Die meiste Zeit des Tages hatte sie damit verbracht, herumzufahren, Orte aufzusuchen, wo sie lesen konnte, und dann weiter, an den Häusern alter Freunde oder Lehrer vorbei, aber überall dasselbe. Dieser Ort hatte ihr nichts zu geben. Vielleicht eines Tages mal, aber nicht jetzt. Sie hatte wenige nostalgische Erinnerungen, und zumeist kam Isaac darin vor. Oder sagte sie sich das jetzt nur?
Es war ihr immer klar gewesen, dass er es nicht leicht haben würde, er war so ungeschickt mit Menschen, ihren Highschool-Freunden. Keiner wusste, was er mit ihm anfangen sollte. Er wusste selbst nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er kannte außer seiner Schwester niemanden, der war wie er. Und die in seinem Alter hielten Großzügigkeit leicht für überheblich, da sie annahmen, auch sie würde er mit dem unmöglichen Maßstab messen, den er an sich selbst anlegte. Irgendwann, dachte sie, muss er aufgegeben haben.
Und sie merkte, wie sie wütend wurde, hauptsächlich auf sich, aber auch auf ihre Kommilitoninnen. In ihrem zweiten Studienjahr, da hockten sie bei Gretchen Mills im Zimmer, und irgendwer sagte, Bunny Sachs vielleicht, »Macht ihr euch klar, Leute, das ist das Schwerste, was wir jemals schaffen werden. Hier überhaupt reinzukommen ist praktisch das Schwerste, was es auf der Welt gibt, und wir haben es geschafft.«
Natürlich hatten sie noch nichts geschafft. Sie hatten alle bloß die richtigen Eltern gehabt, waren in den richtigen Vierteln aufgewachsen und auch auf die richtigen Schulen gegangen, sie hatten das richtige Sozialverhalten gelernt und die richtigen Prüfungen bestanden. Einfach keine Chance zu versagen. Sie hatten sich angestrengt, doch stets mit der Erwartung, das zu kriegen, was sie wollten – weil die Welt ihnen auch nie was anderes gezeigt hatte. Es gab nur wenige darunter, die sich ihren Platz erarbeitet hatten. Sie gaben alle zu, dass sie verwöhnt waren, doch innerlich fanden sie alle, dass sie es verdient hatten.
Natürlich hatte sie kein Wort gesagt. Sie wünschte jetzt, dass sie’s getan hätte, aber so war es nicht gewesen. Es war leicht, heute zurückzublicken und diese Gedanken zu haben, doch damals wollte sie sich einfügen und Bunnys Meinung teilen, ja, ich hab das glückliche Leben verdient, das ich jetzt lebe.
Sie war immer noch verblüfft über die Freundschaft zwischen Isaac und Poe. Aber natürlich musste umgekehrt auch ihre Nähe zu Poe Isaac verblüfft haben. Vielleicht kam das daher, dass alle Leute Isaac und Poe immer als etwas ganz Besonderes gesehen hatten – Poe wegen der körperlichen Fähigkeiten, Isaac wegen des Intellekts. Sie waren jedenfalls in dem, was sie gut konnten, an der Schule beide nicht zu schlagen gewesen. Es war wohl eine typische Kleinstadtverbitterung, die vor Genugtuung zu platzen schien, als beide scheiterten.
Nach Isaacs erstem Besuch bei ihnen in New Haven hatte sie geglaubt, er würde wiederkommen, einen Monat lang im Sommer, und sie wollte Geld zusammenkratzen, um in diesem Monat eine Vollzeitpflegekraft für ihren Vater zu bezahlen. Damals hatte sie schon zwei Kreditkarten – sie würde irgendeinen Weg finden.
Doch Isaac hatte auf ihre Angebote, noch einmal zu kommen, nicht geantwortet. Da war er schon dabei, sich zu verändern. Nein, dachte sie, vielleicht lag ihm nur zu viel an seinem Vater. Henry hätte das als Ferien betrachtet, Isaac macht Urlaub in Connecticut, und Isaac lag zu viel an der Meinung seines Vaters, um das zu riskieren. Du hattest es leicht, dachte sie. Dich hat man vom Haken gelassen.
In Wahrheit war wohl Isaac noch nicht bereit zu gehen, nicht so, wie er es behauptete. Er hatte länger Zeit gehabt für das Gedenken an ihre Mutter, als Lee bereits in eine andere Umlaufbahn gezogen wurde – sie war ja fast sofort nach New Haven aufgebrochen. Und sie hatte keine Ahnung, wie die Jahre seither Isaac und ihren Vater als Menschen verändert hatten. Alles konnte da geschehen sein. Du hattest Glück, dachte sie. Du warst zu selbstsüchtig, um ein Bleiben auch nur zu erwägen.
Isaac, dem konnte man zwei x-beliebige Zahlen geben und sagen, die multiplizierst du mal im Kopf: 439 mal 892. Binnen weniger Sekunden hatte er die Lösung raus. Er sah die Antwort einfach, musste nicht mal rechnen. Oder dividiere sie – dasselbe. Einmal hatte sie mit einem Taschenrechner dagesessen und ihn testen wollen, weil sie sicher war, er hätte feste Zahlenkombinationen nur auswendig gelernt, da musste es doch einen Trick geben. Bloß gab es keinen. »Manche Dinge an mir, die versteh ich nicht«, sagte er achselzuckend.
Und ihr Freund im ersten Jahr, Todd Hughes, Hauptfach Physik, war ganz begeistert gewesen von Isaac, er hatte seine Hochbegabung gleich erkannt und angeboten, ihm bei den Bewerbungen zu helfen. Isaac hatte die meiste Zeit des Wochenendes neben Todd gesessen. Doch dann war ihr Todd zu langweilig geworden. Oder er war einfach nur zu früh in ihrem Leben aufgetaucht, sie war zu jung gewesen. Du hättest mit ihm zusammenbleiben sollen, nur für Isaac, dachte sie. Du bist in dieser Familie die Einzige, die keine Opfer bringt. Und Simon, der am selben Wochenende Isaac begegnet war, hatte sich keinen echten Eindruck von ihm gemacht, Isaac umgekehrt auch nicht.
Früher hatte es mal eine Zeit gegeben, ihre Highschool-Jahre größtenteils, da meinte sie, sie müsste nur die Augen schließen und lang genug daran denken, um zu sehen, wo genau sich Isaac in dem Moment befand. Weil du seine Gewohnheiten gut kanntest, dachte sie. Das ging auch ohne Zauberei. Sie fuhr über die höher gelegene Straße weiter, die dem Flusslauf folgte.
Gut, dachte sie. An der Uferstelle hielt sie an, machte den Motor aus und sah über die Wiese auf die Felswand gegenüber, steil aufsteigend aus dem Fluss, der mit der nächsten Biegung schnell und unergründlich aus dem Blick verschwand. Sie legte den Kopf auf das Lenkrad, schloss die Augen und dachte an ihren Bruder.