der Lehne des Sofas und hielt noch das schwere Holzkreuz ihrer Großmutter in der Hand, das auf dem Kaminsims gestanden hatte. Ihre wunderschönen braunen Augen betrachteten Dinge, die niemand sonst sehen konnte. Die Vorderseite ihres Kleides war an einer Seite aufgerissen, ein paar Tropfen Blut glitzerten auf der bleichen Haut ihrer Brust, unter der feine blaue Äderchen pulsierten.
ENDE