Als die kraftvollen Turbinen aufheulten, spürte Banks, wie er in seinen Sitz gepresst wurde. Er saß zum ersten Mal in einem Jumbo-Jet. Das Flugzeug rumpelte über die Startbahn des Manchester International Airports, alles, was nicht niet- und nagelfest war, wackelte und klapperte, als sollte jeder widerlegt werden, der glaubte, dass eine Maschine von solcher Größe fliegen konnte. Aber sie konnte es. Bald war aus Lancashire ein Schachbrett feuchter Felder geworden, bis es schließlich vollständig unter den Wolken verschwand. Das NO SMOKING-Zeichen war kaum erloschen, als Banks sich eine Zigarette anzündete.
Nach wenigen Augenblicken kam die blau uniformierte Flugbegleiterin mit dem grellen, pinkfarbenen Lippenstift und unmöglich weißen Zähnen, dieselbe, die es bewerkstelligt hatte, in die routinemäßige Vorführung der Schwimmwestenbenutzung eine ungeheure Dramatik zu legen, mit Knabbereien und in Plastikbeuteln verpackten Kopfhörern vorbei. Da er wusste, dass später ein Film gezeigt wurde, nahm Banks einen Kopfhörer, verschmähte jedoch das bordeigene Musikprogramm und holte seinen Walkman hervor. Bald überflog die Maschine Irland, gelegentlich sah man zwischen den Wolken eine grüne Fläche vorbeisausen, die Beatles sangen Dear Prudence, und die Welt war in bester Ordnung.
Als der Wagen vorbeigerollt kam, bestellte Banks einen Scotch on the rocks und entspannte sich bei seinem Johnny Walker Red Label in Miniaturausgabe. Mit geschlossenen Augen machte er es sich bequem und überdachte noch einmal die Ereignisse, die ihn in seine momentane, unnatürliche Position gebracht hatten - ungefähr 10000 Meter über dem Atlantischen Ozean mit einer Geschwindigkeit von gut 900 Kilometern in der Stunde einem fremden Kontinent entgegenrasend.
Es war Samstag, der 3. Juli. Seit beinahe einem Monat zog sich der Fall des Bernard Allen nun schon hin. Banks hatte Swainshead noch ein-, zweimal besucht und alles relativ unverändert vorgefunden. Stephen und Nicholas Collier waren auf ihre arrogante Art höflich geblieben, Sam Greenock war wie üblich schlecht gelaunt gewesen, Katie schien immer noch bekümmert und besorgt zu sein, und John Fletchers Interesse am Fortschritt des Falles schwand zusehends.
Das Problem war, dass es eigentlich keinen Fall mehr gab. Die Ermittlungen hatten weder neue Zeugen noch Motive zu Tage gefördert. Eine Reihe von Leuten hatten die Gelegenheit gehabt, Bernard Allen zu ermorden, aber niemand hatte ein eindeutiges Motiv. Solange die Verdächtigen bei ihren Geschichten blieben, und es war egal, ob sie logen oder die Wahrheit sagten, gab es keinen stichhaltigen Beweis, mit dem man den Fall knacken konnte. Deshalb war es für Banks entscheidend, Anne Ralston zu finden. Sie war das Bindeglied zwischen dem Mord an Addison und dem an Allen. Also hatte er Gristhorpe überredet, ihm in Kanada eine Woche zu geben.
»Und wie willst du sie finden?«, hatte ihn der Superintendent gefragt. »Du kennst dich in Toronto nicht aus. Und es ist eine große Stadt.«
»Wo würdest du hingehen, wenn du als Engländer im Ausland lebst?«
Gristhorpe rieb sich das Kinn. »Ich würde eine Emigrantengemeinde suchen, schätze ich. Irgendeinen Club. Ich würde unter meinesgleichen sein wollen.«
»Genau. Und da wir es in diesem Fall nicht mit der Oberschicht zu tun haben, würde ich Allen in Pubs im englischen Stil vermuten. Die gibt es in jeder Großstadt. Sein Schwager, Les Haines, hat mir erzählt, dass Allen gerne Ale trank und einen Pub gefunden hatte, wo man importiertes britisches Bier kriegt. Allzu viele kann es davon in Toronto nicht geben.«
»Aber wir suchen Anne Ralston, denk daran.«
»Ich weiß. Ich nehme nur an, dass Allen, wenn er seine Arbeitskollegen eher von oben herab behandelte, eine Gruppe befreundeter Auswanderer hatte, mit denen er in seiner Freizeit rumhing. Bestimmt haben sie sich in einem Pub getroffen und an der Bar ein paar Pints gezischt. Diese Leute kennen vielleicht auch Anne Ralston.«
»Du willst also in Toronto einen Kneipenbummel machen?«
»Sieht so aus, oder?«
»Erzähl das lieber nicht Jim Hatchley, sonst ist er für einen Monat oder länger beleidigt. Warum kannst du sie nicht von der Polizei in Toronto suchen lassen?«
»Zunächst mal hatte ich am Telefon den Eindruck, dass sie keine Zeit haben oder keine Lust oder beides. Und dann wüssten sie auch gar nicht, was und wie sie genau fragen sollten. Jemand müsste sie erst mal mit zwei Mordermittlungen vertraut machen, mit der Soziologie eines Dorfes in Yorkshire, mit der Geschichte von -«
Gristhorpe hob seine Hand. »Schon gut, schon gut, ich habe es begriffen.«
»Außerdem glaube ich, dass sie Anne Ralston verscheuchen«, fügte Banks hinzu. »Das, was Anne wusste, hat sie schon so nervös gemacht, dass sie Allen warnte, es nicht herumzuerzählen. Sobald sie also das Gefühl bekommt, dass die Polizei hinter ihr her ist, besteht die Gefahr, dass sie verschwindet.«
»Hast du in Erwägung gezogen, dass sie vielleicht nicht mehr ihren eigenen Namen benutzt?«
»Ja. Aber ich habe ein Foto von ihr aus der Vermisstenmeldung in unseren Akten. Es ist zwar ein bisschen alt, aber besser als nichts. Und ich glaube, ich weiß, wo ich suchen muss. Als Engländer habe ich in der Umgebung bestimmt auch einen Vorteil. Glaubst du nicht, es wäre einen Versuch wert?«
»Alles ein bisschen gewagt, aber im Großen und Ganzen, ja, ich glaube schon. Wenn du Allens Trinkkumpane aufspüren kannst, besteht die Chance, dass er ihnen was von Anne Ralston erzählt hat. Wenn sie auch gern unter ihresgleichen ist, taucht sie vielleicht ab und zu selbst in dem Lokal auf.«
»Du wirst also versuchen, mich da rüberzukriegen?«
Gristhorpe nickte. »Ja. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Ungefähr eine Woche später, an einem Donnerstagmorgen, hatte der Superintendent Banks gebeten, bei ihm im Büro vorbeizuschauen. Banks hatte seine Zigarette ausgedrückt und vorsichtig seinen vollen Kaffeebecher über den Flur getragen. Wie gewöhnlich war Gristhorpes Tür nur angelehnt. Banks stupste sie mit der Schulter auf und betrat das behagliche, von Bücherreihen gesäumte Zimmer. Er setzte sich dahin, wo er immer saß, und stellte seinen Kaffee auf den Schreibtisch vor ihm.
Gristhorpe schob einen länglichen Umschlag über die Schreibtischunterlage.
»Hast du es geschafft?«
»Mach auf.«
In dem Umschlag war ein Rückflugticket für einen Charterflug von Manchester nach Toronto.
»In London, Ontario, findet eine wichtige internationale Konferenz über die polizeiliche Überwachung von Innenstädten statt. Ich dachte, du solltest daran teilnehmen.«
»Aber dieses Ticket ist für Toronto.«
»Ja, London hat keinen internationalen Flughafen.«
»Und Eastvale hat keine eigentliche Innenstadt.«
Gristhorpe kratzte seine Hakennase. »Aber eines Tages könnten wir eine haben. Vor ein paar Monaten hatten wir Krawall hier, oder? Es zahlt sich aus, vorbereitet zu sein.«
»Erwartest du dann einen Bericht?«
»Ach, eine kurze mündliche Zusammenfassung wird ausreichen.«
Banks grinste.
»Es gibt einen Haken.«
»Ja?«
»Geld. Alles, was ich loseisen konnte, waren das Ticket und ein paar Spesen fürs Essen. Den Rest musst du aus eigener Tasche bezahlen.«
»Das ist in Ordnung. Ich werde dort wohl kein Vermögen auf den Kopf hauen. Aber was ist mit einer Unterbringung?«
»Du wirst bei meinem Neffen wohnen, auf jeden Fall kannst du seine Wohnung benutzen. Er wird den Sommer in Banff, oder wie das Kaff heißt, verbringen. Egal, ich habe ihn kontaktiert, und er sagt, er holt dich gerne vom Flughafen ab. Ich habe ihm eine Beschreibung von dir gegeben, also brauchst du nur rumstehen und verloren aussehen. So wie ich mich erinnere, ist er ein ziemlich schlaksiger Bursche. Seine Haare sind ein bisschen zu lang, und er trägt diese blödsinnigen kleinen Brillen - Nickelbrillen werden die, glaube ich, genannt. Er ist ein ganz netter Kerl, Student, organische Chemie oder so'n Zeug. Er sagt, er wohnt in Downtown, was immer das bedeuten mag. Eine Woche, hast du gesagt, Alan. Ich verlasse mich auf dich.«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Banks und steckte das Ticket ein.
»Finde Anne Ralston und kriege raus, was sie weiß. Solange du niemanden folterst, ist mir egal, wie du es anstellst. Und komm um Himmels willen der örtlichen Polizei nicht in die Quere. Die haben bestimmt kein Verständnis dafür, wenn du in ihrem Gebiet wilderst. Du bist Tourist, denk daran.«
»Ich frage mich, warum du mich schickst«, sagte Banks. »Du hast viel mehr mit dem Fall zu tun, besonders durch die Verbindung mit dem Mord an Addison. Warum gehst du nicht selbst?«
»Das würde ich«, sagte Gristhorpe langsam. »Glaub mir, das würde ich.« Er schaute zur Seite, hin zum geöffneten Fenster. »Ich habe meinen Wehrdienst bei der Royal Airforce abgeleistet. Während des Krieges hatte ich immer eine heldenhafte Verehrung für Kampfflieger, und ich schätze, in meinem Wahn wollte ich so sein wie sie. Als ich zum ersten Mal oben war, fing eine der Maschinen Feuer. Wenn der Pilot nicht so verdammt gut gewesen wäre, wären wir beide tot gewesen. Doch selbst so ... Mir ist seither die Lust am Fliegen vergangen.«
»Kann ich dir nicht verdenken«, sagte Banks. »Ich werde sie finden, keine Sorge. Wenigstens weiß ich, wo ich anfangen muss zu suchen.«
Und das war es dann. Sandra und die Kinder waren ganz aufgeregt, aber natürlich waren sie auch enttäuscht, dass sie ihn nicht begleiten konnten. Sergeant Hatchley benahm sich, als wäre Banks ein bezahlter Urlaub an einem exotischen Ort geschenkt worden, jetzt war er also hier, hoch über dem Atlantik, und die pinkfarbenen Lippen und weißen Zähne beugten sich mit einem Tablett voll eingeschweißtem Essen zu ihm herab.
Banks nahm den Kopfhörer ab und stellte das Tablett vor sich. Der Hauptgang erwies sich als kleiner, zusammengeschrumpfter Hühnerschenkel mit blasser, runzliger Haut in Gesellschaft winziger, von Soße bedeckter Kartoffeln und Karotten. Bei näherer Untersuchung stellte Banks fest, dass eine Hälfte des Mahls kochend heiß und die andere noch tiefgefroren war. Er rief die Stewardess, die sich überschwänglich entschuldigte und das Tablett wieder mitnahm. Als sie es erneut servierte, war die gefrorene Seite warm und die andere verkocht. Banks versuchte ein paar Bissen und gab angeekelt auf. Er verspürte auch keinerlei Neigung, den Berg geleeartiger Substanz samt Sahnekrone oder die welken, feuchten grünen Blätter zu probieren, die wohl Salat sein sollten. Stattdessen nahm er Käse und Cracker, die, in Zellophan verpackt, wenigstens frisch waren, und spülte sie mit einem herben Rotwein aus einer kleinen Plastikflasche runter.
Da er den Ansatz von Sodbrennen spürte, lehnte Banks den Kaffee ab und zündete sich eine Zigarette an. Nachdem die Tabletts abgeräumt worden waren, wurden weitere Getränke gereicht. Wirklich großzügig, dachte Banks und fragte sich, welch verheerenden Schaden eine Horde Betrunkener in einem Flugzeug anrichten würde, besonders wenn der Alkohol ausging. Aber er ging nicht aus. Banks wurde weiterhin ordentlich mit Johnny Walker Red Label versorgt, eine Art Beruhigungsmittel, nahm er an, eine Versicherung gegen unruhige und schwierige Passagiere. Dann wurden die Leute gebeten, gegen das blendende Sonnenlicht und in Vorbereitung auf den Film ihre Jalousien herunterzuziehen. Der Film erwies sich als simpel gestrickter Actionkrimi voller Autoverfolgungsjagden und Schießereien in Geschäftsvierteln. Nach ungefähr zehn Minuten legte Banks seinen Kopfhörer zur Seite, schloss die Augen und ging im Geiste die Fragen durch, die er Anne Ralston stellen wollte. Die Turbinen brummten, der Scotch floss warm durch seine Adern, und bald fiel er in einen tiefen Schlaf. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war die knisternde Stimme des Piloten, die ankündigte, dass sie gleich die Spitze Neufundlands erreichen und dann weiter entlang des St. Lawrence River fliegen würden.
Während Banks irgendwo über Quebec schlief, saß Superintendent Gristhorpe im Queen's Arms über einem Glas Theakston's Bitter und einer Kalbfleisch-Ei-Pastete gebeugt und wartete auf Sergeant Hatchley.
Stirnrunzelnd sah er auf seine Uhr. Er hatte Hatchley gebeten, spätestens um halb acht Uhr da zu sein. Doch bei einem Blick durch das Fenster auf den Marktplatz konnte er den Sergeant nirgends entdecken. Es regnete immer noch. An diesem Morgen hatte sich der Himmel wieder mit Wolken zugezogen, Regengüsse spülten das üppige Grün von den Talhängen und verengten die majestätischen Perspektiven auf Berge und Heideflächen.
Schließlich platzte Hatchley herein und schaute sich besorgt nach dem Superintendent um. Sein Haar war vom Regen klatschnass und betonte so noch die runde Form seines Kopfes. Die Schultern seines beigen Trenchcoats waren mit nassen Flecken dunkel besprenkelt.
»Tut mir leid, Sir«, entschuldigte er sich und nahm gegenüber Gristhorpe Platz. »Bei dem verdammten Wetter schleicht der Verkehr durchs ganze Tal.«
Gristhorpe konnte in seinem Atem eine Bierfahne riechen und schätzte, dass Hatchley wahrscheinlich unterwegs auf ein schnelles Glas in Helmthorpe haltgemacht hatte. Oder vielleicht hatte er sogar den kleinen Umweg über Relton ins Black Sheep genommen, wo der Wirt sein eigenes preisgekröntes Bier braute. Aber er sagte nichts. Ohne Banks hatte er nur noch Hatchley und Richmond, und bevor er seinen Plan aktivierte, wollte er den Sergeant nicht vor den Kopf stoßen.
Gristhorpe nahm Hatchleys Angebot auf ein weiteres Glas an und lehnte sich, als der sich eine Zigarette anzündete, zurück, um der Rauchwolke auszuweichen.
»Haben Sie es ihnen erzählt?«, fragte Gristhorpe.
»Ja, Sir. Habe sie alle im White Rose angetroffen.«
»Ich hoffe, Sie sind die Sache nicht zu offensichtlich angegangen.«
Hatchley blickte gekränkt drein. »Nein, Sir. Ich habe es genau so gemacht, wie Sie gesagt haben. Als Freddie Metcalfe nachzuforschen und zu drängeln begann, warum ich dort wäre, habe ich ihm einfach erzählt, dass ich ein paar offene Fragen klären müsste, mehr nicht.«
»Und dann?«
»Tja, dann wurde ich an den Stammtisch eingeladen, Sir. Es war ganz zwanglos, wir haben uns ein bisschen über Cricket und alle möglichen regionalen Angelegenheiten unterhalten, als wären wir alte Kumpels. Dann hat mich Sam Greenock gefragt, wo mein Chef wäre.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Genau das, was Sie mir gesagt haben, Sir. Ich hab gesagt, er wäre nach Toronto geflogen, um mit Anne Ralston zu sprechen.«
»Und?«
»Und was, Sir?«
»Was passierte dann, Mensch? Wie haben sie reagiert?«
Hatchley nahm einen großen Schluck Bier und wischte sich die Lippen mit dem Rücken seiner haarigen Hand ab. »Tja, sie schauten sich einfach nur an und zogen ihre Augenbrauen ein bisschen hoch.«
»Können Sie ein bisschen genauer werden, Sergeant? Was hat Sam Greenock gesagt?«
»Er hat eigentlich nichts gesagt. Schien sich über die Nachricht aufzuregen. Ich hatte den Eindruck, dass er ein bisschen sauer wurde. Und Stephen Collier wurde unverkennbar etwas blass. Sein komischer Bruder hat mich nur angeglotzt, als wenn ich von einem anderen Stern käme.«
»Wer war sonst noch da?«
»Nur noch John Fletcher.«
»Hat er irgendeine Reaktion gezeigt?«
Hatchley kratzte sich am Ohr. »Ich würde sagen, er wurde etwas kurz angebunden. Man konnte eigentlich nicht sagen, dass er eine Reaktion zeigte, es war eher so, als hätte irgendwo eine Glocke geläutet und ihn in seine eigene Welt geschickt. Er war eher verdutzt und unruhig als sonst was.«
Gristhorpe überdachte die Informationen und speicherte sie im Geiste ab. »Gute Arbeit, Sergeant«, sagte er schließlich. »Wirklich gut gemacht.«
Hatchley nickte und begann beiläufig sein leeres Bierglas auf dem Tisch hin- und herzukippen. »Was jetzt, Sir?«, fragte er.
»Wir behalten sie im Auge. Morgen werde ich Richmond für ein paar Tage ins Gasthaus der Greenocks schicken. Ich glaube nicht, dass man ihn in Swainshead schon kennt.« Gristhorpe rümpfte seine Nase und beugte sich vor, um Hatchleys Kippe auszudrücken, die im Aschenbecher vor sich hin glimmte. »Wir werden sie im Auge behalten«, sagte er noch einmal. »Und wir werden sehr sorgfältig darauf achten, ob einer von ihnen versucht abzuhauen. Okay, Sergeant, hab schon verstanden. Sie müssen das verdammte Glas nicht kaputtschlagen. Ich bin dran, ich weiß. Noch mal das Gleiche?«
Mit der nervtötenden Regelmäßigkeit eines Metronoms klingelte irgendwo eine Glocke. Banks rieb seine Augen und sah, dass das FASTEN SEAT BELT-Zeichen aufleuchtete. Da das NO SMOKING-Zeichen noch aus war, zündete er sich sofort eine Zigarette an, um einen klaren Kopf zu kriegen. Beim Blick aus dem Fenster sah er unten eine riesige Stadtlandschaft. Sie war viel zu weit entfernt, um Einzelheiten ausmachen zu können, aber er erkannte ein netzartiges System von Straßen und meinte sogar, einzelne Autos im Sonnenlicht aufblitzen zu sehen.
Über die Sprechanlage sagte die Stewardess, dass man sich im Landeanflug befinde, und bat die Passagiere, das Rauchen einzustellen. Banks hatte ein seltsam verstopftes Gefühl in den Ohren. Um sie freizumachen, schluckte und gähnte er und konnte wieder das Heulen der Maschinen hören. Während des gesamten Landeanfluges musste er den Vorgang alle paar Sekunden wiederholen.
Das Flugzeug flog eine Linkskurve, und schon konnte man ziemlich deutlich einzelne Gebäude und sich bewegende Fahrzeuge erkennen. Nach einer langgezogenen Kehre kam auf der rechten Seite eine große Wasserfläche in Sicht, an deren Ufer eine Gruppe mächtiger Gebäude stand. Die Maschine verlor nun schnell an Höhe und berührte innerhalb weniger Augenblicke sanft die Landebahn. Die dröhnende Schubumkehr wurde eingestellt. Es fühlte sich an, als wären am Heck des Flugzeuges Seile befestigt, die es zum Halten zwangen. Mehrere nervöse Passagiere applaudierten.
Nach einiger Verzögerung wurden die Türen geöffnet, und die Leute konnten langsam der Reihe nach an den mit eingefrorenem Lächeln Spalier stehenden Flugbegleiter vorbei das Flugzeug verlassen. Banks passierte Treppen und Flure und musste sich dann in die lange Schlange vor der Einwanderungsbehörde einreihen.
Nachdem er die Formalien erledigt hatte, musste er vor dem Gepäckkarussell erneut warten. Er griff seinen kleinen Koffer, die Duty-free-Tüte mit Scotch und Zigaretten und ging vorbei an den Zollbeamten, die ihm keine Beachtung schenkten, hinaus in die Menschentraube, die Freunde und Verwandte in Empfang nahm. Wie Gristhorpe vorgeschlagen hatte, stellte er sich auf eine Seite und sah verloren aus. Das war leicht.
Es dauerte nicht lange, bis er einen Adamsapfel von der Größe eines Tennisballs bemerkte, der in einem langen, dünnen Hals unter einem mit langen, braunen Haaren bedeckten Kopf steckte und der durch die Menge auf ihn zukam. Als er sah, dass der Kopf auch noch eine lächerlich altmodische Nickelbrille trug, wagte Banks, sich zu erkennen zu geben.
»Gerry Webb«, sagte der Mann, als sie sich die Hände schüttelten. »Sie sind Chief Inspector Banks?«
»Ja. Sag einfach Alan. Ich bin nicht offiziell hier.«
»Kann ich mir denken«, sagte Gerry. »Dann komm, raus hier.«
Sie kämpften sich durch die Menge der Verwandten, die lang aus den Augen verlorene Kinder oder Eltern in die Arme schlossen, und nahmen einen Lift in das mehrstöckige Parkhaus.
»Da sind wir«, sagte Gerry und zeigte stolz auf einen safrangelben VW Käfer. »Ich nenne sie >Sneezy<, denn sie ist im Vergleich zu den anderen Autos hier ein richtiger Zwerg. Außerdem gibt sie komische Geräusche von sich, wenn ich sie morgens anlassen will, besonders im Winter. Aber sie lässt mich nie im Stich.« Er tätschelte Sneezys Motorhaube und öffnete dann den vorderen Kofferraum. Koffer und Duty-free-Tüte sicher verstaut, ging Banks nach einem Fehlversuch auf der linken Seite zur Beifahrertür.
»Das passiert immer, wenn Engländer zu Besuch kommen«, sagte Gerry lachend. »Garantiert. Warte erst mal, wenn du über die Straße gehen willst.«
Das Erste, was Banks wahrnahm, als Gerry auf die Schnellstraße fuhr, waren die gewaltigen Autos und die erstickende Hitze. Es war wie in der Sauna. Sofort klebte sein Hemd auf der Haut. Er zog seine Jacke aus und warf sie auf den Rücksitz. Selbst der Luftzug durch das offene Fenster war warm und feucht.
»Du bist leider mitten in einer Hitzewelle gekommen«, erklärte Gerry. »Während der letzten drei Tage hatten wir zwischen dreiunddreißig und sechsunddreißig Grad. Und über neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit.«
»Wie sind denn dann hundert?«
»Komisch«, sagte Gerry. »Hundert haben wir nie. Selbst bei Gewitter nicht. Die Sommer können hier echt gemein sein. Was das Klima angeht, ist Toronto eine Stadt der Extreme. Im Winter ist es schweinekalt, und im Sommer ist es unerträglich heiß und feucht, wie du merkst. Die Luftverschmutzung steigt dann auch.«
»Wie sieht es im Frühling aus?«
»Gibt es hier nicht. Nur eine Menge Regen und dann die Sonne. Der Herbst ist am besten. September, Oktober. Warme Tage, kühle Abende. Schön.« Er schaute Banks von der Seite an. »Ich schätze, du hast Eiszapfen und Schneemänner erwartet, oder?«
»Nicht ganz. Aber so eine Hitze bestimmt nicht.«
»Du solltest die Amis sehen«, sagte Gerry. »Als ich meinen Magister gemacht habe, wohnte ich eine Weile in Windsor und arbeitete im Sommer beim Zoll. Die kommen aus den Vororten von Detroit mitten im Juli mit Skiern auf ihren Autos und Pelzmänteln auf den Rücksitzen über die Grenze. Zum Totlachen. Die Amis wissen einen Scheiß von Kanada.«
»Viel weiß ich auch nicht gerade«, gab Banks zu.
»Keine Sorge. Mach Augen und Ohren auf, und alles wird sich zu erkennen geben.« Gerry hatte einen seltsamen Akzent, teils Yorkshire, teils nordamerikanisch, mit einem gemischten Wortschatz aus beiden.
Sie fuhren ostwärts um eine Bucht herum. Für einen Augenblick dachte Banks, sie wären auf der falschen Straßenseite. Er verkrampfte sich, Adrenalin schoss durch seine Adern. Dann wurde ihm wieder klar, dass er sich in Kanada befand.
Auf der rechten Seite lag der Ontario-See, eine gekräuselte, blaue Fläche, auf der Millionen Diamanten tanzten. Die dreieckigen Segel der Jachten neigten sich in spitzen Winkeln auf das Wasser. Vom See schien wenigstens eine kühlere Brise herzuwehen, und Banks beneidete die müßigen Reichen, die dort den ganzen Tag segeln konnten.
»Diese Inseln da drüben«, sagte Gerry und zeigte auf einen flachen, im Dunst liegenden grünen Fleck. »Das sind eigentlich nur langgezogene Sandbänke, aber jeder nennt sie Inseln. Die entfernteren, Ward's und Algonquin, sind sogar bewohnt, aber die Politiker wollen die Bewohner verjagen und einen Hubschrauberflugplatz oder einen Minigolfkurs dort bauen.«
»Typisch«, sagte Banks und dachte an verschiedene Pläne, Abenteuerspielplätze und Safariparks in den Dales zu errichten.
»Es gibt eine Menge Ärger deswegen«, sagte Gerry. »Die Inselbewohner haben sogar eine Schutztruppe zusammengestellt, voll ausgerüstet. Sie sind bereit, eine Invasion zurückzuschlagen.«
»Und was ist passiert?«
»Das ist immer noch im Gange. Ein paar Intelligenzbolzen wollen das mit langfristigen Pachtverträgen und was weiß ich was regeln, aber da brodelt es immer. Ich glaube, es ist Eifersucht. Auf den Inseln leben hauptsächlich Akademiker und Künstler, und eine Menge Leute, die in der Stadt wohnen, beneiden sie um ihr Leben da draußen. Sie sind der Meinung, dass sich nur die dreckigen Reichen so eine angenehme Umgebung leisten dürften.«
»Wie denkst du darüber?«
»Ich beneide niemanden, der da draußen Winter für Winter in einer Holzhütte überlebt. Sieh mal.« Er zeigte nach vorn.
Vor ihnen schimmerte eine Gruppe Hochhäuser in der Hitze wie ein gedrucktes Hochglanzdiagramm. Einige waren schwarz, andere weiß, und manche reflektierten das tiefe Gold der Sonne. Nahe am See und sie alle überragend, stand ein spitz zulaufender Turm mit knolligem Kopf und langer Nadelspitze obendrauf. Es war ein Phallussymbol von derart olympischen Ausmaßen, dass der Turm der Londoner Post dagegen aussah, als hätte er einen ernsthaften sexuellen Defekt.
»Der CN Tower«, sagte Gerry. »Torontos ganzer Stolz. Höchstes frei stehendes Gebäude der Welt - zumindest solange die Japaner kein größeres bauen. Siehst du die Fahrstühle, die außen hochgehen?«
Banks sah sie. Schon bei dem Gedanken, in einem davon zu sein, wurde ihm ganz schwindlig. Bis zu einem gewissen Punkt hatte er keine Höhenangst, aber Lust auf eine Mahlzeit in einem sich drehenden Restaurant am Ende eines Turmes hatte er nie verspürt.
»Wofür ist der gut?«, fragte er.
»Du kannst Fragen stellen. Natürlich zur Show.«
»Was ist im oberen Teil?«
»Ein Restaurant, was sonst? Und natürlich eine Disco. Das ist der Gipfel der westlichen Zivilisation. Eine Meisterleistung, die den ägyptischen Pyramiden und der Kathedrale von Chartres ebenbürtig ist.«
»Eine Disco?«
»Ja. Ernsthaft. Oh, wie konnte ich das vergessen: Das Ding dient nebenbei auch als Radio- und Fernsehsendeturm. Jetzt sind wir in Downtown.«
Auf einer Art erhöhter Rampe rollte die Schnellstraße an Reklametafeln und Rückseiten von Lagerhäusern vorbei. Da die Gebäude so nahe waren, verstärkte sich der Eindruck der Fahrgeschwindigkeit. Banks kam sich vor wie auf einer Achterbahn.
Schließlich bog Gerry ab, fuhr durch ein brachliegendes Industriegebiet dreckiger alter Fabriken mit freiliegenden Rohrleitungen und kam dann auf eine belebte Straße. Die meisten Gebäude sahen ziemlich alt und verkommen aus, und Banks fiel bald auf, dass fast alle Ladenschilder mit chinesischen Schriftzeichen versehen waren. In den Schaufenstern hingen kopfüber gebratene Enten, und auf dem Bürgersteig vor den Lebensmittelgeschäften standen überall Obst- und Gemüsestände. Über einem Laden war ein handgeschriebenes Schild angebracht, auf dem die geheimnisvolle Kombination von LEBENDEN KRABBEN & VIDEOS angeboten wurde. Auf der Straße wimmelte es von Menschen, hauptsächlich Chinesen, die sich um die Auslagen drängelten, die Waren begutachteten und um den besten Preis feilschten. Der strenge Geruch von in der Hitze verdorbenem Essen vermischte sich mit dem Aroma exotischer Gewürze und wehte mitsamt der erdrückenden Luft in den Wagen. Neben ihnen ratterte eine rot-cremefarbene Straßenbahn auf ihren Schienen entlang.
»East Chinatown«, sagte Gerry. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«
Er fuhr die Straße weiter, vorbei an einem Gefängnis und einem Krankenhaus. Zur Linken erstreckte sich ein breites, grünes Tal. Neben der Straße senkte es sich wie eine riesige Rasenfläche in einen breiten Grund, unten führte parallel zu einem braunen Fluss eine stark befahrene Schnellstraße entlang. Über den Bäumen der gegenüberliegenden Seite schimmerten die Hochhäuser Downtowns wie graue, verschwommene Flecken in der flimmernden Hitze. Gerry bog nach rechts in eine Allee und fuhr in die Auffahrt eines kleinen Backsteinhauses mit grünweißem Vorbau.
»Zu Hause«, verkündete er. »Ich wohne im Erdgeschoss, oben wohnt ein junges Paar. Sie sind normalerweise ziemlich leise, also hast du keinen Krach zu befürchten.« Er steckte seinen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. »Komm rein. Ich brauche jetzt unbedingt ein kaltes Bier.«
Die Wohnung war klein und spärlich eingerichtet - anscheinend mit Gebrauchtmöbeln vom Flohmarkt -, aber sie war sauber und gemütlich. Die Regale und alle möglichen Ecken waren mit Büchern vollgestopft. Die Gristhorpes schienen wirklich alle große Leser zu sein, dachte Banks.
Gerry führte ihn in die kleine Küche und nahm zwei Dosen Budweiser aus dem Kühlschrank. Banks öffnete den Verschluss und ließ das eisgekühlte, leicht malzige Bier durch die Kehle laufen. Als Gerry zum Trinken den Kopf in den Nacken legte, hüpfte sein Adamsapfel wild umher.
»Schon besser«, sagte er und wischte sich die Lippen ab. »Tut mir leid, dass es so heiß hier drin ist, aber ich kann mir keine Klimaanlage leisten. Ich habe allerdings schon schlimmer gewohnt. Hier gibt es einen guten Durchzug, und nachts kühlt es ein bisschen ab.«
»Wie heißt dieser Stadtteil?«, wollte Banks wissen.
»Riverdale. Ist in den letzten Jahren ziemlich yuppiemäßig geworden. Die Grundstückspreise sind wie verrückt in die Höhe geschossen. Wenn du bis zur Ecke hochgehst oder mit dem Streetcar fährst, dann siehst du die schlimmsten Auswucherungen. An der Danforth Avenue. Früher waren dort griechische Cafes, Restaurants und rund um die Uhr geöffnete Obst- und Gemüseläden. Jetzt gibt es da nur noch Bioläden, Buchhandlungen und Bistros mit langstieligen Weingläsern und Tischdecken in Korallenrosa. Na ja, wenn man's mag.«
»Und wenn nicht?«
»Ein paar einfache Läden gibt es noch. Samstagnachmittags wird im Black Swan guter Blues gespielt. Und dann gibt es das Quinn's, kein schlechter Pub. Ein paar griechische Lokale sind auch noch da, aber ich stehe nicht so auf griechisches Essen. Fettiges Lamm, Auberginen und klebrige Nachspeisen sind nicht mein Fall.«
Sie setzten sich aufs Sofa, ein hartes, kastanienbraunes Monster aus den fünfziger Jahren mit Lehnen wie Flügel, und tranken ihr Bier.
»Dein Onkel hat gesagt, du musst zu einer Konferenz irgendwo«, sagte Banks. »Ich hoffe, ich vertreibe dich nicht.«
»Überhaupt nicht. Die Konferenz ist eigentlich nicht so wichtig, aber Banff ist großartig. Direkt in den Rockies. Deshalb werde ich dort auch ein bisschen wandern und Party machen.«
»Wie fährst du hin?«
»Sneezy.«
»Wie weit ist es?«
»Ein paar tausend Kilometer. Aber hier ist man solche Entfernungen gewöhnt. Sneezy kennt das schon. Lange Fahrten mag sie richtig. Ich nehme mein Zelt mit und campe unterwegs. Wenn du einen Wagen brauchst ...«
Banks schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, auf die falsche Straßenseite traue ich mich nicht. Wie steht es mit öffentlichen Verkehrsmitteln?«
»Sehr gut. Es gibt U-Bahn, Busse und die Streetcars, die du gesehen hast. Sie heißen hier nicht Straßenbahn.«
»Ich war überrascht«, sagte Banks. »Mit solchen Dingern bin ich seit meiner Kindheit nicht mehr gefahren.«
»Tja, dann kannst du jetzt alte Zeiten aufleben lassen. Ich fahre oft mit ihnen, wenn ich durch die Stadt muss. Meistens kriegt man sowieso keinen Parkplatz, und die Bullen verstehen keinen Spaß bei Alkohol am Steuer. Oh, entschuldige.«
Banks lachte.
»Auf jeden Fall«, fuhr Gerry fort, langte in eine Schublade und holte ein paar Karten hervor. »Das ist die Stadt. Man findet sich leicht zurecht, denn fast alles ist im Schachbrettmuster angelegt. Ost-West, Nord-Süd. Und hier ist der Nahverkehrsplan. Wesentlich unkomplizierter als die Londoner U-Bahn, also wirst du damit zurechtkommen.«
Und Gerry informierte ihn weiter über U-Bahn-Tickets und den kostenlosen Wechsel von einem Transportsystem zum anderen. Doch nach der langen Reise und bei der glühenden Hitze fielen Banks die Augen zu. Er konnte nichts dagegen tun.
»Hey«, sagte Gerry. »Ich langweile dich zu Tode. Ich schätze, du hast nicht viel von meinem Gerede mitgekriegt.«
»Nicht viel.«
»Willst du ins Bett?«
»Gegen ein Nickerchen hätte ich nichts einzuwenden.«
Gerry zeigte ihm das Schlafzimmer.
»Ist das nicht dein Zimmer?«, fragte Banks.
»Ist schon in Ordnung. Ich haue mich heute Nacht aufs Sofa.«
»Das kann ich auch machen.«
»Nicht nötig. Ich fahre morgen sowieso früh los. Für die nächste Woche ist das hier dein Zimmer.«
Zu müde, um zu diskutieren, und ehrlich gesagt dankbar für ein Bett, zog sich Banks aus, sank auf die Matratze und schlief in Sekundenschnelle ein.
Als er aufwachte und sich in einem fremden Bett vorfand, fehlte ihm die Orientierung. Erst nach einigen Augenblicken fiel ihm ein, wo er war. Es war heiß und dunkel, die Laken waren schweißnass. Im Nebenzimmer hörte Banks Geräusche, rieb sich die Augen, zog seine Hose an und ging hinaus. Gerry packte gerade seine Sachen in einen riesigen Rucksack. Für einen Moment musste er an Bernard Allen denken.
»Hi«, sagte Gerry. »Ich dachte, du wärst völlig ausgeknockt.«
»Wie spät ist es?«
»Zehn Uhr abends. Bei euch ist es drei Uhr morgens.«
»Ich bin plötzlich aufgewacht. Keine Ahnung, warum.«
»Bei Jetlag geht alles drunter und drüber. Beim Rückflug wird es noch schlimmer.«
»Wunderbar.«
Gerry grinste. »Bier?«
»Lieber eine Tasse Tee, wenn's geht.«
»Klar. Hier gibt es nicht nur Kaffee trinkende Banausen.«
Gerry schaltete den Fernseher ein und ging in die Küche. Banks setzte sich aufs Sofa und legte seine Füße auf das zerschlissene Polster. Eine schöne Frau redete sehr ernsthaft über eine Debatte im Unterhaus. Erneut wurde Banks erschreckend bewusst, dass er sich in einem fremden Land befand. Die Nachrichtensprecherin im Fernsehen sprach mit seltsamem, wenn auch im Gegensatz zu Amerikanern weniger herrischem Akzent, außerdem kannte er keinen Politikernamen.
Gerry brachte den Tee und setzte sich neben ihn.
»Da wären ein paar Dinge, mit denen du mir helfen könntest«, sagte Banks.
»Schieß los.«
»Wo finde ich das Toronto Community College?«
»Ganz leicht. Am besten mit der U-Bahn.« Und Gerry erklärte ihm, wie er mit einem Streetcar oder zu Fuß zur Haltestelle Broadway kam, wo er umsteigen und wo er aussteigen musste.
»Noch was anderes. Kennst du Pubs im englischen Stil in der Stadt? Irgendwelche Lokale, wo es importiertes Bier gibt?«
Gerry lachte. »Da wirst du alle Hände voll zu tun haben. Es gibt Dutzende. Das Madison, das Sticky Wicket, Paupers, das Hop and Grape, Artful Dodger, Jack Russell, Spottet Dick, Feathers, Quigley's und dann die ganze Dukes-Kette. Ich werde dir eine Liste machen. Worum geht es übrigens? Oder ist das streng geheim?«
»Ich suche eine Frau. Ihr Name ist Anne Ralston.«
»Was hat sie angestellt?«
»Nichts, soweit ich weiß.«
»Ungeheuer geheimnisvoll. Du bist genauso wie Onkel Eb.«
»Wie wer?«
»Onkel Eb. Heißt das, du kennst seinen ...?«
Banks schüttelte den Kopf. Gristhorpe hatte nie seinen Vornamen erwähnt, und seine Unterschrift war ein unentzifferbares Gekritzel.
»Vielleicht sollte ich es dir nicht erzählen. So wie ich ihn kenne, wird er sich schön bei mir bedanken.«
»Ich werde es nicht weitererzählen. Pfadfinderehrenwort. Komm schon.«
»Eb ist die Abkürzung von Ebenezer.«
Banks pfiff durch die Zähne. »Kein Wunder, dass er ihn nie verraten hat.«
»Das ist noch nicht alles. Sein Vater war ein großer Verfechter der Arbeiterklasse, besonders der Farmer, deshalb hat er seinen ältesten Sohn Ebenezer Elliott genannt, nach dem Dichter, der die Com Law Rhymes gegen die Korngesetze der Regierung geschrieben hat.«
Banks hatte noch nie von Ebenezer Elliott gehört, nahm sich aber vor, mal im Lexikon nachzuschlagen. Er war immer daran interessiert, neue Dinge zu lesen, zu sehen oder zu hören.
»Ebenezer Elliott Gristhorpe«, wiederholte er. »Verdammte Scheiße.«
»Ich wusste, dass dir der Name gefällt«, sagte Gerry grinsend. »Da ist doch Musik drin, oder? Meiner armen Mutter wurde Mary Wollstonecraft aufgehalst. Sehr progressiver Großvater, die Frauenrechte hat er auch respektiert. Aber mein Vater war einfach nur der gute George Webb, und Gott sei Dank hatte er kein Steckenpferd, das er seinen Kindern anhängen konnte.«
Die Nachrichten im Fernsehen zeigten eine Bande Straßenkinder in Belfast, die bei einem Aufruhr die Polizei mit Steinen und Molotow-Cocktails bewarfen. Es war Nacht, über die ganze Straße züngelten orangefarbene Flammen. Schwarzer Rauch quoll aus brennenden Reifen. Die Welt war wirklich ein globales Dorf, dachte Banks und spürte, wie seine Aufmerksamkeit nachließ. Er wurde schon wieder müde. Er gähnte und stellte die Teetasse auf den niedrigen Tisch.
»Eines würde ich gerne noch wissen«, sagte Gerry. »Woher hast du diese Narbe?«
Banks fuhr mit einem Finger über die weiße Linie neben seinem rechten Auge. »Die? Ich hatte zu wenig Schlaf, bin umgekippt und mit dem Kopf auf eine Tischkante geknallt.«
Gerry lachte. »Verstanden. Ich halte dich auf.«
Banks lächelte. »Ich muss unbedingt wieder ins Bett. Sehe ich dich morgen früh?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Gerry. »Ich habe eine lange Fahrt vor mir und werde in aller Frühe aufbrechen. Kaffee und Zucker sind im Schrank über der Spüle. Milch und so weiter im Kühlschrank. Hier hast du einen Ersatzschlüssel. Fühl dich wie zu Hause.«
Banks schüttelte seine knochige Hand. »Danke«, sagte er. »Das werde ich. Und wenn du mal in England sein solltest ...«
»Dann werde ich bestimmt Onkel Ebenezer besuchen. Mache ich immer. Und wir werden ein oder zwei Gläser im Queen's Arms trinken. Gute Nacht.«
Banks ging zurück ins Schlafzimmer. Eine leichte Brise war aufgekommen und milderte die Hitze ein wenig, aber angenehm war es noch lange nicht. Er ließ sich auf die feuchten Laken fallen. Draußen ratterte in geringer Entfernung ein Streetcar vorbei, das Geräusch erinnerte ihn an aufregende Reisen in große Städte während seiner Kindheit, als es noch Straßenbahnen gab. Kurz vor dem Einschlafen dachte er an das Queen's Arms und sah den Pub an der Ecke der Marktstraße und des gepflasterten Platzes vor sich. Er fühlte sich sehr weit weg von zu Hause. Das Queen's Arms lag in weiter Ferne, und es gab eine Menge zu tun, wenn er Anne Ralston vor Ende der Woche finden wollte.