Es war das erregendste Gefühl auf der Welt. Seine Oberschenkel schmerzten, in seinen Waden pochte es, und er bekam kaum noch Luft. Aber er hatte es geschafft. Neil Fellowes, ein bescheidener Lohnbuchhalter aus Pontefract, stand auf dem Gipfel des Swainshead-Berges.
Nicht dass diese Leistung mit der von Sir Edmund Hillary zu vergleichen gewesen wäre, der Berg war schließlich nur 553 Meter hoch. Aber Neil wurde nicht jünger, außerdem hatten sich seine Kollegen in Baxwells Werkzeugmaschinenfabrik über ihn und seine Pläne lustig gemacht, eine Bergwanderung in den Yorkshire Dales zu unternehmen.
»Berge?«, hatte Dick Blatchley, einer der Witzbolde aus der Postabteilung, gehöhnt. »Das wird 'n Absturz, bevor du oben bist, Neil.« Und die anderen hatten sich gebogen vor Lachen.
Doch jetzt, als er hier oben in der dünnen Luft stand und sein Herz tief in seiner Brust hämmerte wie die Kolben der Dampfmaschinen in der Fabrik, war er derjenige, der zuletzt lachte. Er schob seine metallgerahmte Brille hoch und wischte sich den Schweiß vom Nasenrücken. Danach rückte er die Riemen seines Rucksacks zurecht, die ihm in die Schultern schnitten.
Über eine Stunde war er geklettert; keine zu gefährliche Angelegenheit, keine steilen Anstiege, nichts, wozu man besonders ausgerüstet sein müsste. Eine Bergwanderung war eine Art demokratischer Erholung: nur einfache, harte Arbeit. Und es war ein idealer Tag für eine Wanderung. Die Sonne blitzte immer wieder zwischen den dichten weißen Wolken hindurch, während eine kühle Brise für eine angenehme Temperatur sorgte. Perfektes Frühlingswetter an diesen letzten Maitagen.
Er stand in dem struppigen, unebenen Gras, umgeben von Heidekraut und einer Handvoll Schafe - und die hatten ihm bereits den Rücken zugekehrt und hoppelten in sicherer Entfernung davon. Hier oben war er der König, er setzte sich auf einen verwitterten Kalksteinfelsen und genoss dieses Gefühl.
Am Fuße des Berges konnte er gerade noch die nördlichen Ausläufer des Dorfes Swainshead ausmachen, von wo er losgewandert war. Jenseits des Baches erkannte er problemlos die weißgetünchte Fassade des White Rose, außerdem das moosbedeckte Steindach des Greenock-Gasthauses, wo er nach der gestrigen Wanderung in Wharfedale eine angenehme Nacht verbracht hatte. Bevor er an diesem Morgen losgezogen war, hatte er sich dort auch an einem Frühstück mit Bratwurst, Speck, Blutwurst, geröstetem Brot, gegrillten Pilzen, Tomaten, zwei Spiegeleiern, Tee, Toast und Marmelade gelabt.
Er stand auf, um das ganze Panorama zu betrachten, begann im Westen, wo die Berge allmählich wie in gefrorenen Wellen zum Meer hin abfielen. Im Nordwesten lagen die runden Hügel des Lake Districts. Neil freute sich, dass er Striding Edge bei Helvellyn und gelegentliche Sonnenschimmer auf den Seen Windermere und Ullswater erkennen konnte. Dann blickte er nach Süden, wo die Landschaft in die Pennines überging, dem Gebirgszug, den man das Rückgrat Englands nennt. Der Fels war dunkler dort, hier und da stachen Vorsprünge aus Mühlsteinstaub aus dem glitzernden Kalkstein hervor. Kilometerweit erstreckte sich eine wilde, bedrohliche Moorlandschaft bis nach Derbyshire. Und im Südosten, in der Talsohle, die von hier nicht zu erkennen war, lag schließlich Swainsdale.
Was Neil allerdings am meisten erstaunte, war ein schmales, bewaldetes Tal am östlichen Abhang, genau unter ihm. Die Reiseführer hatten für die Route, die er sich ausgesucht hatte, keine besondere Sehenswürdigkeit erwähnt, und er hatte sie ja gerade deswegen ausgewählt, damit niemand seine Einsamkeit störte. Anscheinend waren die meisten Leute darauf aus, Steingräber, alte Bleiminen und historische Gebäude zu suchen.
Zusätzlich zu seiner Lage und Abgeschiedenheit war das Laubwerk des Tals ungewöhnlich. Es muss sich um eine Lichttäuschung handeln, dachte Neil, denn im Gegensatz zu der frühlingshaften Frische und Farbe der Bäume ringsherum schienen die Blätter der Eschen, Birken und Ahorne unter ihm rostfarben, orange und erdbraun getönt zu sein. Dieses Tal schien ihm geradewegs Tolkiens Herr der Ringe entsprungen zu sein.
Neil überlegte. Es würde zwei, drei Kilometer mehr und eine ungeplante Kletterpartie zurück bedeuten, andererseits sahen die Hänge nicht sonderlich steil aus, und an den schattigen Ufern des Baches könnte er vielleicht einige interessante wilde Blumen entdecken. Also rückte er noch einmal den Rucksack zurecht und zog aus ins verlockende Tal.
Schon bald wich der struppige Untergrund einem weichen Grasboden. Als Neil den Wald erreichte, wirkten die Blätter aufgrund des hindurchscheinenden Sonnenlichtes wesentlich grüner. Der Geruch von Bärlauch erfüllte seine Nase und benebelte ihn. In der leichten Brise wogten Glockenblumen hin und her.
Den Bach hörte er, bevor er ihn zwischen den Bäumen sah, ein leiser, sprudelnder Ton - freudig und heiter. Nicht nur aus der Ferne, sondern auch mittendrin hatte das Tal ganz eindeutig etwas Magisches. Es war üppiger als die Umgebung, die Farne und Sträucher wucherten saftiger und voller, als hätte Gott diesem Flecken Erde eine besondere Gnade zuteilwerden lassen.
Neil befreite sich von seinem Rucksack und legte ihn ins dichte Gras am Ufer. Während er seine Brille abnahm, beschloss er, einen Moment auszuspannen und vielleicht einen Kaffee aus der Thermoskanne zu trinken, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er legte seinen Kopf auf den Rucksack und schloss die Augen. Er dachte an nichts mehr, nahm nur noch den berauschenden Bärlauchduft wahr und die Klänge der Natur um ihn herum: das Lied des Baches, den kühlen Hauch des Windes, der durch die wilden Rosen und Geißblätter wehte, und das Trällern der Feldlerchen, die sich singend der Sonne entgegenschraubten und leicht wie Federn wieder hinabschwebten.
Ausgeruht und tatsächlich mit einem Gefühl wie neugeboren, rieb sich Neil die Augen und setzte seine Brille wieder auf. Als er sich umschaute, entdeckte er eine wilde Blume im Gehölz jenseits des Baches. Von seinem Platz aus betrachtet, schien sie gut dreißig Zentimeter hoch zu sein, mit rotbraunen Kelchen und blassgelben Blütenblättern. Im Glauben, es könnte sich um einen seltenen Frauenschuh handeln, entschloss er sich, hinüberzugehen und sich die Pflanze genauer anzusehen. Der Bach war nicht besonders breit, außerdem gab es genügend zufällig platzierte Steine im Wasserbett.
Als er sich der Blume näherte, drängte sich ein anderer Geruch auf, der wesentlich strenger und gesättigter war als der von Bärlauch oder feuchter Erde. Er verstopfte seine Nase und drang bis in die Bronchien vor. Neugierig, woher der Geruch stammen könnte, schaute er sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Neben der Blume, bei der es sich mit Sicherheit um einen Frauenschuh handelte, lagen ein paar von einem Baum heruntergefallene Äste und blockierten seinen Weg. Um einen besseren Blick zu haben, begann er sie zur Seite zu ziehen.
Doch er kam nicht sehr weit. Dort, nur notdürftig verborgen, lag die Quelle des Gestanks: eine menschliche Leiche. In dem kurzen Augenblick, bevor er sich umdrehte, um sich in die Sträucher zu erbrechen, bemerkte Neil zwei Dinge: Die Leiche hatte kein Gesicht, und sie sah aus, als würde sie sich bewegen - ihr Fleisch schien buchstäblich zu krabbeln.
Er blieb noch einen Moment, um sich im Bach das Gesicht zu waschen und den Mund auszuspülen, ließ seinen Rucksack, wo er war, und rannte so schnell er konnte zurück nach Swainshead.
Ekelhaft, dachte Katie Greenock und hob schleunigst ihre Nase, während sie den Abfalleimer aus Zimmer drei leerte. Man sollte eigentlich meinen, die Leute würden sich schämen, solche Dinge für jeden sichtbar liegen zu lassen. Gott sei Dank sind sie heute Morgen abgereist. Die beiden hatten die ganze Zeit etwas Schmieriges an sich: So wie die sich am Frühstückstisch küssten und betatschten, wie sie immer erst so spät aus ihrem Zimmer verschwanden und so früh schon wieder zurückkehrten. Sie glaubte nicht einmal, dass sie verheiratet waren.
Seufzend fegte Katie eine aschblonde Haarsträhne weg und leerte den Eimer in den schwarzen Plastiksack, mit dem sie von Zimmer zu Zimmer ging. Sie war schon vollkommen erschöpft. Ihr Tag begann um sechs Uhr in der Früh, und an sorglose, ländliche Morgenstunden mit Vogelgezwitscher und Tau war für sie nicht zu denken, für sie gab es nichts als harte Arbeit.
Zuerst musste sie das Frühstück zubereiten und alles genau aufeinander abstimmen, damit die Eier sich nicht schon abgekühlt hatten, wenn der Speck fertig war, und damit der Tee genau in dem Moment frisch war, wenn die Gäste sich entschlossen, nach unten zu kommen. Bei dem Saft und dem Müsli konnten sich die Gäste selbst bedienen, sie musste die Dinge nur frühzeitig bereitstellen - allerdings auch nicht zu früh, damit die Milch nicht warm wurde. Der Toast dagegen durfte so sein, wie er wollte - kalter Toast schien Teil der englischen Frühstückstradition zu sein. Trotzdem freute sich Katie jedes Mal darüber, wenn sie es schaffte, ihn genau zur richtigen Zeit warm zu servieren. Bedankt hatte sich dafür natürlich noch nie jemand.
Dann musste sie die warmen Speisen servieren und dabei noch jedem Gast ein Lächeln schenken, ungeachtet ihrer Quengelei über das Essen und der Angewohnheit ihrer ach so süßen Kleinen, alles, was sie sahen, auf den Fußboden fallen zu lassen oder an die Wände zu werfen. Außerdem wurde sie oft um Rat gefragt, wie und wo man den Tag verbringen könnte. Diesen Teil nahm ihr manchmal Sam ab und unterbrach dafür seinen üblichen, morgendlichen Vortrag über aktuelle Ereignisse, mit denen er die Besucher unterhielt, ob sie nun darum gebeten hatten oder nicht.
Anschließend musste sie die Tische säubern und das Geschirr abwaschen. Immerhin war die Spülmaschine, die Sam ihr endlich gekauft hatte, eine kostbare Hilfe. Tatsächlich sparte sie ihr so viel Zeit, dass sie noch schnell runter in Thetfords Lebensmittelladen an der Helmthorpe Road hasten konnte, um das einzukaufen, was jeden Tag frisch auf den Tisch kam. Bevor Sam die Spülmaschine angeschafft hatte, war das Einkaufen seine Aufgabe gewesen, aber nun hatte er mehr Zeit für verschiedene Geschäftsangelegenheiten, die immer dringend zu sein schienen.
Nachdem Katie das Menü für den Abend zusammengestellt und alle Zutaten dafür eingekauft hatte, war es an der Zeit, die Bettwäsche zu wechseln und die Zimmer zu reinigen. So war es kaum verwunderlich, dass sie um die Mittagszeit fast immer erledigt war. Wenn sie Glück hatte, blieb manchmal am Nachmittag etwas Zeit für die Gartenarbeit übrig.
Katie zögerte den Moment, mit dem nächsten Zimmer weiterzumachen, hinaus, ging rüber zum Fenster und verschränkte ihre Arme auf dem Sims. Es war ein wundervoller Tag in einem schönen Teil der Welt, doch auf sie wirkte die Landschaft wie eine gigantische Falle. Die Berge waren Felsen, die sie einschlossen, die Moorlandschaften Wüsten, die man unmöglich durchqueren konnte. Erst kürzlich hatte sich ein Weg in die Freiheit geöffnet, aber jetzt war es zu spät. Sie konnte nur geduldig ausharren und warten, was sich entwickelte.
Sie schaute hinab auf die grasbewachsenen Ufer beiderseits des sich dahinschlängelnden Flusses Swain und auf die Kinder, die mit ihren selbstgemachten Netzen geduldig dasaßen. Ein Besucherpaar machte ein Picknick, auf der kleinen Steinbrücke tratschten wie gewöhnlich die alten Männer. Obwohl sie das alles sehen konnte, spürte sie nicht die Schönheit, die darin lag.
Und dort, fast genau gegenüber, war das White Rose - erbaut 1605, wie eine Tafel stolz verkündete -, wo Sam zweifellos mit seinen vornehmen Kumpels herumhockte. Dieser Idiot, dachte Katie. Er bildet sich ein, er gehört dazu, dabei haben sie ihn nie richtig akzeptiert, selbst nicht nach all diesen Jahren und allem, was er für sie getan hat. Diese Sorte akzeptiert niemand anderen. Katie war sich sicher, dass sie hinter seinem Rücken über ihn lachten. Und war ihm aufgefallen, wie Nicholas Collier sie andauernd anstarrte? Wusste Sam, wie oft Nicholas versucht hatte, sie anzugrapschen?
Katie erschauderte bei dem Gedanken. Draußen erregte eine plötzliche Bewegung ihre Aufmerksamkeit. Sie sah, dass die Gruppe alter Männer sich teilte wie das Rote Meer und alle mit offenem Mund einer zierlichen Person hinterherstarrten, die über die Brücke gehetzt kam.
Es war der Mann, der erst vor ein paar Stunden aufgebrochen war, bemerkte Katie, der liebenswürdige Angestellte aus Castleford oder Featherstone oder sonst einem Kaff. Hatte er nicht was davon gesagt, dass er in Richtung Pennines wandern wollte? Und jetzt war er so bleich wie die Fassade des Pubs. Am Ende der Brücke bog er nach links, rannte die letzten paar Meter und verschwand im White Rose.
Katie spürte, wie sich ihr Brustkorb zuzog. Was hatte ihn in diesem Zustand zurückkommen lassen? Was war los? Es wird doch nichts Schreckliches passiert sein in Swainshead? Doch nicht schon wieder.
»Nun ja«, sagte Sam Greenock gerade über die multikulturelle Gesellschaft in England, »die haben ihre Art zu leben, nehme ich an, aber ...«
In dem Moment stürmte Neil Fellowes herein und suchte verzweifelt nach einem vertrauten Gesicht im Pub.
Als er Sam an seinem Stammtisch mit den CollierBrüdern und John Fletcher sah, hastete Neil hinüber und packte einen Stuhl.
»Wir müssen etwas tun«, sagte er, rang nach Atem und zeigte nach draußen. »Oben auf dem Berg liegt jemand. Tot.«
»Beruhigen Sie sich, mein Freund«, sagte Sam. »Holen Sie erst einmal tief Luft, und dann erzählen Sie uns, was passiert ist.« Er rief den Barkeeper. »Einen Brandy für Mr Fellowes, Freddie. Einen großen.« Als er sah, dass Freddie zögerte, fügte er hinzu: »Keine Sorge, du verdammter Geizkragen, das geht auf meine Rechnung. Und setz dich in Bewegung!«
Als Freddie Metcalfe den Drink zum Tisch brachte, stoppte die Unterhaltung. Neil stürzte den Brandy hinunter und bekam einen Hustenanfall.
»Wenigstens haben Sie jetzt wieder ein bisschen Farbe im Gesicht«, sagte Sam und klopfte Neil auf den Rücken.
»Es war schrecklich«, sagte Neil und wischte den Brandy weg, der ihm vom Kinn getropft war. Er war solche starken Sachen nicht gewöhnt, er genehmigte sie sich nur in Notfällen wie diesem.
»Sein Gesicht war völlig verschwunden, total weggefressen, und das ganze Ding bewegte sich, wie Wellen.« Er führte das Glas erneut an seine schmalen Lippen und trank es leer. »Wir müssen etwas tun. Die Polizei.« Er stand auf und ging mit schnellen Schritten rüber zu Freddie Metcalfe. »Wo genau ist die Polizeistation in Swainshead?«
Metcalfe kratzte sich seinen glänzenden roten Schädel, bevor er langsam antwortete. »Muss ich überlegen ... In Swainshead selbst gibt's keine Polizei. Die nächste wäre in Helmthorpe, schätze ich. Sergeant Mullins und der junge Weaver. Ist vierzehn bis fünfzehn Kilometer weg.«
Neil bestellte sich selbst noch einen doppelten Brandy, während Metcalfe sein wettergegerbtes Gesicht verzog und nachdachte.
»Die werden uns verdammt noch mal auch nicht weiterhelfen, Freddie«, rief Sam rüber. »Nicht bei so 'ner Sache. Das ist 'ne Angelegenheit für die Kriminalpolizei.«
»Ja«, stimmte ihm Metcalfe zu. »Schätze, du hast recht, Sam. In dem Fall, junger Mann«, sagte er zu Neil, »brauchen Sie den Typen aus Eastville. Den, der letztes Mal hier war, als wir 'n bisschen Ärger hatten. Gristhorpe, Chief Inspector Gristhorpe. Ist allerdings schon Jahre her. Wird wahrscheinlich schon tot sein. Kommen Sie, Junge, Sie können das Telefon hier benutzen, ist ja wohl 'n Notfall.«
»Chief Inspector« Gristhorpe, mittlerweile Superintendent, war quicklebendig. Als der Anruf einging, sprach er gerade auf einer anderen Leitung mit den Steinbrüchen in Redshaw über eine Lieferung für die Natursteinmauer, an der er baute. Obwohl er sich beim Bau um so viel Sorgfalt wie möglich bemüht hatte, war ein Abschnitt während einer Frostnacht im April eingestürzt. Die Erneuerung der Mauer erschien ihm genau die passende Aufgabe für den Frühling.
So landete der Anruf im Büro des ermittelnden Chief Inspectors Alan Banks, der gerade durch die Kulturseiten des Guardian schmökerte und sich darüber freute, dass die Verbrechensrate in Eastvale in letzter Zeit so abgeflaut war. Schließlich hatte er sich ja auch vor knapp zwei Jahren von London hierher versetzen lassen, um ein bisschen Ruhe und Frieden zu haben. Er mochte die Kriminalarbeit und konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun, aber der hohe, meist unangenehme Druck, den sein Job mit sich brachte, kombiniert mit der ständig zunehmenden Konfrontation zwischen der Polizei und den Bürgern in der Hauptstadt hatten ihn fertiggemacht. Ihm selbst und seiner Familie zuliebe war er hierher gezogen. Ganz so friedvoll, wie er erwartet hatte, war Eastvale dann auch nicht, doch im Moment hatte er es lediglich mit ein paar harmloseren Einbrüchen und dem Nachspiel einer Massenschlägerei im Oak zu tun. Fünf Soldaten aus der Kaserne in Catterick hatten sich über eine Gruppe arbeitsloser Minenarbeiter aus Durham lustig gemacht, und schon ging es los. Drei landeten im Krankenhaus, wobei ihre Verletzungen von geschwollenen Hoden bis zu einem abgebissenen Ohrläppchen reichten, die anderen kühlten sich im Gefängnis ab und warteten darauf, dem Richter vorgeführt zu werden.
»Da will jemand den Superintendent sprechen, Sir«, sagte Sergeant Rowe, als Banks den Hörer abnahm. »Aber bei ihm ist besetzt.«
»In Ordnung«, sagte Banks. »Ich übernehme das.«
Am anderen Ende war eine atemlose, etwas undeutliche Stimme zu vernehmen. »Hallo, spreche ich mit Inspector Gristhorpe?«
Banks stellte sich vor und ermutigte den Anrufer, der seinen Namen mit Neil Fellowes angab, fortzufahren.
»Eine Leiche«, sagte Fellowes. »Oben auf dem Berg. Ich habe sie gefunden.«
»Wo befinden Sie sich jetzt?«
»Im Pub. White Rose.«
»In welchem Ort?«
»Wie? Ach so. In Swainshead.«
Banks schrieb die Einzelheiten auf seinen Notizblock. »Sind Sie sicher, dass es sich um eine menschliche Leiche handelt?«, fragte er. Mehr als einmal war die Polizei in der Vergangenheit Irrtümern aufgesessen und ausgeschwärmt, um Stapel alter Säcke, tote Schafe oder verrottete Baumwurzeln unter die Lupe zu nehmen.
»Ja. Ja, ich bin mir sicher.«
»Männlich oder weiblich?«
»Ich ... ich habe nicht genau hingesehen. Es war -«
Die nächsten Worte drangen so leise durch die Leitung, dass sie kaum zu verstehen waren.
»In Ordnung, Mr Fellowes«, sagte Banks. »Bleiben Sie einfach, wo Sie sind, wir werden so schnell wie möglich vorbeikommen.«
Gristhorpe hatte sein Gespräch beendet, als Banks an seine Tür klopfte und sein Büro betrat. Bei den überfüllten Bücherregalen und dem gedämpften Licht sah es eher wie ein Studienzimmer als wie der Teil einer Polizeiwache aus.
»Ah, Alan«, sagte Gristhorpe und rieb seine Hände aneinander. »Die haben versprochen, noch vor dem Wochenende zu liefern, also können wir am Sonntag mit den Reparaturen beginnen, wenn es dir recht ist.«
Die Arbeit an der Natursteinmauer, die nichts abgrenzte und nirgendwohin führte, war für den Superintendent und seinen Chief Inspector zu einer Art Ritual geworden. Mittlerweile konnte Banks diese Sonntagnachmittage am nördlichen Talhang über Lyndgarth, wo Gristhorpe allein in seinem Bauernhaus wohnte, kaum noch abwarten. Die meiste Zeit arbeiteten sie in vollkommener Stille, wobei die gemeinsame Beschäftigung eine Verbundenheit zwischen den beiden schuf, die Banks, der immer noch ein Neuling in den Yorkshire Dales war, sehr zu schätzen wusste.
»Ja«, antwortete er. »Sehr gern. Pass auf, gerade kam ein ziemlich wirrer Anruf von einem Typ namens Neil Fellowes herein. Er schwört, auf dem Berg bei Swainshead eine Leiche gefunden zu haben.«
Gristhorpe lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und runzelte die Stirn. »Irgendwelche Einzelheiten?«
»Nein. Der Mann hörte sich immer noch ziemlich mitgenommen an. Soll ich hinfahren?«
»Wir werden beide hinfahren.« Entschlossen stand Gristhorpe auf. »Das ist nicht das erste Mal, dass im Head eine Leiche auftaucht.«
»Im Head?«
»Ja, wie der Kopf. So nennen die Einheimischen die ganze Gegend um Swainshead, weil dort der Fluss Swain entspringt, der Ursprung des ganzen Tals.« Er schaute auf seine Uhr. »Es sind ungefähr fünfundvierzig Kilometer, aber so wie ich Freddie Metcalfe kenne, schaffen wir es bestimmt noch vor Schankschluss.«
Banks war verdutzt. Dass sich Gristhorpe derart an einer Ermittlung vor Ort beteiligte, war ungewöhnlich. Als Leiter der Kriminalpolizei von Eastvale konnte er seine Rolle in einem Fall nach eigenem Ermessen gestalten. Theoretisch konnte er, wenn er wollte, an Durchsuchungen und Befragungen von Haus zu Haus teilnehmen, aber selbstverständlich tat er das nie. Zum einen deshalb, weil seine Aufgabe in der Organisation bestand. Er delegierte die Arbeit an den Fällen und überwachte die Durchführung vom Büro aus. Der Grund dafür war nicht Faulheit, wie Banks bemerkte, sondern die Tatsache, dass Gristhorpes Talente mehr im Denken und in der Planung lagen als im Handeln und in der Vernehmung. Gristhorpe vertraute seinen Untergebenen und gewährte ihnen weit mehr Spielraum bei ihren Fällen als allgemein üblich. Doch diesmal wollte er dabei sein.
Es war ein ungleiches Paar, das zum Parkplatz auf der Rückseite marschierte: der große, massige Gristhorpe mit seinem wilden Büschel grauer Haare, seinem borstigen Schnauzbart, seinem pockennarbigen Gesicht und buschigen Augenbrauen neben dem hageren, zierlichen Banks mit seinen kantigen Zügen und den kurz geschorenen schwarzen Haaren.
»Ich verstehe nicht, warum du immer noch deinen Wagen benutzt, Alan«, sagte Gristhorpe, als er sich auf den Beifahrersitz des weißen Cortina niederließ und sich mit dem Sicherheitsgurt herumschlug. »Du kannst dir eine Menge Verschleiß sparen, wenn du ein Fahrzeug von der Wache nimmst.«
»Haben die einen Kassettenrecorder?«, fragte Banks.
»Kassetten? Du weißt verdammt genau, dass sie keine haben.«
»Eben.«
»Was: Eben?«
»Ich höre beim Fahren gerne Musik. Das weißt du genau. Ich kann dabei besser denken.«
»Ich nehme an, jetzt willst du mir auch welche aufdrängen?«
Banks war immer wieder überrascht, dass ein so belesener und kultivierter Mensch wie Gristhorpe nicht das geringste Interesse an Musik hatte. Für Klänge war der Superintendent völlig taub, selbst die engelhafteste Arie von Mozart bedeutete für seine Ohren nur Schmerz.
»Wenn du keine Musik willst, fahren wir ohne«, sagte Banks und musste lächeln. Ihm war klar, dass er auch nicht würde rauchen können. Gristhorpe war militanter Nichtraucher - nachdem er zwanzig Jahre lang täglich ein Päckchen konsumiert hatte.
Banks fuhr auf das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes, bog nach links in die North Market Street und fuhr dann weiter in Richtung der Hauptverkehrsstraße von Swainsdale, die parallel zum Fluss durch die Talsohle führte.
Gristhorpe knurrte und klopfte auf die Apparatur neben dem Armaturenbrett. »Wenigstens hast du dich mit dem Polizeifunk ausgestattet.«
»Was hast du da vorhin gesagt?«, fragte Banks. »Das ist nicht die erste Leiche, die in Swainshead gefunden wurde?«
»Das war vor deiner Zeit.«
»Wie fast alles.« Banks bog scharf nach Westen ab, bald waren sie außerhalb der Stadt und fuhren an den Flussauen entlang.
Gristhorpe öffnete sein Fenster und atmete geräuschvoll die frische Luft ein. »Ein Mann mit eingeschlagenem Schädel«, sagte er. »Es war Mord, ohne Zweifel. Und wir haben ihn nie aufgeklärt.«
»Was war passiert?«
»Eine Gruppe Pfadfinder hat die Leiche in einem alten Minenschacht am Berghang gefunden, ein paar Kilometer nördlich des Dorfes. Der Doc meinte, sie hätte dort schon über eine Woche gelegen.«
»Wann war das?«
»Vor ungefähr fünf Jahren.«
»War es ein Einheimischer?«
»Nein. Das Opfer war ein selbständiger Ermittler aus London.«
»Ein Privatdetektiv?«
»Genau. Er hieß Raymond Addison. Er arbeitete allein. Wahrscheinlich einer der Letzten seiner Zunft.«
»Hast du herausgefunden, was er da oben wollte?«
»Nein. Wir haben natürlich sein Büro durchsucht, aber in keiner der Akten gab es eine Verbindung zu Swainsdale. Scotland Yard hat alle seine Freunde und Bekannten befragt - waren nicht viele -, aber sie haben nichts rausgekriegt. Wir dachten, er könnte auf Urlaub gewesen sein, aber wer fährt im Februar zur Erholung nach Yorkshire?«
»Wie lange war er denn schon im Dorf?«
»Er war ziemlich spät an dem Tag angekommen und hatte sich im Gästehaus eines Typen namens Sam Greenock einquartiert. Der hat uns erzählt, dass Addison außer ein paar Bemerkungen über das Wetter kaum was gesagt hat. Nach dem Abendessen machte er sich, dick eingepackt gegen die Kälte, zu einem Spaziergang auf. Das war das letzte Mal, dass ihn irgendwer lebend sah. Wir stellten Nachforschungen an, aber Fehlanzeige. Als er rausging, war es natürlich schon dunkel, und selbst die alten Männer, die bei jedem Wetter auf der Brücke rumhängen und quatschen, waren zu dem Zeitpunkt schon reingegangen.«
»Und so weit du herausfinden konntest, hatte er überhaupt keine Verbindung zu der Gegend?«
»Keine. Und du kannst mir glauben, wir haben keinen Stein auf dem anderen gelassen. Entweder wusste wirklich niemand was, oder, was wahrscheinlicher ist, irgendjemand hat uns absichtlich etwas verschwiegen. Addison war früher beim Militär, deshalb haben wir auch ehemalige Armeekumpels überprüft, all solche Sachen. Schließlich sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben das gesamte Dorf befragt. Nichts. Der Fall ist immer noch ungeklärt.«
Banks nahm den Fuß vom Gaspedal, denn sie kamen durch Helmthorpe, einem der größten Dörfer des Tals. Dahinter war ihm die Landschaft nicht mehr vertraut. Obwohl das Tal dank eines Gletschers von teilweise titanischen Ausmaßen breiter war als die meisten anderen, schien es sich, je näher man dem Kopf kam, leicht zu verengen. Außerdem stiegen die Wiesen an den Hängen steiler hinauf. Hier gab es keine der langen Kalksteinnarben, die für den östlichen Teil Swainsdales so typisch waren, die Hügel erhoben sich entschlossen und besaßen auf ihren abgerundeten Gipfeln eine moorige Heidelandschaft.
»Und das ist nicht alles«, fuhr Gristhorpe nach einem Augenblick der Stille fort. »Eine Woche, bevor Addisons Leiche gefunden wurde - am Tag, nachdem er getötet wurde, soweit der Doc das sagen konnte -, verschwand eine Einheimische. Sie hieß Anne Ralston. Wurde seither nie wieder gesehen.«
»Und du glaubst, dass es da eine Verbindung geben muss?«
»Nicht unbedingt. Als sie verschwand, war die Leiche natürlich noch nicht gefunden worden. Das könnte alles Zufall sein. Außerdem gab der Doc zu bedenken, dass er sich mit der Todeszeit getäuscht haben könnte. Es ist schwer, genau zu sein, wenn die Leiche schon so lange vergraben ist. Trotzdem, wir haben keine Ahnung, was mit ihr passiert ist. Und du musst zugeben, dass es schon merkwürdig ist, wenn man innerhalb einer einzigen Woche im gleichen Dorf mit einer vermissten Person und einem Mord zu tun hat. Sie könnte ermordet und vergraben worden sein, oder sie ist einfach mit einem Freund irgendwohin durchgebrannt. Wir konnten schwerlich alle Häfen und Flughäfen dichtmachen. Außerdem hätte sie, als die Leiche gefunden wurde, überall auf der Welt sein können. Am liebsten hätten wir uns von ihr ein paar Fragen beantworten lassen, damit endlich Ruhe herrscht. So haben wir noch eine Weile in der Landschaft rumgeschnüffelt, aber keine Spuren oder gar eine weitere Leiche gefunden.«
»Glaubst du, sie hat Addison umgebracht und ist dann abgehauen?«
»Wäre möglich. Aber für mich sah das nicht nach der Tat einer Frau aus. Dazu war reichlich Kraft nötig, und Anne Ralston war keine von diesen weiblichen Bodybuildern. Wir haben ziemlich schnell ihren Freund befragt. Stephen Collier, leitender Direktor der Firma, für die sie gearbeitet hat. Stammt aus einer sehr angesehenen, einheimischen Familie.«
»Ja«, sagte Banks. »Von den Colliers habe ich schon gehört. Hat er Probleme gemacht?«
»Nein. Er war kooperativ. Er sagte, sie wären in der letzten Zeit nicht besonders gut miteinander zurechtgekommen, aber er hätte keine Ahnung, wo sie hin ist oder weshalb. Letztlich hatten wir keinen Grund, zu glauben, dass ihr etwas zugestoßen war, also mussten wir annehmen, dass sie einfach den Abflug gemacht hatte. So was kommt vor. Und nach allem, was man hörte, war Anne Ralston ein besonders flatterhaftes Mädchen.«
»Trotzdem ...«
»Ja, ich weiß.« Gristhorpe seufzte. »Nicht gerade befriedigend, oder? Egal in welche Richtung wir ermittelten, wir landeten immer in einer Sackgasse.«
Banks fuhr stumm weiter. Einen offensichtlichen Misserfolg konnte Gristhorpe nur schwer schlucken, wie eigentlich die meisten Kriminalbeamten. Doch dieser Mord, wenn es sich tatsächlich als solcher herausstellen sollte, war ein anderer Fall. Er war fünf Jahre her. Wenn er nur irgendwie konnte, würde er sich bei seinen Ermittlungen nicht von der Vergangenheit durcheinanderbringen lassen. Dennoch konnte es nicht schaden, Raymond Addison und Anne Ralston im Kopf zu behalten.
»Das ist es«, sagte Gristhorpe ein paar Minuten später und deutete auf eine Reihe Häuser vor ihnen. »Das ist Lower Head, wie die Einheimischen sagen.«
»Der Ort scheint mir kaum groß genug zu sein, um ihn in zwei Teile zu teilen«, bemerkte Banks.
»Das ist keine Frage der Größe, Alan. Lower Head ist der neueste Teil des Dorfes, der Teil, der gewachsen ist, seit hier mehr Verkehr durchgeht. Die Leute halten an und bewundern bei einer schnellen Tasse Tee oder einem Glas Bier und einem Pub Lunch den Ausblick. Upper Head ist älter und ruhiger. Ein bisschen vornehmer. Innerhalb des gesamten Tals ist das noch mal ein kleines Nord-SüdTal, eingekeilt zwischen zwei Bergen. Es geht auch eine Straße nach Norden hoch, aber hinter dem Dorf und der Schule wird sie ziemlich holprig. Man kommt aber immerhin bis zum Lake District, wenn einem das Geschaukel nichts ausmacht. Die meisten Leute kommen jedoch von der Lancashire-Seite. Bieg hier rechts ab.«
Banks bog ab. Der Hauptteil der dreieckigen Dorfwiese erstreckte sich neben der Hauptstraße, wodurch man aus beiden Richtungen leicht nach Swainshead hineinfahren konnte. Die ersten Gebäude, an denen er vorbeifuhr, waren eine kleine Steinkirche und eine Dorfhalle.
Als Banks die kleine Straße parallel zum schmalen Fluss Swain in Richtung Norden fuhr, konnte er sehen, was Gristhorpe meinte. Zwei Reihen niedriger Häuschen standen einander gegenüber, beide ein Stück abseits vom Fluss und seinem grasbewachsenen Ufer. Die meisten waren Doppel- oder Reihenhäuser, manche davon in Läden umgewandelt. Die einfachen, aber solide wirkenden Häuser waren größtenteils aus Kalkstein errichtet und hier und dort von Moos verfärbt. Viele besaßen eine individuelle Note wie Butzenfenster oder farbige Tür- und Fensterrahmen. Hinter den Häusern stiegen auf beiden Seiten die Wiesen an, manchmal von Natursteinmauern durchzogen, und führten auf steile, mit Heidekraut bewachsene Berge.
Banks parkte den Wagen vor dem weißgetünchten Pub. Gristhorpe deutete auf ein großes Haus die Straße hinunter.
»Dort wohnen die Colliers«, sagte er. »Der alte Mann war einer der reichsten Bauern und Grundbesitzer in der Gegend. Außerdem besaß er den Verstand, sein Geld in eine Lebensmittelfabrik westlich von hier zu investieren. Er ist mittlerweile tot, sein Sohn Stephen leitet jetzt die Firma und teilt sich das Haus mit seinem Bruder. Sie haben es in zwei Hälften geteilt. Ein hässlicher Steinhaufen, oder?«
Banks sagte nichts, doch beinahe bewunderte er die viktorianische Extravaganz des Hauses, die völlig im Gegensatz zur praktischen Schnörkellosigkeit der Architektur in der restlichen Gegend stand. Ohne Frage war das Haus hässlich: Die obere Hälfte war von Erkern und Türmchen überwuchert, wodurch das gesamte Gebäude kopflastig aussah. Jeder Vordereingang war von einem Steinportal umgeben. Im Garten hatten sie bestimmt einen Pavillon und einen Springbrunnen, vermutete er.
»Und dort ist Raymond Addison abgestiegen«, sagte Gristhorpe und zeigte quer über den Bach. Das Gebäude bestand aus zwei aneinanderstoßenden Doppelhäusern und war von den kleineren Reihenhäusern auf beiden Seiten nur durch wenige Meter getrennt. In dem farbenfrohen, gepflegten Garten hing ein Schild: Greenock Gästehaus.
»Hoch, Jungs«, sagte Freddie Metcalfe, als sie den Pub betraten. »Die Kavallerie ist da.«
»Hallo, Freddie«, sagte Gristhorpe und führte Banks an die Theke. »Schenkst du immer noch nach Sperrstunde aus?«
»Nur für ein paar Auserlesene«, entgegnete Metcalfe stolz. »Was darf ich den Gentlemen anbieten?« Argwöhnisch musterte er Banks. »Ist der schon volljährig?«
»Gerade so«, feixte Gristhorpe.
Freddie brach in einen keuchenden Raucherhusten aus.
»Was hat das auf sich mit der Leiche?«, fragte Gristhorpe.
Metcalfe verzog seine fleischigen Lippen und nickte rüber zum einzigen besetzten Tisch. »Der Kerl da meint, er hätte eine aufm Berg gefunden. Er wird sich garantiert nicht mehr von der Stelle rühren, also kann ich euch Gentlemen auch noch'n Pint zapfen, bevor ihr loslegt.«
Der Superintendent bestellte ein Bitter, und Banks, dem am Zapfhahn das Emblem der Marston-Brauerei aufgefallen war, bestellte ein Pint Pedigree.
»Hat Geschmack, der Mann«, sagte Metcalfe. »Ist er auch stubenrein und so?«
Banks übte sich während des Wortwechsels in kluger Zurückhaltung und machte sich ein Bild von der Umgebung. Die Wände der Wirtschaft waren bis in Hüfthöhe mit dunklem Holz vertäfelt, darüber in einem unaufdringlichen graubraunen Ton tapeziert. Die meisten Tische waren altmodische, runde Modelle mit gusseisernen Beinen, an denen man sich die Kniescheiben stieß, doch in einer Ecke neben der Dartscheibe und der stummen Musikbox standen auch ein paar moderne quadratische.
Banks zündete sich eine Silk Cut an und trank sein Bier. Aus Respekt vor Gristhorpe hatte er im Wagen nicht geraucht, aber jetzt, an einem öffentlichen Ort, nutzte er die Gelegenheit und qualmte nach Herzensund Lungenlust.
Mit ihren Gläsern in der Hand gingen sie rüber zu dem Tisch.
»Jemand hat einen Todesfall gemeldet?«, fragte Gristhorpe und betrachtete mit seinen unschuldigen blauen Augen die fünf Männer, die dort saßen.
Fellowes musste aufstoßen und hob seinen Arm in die Luft. »Ich war's«, sagte er und rutschte von seinem Stuhl auf den Steinboden.
»Gott, der ist ja sturzbetrunken«, sagte Banks und sah Sam Greenock ärgerlich an. »Konnten Sie nicht aufpassen, dass er nüchtern bleibt, bis wir hier sind?«
»Schieben Sie nicht mir die Schuld in die Schuhe«, erwiderte Sam. »Er hatte gerade so viel, um wieder ein bisschen Farbe zu kriegen. Ich kann nichts dafür, wenn er nichts verträgt.«
Zwei der anderen halfen Fellowes wieder hoch auf den Stuhl. Freddie Metcalfe eilte mit etwas Riechsalz herbei, das er für solche und ähnliche Notfälle hinter der Theke aufbewahrte.
Fellowes stöhnte auf und stieß das Riechsalz beiseite, dann sank er zurück und schielte Gristhorpe an. Er war eindeutig nicht in der Verfassung, sie zum Tatort zu führen.
»Schonn in Ordnung, Inschpecktor«, lallte er. »Der Kreischlauf, dasis alles.«
»Können Sie uns sagen, wo Sie die Leiche gefunden haben?« Gristhorpe sprach so langsam wie zu einem Kind.
»Am Schwainsheadberg, da gibt's ein wunderschönes Tal. Ganz in Herbstfarben. Können Sie nicht verpassen, genau unter dem Weg, der zum Gipfel führt. Gerade runtergehen bis zum Bach, dann rübersteigen ... ganz einfach. Neben dem Frauenschuh.«
»Frauenschuh?«
»Genau. Die Orschidee, nicht dschu verwechseln mit dem Schwedenklee. Sehr selten. Die Leiche liegt gleich neben dem Frauenschuh.«
Dann drehte er sich auf seinem Stuhl halb um und bog seinen Arm auf den Rücken.
»Ich hab meinen Rucksack vergessen«, sagte er. »Dacht ich's mir doch. Dann isses gleich bei meinem Rucksack. Der Rucksack markiert die Schtelle.« Dann überfiel ihn wieder der Schluckauf und seine Augen klappten zu.
»Weiß jemand, wo er wohnt?«, fragte Banks die Gruppe.
»Er hat in meinem Gästehaus gewohnt«, erklärte Sam. »Ist aber heute Morgen ausgezogen.«
»Wenn Sie noch ein Zimmer frei haben, dann nehmen Sie ihn besser wieder mit. Weg kann er in seinem Zustand nicht mehr, außerdem würden wir später gerne mit ihm sprechen.«
Sam nickte. »Ich glaube, Zimmer fünf ist noch frei, wenn nicht jemand angekommen ist, als ich weg war. Stephen?« Er sah den Mann neben ihm an, der ihm half, Fellowes auf die Beine zu stellen.
»Sie sind Stephen Collier, stimmt's?«, fragte Gristhorpe und wandte sich dann an den Mann gegenüber Greenock. »Und Sie sind Nicholas. Erinnern Sie sich, vor ein paar Jahren habe ich mit Ihnen über Anne Raistons Verschwinden und diesen mysteriösen Tod gesprochen?«
»Ja, genau«, antwortete Nicholas. »Sie kannten auch Vater, wenn ich mich richtig erinnere?«
»Nicht besonders gut, aber wir hatten ein-, zweimal miteinander zu tun. Ein guter Mann.«
»Ja, das war er«, sagte Nicholas.
Draußen beobachteten Banks und Gristhorpe, wie Sam und Stephen Neil Fellowes über die Brücke halfen. Die alten Männer gingen zur Seite und starrten ihnen stumm hinterher.
Gristhorpe schaute den Berghang hinauf. »Wir haben ein Problem«, sagte er.
»Wieso?«
»Das wird eine mühsame Kletterpartie. Wie zum Teufel sollen wir Glendenning und das Team von der Spurensicherung da hinauf kriegen? Und vor allem, wie soll ich da hochkommen? Ich bin nicht mehr der Jüngste. Und du rauchst wie ein Schlot. Du schaffst keine zehn Meter.«
Banks folgte Gristhorpes Blick und kratzte sich am Kopf.
»Tja«, sagte er, »ich schätze, wir sollten es einfach versuchen.«
Gristhorpe verzog das Gesicht. »Ja«, meinte er, »ich hatte befürchtet, dass du das sagst.«