»Was ist das?«, fragte Banks und untersuchte den ausgebleichten Papierstreifen, den Sergeant Hatchley vor ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte.
»Die Techniker sagen, es sei irgendeine Kassenquittung«, erklärte Hatchley. »Einer von diesen Belegen, die man bekommt, wenn man etwas kauft. Die Leute werfen sie normalerweise gleich wieder fort oder stopfen sie in eine Tasche und denken nicht mehr daran. Den Papierstreifen haben sie in seiner rechten Hosentasche gefunden. Er steckte da lange genug, um ein, zwei Waschgänge mitzumachen, aber Sie wissen ja, was für verdammte Genies im Labor arbeiten.«
Banks wusste es. Er hatte nur wenig Vertrauen in die Kriminaltechnik als Mittel, Kriminelle zu schnappen, aber in Sachen Identifikation und Zusammentragen von Beweismaterial wussten die Schlaumeier Bescheid. Ihr Labor lag außerhalb von Wetherby, und wenn die Ergebnisse so schnell zurück nach Eastvale kamen, musste Gristhorpe diesen Fall als besonders eilig eingestuft haben. Die Leiche war erst am vorangegangenen Nachmittag entdeckt worden und weichte immer noch im Lysolbad ein. Banks schaute sich den Streifen noch einmal genau an, dann nahm er sich die beiliegende Abschrift vor. Das Original konnte man nicht mehr lesen, aber die Techniker hatten es mit Chemikalien behandelt und den Inhalt genauestens kopiert:
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»Wendy's«, sagte Banks. »Das ist eine Schnellimbisskette. In London gibt es ein paar Filialen. Aber sehen Sie sich mal die Preise an.«
Hatchley zuckte mit den Achseln. »Wenn es in London war ...«
»Ich bitte Sie! Selbst in London zahlt man nicht zwei Pfund neunundsechzig für einen verdammten Burger. Auf jeden Fall nicht bei Wendy's. Man legt auch nicht fünfundachtzig Penny für eine Cola hin. Was ist das für ein Steuersatz?«
Hatchley holte seinen Taschenrechner hervor und mühte sich mit der Rechnung ab. »Acht Prozent«, verkündete er schließlich.
»Hmm. Seltsamer Satz. In England zahlt man keine acht Prozent Steuern auf Lebensmittel.«
»Ich nehme an, es ist eine amerikanische Firma«, meinte Hatchley, »wenn sie Hamburger verkaufen?«
»Sie meinen, unser Mann ist Amerikaner?«
»Oder er ist gerade von einer Reise von dort zurückgekommen.«
»Könnte sein. Aber dann wäre es ein bisschen schnell, schon wieder Urlaub zu machen, oder? Es sei denn, er war Geschäftsmann. Was ist mit den Etiketten seiner Kleidung?«
»Abgetrennt«, sagte Hatchley. »Hose und Unterhose scheinen beliebige Allerweltsfabrikate zu sein. Baumwolle, Polyester. Das Hemd auch. Die Stiefel stammen aus Armeebeständen. Sie können in jedem beliebigen Armyshop gekauft worden sein.«
Banks trommelte mit seinem Kugelschreiber auf die Schreibtischkante. »Warum will jemand nicht, dass wir wissen, wer er ist und woher er kommt?«
»Vielleicht, weil wir sonst eine Ahnung vom Mörder hätten.«
»Je schneller wir also die Leiche identifizieren, desto größer sind unsere Chancen. Wer auch immer es getan hat, er hat offensichtlich nicht damit gerechnet, dass sie in den nächsten Monaten gefunden wird, und dann wäre sie nicht mehr zu identifizieren gewesen.« Banks schlürfte etwas lauwarmen Kaffee und verzog das Gesicht. »Aber wir haben eine Spur.« Er tippte auf die Quittung. »Ich will wissen, wo sich diese Wendy's-Filiale befindet. Das sollte Sie nicht viel Zeit kosten. Da steht ein Ladencode, mit dem man anfangen kann.«
»An wen wende ich mich für solche Informationen?«, fragte Hatchley.
»Verflixt und zugenäht!«, sagte Banks. »Sie sind Ermittler. Zumindest hoffe ich das. Also fangen Sie an zu ermitteln. Ich schlage vor, Sie rufen die britische Geschäftsstelle von Wendy's an. Es wird ein paar Tage dauern, bis wir irgendwas von Glendenning und Vic Manson kriegen, also lassen Sie uns die Zeit bis dahin nutzen. Hat Richmond bei den Vermisstenmeldungen was rausgekriegt?«
»Nein, Sir.«
»Wenn ihn niemand als vermisst gemeldet hat, wähnt man ihn vielleicht noch immer auf Urlaub. Und wenn er kein Engländer ist, kann es eine Ewigkeit dauern, bis er in den Akten auftaucht. Überprüfen Sie die Hotels und Gasthäuser in der Gegend und schauen Sie, ob irgendwelche Amerikaner in der letzten Zeit gemeldet wurden. Wenn ja, versuchen Sie sie aufzuspüren.«
Wieder entlassen, ging Hatchley los, um Richmond zu suchen, auf den er, wie Banks wusste, so viel Last übertragen würde wie möglich. Aber ihm war auch klar, dass der Sergeant solide Arbeit leistete, sobald er erst einmal in Schwung kam. Außerdem würde der Druck als Test für Richmonds Ausdauer dienen.
Seit er seinen Computerkurs mit Bravour abgeschlossen hatte, schien der junge Polizist bereit zur Beförderung zu sein. Das würde allerdings Probleme mit Hatchley geben. Von dem Sergeant zu erwarten, Richmond als gleichrangigen Kollegen zu akzeptieren, hielt Banks für aussichtslos. Es war schon schwierig genug, als Banks aus der Hauptstadt kam und den Posten bekam, den Hatchley anstrebte. Es war wohl Hatchleys Schicksal, Sergeant zu bleiben, ihm fehlten im Gegensatz zu Richmond die besonderen Fähigkeiten zu einem Inspector.
Dankbar, dass die Beförderung nicht von seiner Entscheidung abhing, schaute Banks auf seine Uhr und ging hinaus zu seinem Wagen. In Swainshead wartete Neil Fellowes, der arme Tropf hatte sich bereits um einen weiteren arbeitsfreien Tag bemühen müssen.
Als er durch das Tal fuhr, wunderte sich Banks, wie vertraut ihm Teile der Landschaft bereits geworden waren: die kleine Lichtung mit den vier kranken, sich alle nach rechts neigenden Ulmen, ein Bild wie auf einem dieser chinesischen Aquarelle, die Sandra, seine Frau, so gern mochte; die gut sichtbar auf einer grünen Anhöhe liegenden Fundamente eines römischen Forts im verschlafenen Dorf Fortford; die belebte Hauptstraße von Helmthorpe, dem größten Dorf von Swainsdale; und über Helmthorpe die langgezogene Kalksteinkante Crow Scar, die in der Sonne schimmerte.
Die Kinks sangen Lola, und Banks trommelte beim Fahren mit seinen Fingern im Takt zur Musik aufs Lenkrad. Obwohl er Sandra gegenüber behauptete, immer noch die Oper zu lieben, hatte er sehr zu ihrer Freude in letzter Zeit keine gehört. Ihr gefiel seine neue Vorliebe für den Blues. Im Moment schien er sich in einer nostalgischen Phase zu befinden und hörte die Musik, die er während seiner letzten Schuljahre und seiner Anfangszeit auf der Technischen Hochschule in London bevorzugt hatte, in diesen idyllischen, glücklichen Tagen, als er noch nicht wusste, was er mit seinem Leben anstellen sollte, und sich keinerlei Sorgen machte.
Außerdem hatte er damals Sandra kennengelernt, und durch die Musik fühlte er sich in diese Zeit zurückversetzt: Winterabende in seiner zugigen Bude in Notting Hill, wo sie billigen Wein tranken, sich liebten und die Musik von John Martyn oder Nick Drake hörten; sommerliche Bootsausflüge und Picknicks im Greenwich Park, wo sie unterhalb der Sternwarte in der Sonne lagen und hinab auf den funkelnden Palast, die Themse und London schauten, während im Kofferradio die Beatles, Donovan, Bob Dylan und die Rolling Stones spielten und sangen ... Alle mittlerweile verschwunden, oder fast alle. Er hatte das Interesse an Popmusik verloren, kurz nachdem sich die Beatles aufgelöst und die Glitterbands in den frühen Siebzigern die Szene erobert hatten. Die alten Songs aber lösten bei ihm immer noch den gleichen Zauber aus.
Er zündete sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster runter. Ein gutes Gefühl, wieder eigener Herr im eigenen Wagen zu sein. Sosehr er den Superintendent auch mochte, Banks war froh, dass Gristhorpe sich wieder in seine normale Rolle als Planer und Koordinator zurückgezogen hatte. Jetzt konnte er beim Fahren wieder rauchen und Musik hören.
Noch wichtiger aber war, dass er gern allein arbeitete und das Gefühl nicht ertrug, dass ihm ständig jemand auf die Finger sah. Mit Hatchley und Richmond zurechtzukommen war kein Problem, aber wenn der Superintendent die Ermittlungen vor Ort leitete, war es schwer, sich nicht dauernd unter Beobachtung zu fühlen. Zu viele Chefs - das war auch ein weiterer Grund gewesen, aus London wegzugehen und, nach einem Vorgespräch mit Superintendent Gristhorpe über dessen Führungsmethoden, seine Hoffnung auf die Stelle in Eastvale zu verlegen.
An der Abzweigung nach Swainshead bog Banks nach rechts und parkte seinen Wagen in einer Haltebucht vor dem White Rose. Als er die Brücke überquerte, brachen die alten Männer ihre Unterhaltung ab, und während er auf das Gästehaus der Greenocks zuging, spürte er, wie ihre Blicke Löcher in seinen Rücken bohrten.
Obwohl die Tür offen war, drückte er auf die Klingel. Eine junge Frau kam herangeeilt. Sie hatte den grazilen Körper einer Tänzerin und wirkte in ihren Bewegungen liebenswert verlegen und befangen auf Banks, was sie nur noch anziehender machte. Sie stand vor ihm, trocknete sich die Hände an ihrer Schürze und errötete.
»Entschuldigung«, sagte sie mit sanfter Stimme, »ich habe gerade gewaschen. Bitte kommen Sie herein.«
Ihr Tonfall war typisch für Yorkshire, er klang jedoch nicht nach der in Swainsdale verbreiteten Mundart. Aber nach welcher dann, konnte Banks auch nicht sagen.
Ihre Augen waren braun - so braun wie das Sonnenlicht, wenn es durch ein Glas dunkles Bier hindurchscheint, dachte Banks und amüsierte sich darüber, wie heimisch er bereits in Yorkshire geworden sein musste, dass er derart dreist Bier und Schönheit in einen Topf warf. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, einzelne Strähnen fielen auf ihren blassen Hals und die Ohren. Sie war ungeschminkt, ihre helle Haut war ganz eben und weich, ihre Lippen voll und auch ohne Lippenstift erdbeerrot. Das Grübchen zwischen Unterlippe und Kinn ließ ihren Mund aussehen, als wollte er gleichzeitig schmollen und zu einem Lächeln ansetzen.
Katie, so stellte sie sich ihm vor, führte ihn in die Diele, die nach Zitronenduft und Möbelpolitur roch und so sauber und aufgeräumt war, wie es sich für ein gutes Gästehaus gehörte. Neil Fellowes erwarte ihn in Zimmer Nummer fünf, sagte sie und verschwand mit gesenktem Haupt in den hinteren Teil des Hauses, wo Banks den privaten Wohnbereich der Greenocks vermutete.
Über einen dickflorigen, burgunderroten Teppich stieg er nach oben, fand das Zimmer und klopfte.
Fellowes öffnete augenblicklich, so als hätte er auf der anderen Seite schon die ganze Zeit den Türknauf in der Hand gehabt. Er machte einen wesentlich besseren Eindruck als am Vortag. Die wenigen verbliebenen farblosen Haarsträhnen waren ordentlich über den kahlen Kopf gekämmt, eine metallgerahmte Brille mit dicken Gläsern saß auf dem Huckel seines Nasenbeins.
»Kommen Sie bitte herein, äh ...«
Banks stellte sich vor.
»Ja, kommen Sie herein, Chief Inspector.«
Fellowes war offensichtlich jemand, der Rang und Titel respektierte. Die meisten Leute nannten Banks automatisch »Inspector«, manche zogen das einfache »Mr« vor, und andere bedachten ihn mit weitaus schlimmeren Titulierungen.
Banks schaute aus dem Fenster auf die breiten Grasstreifen beiderseits des Swain. Jenseits der Häuser und des Pubs erhob sich der schroffe Klotz von einem Berg. Er sah aus wie ein schlafender Elefant, dachte er in Erinnerung einer Passage von Wainwright, dem Bergwanderexperten. Oder war es ein Wal? »Hübscher Ausblick«, sagte er und setzte sich in den Korbstuhl am Fenster.
»Ja«, pflichtete ihm Fellowes bei. »Es ist ganz egal, auf welcher Seite des Hauses man wohnt. Von der anderen Seite schaut man auf den Swainshead-Berg und von hier auf den Adamsberg.«
»Adamsberg?«
Fellowes rückte seine Brille zurecht und räusperte sich. »Ja. Nach Adam und Eva. Die Einheimischen haben Sinn für Humor - auf ihre Art.«
»Kommen Sie häufiger in diese Gegend, Mr Fellowes?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich erforsche nur gerne das Terrain, wenn man so sagen will, bevor ich wieder abreise. Übrigens, Chief Inspector, ich möchte mich in aller Form für gestern entschuldigen. Diese ... diese Leiche zu finden, war ein herber Schock, und ich rühre sonst keinen Alkohol an, aus Prinzip - Tabak auch nicht, sollte ich vielleicht hinzufügen. Der Brandy war einfach, nun ja, angebracht in der Situation. Ich hätte selbst gar nicht daran gedacht, aber Mr Greenock war so freundlich ...« Er wurde langsamer und stoppte wie ein altes Grammophon, das man erst wieder aufziehen muss.
Banks, der Fellowes' Abstinenzerklärung nicht überhört hatte und die Zigarettenschachtel, mit der er in seiner Tasche gespielt hatte, wieder losließ, lächelte und gab ein paar tröstende Floskeln von sich. Innerlich stöhnte er auf. Für seinen Geschmack wurde die Welt allmählich mit Nichtrauchern übervölkert, und bisher hatte er es noch nicht geschafft, sich auf ihre Seite zu schlagen. Vielleicht sollte er mal wieder die Marke wechseln. Er hatte sowieso genug von Silk Cut. Er holte sein Notizbuch hervor und fuhr fort.
»Was genau hat Sie dazu veranlasst, dieses Nebental aufzusuchen?«, fragte er.
»Es sah einfach so einladend aus«, antwortete Fellowes. »Ganz eigen.«
»Sind Sie jemals vorher dort gewesen?«
»Nein.«
»Wussten Sie von diesem Tal?«
»Nein. In meinem Reiseführer wird es nicht erwähnt.« Fellowes zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, in regionalen Führern wird man es finden. Ich weiß es wirklich nicht. Jeder kann dort hinwandern. Selbstverständlich ist es in den Landkarten eingezeichnet, aber es wird nicht besonders hervorgehoben.«
»Aber Sie mussten einen ziemlichen Umweg machen, um vom Pfad dorthin zu gelangen.«
»Ja schon, aber ich würde kaum sagen, dass es eine weite Strecke ist.«
»Kommt drauf an, in welcher Form man ist«, sagte Banks lächelnd. »Sie dachten sich auf jeden Fall, es wäre die Sache wert?«
»Ich interessiere mich für seltene Blumen, Chief Inspector. Ich dachte, ich würde vielleicht etwas Interessantes entdecken.«
»Wann sind Sie in Swainshead angekommen?«
»Vor drei Tagen. Ein Kurzurlaub. Ich hebe mir den größten Teil meines Urlaubes für eine Radtour durch die Provence im Herbst auf.«
»Ich hoffe, Sie haben dort nicht so eine grauenhafte Zeit wie hier«, sagte Banks. »Gibt es sonst noch etwas, was Ihnen zum Fundort oder zur Sache einfällt?«
»Es war alles so verschwommen. Zuerst habe ich die Orchidee gesehen, dann den furchtbaren Geruch wahrgenommen und ... nein. Ich hab mich sofort weggedreht und bin so schnell ich konnte zurückgelaufen ... nachdem ich mich mit dem Bachwasser frisch gemacht hatte.«
»Sonst war niemand im Tal?«
»Mir ist jedenfalls niemand aufgefallen.«
»Sie hatten nicht das Gefühl, verfolgt zu werden, beobachtet?«
»Nein.«
»Und Sie haben in der Umgebung der Leiche nichts gefunden? Irgendetwas, was Ihnen nicht wichtig erschien und Sie eingesteckt und vergessen haben?«
»Nichts, Chief Inspector. Glauben Sie mir, das Gefühl des Ekels überkam mich plötzlich und hat mich völlig überwältigt.«
»Natürlich. Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, bevor Sie die Leiche fanden?«
»Was meinen Sie?«
»Der Rucksack des Opfers wird vermisst. Wir gehen davon aus, dass er seine Sachen mit sich getragen haben muss, aber wir können sie nicht finden. Haben Sie irgendwelche Anzeichen bemerkt, dass etwas vergraben, verbrannt oder zerstört worden ist?«
»Tut mir leid, Chief Inspector, aber ich habe nichts dergleichen bemerkt.«
»Irgendeine Ahnung, wer das Opfer war?«
Fellowes' Augen weiteten sich. »Wie könnte ich? Sie haben doch selbst gesehen, wie ... wie ...«
»Ich weiß, in welchem Zustand die Leiche war. Ich habe mich nur gefragt, ob Ihnen irgendetwas zu Ohren gekommen ist, dass jemand in der Gegend vermisst wird.«
Fellowes schüttelte den Kopf.
Banks schloss sein Notizbuch und steckte es zurück in die Innentasche seines hellblauen Sportjacketts.
»Es gibt da eine Sache«, sagte Fellowes zögernd.
»Ja?«
»Ich möchte niemanden verleumden. Es handelt sich nur um einen sehr unbestimmten Eindruck.«
»Erzählen Sie.«
»Außerdem war ich nicht im Vollbesitz meiner Kräfte. Es war nur so ein Gefühl.«
»Polizisten haben auch solche Gefühle, Mr Fellowes. Wir nennen sie Ahnungen, und sie sind oft sehr wertvoll. Was hatten Sie für ein Gefühl?«
Fellowes beugte sich auf der Bettkante nach vorn und senkte seine Stimme. »Also, Chief Inspector, ich habe erst gestern Nacht im Bett darüber nachgedacht, ein irgendwie quälendes Gefühl, das mich nicht mehr losgelassen hat. Es war im Pub, gleich nachdem ich reinkam und, wie Sie wissen, den anderen erzählt habe, was ich gesehen hatte. Ich saß da am Tisch, völlig außer Atem und durcheinander ...«
»Und was passierte dann?«
»Nichts passierte. Wie ich schon sagte, es war nur so ein Gefühl. Ich habe nicht mal hingeschaut, aber ich hatte den Eindruck, dass da jemand nicht besonders überrascht war.«
»Darüber, dass Sie eine Leiche gefunden hatten?«
»Genau.«
»Das war alles?«
Fellowes nahm die Brille ab und rieb seinen Nasenrücken. Banks fiel auf, wie klein seine Augen ohne die vergrößernden Gläser aussahen. »Nicht ganz«, fuhr Fellowes fort. »Ich habe in dem Moment nicht hingeschaut, aber ich spürte eine seltsame Stille, so eine Stille, in der Blicke ausgetauscht werden. Einen Augenblick lang entstand eine unangenehme Pause, obwohl ich zu beschäftigt war, um mich in dem Moment weiter darum zu kümmern. Seit letzter Nacht habe ich häufig darüber nachgedacht, und ich kann zu keinem anderen Schluss kommen: Es war, als hätten ein paar der Leute am Tisch wissende Blicke getauscht.«
»Wer war alles da?«
»Die gleichen Leute, die noch da waren, als Sie ankamen. Hinter der Theke stand der Wirt, und am Tisch saßen Sam Greenock, Stephen und Nicholas Collier und John Fletcher. Ich hatte sie am Tag vorher kennengelernt, als ich mich nach den besten Stellen erkundigte, um nach wilden Blumen zu suchen.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass sie alle an einer Art Verschwörung beteiligt sind?«
»Ich bin nicht paranoid, wenn Sie darauf hinauswollen, Chief Inspector.«
»Aber Sie waren durcheinander. Manchmal kann unser Verstand überreagieren.«
»Glauben Sie, was Sie wollen. Ich dachte bloß, Sie sollten es wissen. Und um auf Ihre Frage zu antworten, nein, ich habe nichts von einer gigantischen Verschwörung gespürt, sondern nur, dass irgendjemand am Tisch Bescheid wusste.«
»Aber Sie sagten, es sei Ihnen so vorgekommen, als wären Blicke ausgetauscht worden.«
»Das war mein Gefühl.«
»Also wusste mehr als eine Person Bescheid?«
»Das nehme ich an. Ich kann nicht sagen, wie viele, auch nicht, woher mein Eindruck kam. Er war einfach da.«
Banks holte wieder sein Notizbuch hervor und schrieb sich die Namen auf.
»Ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen«, sagte Fellowes. »Ich kann mich irren. Vielleicht war es so, wie Sie sagten, eine Überreaktion.«
»Lassen Sie das unsere Sorge sein, Mr Fellowes. Wir verlangen von den Leuten normalerweise nicht, vor Gericht auf ihre Gefühle zu schwören. Ist das alles, was Sie mir sagen können?«
»Ja. Kann ich denn nun wieder nach Hause? Ich kriege Ärger in der Firma, wenn ich morgen nicht zurück bin.«
»Geben Sie mir besser Ihre Adresse und Telefonnummer, falls wir noch einmal mit Ihnen sprechen müssen«, sagte Banks.
Er notierte sich Fellowes' Adresse, verabschiedete sich und dachte beim Hinausgehen, welche Berühmtheit der Mann in seiner Firma für eine Weile sein wird. Ohne Katie Greenock noch einmal zu sehen, ging er durch die offene Tür hinaus und atmete die frische Luft am Bach ein. Ein junger Mann ließ seine Beine über die Uferböschung baumeln, aß ein in Butterbrotpapier eingewickeltes Sandwich und las ein dickes Taschenbuch. Die alten Männer standen immer noch am östlichen Ende der Steinbrücke zusammen. Vor dem White Rose waren drei Autos geparkt. Banks schaute auf seine Uhr: zwanzig nach eins. Mit ein bisschen Glück würden die gleichen Leute wie gestern da sein. Er überflog noch einmal die Namen, die Fellowes ihm gegeben hatte, und beschloss, endlich aus den Startlöchern zu kommen.
Eins nach dem anderen, dachte Banks und ging erst einmal zur Theke. Er bestellte Cumberlandwurst, Bohnen und Pommes frites, zahlte dann, nahm seine nummerierte Quittung und wartete, während ihm Freddie Metcalfe ein Pint Pedigree zapfte.
»Schon was rausgekriegt?«, fragte Metcalfe. Sein Bizeps wölbte sich, als er den Zapfhahn herunterzog.
»Wir sind noch am Anfang«, antwortete Banks.
»Letztes Mal ham'se auch am Ende nichts rausgefunden.«
»So ist das eben manchmal. Ich war damals noch nicht hier.«
»Glaubste, du bist besser als der alte Gristhorpe?«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Aus'm Süden, oder?«
»Ja. London.«
»London.« Metcalfe stellte das überschäumende Glas auf den Lappen vor Banks und kratzte sein haariges Ohr. »War mal da. Voller Ausländer. Araber.«
»Ein bevölkerter Ort«, sagte Banks und nahm sein Bier.
»Hier gibt's nich viele von denen. Ausländer, mein ich. Deswegen biste hier hergekommen, um die Araber loszuwerden, hä? In Bradford gibt's 'ne Menge Pakis, aber in Swainshead hab ich noch nie 'n Schwatten gesehn. Aber in Eastvale bin ich mal einem begegnet.«
Banks, den Metcalfes rassistisches Gerede schnell ermüdete, wollte sich umdrehen, aber der Wirt packte seinen Ellbogen.
»Willste mir nich 'n paar Fragen stellen, Junge?«, sagte er mit funkelnden Augen.
Banks beherrschte sich, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich gegen die Theke. Ihm war aufgefallen, dass die drei Männer, die er vom Vortag wiedererkannte, ihre Biere erst angetrunken hatten, also hatte er genug Zeit, um mit Metcalfe zu plaudern. Vielleicht konnte er ein paar interessante Details aufschnappen.
»Was soll ich Sie denn fragen?«, begann er.
»Hey, wer is'n jetzt hier der Polizist?«
»Kommen viele Wanderer hier rein?«
»Klar. Wir machen nicht so'n Theater wegen den Rucksäcken und dreckigen Stiefeln und was weiß ich wie die hochnäsigen Säcke an der Hauptstraße.«
»Aber so viel ich gehört habe, ist dies der >vornehme< Teil des Ortes.«
»Ja.« Metcalfe lachte. »Das kannste wohl sagen. Der älteste Teil. Und die Colliers trinken hier wie schon ihr Vater. Vornehm, wenn'de willst, aber bodenständig, nich hochnäsig.« Er schüttelte langsam den Kopf. »War ein guter Kerl, dieser Walter Collier.« Dann beugte er sich vor und flüsterte. »Nich so wie seine Söhne, wennde weißt, was ich meine. Können einen Dünnpfiff nich von 'ner Kolik unterscheiden. Und dabei wurden die auch von 'nem Bauern großgezogen.«
Banks, der auch keinen Dünnpfiff von einer Kolik unterscheiden konnte, wollte wissen, warum.
»Bildung«, sagte Metcalfe und betonte das Wort, als wäre es für die meisten Übel der Welt verantwortlich. »Die tolle, beschissene Oxfordbildung. Der alte Walter wollte, dass sie's mal besser ham als er. Als Bauer wirste nich reich, weißte, und Walter war clever genug, selbst was aus sich zu machen.« Metcalfe rümpfte die Nase. »Na ja, siehst ja, was Bildung anstellt.«
»Wie sind die beiden so, Stephen und Nicholas?«, fragte Banks.
Metcalfe rümpfte die Nase und senkte seine Stimme. Ohne Frage genoss er seine Rolle als Übermittler des Dorftratsches. »Verdammte Nichtsnutze, wennde mich fragst. Auf jeden Fall Nicholas. Mr Stephen is nich so schlimm. Kommt mehr nach Walter. Frauentyp. Nich dass der andere schwul is oder so.« Metcalfe lachte. »Vor'n paar Jahren gab's Ärger mit'm Dienstmädchen, da war er noch'n junger Kerl und wohnte zu Hause. Hat'se geschwängert, der Nicholas. Natürlich musste der gute Walter die Sache wieder gradebiegen, und ich bin mir sicher, er hat den Jungen ordentlich vertrimmt. Aber eigentlich is Mr Stephen der Frauentyp. Eine nach der anderen.«
»Wie ist denn der Altersunterschied zwischen den beiden?«
»Nur'n paar Jahre. Stephen ist der ältere.«
»Was wurde aus dem Ackerland?«
»Walter hat das meiste verkauft«, sagte Metcalfe, »und den Rest verpachtet. Die Colliers sind immer noch die größten Grundbesitzer im Tal. John Fletcher da drüben hat 'n guten Teil gekauft.« Er deutete mit dem Kinn in die Richtung des Tisches. Da die Männer ihre Biere mittlerweile fast ausgetrunken hatten, hielt Banks den Zeitpunkt für gekommen, sich mit ihnen zu beschäftigen.
»Hast mir immer noch keine richtigen Fragen gestellt«, protestierte Metcalfe.
»Später«, sagte Banks und drehte sich um. »Bevor sie wieder gehen, würde ich jetzt gerne mit diesen Herrschaften hier sprechen.« Von den fraglichen Herren erkannte er Nicholas Collier und Sam Greenock vom Vortag wieder, also musste der dritte John Fletcher sein.
»Sekunde«, sagte Metcalfe, »was ist mit dem Essen?«
Und wie aufs Stichwort kam ein sommersprossiges kleines Mädchen mit Zöpfen aus der Küche und rief: »Nummer fünfundsiebzig! Wurst, Bohnen und Pommes.«
Banks gab ihr seinen Beleg, nahm den Teller und versorgte sich dann an der Theke selbst mit Salz und Pfeffer.
Als er zum Tisch hinüberging, rückten die drei Männer zusammen, kratzten mit den Stuhlbeinen über den gefliesten Boden und machten ihm Platz.
»Was dagegen, wenn ich an Ihrem Tisch esse?«, fragte er.
»Keineswegs. Ist Freddie Ihnen auf die Nerven gefallen, Inspector?«, fragte Nicholas Collier. Sein Lächeln offenbarte sehr unvorteilhaft seine hervorstehenden Zähne, die vom Nikotin verfärbt und so schief wie eine schlecht gebaute Natursteinmauer waren. Sein Dialekt war zwar vom Schulenglisch geglättet, dennoch hörte Banks ihn noch deutlich genug heraus.
»Nein«, sagte er und erwiderte das Lächeln. »Er hat mich nur unterhalten. Er ist schon eine Type.«
»Das kann man wohl sagen. Er steht hinter der Theke, solange ich denken kann.« Nicholas beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Unter uns, ich glaube nicht, dass er viel für Stephen und mich übrig hat. Wie auch immer, haben Sie schon John Fletcher kennengelernt?«
Der gedrungene Mann mit dem Dreitagebart war also tatsächlich der Großbauer John Fletcher. Stephen Collier, so berichtete sein Bruder, war unterwegs in Firmenangelegenheiten.
»Ist das nur ein Privatbesuch, oder wollen Sie uns ein paar Fragen stellen?«, wollte Sam wissen.
»Nur eine«, sagte Banks und spießte ein Stück Wurst auf. »Haben Sie eine Ahnung, wer das war, den wir da oben gefunden haben?«
Nach einer kurzen Pause sagte Nicholas: »Wir haben ziemlich viele Besucher in der Gegend, Inspector. Besonders wenn wir mit so einem herrlichen Frühling gesegnet sind. Soweit ich weiß, wird kein Einheimischer vermisst, also muss es ein Fremder sein. Können Sie das nicht feststellen?«
»Doch«, sagte Banks, »natürlich können wir das. Wir können alle Namen in den Meldebüchern jedes Hotels oder Gasthauses überprüfen und in Erfahrung bringen, wo sich jeder befindet. Aber ich denke, auch Sie wären für alles dankbar, was Ihnen besondere Mühen erspart.«
Collier lachte. »Selbstverständlich. Aber trotzdem, ich habe nicht die geringste Ahnung, wer der Tote sein könnte.«
»Ihr Opfer muss nicht unbedingt durch Swainshead gekommen sein, wissen Sie«, gab Sam zu bedenken. »Er könnte von Süden aus Swaledale oder von noch weiter weg gekommen sein. Sogar aus dem Lake District. Er kann auch von Helmthorpe oder irgendeinem beliebigen anderen Dorf des Tals losgezogen sein. In den meisten gibt es mindestens ein oder zwei Bed-and-BreakfastHäuser.«
»Ich weiß«, sagte Banks. »Glauben Sie mir, wir überprüfen das alles.« Er wendete sich an Fletcher. »Ich habe gehört, dass Sie ein ordentliches Stück Land besitzen.«
»Ja«, sagte Fletcher, wobei sich seine dunklen Augen misstrauisch verengten. »Walter hat es mir verkauft, als er mit der Landwirtschaft aufhörte und in die Nahrungsmittelbranche wechselte.« Er blickte Nicholas an, der nickte. »Weder Nick noch sein Bruder Stephen wollten die Landwirtschaft übernehmen - und Walter wollte das ursprünglich auch nicht, er hatte den Verkauf schon eine Weile vorbereitet -, also bin ich eingestiegen.«
»Und wie kommen Sie zurecht?«
»Ganz gut. Ich weiß nicht, ob Sie was von der Talbewirtschaftung verstehen, Mr Banks, aber es ist ein hartes Leben. Der gute Walter hatte genug davon, und er war einer dieser seltenen Männer in dieser Gegend mit genügend Weitblick, um auszusteigen und etwas aufzubauen, was besser zu ihm passte. Ich werfe keinem Bauern vor, dass er seinen Söhnen ein anderes Leben wünscht. Ich selbst habe keine Familie«, sagte er mit einem harten Zug um die Augen. »Aber ich beschwere mich nicht. Ich komme zurecht - trotz EU und Nationalparkbehörden.«
Banks wendete sich an Nicholas. »Was machen Sie?«
»Ich unterrichte Englisch in Braughtmore, nur die Straße hier weiter. Es ist natürlich nur eine kleine Schule, doch es ist ein Anfang.«
»Aber Sie wohnen nicht dort?«
»Nein, das ist wirklich nicht nötig. Die Schule ist ja ganz in der Nähe. Die Schüler wohnen dort. Sie müssen, es ist so verdammt weit weg von jeder Zivilisation. Wir haben auch Betreuer. Einige der Lehrer wohnen in der Anlage, aber ein paar andere haben sich lieber hier im Dorf niedergelassen. Die Schule liegt nur acht Kilometer nördlich, ziemlich abgeschieden. Eine gute Schule, finde ich. Haben Sie Kinder, Inspector?«
»Ja. Einen Jungen und ein Mädchen.«
»Welche Schule besuchen sie?«
»Die Gesamtschule in Eastvale.«
»Hmmm.« Colliers Mundwinkel zuckten, als wollten sie zu einem spöttischen Lächeln ansetzen.
Banks rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Ihr Bruder leitet das Familiengeschäft, nehme ich an.«
»Genau. Leitender Direktor des Collier-Nahrungsmittelunternehmens. Es befindet sich an der Grenze zu Lancashire, ungefähr fünfzehn Kilometer westlich, genau an der Hauptstraße. Die Rollenverteilung entspricht uns bestens. Trotz der vorzüglichen Ausbildung, die er genossen hat, hatte Stephen nie große akademische Ambitionen. Aber er ist intelligent und setzt seinen Verstand für einen guten Zweck ein - zum Geldmachen. Die alte Mühle zu kaufen und ein Unternehmen zur Produktion von Nahrungsmitteln aufzuziehen, war eine von Vaters klügsten Entscheidungen. Und was mich betrifft, ich bin zufrieden mit meinen Büchern und ein paar formbaren jungen Geistern, mit denen ich arbeiten kann.« Erneut bleckte er lächelnd seine Zähne.
Alle hatten ihre Gläser ausgetrunken, und Banks fragte sich, wie er das Thema vorsichtig wieder auf den Mord lenken konnte, als Fletcher aufstand und sich entschuldigte. Sofort sahen die anderen auf ihre Uhren und gaben an, gehen und sich um verschiedene Aufgaben kümmern zu müssen.
»Sonst war nichts mehr, oder, Inspector?«, fragte Nicholas.
»Nein«, sagte Banks. »Im Moment nicht.«
Als Banks seine Zigarette ausdrückte, schlenderte Freddie Metcalfe zum Tisch hinüber und räumte den Teller und die leeren Gläser ab.
»Schon was rausgefunden?«, fragte er.
»Nein«, sagte Banks und stand auf. »Nichts.«
»Noch am Anfang, wie?«
Ein tiefes, glucksendes Lachen folgte Banks hinaus auf die Straße.
Im Präsidium in Eastvale war alles ruhig. Banks nahm sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten und ging die Treppen hinauf in sein Büro. Der schlichte Raum war mit nichts weiter als ein paar Aktenschränken, einem Schreibtisch aus Metall und einem Kalender mit Landschaftsbildern aus der Gegend eingerichtet. Das Maiblatt zeigte, wie der Fluss Wharfe durch die Kalksteinfelsen des Langstroth-Tales floss. Neben dem Kalender hing erst seit kurzem eine weitere Dekoration: eine zerbrochene Pfeife, die er im Gewühl einer der Schubladen wiederentdeckt hatte. Sie symbolisierte den vergeblichen Versuch, sich ein ländliches Image zuzulegen und sich gleichzeitig die Zigaretten abzugewöhnen, denn er hatte sie schließlich vor mehr als einem Jahr frustriert über den Steadman-Fall an eben diese Wand geschmissen. Jetzt hing sie dort wie ein Exponat konzeptueller Kunst und erinnerte ihn an den törichten Versuch, jemand anderer sein zu wollen, als er war.
Draußen auf dem gepflasterten Marktplatz parkten nur wenige Autos. Durch die Pforten der kleinen normannischen Kirche und der Läden, die in ihre Front hineingebaut zu sein schienen, spazierten Besucher ein und aus. Die goldenen Zeiger auf dem blauen Ziffernblatt der Uhr standen auf halb vier. Wie so oft betrachtete Banks diese Szenerie dort unten, rauchte dabei eine Zigarette und schlürfte seinen Kaffee. Das Polizeipräsidium selbst war ein Gebäude mit Fachwerkfassade an der schmalen Market Street gegenüber dem Queen's Arms, das sich um die Ecke herum erstreckte, so dass einer der Eingänge am Marktplatz direkt gegenüber der Kirche lag. Wenn er nach rechts sah, konnte Banks die Straße hinabschauen, in der es Kaffeehäuser, Boutiquen und Spezialitätenläden gab. Geradeaus lag der belebte Platz, auf der gegenüberliegenden Seite die NatWest-Bank, das El Toro Café und der Zeitungshändler Joplin.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Sergeant Hatchley kam herein und blickte selbstzufrieden drein. Wenn er aufgeregt war, bewegte er sich schneller als gewöhnlich und schien nicht stillstehen zu können. Banks kannte diese Anzeichen mittlerweile.
»Ich habe es ausfindig gemacht, Sir«, sagte Hatchley. »Die Herkunft dieses Belegs in seiner Tasche.«
Die beiden setzten sich hin, und Banks bat den Sergeant fortzufahren.
»Wie Sie sagten, habe ich mit der Londoner Geschäftsstelle telefoniert. Die wollten es dort nachprüfen und sich dann wieder bei mir melden. Auf jeden Fall haben sie herausgefunden, dass die fragliche Filiale in Kanada ist.«
»Also ist unser Mann Kanadier?«
»Sieht so aus, Sir. Es sei denn - ich habe es vorher schon erwähnt -, er war dort nur im Urlaub. Wie auch immer, wenigstens wissen wir jetzt, dass es da eine enge Verbindung gibt.«
»Sonst noch was?«
»Ja. Nachdem der Kerl von Wendy's entdeckt hat, dass die Quittung aus Kanada ist, war er sehr hilfsbereit.«
Solche Hilfsbereitschaft war eine ziemlich geläufige Erscheinung, Banks kannte das aus seiner eigenen Erfahrung. Er hatte sogar einen Begriff dafür erfunden: das Amateur-Spürhund-Syndrom.
»Die fragliche Filiale befindet sich in Toronto an der Yonge Street, in der Nähe der Dundas Street, falls Ihnen das was sagt.«
Banks schüttelte den Kopf. »Bin nie über den Teich gewesen. Sie?«
Hatchley knurrte. »Ich? Ich war nie weiter westlich als Blackpool. Aber auf jeden Fall engt das die Angelegenheit ganz schön ein, würde ich sagen.«
»Das tut es«, stimmte Banks ihm zu. »Aber es sagt uns noch nicht, wer er war.«
»Ich habe mich an das Kanadische Hochkommissariat gewendet und den Kerl dort gebeten, nachzuprüfen, ob jemand aus Toronto hier kürzlich als vermisst gemeldet wurde, aber Fehlanzeige.«
»Noch zu früh, nehme ich an. Wenn er aus Toronto ist, dann wird ihn dort noch jeder im Urlaub vermuten.«
»Ja, aber das wird nicht ewig dauern.«
»Wir haben aber auch nicht ewig Zeit. Wer weiß, er könnte Student gewesen und für den ganzen verdammten Sommer rübergekommen sein. Wie kommt Richmond voran?«
»Er hat schon einige Orte durch - Lyndgarth, Relton, Helmthorpe, Gratly.«
»Gut, seine Aufgabe sollte jetzt ein bisschen einfacher sein, wo wir wissen, dass wir einen Kanadier suchen.«
»Es gibt nur wenige Kanadier, die hier unterkommen«, sagte Hatchley. »Es ist kein Problem, die Pensionen anzurufen und ihre Gästelisten zu überprüfen, aber es ist verdammt schwer, die Wege der Leute nachzuvollziehen, nachdem sie abgereist sind. Normalerweise hinterlassen sie keine Nachsendeadressen, und nur sehr selten kann uns eine Wirtin sagen, wo sie als Nächstes hinreisen wollen.«
»So viele Männer aus Toronto, die allein reisen, kann es nicht geben«, sagte Banks. »Wenn er mit einer Gruppe oder Familie gereist wäre, bin ich mir sicher, dass man ihn mittlerweile schon als vermisst gemeldet hätte. Bleiben Sie da dran. Immerhin haben Sie unsere Suche beträchtlich vorangebracht. Haben Sie schon was von Dr. Glendenning gehört?«
»Der Superintendent hat ihn vor einer Weile angerufen. Er vernichtet noch diese verdammten Maden im Desinfektionsbad. Vor morgen in aller Frühe wird er nicht loslegen können, sagt er.«
Banks seufzte. »In Ordnung. Helfen Sie jetzt besser Richmond. Und danke, Hatchley, gute Arbeit.«
Hatchley nickte und verließ das Büro. Sie arbeiteten jetzt seit zwei Jahren zusammen, ging es Banks durch den Kopf, und er brachte es immer noch nicht übers Herz, den Sergeant zu duzen. Vielleicht würde er es eines Tages können, wenn ihm Hatchleys Vorname endlich wie selbstverständlich über die Lippen ging. Er zündete sich eine neue Zigarette an und stellte sich wieder ans Fenster, wo er die über den Platz spazierenden Leute beobachtete und einen Zapfenstreich auf das Fensterbrett trommelte.
»Sam ist nicht da«, sagte Katie an diesem Abend, als sie die Hintertür öffnete und Stephen Collier vor sich stehen sah. »Er verbringt den Abend mit seinen alten Kameraden in Leeds.«
»Kann ich nicht trotzdem reinkommen?«, fragte Stephen. »Auf eine Tasse Tee?«
»Na gut«, sagte Katie und führte ihn in die blitzsaubere Küche. »Aber nur fünf Minuten. Ich habe noch zu tun.« Sie wendete sich von ihm ab und hantierte mit dem Kessel und der Teekanne. Sie spürte, wie ihr Gesicht glühte. Es war nicht recht, mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann allein in der Wohnung zu sein, selbst wenn es ein so netter war wie Stephen. Er hatte den Ruf eines Schürzenjägers. Jeder wusste das. Vielleicht hatte ihn sogar jemand hereinkommen sehen.
»Nick hat erzählt, dass die Polizei heute hier war«, sagte Stephen.
Katie sah ihn kurz über die Schulter an. »Das war zu erwarten, oder? Einer unserer Gäste hat eine Leiche gefunden.«
»Ist er noch da?«
»Nein. Er ist heute Nachmittag abgereist.«
»Aha«, sagte Stephen. »Ich dachte nur, ich komm mal kurz vorbei und schau, ob bei dir alles in Ordnung ist. Das kann einem ja ganz schön zu schaffen machen, wenn so was sozusagen vor der eigenen Haustür passiert. Hat die Polizei viele Fragen gestellt?«
»Mir nicht, nein. Warum sollten sie?«
»Nur so«, sagte Stephen. »Wie sieht es sonst so aus?«
»Gut, würde ich sagen«, antwortete Katie. Obwohl sie ihn seit mehr als fünf Jahren kannte und wesentlich lieber mochte als seinen Bruder, war Katie vorher eigentlich nie allein mit Stephen Collier gewesen. Meistens hatten sie sich in Gesellschaft getroffen, bei den Gartenpartys, die die Colliers im Sommer gaben, im Pub oder bei gelegentlichen Dinner-Veranstaltungen. Sie mochte Stephen. Er machte einen freundlichen und rücksichtsvollen Eindruck. Bei solchen gesellschaftlichen Anlässen hatte sie oft bemerkt, wie er sie auf eine seltsame Art anschaute. Nicht auf diese Art, nicht so wie Nicholas. Doch sie hatte diese Blicke nie richtig verstanden und sich auch immer gleich abgewandt. Jetzt so allein mit ihm fühlte sie sich schüchtern und verlegen, sie wusste nicht genau, wie sie sich verhalten sollte. Sie brachte den Tee zum Tisch und öffnete eine Dose Kekse.
»Komm schon, Katie«, sagte Stephen. »Du klingst nicht sehr überzeugend.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Doch, das tust du. Ich spüre es doch. Ich habe mich dir von Anfang an auf eine besondere Art verbunden gefühlt. In den letzten paar Monaten habe ich mir Sorgen um dich gemacht.«
»Sorgen? Weshalb?«
»Weil du nicht glücklich bist.«
»Natürlich bin ich glücklich. Das ist doch Blödsinn.«
Stephen seufzte. »Du willst dich mir gegenüber nicht öffnen, oder? Aber du kannst mit mir reden, wenn du willst. Jeder braucht ab und zu jemanden, mit dem er reden kann.«
Katie biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Sie konnte nicht mit ihm reden. Sie konnte mit niemandem über die Dinge reden, die ihr durch den Kopf gingen, über die Sünden, von denen sie träumte, über die Verzweiflung, die sie fühlte. Sie konnte ihm nicht von ihrer einzigen Möglichkeit erzählen, ihrem elenden Leben zu entfliehen, oder davon, was diese Möglichkeit sie bereits gekostet hatte.
»Wie auch immer«, fuhr Stephen fort und nahm einen Keks. »Ich werde vielleicht nicht mehr lange hier sein.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe genug, Katie. Genug von der Firma, dem Haus, dem Dorf. Gott, ich bin fast dreißig. Es wird Zeit, dass ich mal hier rauskomme und etwas von der Welt sehe, bevor ich zu alt dazu bin.«
»A-aber das kannst du nicht«, sagte Katie bestürzt. »Du kannst dich doch nicht so einfach auf und davon machen. Was ist mit -«
Stephen schlug auf den Tisch. »Ach, zum Teufel mit den Verpflichtungen«, sagte er. »Es gibt eine Menge andere, die die Firma leiten wollen und können. Ich werde einen langen Urlaub nehmen und dann vielleicht was anderes versuchen.«
»Warum erzählst du mir das alles?«, wollte Katie wissen.
Als Stephen sie anschaute, bemerkte sie, dass er plötzlich alt aussah, viel älter als seine achtundzwanzig Jahre.
Er fuhr mit der Hand durch seine kurzen, braunen Haare. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich finde, wir sind verwandte Seelen. Du bist der einzige Mensch, dem ich das erzählt habe. Sonst weiß es niemand.«
»Aber dein Bruder ...«
»Nicky? Er würde es nie verstehen. Er interessiert sich nur für seinen Kram. Und glaub ja nicht, ich hätte nicht mitgekriegt, wie er dich anschaut, auch wenn Sam nichts bemerkt hat. Wenn ich du wäre, würde ich mich von ihm fernhalten.«
»Natürlich werde ich das«, sagte Katie und wurde rot. »Was glaubst du denn?«
»Naja, Nicky kann ganz schön überzeugend sein.«
»Was ist mit John?«, fragte Katie. »Oder Sam? Kannst du nicht mit denen reden?«
Stephen lachte. »Sieh mal, Katie«, sagte er. »Nicky, Sam und die anderen, das sind alles gute Trinkkumpane, aber es gibt Dinge, über die ich mit ihnen nicht sprechen kann.«
»Aber warum ich?«
»Weil ich glaube, dass es dir genauso geht. Ich glaube, dass du unzufrieden bist mit deinem Leben und niemanden hast, der dir zuhört. Warum hast du solche Angst, mit mir zu reden? Du sperrst deine ganzen Probleme in dir ein. Magst du mich nicht?«
Katie kreiste mit ihrem Zeigefinger über den Tisch. »Darum geht es nicht«, sagte sie. »Mir geht es gut, wirklich.«
Stephen beugte sich vor. »Warum öffnest du dich nicht und zeigst etwas Gefühl?«, drängte er sie.
»Tu ich doch.«
»Nicht mir gegenüber.«
»Das ist nicht recht.«
»Oh, Katie, du bist so verdammt moralisch.« Stephen stand auf und wandte sich zum Gehen. »Hätte ich nur deine Charakterstärke. Danke, schon in Ordnung, ich finde allein raus.«
Katie wollte ihn zurückrufen, doch sie konnte nicht. Tief im Inneren schwirrte eine schwere, dunkle Kraft, die stärker wurde und sich unaufhaltsam einen Weg nach draußen suchte. Aber es war das Böse, und sie musste es unter Verschluss halten. Sie musste ihr Los hinnehmen, ihren Platz im Leben. Sie war Sams Frau. Das war ihre Bestimmung. Es gab keinen Grund, über Probleme zu sprechen. Was sollte sie Stephen Collier sagen? Oder er ihr? Warum war er gekommen? Was hatte er von ihr gewollt? »Das, was alle Männer wollen«, sagte eine strenge, dunkle Stimme in ihr. »Das Gleiche, was sein Bruder will. Lass dich nicht durch das Gerede von Verbundenheit täuschen. Der Teufel spricht mit süßer Zunge.«
»Aber er hat dir eine Hand gereicht«, sagte eine andere, leisere Stimme, »er ist in Freundschaft gekommen, und du hast ihn abgewiesen.«
Katies Brust zog sich zu, und als sie die Teetasse zum Mund hob, zitterten ihre Hände. »Ich bin verloren«, dachte sie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht mehr, was richtig ist. Hilfe, bitte hilf mir doch jemand!« Und als Katie ihren Kopf auf den Tisch legte und weinte, rollte die Tasse auf den Boden und zerbrach.