* 10

 

Gerade war die Sonne hinter dem Adamsberg untergegangen, jetzt zeichnete sich der steile Berghang vor dem knallrot leuchtenden Himmel ab. Im großen Garten der Colliers spazierten die Gäste umher. Durch die offenen Türen der beiden Haushälften konnte man sich Getränke holen oder von einem riesigen Tisch mit verschiedenen Käsesorten, Pasteten, geräuchertem Lachs und frischem Obst bedienen. Von Stephens Stereoanlage strömte Musik heraus. Jetzt hörte man Mozart, vorher war es Motown Soul und moderne Popmusik gewesen. Außer ein oder zwei älteren Grundbesitzern und Freunden der Familie waren die meisten Gäste zwischen Anfang und Mitte dreißig. Ein paar gescheite Lehrer aus Braughtmore waren da, einige Mitglieder aus Stephens Managementabteilung sowie eine große Auswahl Unternehmer aus der ganzen Gegend, manche mit politischen Ambitionen. Die Partys waren ziemlich regelmäßige Ereignisse, die halfen, den gesellschaftlichen Status der Colliers zu erhalten, und jene, die etwas besaßen, mit denjenigen bekannt machten, die gewillt und in der Lage waren, dafür zu zahlen.

  Katie stand mit einem Glas Weißwein in der Hand allein am Brunnen. Sie hielt es schon so lange, dass der Wein ganz warm war. Gelegentlich machte ihr ein gut gekleideter junger Mann seine Aufwartung und begann eine Unterhaltung, doch nach ein paar Minuten mit ihrem abgewendeten Blick, ihrem Erröten und ihren einsilbigen Antworten entschuldigte er sich und ging davon.

  Wie immer hatte Sam darauf bestanden, dass auch sie sich unter dieses Volk mischte.

  »Ich kaufe dir diese verdammt teuren Kleider schließlich nicht umsonst«, hatte er sie angefahren, als sie ihm im letzten Augenblick sagte, dass sie nicht mitkommen wollte.

  »Ich bitte dich nicht darum, mir diese Kleider zu kaufen«, sagte Katie leise. »Ich möchte sie nicht einmal haben.« Und das stimmte. So herausgeputzt fühlte sie sich unwohl. Stolz und eitel.

  »Du wirst verdammt noch mal tun, was ich dir sage. Ein paar wichtige Leute werden da sein, und ich möchte, dass du einen guten Eindruck machst.«

  »Oh, Sam«, flehte sie ihn an, »du weißt, dass ich das nie schaffe. Ich kann mich auf Partys nicht unterhalten. Ich kriege keinen Ton heraus.«

  »Dann gönne dir zur Abwechslung mal wie jeder andere ein paar Drinks. Das wird dich auflockern. Um Himmels willen, kannst du dein Haar nicht einmal offen tragen?«

  Katie wendete sich ab.

  Sam packte ihren Arm. »Hör zu«, sagte er, »du kommst mit mir, basta. Wenn du dich nicht traust, mit den Leuten zu reden, dann steh halt einfach rum und sieh dekorativ aus. Das wirst du wohl noch schaffen. Aber du kommst mit. Kapiert?«

  Katie nickte, und Sam ließ sie los. Ihren Arm reibend ging sie hoch in ihr Zimmer und suchte ein bedrucktes Baumwollkleid aus, das mit der gerafften Taille und dem tiefen Rückenausschnitt genau richtig für die Gelegenheit war. Wenn sie ihr Haar hochsteckte, sah es besonders gut aus. Sie entschied sich auch noch für einen Wollschal mit Fransen, denn manchmal konnten die Abende selbst im Juli kühl werden. Nachdem Sam ihre Aufmachung gebilligt und etwas mehr Augen-Make-up vorgeschlagen hatte, waren sie losgegangen.

  Sie konnte Sam in seinem weißen Anzug mit ein paar hiesigen Geschäftsleuten reden und lachen sehen. Auch er hielt ein Glas Wein, dabei wusste sie, dass er das Zeug hasste. Er trank es nur, weil man das auf den Partys der Colliers zu tun pflegte.

  Katie schaute sich nach John Fletcher um, konnte ihn aber nirgends sehen. John war immer freundlich. Von ihnen allen konnte sie mit ihm am besten reden oder sogar schweigen. Sie mochte Stephen Collier, doch sie fühlte sich wohler in John Fletchers Gegenwart. Seit seine Frau weggelaufen war, war er ein trauriger und ruheloser Mann geworden. Immerhin hatte sie ihn nicht verlassen, weil er sie schlecht behandelt hatte. Maureen Fletcher, so erinnerte sich Katie, war schön, eingebildet, überheblich und dummdreist gewesen. Das kleine Swainshead war ihr zu provinziell. In Katies Augen sollte John froh sein, dass er sie los war, aber das sagte sie ihm nicht. Sie sprachen nie über persönliche Dinge, doch er schien hinter seiner tiefen Traurigkeit ein guter Mann zu sein.

  Katie fröstelte. Der Sonnenuntergang war verblasst und hatte den Himmel über dem Adamsberg in tiefer, dunkelvioletter Farbe zurückgelassen. Selbst über den klirrenden Gläsern und der Motownmusik, die wieder aufgelegt worden war, weil einige Leute tanzen wollten, konnte sie den unheimlichen, klagenden Schrei einer Waldschnepfe hoch oben vom Berg hören. Sie machte sich auf den Weg in Nicholas' Teil des Hauses, um ihren Schal von dort zu holen, wo Sam ihn abgelegt hatte. Außerdem wollte sie zur Toilette gehen. Auf ihrem Weg hielt sie inne und bewunderte die Eichenvertäfelung und den altmodischen Stil seines Wohnzimmers mit den Aquarellen von Nelson und Wellington an den Wänden und den Reihen in Leder eingebundener Bücher. Sie fragte sich, ob er sie jemals gelesen hatte. Auf einem kleinen Teakholztisch neben dem Kamin stand eine bronzene Büste. Als sie genauer hinschaute, sah Katie, dass im Sockel der Name Oscar Wilde eingraviert war. Irgendwo hatte sie den Namen schon einmal gehört, aber er sagte ihr nicht viel. In welch schöner Wohnung dieses Ungeheuer Nicholas lebte. Obwohl sie nicht leicht sauber zu halten sein wird, dachte Katie, als sie die ganzen Winkel und Ecken professionell unter die Lupe nahm.

  Schließlich fand sie die Toilette, die moderner als der Rest des Hauses war. Sie kippte ihren Wein in den Ausguss und blieb eine Weile. Untätig warf sie einen Blick auf eine Ausgabe von Yorkshire Life, die bewusst neben der Badewanne ausgelegt war. Dann bekam sie Angst, dass Sam nach ihr suchen könnte.

  Als sie zurück nach unten in die Diele ging, traf sie auf Nicholas, der soeben hochgehen wollte. Er schwankte, seine Augen waren glasig. Eine widerspenstige Locke nahe seines Wirbels stand kerzengerade vom Kopf ab, was ihm das Aussehen eines ungezogenen Schuljungen verlieh.

  »Oh, Katie, mein Liebling«, sagte er, streckte seine Hände aus und hielt sie an der Schulter fest. Er sprach undeutlich, seine Wangen waren vom Alkohol erhitzt. »Komm zu mir, süßer als Wein ist deine Liebe.«

  Katie wurde rot und versuchte sich loszuwinden, doch Nicholas packte nur fester zu. Er schaute sich um.

  »Keiner da«, flüsterte er. »Zeit für einen kurzen Kuss, meine Blume auf den Wiesen des Scharon, meine Lilie der Täler.«

  Katie wehrte sich, aber er war zu kräftig. Er hielt ihren Kopf fest, kam mit seinem Mund näher an ihren und schien sie mit einem langen, feuchten Kuss ersticken zu wollen. Sein Atem stank nach Wein, Knoblauchpastete und Stiltonkäse. Als er aufhörte, rang sie nach Luft. Aber er ließ sie nicht los. Eine Hand lag nun auf ihrem nackten Rücken, die andere langte nach ihren Brüsten.

  »Ah, deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle«, sagte er schwer atmend. »Komm, Katie. Hier rein. Ins Schlafzimmer.«

  »Nein!«, rief Katie. »Wenn du mich nicht loslässt, schreie ich.«

  Nicholas lachte. »Ich mag leidenschaftliche Mädchen. Komm schon, gleich kannst du schreien. Aber jetzt noch nicht.« Er legte eine Hand auf ihren Mund und begann sie den Flur entlangzuzerren. Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme hinter ihnen, gleichzeitig löste sich Nicholas' Griff. Sie machte sich los und drehte sich um. Da stand John Fletcher und sagte Nicholas, er solle seine Finger von ihr lassen.

  »Fahr zur Hölle!«, sagte Nicholas, der viel zu erregt war, um einen Rückzieher zu machen. »Du willst mir sagen, was ich tun soll? Du Emporkömmling von einem Bauernjungen.«

  Und plötzlich schlug John zu. Ein kurzer, trockener Schlag ins Gesicht, der Nicholas verdutzt dastehen ließ. Er starrte John an, während Blut aus seinen Lippen floss und in einem schmalen Rinnsal von seinem Kinn tropfte. Draußen im Garten zerbrach ein Glas und jemand kicherte laut, während Mary Wells' My Guy gespielt wurde. Nicholas sah John zähnefletschend an, legte dann seine Hand vor den Mund und torkelte ins Badezimmer.

  Fletcher rieb seine Knöchel. »Alles in Ordnung, Katie?«, fragte er.

  »Ja, ja, danke.« Katie schaute beim Sprechen auf den gemusterten Teppichboden. »Es ... es tut mir leid ... das ist so peinlich. Das war nicht das erste Mal, dass er mir zu nahe kommt, aber früher ist er nie so grob geworden.«

  »Er ist betrunken«, sagte Fletcher und lächelte dann. »Mach dir keine Sorgen. Ich wollte das schon lange machen.«

  »Aber was wird er tun? Er sah so wütend aus.«

  »Er wird sich beruhigen. Komm, gehen wir zurück zu den anderen.«

  Katie nahm ihren Schal, dann gingen sie zurück in den Garten, der nun von strategisch platzierten, antiken Laternen erleuchtet war. Katie entschuldigte sich, dankte John erneut und schlich um das Haus herum zur Straße. Sie musste für eine Weile dort draußen sein, wenigstens so lange, bis ihr Herz aufhörte, so wild zu schlagen, und sie wieder ruhig atmen konnte. Dort, wo Nicholas' Hände sie berührt hatten, fühlte sich ihr Körper taub an. Sie zitterte.

  Niemand war auf der Straße. Selbst die alten Männer waren von der Brücke verschwunden. Doch im White Rose brannte Licht, und Katie hörte das Gelächter und die Stimmen von drinnen. Sie dachte, dass der junge Polizist dort sein wird, derjenige, von dem nur sie wusste. Natürlich war er nicht zur Party eingeladen worden, deshalb hatte er keine Möglichkeit, sie alle in dieser Nacht auszuspionieren. Sie fragte sich, warum er eigentlich im Dorf war. Er hatte niemandem irgendwelche forschenden Fragen gestellt, er schien einfach nur da zu sein, irgendwie, immer in Sichtweite.

  Seufzend schlich Katie zurück in den Garten. Gerade wurde ein langsames Lied gespielt, und einige der Paare tanzten eng umschlungen miteinander. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrem Rücken und zuckte zusammen.

  »Ich bin's nur. Wollen wir tanzen?«

  »A-aber ich ... kann nicht.«

  »Unsinn«, sagte Stephen Collier. »Es ist ganz leicht. Du musst mir nur folgen.«

  Katie hatte keine Wahl. Sie sah, wie Sam von Stephens Eingang herüberschaute und zustimmend lächelte. Sie hatte das Gefühl, zwei linke Füße zu haben, und irgendwie wollte ihr Körper überhaupt nicht auf die Musik reagieren. Sie war steif wie ein Stück Holz. Und plötzlich wurde ihr auch noch schwindelig und dunkel vor Augen. Im Zentrum der Dunkelheit war ein beißender, rußiger Geruch. Sie stolperte.

  »Hey, so schlecht tanze ich auch wieder nicht.« Stephen stützte sie und führte sie zum Brunnen.

  Katie erlangte ihr Gleichgewicht wieder. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich es nicht gut kann.«

  »Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte Stephen, »würde ich meinen, du hast zu viel getrunken.«

  Katie lächelte. »Ungefähr einen Schluck Weißwein. Das war zu viel für mich.«

  »Katie?« Stephen machte plötzlich ein ernstes Gesicht.

  »Ja?«

  »Ich habe unsere kleine Unterhaltung neulich in deiner Küche genossen. Es tut gut, jemanden ... jemanden außerhalb zum Reden zu haben.«

  »Außerhalb von was?«

  »Ach, von der Firma, Familie ...«

  Das Ereignis schien so lange her zu sein, dass sich Katie kaum daran erinnern konnte. Und seitdem hatte Stephen sie ignoriert. Sie hatte sich bestimmt nicht vorgestellt, dass es für einen von ihnen beiden ein Genuss war. Doch Stephen hatte etwas Kleinjungenhaftes an sich, besonders wenn er wie jetzt gleichzeitig nervös und ernst war. Der Nerv am Rand seines linken Auges hatte zu zucken begonnen.

  »Erinnerst du dich, worüber wir gesprochen haben?«, fuhr er fort.

  Katie erinnerte sich nicht, aber sie nickte.

  Er schaute sich um und senkte seine Stimme. »Ich glaube, ich bin mir jetzt im Klaren darüber. Ich glaube, ich werde aus Swainshead weggehen.«

  »Aber warum?«

  Stephen bemerkte, dass zwei seiner Geschäftsführer auf sie zukamen. »Hier können wir nicht reden, Katie. Nicht jetzt. Kann ich dich Freitag sehen?«

  »Da ist Sam ...«

  »Ja, ich weiß, freitags fährt Sam nach Eastvale. Aber Sam will ich auch nicht sehen, ich will dich sehen. Wir könnten einen Spaziergang machen.«

  »Ich ... ich weiß nicht.«

  Seine Stimme war eindringlich, und seine Augen flehten sie an. Die zwei Männer hatten sie jetzt fast erreicht. »Na gut«, sagte sie. »Ein Spaziergang. Aber nur kurz.«

  Stephen entspannte sich. Selbst das Zucken in seinem Auge schien abzuklingen.

  »Ah, Stephen, hier bist du«, sagte einer der Geschäftsführer, ein rundlicher, kräftiger Mann namens Teaghe. »Typisch, dass du das hübscheste Mädel der Party aufgegabelt hast!« Er warf einen geilen Blick auf Katie, die höflich lächelte und sich entschuldigte.

  Um den äußeren Schein zu wahren, schenkte sie sich ein neues Glas Wein ein, lehnte sich neben die Verandatüren und beobachtete die Umrisse der von den Laternen angeleuchteten Tänzer vor dem riesigen schwarzen Brocken des Adamsberges. Der Garten war ein Gewirr von Schatten, die sich überkreuzten und verknoteten wie ein gewaltiges Fadenspiel. Wenn das weiche Licht ihre Gesichter in einem bestimmten Winkel traf, sahen manche Tänzer wirklich teuflisch aus.

  Obwohl sie sich nie für eine verständnisvolle Zuhörerin gehalten hatte - dafür war sie viel zu sehr in ihrer eigenen Schüchternheit und Unzufriedenheit gefangen -, wollte Stephen sie nun also als Vertraute, und sie hatte zugestimmt, mit ihm spazieren zu gehen und sich seine Probleme anzuhören. Das war weit mehr, als Sam jemals von ihr gewollt hatte. Er verlangte nur zwei Dinge von ihr: Arbeit und Sex.

  Sie traute Stephen nicht mehr und nicht weniger als jedem anderen Mann. Beim letzten Mal, als es möglich gewesen wäre, hatte er nichts versucht, und seither war er ihr ausgesprochen kühl begegnet. Aber warum wollte er aus Swainshead weg? Warum war er so nervös? Wollte er vor etwas davonlaufen? Doch wenn er wegging, dachte sie, und wenn er sie wirklich mochte, dann bestand die Möglichkeit, dass er sie mitnahm.

  Sie vermutete, dass es eine Sünde wäre, ihren Ehemann im Stich zu lassen, aber sie hatte mittlerweile so oft darüber nachgedacht, dass sie das Risiko eingehen würde. Bestimmt würde Gott ihr vergeben, wenn sie einen Mann mit solch abscheulichen und triebhaften Gelüsten wie Sam Greenock verließ. Sie könnte es mit wohltätiger Arbeit wiedergutmachen. Sollte Stephen sie tatsächlich mitnehmen, würde sie sich ihm auch körperlich hingeben müssen, das wusste sie. Wenn nicht am Freitag, dann später. Aber es war eine Sünde, bei der sie niemand durchschauen konnte. Sie hatte gelernt, all den Dingen, die die Männer von ihr wollten, zu entsprechen, ohne selbst Genuss an ihnen zu finden. Sie hatte immer gedacht, das sei wegen Sam so, der für Jahre ihr einziger Liebhaber gewesen war. Doch als Bernie sich ihr aufgedrängt und sie weder Energie noch Kraft gehabt hatte, ihn abzuwehren, war ihr klargeworden, dass sie diesen Akt mit keinem Mann würde genießen können. Immerhin war Bernie freundlich und sanft gewesen, als er sie dahin brachte, wo er sie haben wollte, aber es änderte nichts an dem Gefühl, das sie dabei empfunden hatte.

  Sie schaute wieder zu den laternenerleuchteten Gästen. Sam tanzte gerade mit einer attraktiven Brünetten, die wahrscheinlich in der Firma der Colliers arbeitete. Nicholas hatte sich wieder unter die Leute gemischt, redete und lachte beim Brunnen mit einer Gruppe Pendler, die in Swainsdale wohnten, ihr Geld aber anderswo verdienten. Seine Unterlippe war geschwollen, als wäre er von einer Biene gestochen worden. Als er ihren Blick bemerkte, starrte er sie mit solcher Gier und solchem Hass an, dass sie zu zittern begann und ihren Schal enger um die Schultern zog.

 

In Toronto lockerte Banks das Absuchen englischer Pubs nach Anne Ralston mit Besichtigungen auf. Das Wetter blieb unangenehm heiß und schwül, und ein nächtliches Gewitter, das die Fenster zum Klappern gebracht hatte, schien es nur noch schlimmer gemacht zu haben.

  Den CN Tower ließ Banks links liegen, sah sich dafür im Eaton Centre um, einer riesigen Shopping Mall samt Glaskuppel und einer Schar modellierter kanadischer Wildgänse, die anscheinend hereingeflogen kamen, um am anderen Ende zu landen. Nach Einbruch der Dunkelheit besuchte er die Ecke Yonge und Dundas Street, um im Neonlicht die Nutten und Straßenkinder zu beobachten. Mit einer Fähre fuhr er nach Ward's Island und bewunderte die Skyline von Toronto, bevor er die Uferpromenade auf der Südseite entlangspazierte. In der Sonne schimmerte der Ontario-See wie ein unendlicher Ozean. In Harbourfront genehmigte er sich auf einem Platz direkt am Ufer ein Carlsberg und beobachtete die weißen Segel der Jachten, die so sachte durch den Dunst stachen wie ein Messer durch Sirup.

  An einem Morgen nahm er einen Bus nach Kleinburg, um sich die McMichael-Sammlung anzuschauen. Sandra hätte die Berglandschaften von Lawren Harris und die Kunst der Ureinwohner geliebt, dachte er. In der Sammlung befand sich auch ein Gemälde von Emily Carr, das ihn an Jenny Füller erinnerte. Die befreundete Psychologin half der Polizei in Eastvale manchmal bei den Ermittlungen. In ihrem Wohnzimmer hing ein Druck des Gemäldes, und auf ihre Anregung hin hatte er diese Ausstellung besucht.

  Außerdem musste er unbedingt die Niagarafälle besichtigen. Sie erwiesen sich als noch eindrucksvoller, als er erwartet hatte. In Ölzeug eingepackt fuhr er mit der Maid of the Mist hinaus, und als sie genau vor den Fällen kreuzten, wurde das Boot wie ein Korken hin und her geworfen. Aus einem bestimmten Blickwinkel konnte er diagonal über dem Wasser einen Regenbogen erkennen. Je näher das Boot sich vorwagte, desto mehr füllte die Gischt seine Augen, bis er schließlich nichts mehr sehen konnte. Er konnte nur noch das urzeitliche Tosen des Wassers hören.

  Während der restlichen Zeit besuchte er Pubs. Für jeden erlaubte er sich ungefähr eine Stunde, die er dann an der Bar saß, wo er die Fotos herumzeigte und das Barpersonal und die Gäste nach Bernard Allen und Anne Ralston fragte.

  Dieser Teil des Jobs war hart für Leber und Nieren, deshalb versuchte er, so wenig wie möglich zu trinken. Um die Aufgabe interessanter zu gestalten - denn ein Kneipenbummel ohne Gesellschaft ist kaum der aufregendste Zeitvertreib der Welt -, probierte er die verschiedenen Fassbiere, die importierten wie die einheimischen. Die meisten kanadischen Biere schmeckten gleich und waren durch die Bank mit zu viel Kohlensäure versetzt. Englische Biere, so stellte er fest, waren nicht weit verbreitet. Double Diamond und Watney's ignorierte er genauso entschieden wie zu Hause. Mit Abstand am besten waren ein paar regionale Gerstensäfte, von denen ihm Gerry Webb erzählt hatte: Arkell Bitter, Wellington County Ale, Creemore Springs Lager und Conner Bitter. Sie waren sämig, geschmackvoll, vollmundig und hatten, wenn gewünscht, herrliche, cremige Blumen.

  Trotz des guten Bieres hingen ihm die Pubs bald zum Halse raus. Er rauchte zu viel, trank zu viel und aß zu viel Gebratenes. Am Dienstag, nachdem er aus Kleinburg zurückgekommen war, hatte er The Sticky Wicket, das Madison und das Duke of York abgeklappert, die alle im Umkreis der Universität lagen. Ohne Erfolg. Am Mittwoch, nach seiner Rückkehr von den Niagarafällen, hatte er im Spotted Dick begonnen und war dann - mit Zwischenstopps im Artful Dodger und The Jack Russell - zwischen Kauflustigen und Genusssüchtigen die belebte Yonge Street hinab zum Hop and Grape gelaufen. Er hatte im Hop and Grape gesessen, im Erdgeschoss eines Bürogebäudes unweit der Ecke Yonge und College Street, und auf der Straße langhaarige Heavy-Metal-Fans beobachtet, die gruppenweise einem Konzert in Maple Leaf Gardens zustrebten. Seine Kleidung war schweißnass, und seine Füße taten weh. Da die Büroangestellten bereits gegangen waren und das Abendpublikum noch nicht eingetroffen war, war es zu der Zeit ruhig im Pub gewesen. Nur noch zwei Tage waren übrig, und er war sich vollkommen bewusst, dass ihm allmählich die Zeit davonlief. Da er für den Abend die Nase voll hatte, war er zurück zu Gerrys Haus und früh ins Bett gegangen.

  Dennoch wusste er, dass er recht haben musste. Bernard Allen hatte in einem englischen Pub verkehrt, und er musste Trinkkumpane gehabt haben, die ihm nun nachtrauerten.

  Am Donnerstag um Viertel nach drei stieg Banks vor The Feathers im Osten der Stadt aus einem Streetcar. Als er durch die Tür trat, schaute er auf zwei Dartscheiben, die an einer mit grünem Tuch bespannten und von Fehlwürfen durchlöcherten Wand hingen. Links davon befand sich der eigentliche Pub, der mit dunkel schimmerndem Holz, poliertem Messing und dunkelroten Samtbezügen eingerichtet war. Und es war kühl.

  Die Wand gegenüber der Theke war mit gerahmten Fotografien vollgehängt, hauptsächlich englische oder schottische Motive. Banks erkannte einen Pub in York, die Theakston-Brauerei in Masham, ein Straßenschild, das er oft auf dem Weg nach Ripon passierte, und, die größte Überraschung, ein Foto des Queen's Arms am gepflasterten Marktplatz von Eastvale. Das hier zu sehen, war ein merkwürdiges Gefühl. Da stand er mehr als viertausend Kilometer von zu Hause entfernt in einem Pub und schaute auf ein Foto des Queen's Arms. Unheimlich.

  Das Lokal war fast leer. Nahe der Tür saß eine Gruppe von vier oder fünf Leuten, die einem grauhaarigen Mann mit verlebtem Gesicht und Lancashire-Akzent zuhörten, der über die Einkommensteuer klagte.

  Banks stellte sich an die Theke neben einem sehr großen Mann mit kurzen, ordentlich gekämmten Haaren. Er rauchte Pfeife und starrte in sich versunken in die Leere, als sinnierte er über die Dummheit der Menschheit. Über der Kasse hinter der Theke hing ein kleiner Union Jack.

  »Ein Pint Creemore, bitte«, sagte Banks, der das Brauereiemblem an einem der Zapfhähne gesehen hatte.

  Die Bardame lächelte. Sie hatte gelocktes, rotbraunes Haar und braune, humorvolle und verschmitzte Augen. Als sie zum anderen Ende der Bar ging, um die Bestellung einer Kellnerin anzunehmen, fiel Banks auf, dass sie ein sehr kurzes Kleid trug. Durch ein Paar prächtiger Beine war das mehr als gerechtfertigt.

  »Ruhig hier«, bemerkte Banks, als sie das eisgekühlte Pint vor ihn stellte.

  »Um diese Zeit immer«, sagte sie. »Um fünf, wenn die Leute nach der Arbeit reinschauen, wird's voll.«

  Banks atmete tief ein und zog die Fotos aus seiner Jackentasche. Sie hatten bereits Eselsohren. Er war schon so an die Enttäuschung gewöhnt, dass kaum noch Enthusiasmus in seiner Frage lag: »Ich schätze, Sie hatten keinen Stammgast mit dem Namen Bernard Allen, oder?«

  »Bernie?«, sagte sie. »Der Bernie, der in England ermordet wurde?«

  Banks traute seinen Ohren nicht. »Ja«, sagte er. »Kannten Sie ihn?«

  Der Blick der Bardame wurde ernst, als sie sprach. »Er war Stammgast hier«, sagte sie. »Ich würde nicht sagen, dass ich ihn richtig kannte, aber ich habe ab und zu mit ihm gesprochen. Wie man das so macht beim Kellnern. Er war ein netter Kerl. Hat nie Ärger gemacht. Schrecklich, was passiert ist.«

  »Trank er allein?«

  »Nein. Er gehörte zu einer Gruppe. Bernie, Glen, Barry und Ian. Sie saßen immer in der Ecke da.« Sie zeigte auf einen runden Tisch gegenüber des anderen Thekenendes.

  »War auch mal eine Frau dabei?«

  »Manchmal. Aber ich habe nie mit ihr gesprochen. Warum wollen Sie das alles wissen? Sind Sie ein Bulle oder so was?«

  Banks entschied sich für Ehrlichkeit. »Ja«, sagte er. »Aber ich bin inoffiziell hier. Wir glauben, dass Bernie hier drüben eine alte Freundin getroffen hat, die möglicherweise Informationen für uns hat. Die könnten uns helfen, seinen Mörder zu finden.«

  Die Bardame legte ihre Ellbogen auf die Theke und beugte sich vor.

  Banks zeigte ihr die Fotos. »Ist sie das?«

  Sie sah sich die Fotos genau an und runzelte die Stirn. »Könnte sein. Die Gesichtsform ist gleich, aber sonst ist alles anders. Das müssen alte Fotos sein.«

  »Stimmt«, sagte Banks. »Aber sie könnte es sein?«

  »Ja. Hören Sie, es tut mir leid. Ich kann hier nicht rumstehen und plaudern. Ich weiß wirklich nicht mehr. Jack da drüben hat manchmal mit Bernie gesprochen. Vielleicht kann er Ihnen helfen.«

  Sie zeigte auf einen Mann, der am Rande der Gruppe neben der Tür saß. Er war ein kräftig gebauter Mann mit Schnauzbart und gepflegtem, angegrautem Haar. Banks schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig. Im Moment schien er über einem Kreuzworträtsel zu brüten.

  »Danke.« Banks nahm sein halb ausgetrunkenes Glas und ging rüber zu dem Tisch. Er stellte sich vor, und Jack forderte ihn auf, sich einen Stuhl zu nehmen. Der Mann aus Lancashire am Nachbartisch zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Ich nehme noch einen Gin Tonic, dann gehe ich.«

  »Wir waren nicht wirklich eng befreundet«, sagte Jack, nachdem ihn Banks nach Bernie gefragt hatte, »aber wir hatten ein paar anständige Gespräche.« Er redete mit kanadischem Akzent, was Banks überraschte. Er hatte angenommen, dass außer dem Barpersonal alle Stammgäste Briten waren.

  »Worüber haben Sie gesprochen?«

  »Hauptsächlich über Bücher. Literatur. Bernie war so ungefähr der einzige andere Kerl, den ich kannte, der Proust gelesen hatte.«

  »Proust?«

  Jack sah ihn herausfordernd an. »Der größte Schriftsteller aller Zeiten. Er hat Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschrieben.«

  »Vielleicht versuche ich es mal«, antwortete Banks, ohne zu wissen, auf was er sich da einließ. Er neigte dazu, die meisten seiner selbstgemachten Versprechen, etwas zu lesen oder zu hören, was ihm andere Leute empfahlen, einzuhalten, obwohl die mangelnde Zeit immer dafür sorgte, dass er im Rückstand war.

  »Tun Sie das«, sagte Jack. »Dann habe ich wieder jemanden, mit dem ich darüber sprechen kann. Entschuldigen Sie mich.« Er stand auf und ging zur Toilette.

  Der Mann aus Lancashire rülpste und sagte zur Kellnerin: »Gin Tonic, bitte, Liebes. Ohne Zitrone.«

  Banks musterte die anderen Leute am Tisch: ein kleiner, schlanker Jugendlicher mit Creole und Diamantenknopf im linken Ohr; ein größerer Schmalgesichtiger mit Bürstenschnitt und Brille; ein leise sprechender Mann mit einem Hauch von irischem Akzent. Alle hörten einem Waliser zu, der Witze erzählte.

  Jack setzte sich wieder hin und bestellte ein weiteres Pint Black Label. Die Kellnerin, eine hübsch gebräunte Blondine mit schönem Lächeln, nahm auch Banks' Bestellung für ein weiteres Creemore auf und servierte beide Getränke innerhalb kürzester Zeit. Banks zahlte und gab ihr ein reichliches Trinkgeld, das hatte er bei seinem Kneipenbummel durch Toronto schnell gelernt.

  »Kennen Sie Bernies Freunde?«, fragte er.

  Jack schüttelte den Kopf. »Größtenteils aufgeblasene Briten. Sie dozieren mir ein bisschen zu viel. Aber Bernie schien die Engstirnigkeit der meisten Englischlehrer überwunden zu haben.«

  Marylin Rosenberg vom Toronto Community College hatte auf andere Weise das Gleiche gesagt. Ob es in ihren Augen ein Plus oder ein Minus war, hatte Banks nicht mit Sicherheit sagen können.

  »Wann kommen seine Kumpels normalerweise vorbei?«

  »Meistens um fünf.«

  Banks schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach vier.

  »Vielen Dank«, sagte er. »Übrigens, sechs waagerecht ist Skull. >Ruder - ein skandinavisches Prost darauf.< Prost heißt im Schwedischen Skol. Und Skull ist ein anderes Wort für Ruder.« Jack hob seine Augenbrauen und trug die Antwort ein.

  Für die nächste Stunde arbeiteten sie gemeinsam das Kreuzworträtsel durch. Währenddessen füllte sich das Lokal. Um Viertel nach fünf, sie rätselten gerade über »Verschreie die Berühmtheit und greife an«, kamen zwei Männer in weißen Hemden und Anzügen herein.

  »Das sind sie«, sagte Jack. »Entschuldigen Sie mich, wenn ich hier sitzen bleibe.«

  Banks lächelte. »Trotzdem danke für die Hilfe.«

  »War nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte Jack, als sie sich die Hände schüttelten. »Rufmord. Natürlich!«, stieß er gerade in dem Moment aus, als Banks gehen wollte. »>Verschreie die Berühmtheit und greife an.< Rufmord. Erstaunlich, wie viel effektiver man ist, wenn zwei Köpfe daran arbeiten.«

  Banks stimmte ihm zu. Bei der Polizei war es genauso. Auf dieser Reise hätte er Hilfe gut gebrauchen können. Nicht Sergeant Hatchley, der hatte sich nicht genug im Griff, um Arbeit von einem Kneipenbummel zu trennen, aber Richmond wäre hilfreich gewesen.

  Als er sich auf dem Weg zu ihrem Tisch machte, hatten die beiden Männer bereits ihre Krawatten gelöst, die Anzugjacken ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Der eine war groß und hager, hatte ein hohlwangiges Gesicht und dünnes, blondes Haar, das seinen zurückgehenden Haaransatz verdeckte. Der andere reichte seinem Freund nur bis zur Schulter, war fettleibig und verlor ebenfalls Haare. Die paar Strähnen, die noch übrig waren, standen in einer Art Nebel oder Heiligenschein von seinem Kopf ab. Seine Lippen lächelten wie eingefroren, und seine dunklen Augen blickten nervös zuckend durch die Gegend.

  Banks ging zu ihnen und erzählte, warum er in Toronto war.

  »Ich bin Ian Grainger«, sagte der lange Blonde. »Setzen Sie sich.«

  »Barry Clark«, sagte der andere, immer noch lächelnd und überall hinschauend, nur nicht zu Banks.

  »Glen wird auch gleich da sein«, sagte Ian. »Wie können wir Ihnen helfen?«

  »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie es können. Ich suche Anne Ralston.«

  Die beiden Männer sahen ihn stirnrunzelnd und verdutzt an.

  »Sie kennen sie möglicherweise als Julie.«

  »Ach, Julie. Ja, natürlich«, sagte Barry. »Ich kam da gerade nicht mit. Sicher kennen wir Julie. Aber was hat sie mit dem Mord an Bernie zu tun?« Wie Ian sprach er mit englischem Akzent, aber wo genau die beiden jeweils herkamen, konnte Banks nicht sagen.

  »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob sie etwas damit zu tun hat«, sagte Banks. »Aber sie ist die einzige richtige Spur, die wir haben.« Er erzählte, wie sie direkt nach dem Mord an Addison verschwunden war.

  Kurz nachdem die Getränke serviert wurden, kam auch Glen Tadworth hinzu. Er war ein dunkelbärtiger, ziemlich fülliger junger Mann, der die typisch gebeugte Haltung der Akademiker und einen gut entwickelten Bierbauch hatte. Sein rotes Hemd schien auf der Haut zu kleben, unter den Achseln und auf der Brust sah man Schweißflecken. Er trug eine ramponierte, schwarze, mit Papieren überfüllte Aktentasche, die er, als er sich hinsetzte, mit einem Seufzer auf den Boden knallte.

  »Scheißstudenten«, sagte er und fuhr sich mit den Händen durch die fettigen schwarzen Haare. »Dover Beach, ein ziemlich anspruchsloses Gedicht, sollte man meinen, oder?« Beim Sprechen schaute er Banks an, obwohl sie noch nicht vorgestellt worden waren. »Ein Intelligenzbolzen kam mit der Theorie an, dass es von Matthew Arnolds Kater handelte. Er hatte sich sogar was dabei gedacht. Das >knirschende Tosen< war die Übelkeit des Dichters. Und >der lange Strom der Gischt< ... Tja, man sollte für ihren Einfallsreichtum wohl dankbar sein, aber wirklich ...« Er warf seine Hände hoch, langte dann rüber und nahm einen großen Schluck aus Ians Glas.

  »Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Barry. Diesmal schaffte er es für den Bruchteil einer Sekunde, Banks anzusehen. »Das ist typisch für ihn. Immer am Jammern.« Und dann machte er die beiden miteinander bekannt.

  »Aus Swainsdale, hä?«, sagte Glen. »Eine frische Brise aus der alten Heimat. Gott, was gäbe ich darum, wieder dort leben zu können. Nicht unbedingt in Swainsdale, obwohl mir das auch passen würde. Ich stamme aus dem Westen, Exeter. Ich fürchte, mein Akzent hat sich über die Jahre etwas abgeschliffen.«

  »Warum können Sie nicht zurückgehen, wenn Sie wollen?«, fragte Banks und nahm sich eine Zigarette. »Sicherlich sind Sie nicht ins ständige Exil verbannt worden, oder?«

  »Im übertragenen Sinne, mein lieber Chief Inspector, im übertragenen Sinne. Wissen Sie, manche Leute haben ja die Vorstellung, dass wir, die wir im Ausland auf die ehemaligen Kolonien und verschiedenen Schlammlöcher Europas und Asiens verteilt leben, durchweg Pfeife paffende Tories sind, die das Leben ohne Einkommenssteuer genießen.«

  »Und dem ist nicht so?«

  »Nicht im Entferntesten. Wo ist die Bedienung? Ah, Stella, meine Liebe, ein Pint Smithwick's, bitte. Wo war ich? Ach ja, Exil. Wenn die Regierung bei der nächsten Wahl wirklich unsere Stimmen mitzählen wollte, dann würden sie es verdammt bedauern. Die meisten von uns fühlen sich wie Verbannte. Unsere Fähigkeiten scheinen für niemanden zu Hause von Wert zu sein. Hier ist es auch nicht leicht, einen Job zu kriegen, aber es ist wenigstens möglich. Und hier wird man gut bezahlt. Aber ich für meinen Teil wäre völlig zufrieden, wenn ich die gleiche Arbeit zu Hause für weniger Geld machen könnte. Kaum ein Tag geht vorüber, ohne dass ich daran denke, zurückzugehen.«

  »Wie war das bei Bernie?«

  »Er war genauso schlimm wie Glen, wenn nicht noch schlimmer«, sagte Barry. »Auf jeden Fall in letzter Zeit. Voller Nostalgie. Eigentlich wollen sie in eine Zeitmaschine steigen und nicht nur über den Atlantik fliegen. Wir alle aus den geburtenstarken Jahrgängen werden wehmütig, wenn es um alte Zeiten geht. Deshalb ziehen wir die Beatles auch Duran Duran vor.«

  Banks mochte die Beatles auch lieber als Duran Duran, eine Gruppe, für die ihn sein Sohn Brian ein-, zweimal begeistern wollte, bevor er sich auf etwas Neues gestürzt hatte. Er glaubte, seine Abneigung wäre in der Qualität der Musik begründet, doch vielleicht hatte Barry Clark recht, und es war vor allem eine nostalgische Angelegenheit. Sein eigener Vater war ja genauso gewesen, erinnerte er sich, und hatte immer von Glenn Miller, Nat Gonella und Harry Roy angefangen, als Banks Elvis Presley, The Shadows und Billy Fury hören wollte.

  »Je länger man weg ist, desto mehr idealisiert man die Vorstellung von Heimat«, fuhr Barry fort, während seine Blicke durch das Lokal wanderten. Mittlerweile war es sehr voll und laut. Die Leute standen in drei Reihen vor der Theke. Jack, so sah Banks, hatte Gesellschaft von einer kleinen, schönen Frau mit kurzen, dunklen und glatten Haaren bekommen. Der Mann aus Lancashire und seine Freunde waren verschwunden.

  »Was die Leute natürlich nicht realisieren, ist, dass sich das Land bis zur Unkenntlichkeit verändert hat«, fuhr Barry fort. »Mittlerweile wären wir dort Fremde, und doch bedeutet Heimat für uns immer noch die Weihnachtsbotschaft der Königin, das letzte Promenadenkonzert, der Derby Day, das Testmatch bei Lords, das Fußballpokalfinale und - ohne Scheiß! - laubige Feldwege und eine grüne, liebliche Landschaft. Mein Gott, selbst die finsteren, teuflischen Fabriken versprühen für heimwehkranke Auswanderer auf eine Art den Reiz der Alten Welt.«

  »Verdammt richtig«, sagte Glen. »Ich würde in einer beschissenen Wollfabrik in Bingley arbeiten, nur um wieder zu Hause zu sein. Na ja, vielleicht ... Das ist die Schwermut der Verbannung, verstehen Sie, Chief Inspector? Die Literatur ist voll davon. Besonders die irische.«

  Allmählich begann Banks zu verstehen, was Jack meinte.

  »Bernie war ganz genauso«, sagte Ian. »Sie hätten ihn hören sollen, wie er von Yorkshire geschwärmt hat. Die verdammten Dales hier, die verdammten Dales da. Man glaubte, er würde vom Paradies sprechen. Mich werden Sie nie dazu kriegen, zurückzugehen und wieder dort mein Dasein zu fristen. Was mich betrifft, kann man in Kanada phantastisch leben.«

  »Du machst auch in Immobilien«, sagte Glen. »Du verdienst dir eine goldene Nase. Interessierst du dich nur für die materiellen Dinge? Was ist mit deiner Seele, deinen Wurzeln?«

  »Hör auf, Glen. Das wird langsam langweilig.«

  »Wenn er drüben einen Job gefunden hätte«, fragte Banks, »glauben Sie, er wäre zurückgegangen?«

  »Sofort«, antwortete Ian. Die anderen stimmten ihm zu.

  »Hat er jemals erwähnt, dass er einen Job in Aussicht hätte?«

  »Er hat was davon gesagt, es gäbe eine Möglichkeit, zurückzukehren«, sagte Glen. »Glücklicher Hund. Aber ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte oder nicht.«

  »Was war das für eine Möglichkeit?«

  »Hat er nicht gesagt. Anscheinend was streng Geheimes.«

  »Warum?«

  Glen kratzte seine Schulter und versuchte, sein verschwitztes Hemd von den Achseln zu lösen. »Keine Ahnung. Es war in einer von diesen Nächten, als wir ein paar zu viel intus hatten, wenn Sie wissen, was ich meine. Bernie erzählte etwas von einem Plan, wie er wieder in die Heimat zurückkehren könnte.«

  »Aber er hat keine Einzelheiten erzählt?«

  »Nein. Er wollte es uns sagen, wenn er aus England zurückkam.«

  »Hat er einen Job erwähnt?«

  »Nicht ausdrücklich, nein. Nur eine Möglichkeit zur Rückkehr. Ich hab aber angenommen, dass es sich um ein vages Jobangebot handelte. Wie sollte er sich sonst durchschlagen?«

  »Wie sehr hing er am Lehrerberuf?«

  »Bis zu einem gewissen Grad mochte er ihn«, antwortete Glen. »Er war gut darin. Er hätte an der Universität lehren sollen. Gut genug war er, aber es gab nicht ausreichend Stellen. Aber wie die meisten von uns hasste er die Bedingungen, unter denen er arbeiten musste, und er verachtete die mutwillige Ignoranz der Studenten. Sie wissen nichts und wollen auch nichts wissen, es sei denn, es passiert im Baseballstadion oder auf Video. Von uns wird erwartet, ihnen das Wissen löffelweise zu verabreichen und sie dann zu bitten, es in einem Test wieder rauszuwürgen. Dafür sollen sie eine Eins plus kriegen, ganz egal, wie miserabel ihr Gekritzel oder wie ungenau ihre Antworten sind. Ich könnte noch viel mehr ...«

  »Das machst du immer«, schnitt ihm Barry das Wort ab, »aber ich glaube nicht, dass Mr Banks es hören will.«

  Banks lächelte. »Ehrlich gesagt, läuft mir die Zeit davon«, sagte er. »Ich muss Julie so schnell wie möglich finden. Wissen Sie, wo sie wohnt?«

  »Nein«, sagte Ian. »Sie kommt einfach freitags nach der Arbeit auf ein paar Drinks rein.«

  »Ich glaube, sie muss irgendwo in der Nähe wohnen«, meinte Barry. »Sie hat mal davon erzählt, wie sie sich in Kew Gardens gesonnt hat.«

  »Haben Sie eine Ahnung, wie sie mit Nachnamen heißt?«

  »Culver, oder?«, sagte Barry. »Oder Cleaver, Carver oder so ähnlich.«

  Die anderen wussten es auch nicht besser.

  »Wissen Sie, wo sie arbeitet?«

  »In einem dieser Türme Ecke King und Bay«, antwortete Ian. »Im TD Centre oder First Canadian Place. Sie klagt immer über die Lifte, in denen sie so einen komischen Druck auf die Ohren kriegt.«

  »Eine große Hilfe«, sagte Glen. »Weißt du, wie viele Firmen in diesen Türmen sitzen?«

  Ian zuckte mit den Achseln. »Tja, mehr weiß ich nicht. Was ist mit euch?«

  Glen und Barry schüttelten beide den Kopf.

  »Aber sie wird morgen um sechs hier sein«, sagte Barry. »Bisher kam sie noch jede Woche.«

  »Gut. Sie könnten mir einen Gefallen tun. Wenn sie früher auftaucht oder ich zu spät komme, dann sagen Sie ihr bitte nicht, dass ich sie treffen möchte. Das könnte sie verscheuchen. Sie wissen ja, wie manche Leute auf die Polizei reagieren.«

  »Sind Sie sicher, dass Sie nichts gegen Julie vorliegen haben?«, wollte Glen misstrauisch wissen.

  »Ich brauche nur Informationen. Das ist alles.«

  »In Ordnung«, willigte Glen ein. »Wenn es hilft, Bernies Mörder zu schnappen, machen wir, was Sie wollen.« Er hielt einen Moment inne, um sein Glas auf einen Toast zu erheben. »Etwas Gutes hat das ja alles. Immerhin ist Bernie dort gestorben, wo er leben wollte.«

  »Ja«, sagte Banks. »Das ist wahr.«

  Und sie tranken darauf, dort zu sterben, wo sie leben wollten.