Er suchte Billy Poe die schlimmste Zelle aus, beschloss, ihn über Nacht dort drin zu lassen, damit sich der Junge überlegte, was ihm blühte. Wenn er auf dem Metzgerblock lag. Was im Grunde ganz gut passte. Irgendetwas Großes lief da im Büro des Staatsanwalts, es war noch unklar, was genau, doch Harris hegte den Verdacht, was immer dabei rauskam, wäre ungünstig für Billy Poe. Er schloss sein Zimmer ab und ging, um sich von dem Kollegen zu verabschieden, der Nachtdienst hatte. Es war Ho.
»Schon wieder du?«
»Na, Miller hat sich krankgemeldet.«
Harris nahm sich vor, mal nachzusehen, wie oft Miller krank war.
»Du siehst aus, als solltest du das auch tun, Boss.«
»Ich bin nur müde.«
Ho nickte ihm zu, und Harris ging, verließ das Polizeirevier und stieg in seinen alten Silverado. Schöner Abend, ein paar Stunden Tageslicht noch, auch wenn er zu Hause ankam. Dafür konnte man doch dankbar sein. Als Chief hatte man Privilegien – wie die Tagesschichten.
Auf dem Weg südwestwärts ging die asphaltierte Straße irgendwann in eine rissige geteerte Straße über, dann war’s Schotter und am Ende nur noch Erde. Seine Hütte thronte oben auf dem Kamm, ein umfriedetes Terrain von dreißig Morgen, drumherum der Forst.
Wenn er aus seinem Truck stieg und sein Haus anschaute, machte es ihn glücklich. Eine Holzhütte, gedrungen, Steinschornsteine, eine Sechzig-Kilometer-Aussicht. Von seiner Terrasse aus konnte man in drei Staaten gucken. Niemand war je zufällig die Straße hochgekommen, nicht ein Mal in den vier Jahren, die er schon hier lebte.
Fell, sein großer Malamute, erwartete ihn drinnen; Harris trat beiseite, um den Hund hinauszulassen, aber Fell blieb stehen, wartete darauf, dass er ihn streichelte. Fell wurde langsam hüftsteif, und sein Rücken hing ein bisschen durch, er buhlte schamlos um die Aufmerksamkeit seines Herrchens, er war hier der Prinz. Da draußen, sagte Harris, schüttelte ihn dabei liebevoll am Nacken, wärst du Bärenfleisch. Fell war zu groß für seine eigenen Knochen, und an manchen Abenden saß Harris vor dem Fernseher, trank Whiskey und massierte seinem Hund die Hüften. Noch ein abschließender Klaps auf den Kopf, und dann sprang Fell von der Terrasse, einen Meter fünfzig ging’s da runter, raste Vollgas in den Wald. Der ist vielleicht noch gar nicht so alt. Weiß vielleicht nur, wie du tickst.
Harris schenkte sich Club Soda ein und ging zurück auf die Terrasse, lehnte sich an das Geländer, schaute in die Gegend. Nichts als Berge, Wälder – Packhorse Mountain, Winding Ridge, Mount Davis. Das Gelände fiel vom Haus weg steil ab, immer weiter runter bis zur Talsohle, vierhundert Meter tiefer. Guter Ort hier. Dieses ist mein Waldo Pond. Und meine Ruhige Kugel. Walden, dachte er. Nicht Waldo. Und er musste über sich selbst grinsen. Es gab viele andere Spielfelder, auf denen er genauso hätte landen können, auf dem seines Bruders etwa, der in Florida Computer programmierte, dazu eine Disney-Parzelle, vier Kinder. Harris hatte dafür nur ein Wort: ein Drecksloch. War schon früh bei den Computern eingestiegen, Großrechner, die alten UNIVACs, verdiente sechsmal mehr als Harris. Trotzdem machte er sich selber runter – lag vielleicht in der Familie. Er war kein Bill Gates. Das waren seine eigenen Worte: »Bud, ich bin im selben Alter wie Bill Gates.« Hey, du stehst gut da, hatte Harris ihm gesagt. Keiner von beiden hatte je studiert, aber sein Bruder holte sich alle zwei Jahre einen neuen Benz. Ich steh ganz gut da, antwortete er, aber man sollte das schon eingestehen können – »Bud, ich bin im selben Alter wie Bill Gates.« Da war sich Harris nicht so sicher. Schließlich konnte man sich nach Belieben etwas ausdenken, es fand sich immer schnell eine Geschichte als Rechtfertigung der eigenen Entscheidungen. Das Haus im Wald zum Beispiel. Das dir geistige Gesundheit garantiert und ewiges Alleinsein bis ans Ende deiner Tage. Diese Dinge sollten nicht zusammenhängen, dachte er.
Er schaltete den Grill ein, nahm ein Steak aus seinem Kühlschrank, doch er wusste, was zuallererst dran war. Auf seinem Anrufbeantworter warteten zwei Nachrichten, von ihr. Er riss sich nicht um das Gespräch. Tja, dachte er. Du hast es dir selbst ausgesucht.
Grace ging sofort beim ersten Klingeln dran.
Er sagte: »Hi, ich bin’s.«
»Ich bin nervös«, sagte sie. »Können wir das Hey-wie-geht’s gleich überspringen?«
»Kein Problem. Ich hab grad auch ’ne eBay-Auktion laufen.«
Keine Antwort.
»War ein Scherz«, sagte er.
»Was ist da mit meinem Sohn los, Bud?«
Er überlegte, wie er darauf antworten sollte. Nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, sagte er: »Billy hat sich an verschiedenen Orten rumgetrieben, wo er besser weggeblieben wäre.« Fast hätte er drangehängt wie üblich, ließ es aber. Da war etwas an der Art, wie sie ins Telefon atmete – ihn beschlich, er wusste nicht woher, das deutliche Gefühl, sie wüsste ganz genau, was ihr Sohn angestellt hatte. Wahrscheinlich wusste sie noch mehr als Harris, und er merkte, dass er sich jetzt ärgerte.
»Noch wird ihm nichts zur Last gelegt«, fuhr er fort, »könnte aber bald passieren.«
»Was ist mit Patacki, deinem Freund?«
»Grace«, sagte er.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Billy ist mein Junge.«
Harris spürte, wie er innerlich vom Ärger überging zur Wut, dann übernahm die Ruhige Hand, es langweilte ihn nur noch. So war’s immer schon gewesen, Grace verlangte immer etwas.
»Sieht so aus, als hätte Billy was zu tun mit diesem Toten, der in der verlassenen Fabrik gefunden wurde«, sagte er. »Wie tief er drinhängt, weiß ich nicht, er redet nämlich nicht.«
»Das heißt, wir brauchen einen Anwalt?«
»Ja. Ich kenne Billy«, sagte er. »Ihr braucht ganz sicher einen Anwalt.«
»Buddy –«
»Ich versuche, dir zu helfen«, sagte er. »Ich tue, was ich kann.«
Er legte eilig auf. Warum versuchte er bloß, ihr zu helfen? Keine Ahnung. Er bekämpfte seine Lust auf einen großen Drink und schaute über die Terrasse in die Ferne, schön, die Farben jetzt, das wird ein edler Sonnenuntergang. Jetzt leg dir ’ne Kartoffel in die Mikro. Brat dein Steak. Einen Salat dazu. Er trug das Steak raus auf den Grill und merkte, wie er langsam wieder in den eigenen Trott kam. Fell war auch zurück von seinem Streifzug, tadelloses Timing, ganz wie immer.
»Nicht für dich«, sagte er zu dem Hund. Er schloss den Grill über dem Steak und ging ins Haus, um sich das restliche Essen zu machen.
Neben Billy Poe gab es noch andere Sorgen. Denn der Staatsanwalt ermittelte gegen Don Cunko, Harris’ Stadtratkumpel, und bald würden sie erfahren, dass der Partykeller und die Bar mit Spüle in Dons Haus von Steelville Tiefbau finanziert waren, denselben Leuten, die die Ausschreibung für die Erneuerung von Buells Kanalisation gewonnen hatten. Harris mochte Cunko. Vielleicht hatte er ein unglückliches Händchen bei Freundschaften. Nein, dachte er, Cunko war zu weit gegangen, erst indem er Geld nahm, dann, indem er in dem neuen Keller Partys feierte. Das war kein Grund, jetzt selbstgerecht zu werden – es gab vieles, weshalb sie auch ihn drankriegen konnten. Geld hatte er nie genommen, aber andere Freiheiten hatte er sich erlaubt, das schon, vor allem, wenn er in der Stadt gewissen Leuten nahelegte, sich woanders eine neue Spielwiese zu suchen. Deshalb war die Kriminalitätsrate hier in Buell auch halb so hoch wie in Monessen oder Brownsville. Es gab viele Leute, die über ihn reden konnten, keiner davon ausgesprochen glaubwürdig, aber es gab genug von ihnen. Die Ermittlungen gegen Don Cunko stellten ihm das klar vor Augen.
Außerdem gab’s ein paar drängende Entscheidungen zu treffen. Denn der Stadtrat hatte seinen neuen Haushalt grad veröffentlicht, die Infrastruktur bröselte, das Umweltamt hatte die Stadt dazu verdonnert, die gesamte Kanalisation zu reparieren, aus der, wenn es heftig stürmte, Abwässer in den Mon strömten. In dem Haushalt war der Posten für die Polizei von Buell von 785000 Dollar auf 541000 reduziert worden – das war die größte Kürzung der Geschichte. Harris musste nicht allein die Trainingseinheiten verringern und die Laufzeit des schon klapperigen Fuhrparks ins Unendliche verlängern – auch die Kündigung von dreien seiner Vollzeitkräfte stand ihm jetzt bevor. Das waren praktisch alle.
Er betrachtete sinnierend seinen ausgestopften Elchkopf, einen Zwölfender, und fragte sich, wann er wohl wieder nach Wyoming käme. Erst als Rentner wohl. Ab nächsten Monat würde die Abteilung aus Steve Ho, Dick Nance und ihm bestehen, plus zwölf Teilzeitmännern. Denn Bert Haggerton war weg vom Fenster, das stand fest, und keiner würde ihn vermissen. Aber Harris würde wohl Ron Miller, dessen Kinder auf der Uni waren, auch entlassen müssen, Miller, den er schon seit zwanzig Jahren kannte. Aber Miller war ein Faulpelz, schielte ständig nach der Uhr, und wenn er in der Mittagspause einen Einsatz kriegte, dann bestellte er erst mal Dessert. Jerzy Borkowski, den es gleichfalls treffen würde, war kein bisschen besser. Alles Kleinstadtcops, dabei veränderten die Dinge sich, man brauchte eine andere Einstellung, die goldenen Jahre waren jetzt vorbei. Bei dem Gedanken, dass er immerhin Steve Ho behalten konnte, überfiel ihn wieder die Erleichterung – er hatte erst gefürchtet, dass der Stadtrat ihm Ron Miller als den dienstältesten der Beamten aufdrückte. Borkowski und auch Miller konnte er zwar anlügen – behaupten, dass der Stadtrat die Entscheidung, wer nun blieb, wer ging, getroffen hätte –, doch in einer Stadt von dieser Größe würden sie die Wahrheit bald genug erfahren. Keiner von den beiden würde jemals wieder mit ihm sprechen. Das musste er akzeptieren. Haggerton genauso wenig, aber der war ihm egal.
Das Steak, dachte er. Schnell nach draußen, wenden. Alles war noch nicht verloren.
»Haust du ab«, befahl er Fell, der sich dem Grill allmählich näherte.
Irgendwann würde, das war jedem klar, nach einer weiteren Haushaltskürzung die gesamte Polizei von Buell verschwinden – und dann würden sie mit der Südwest-Regional-Abteilung von Belle Vernon fusioniert. Drei Jahre war die letzte Haushaltskrise her; Ende November war die Stadt bankrott gewesen, und die letzten Wochen jenes Jahres waren alle ihre Angestellten zur Mon-Valley-Bank gegangen und hatten sich Anleihen statt der Gehaltsschecks geben lassen. Als der erste Tag des neuen Jahres kam, brachten sie alle ihre Leihscheine zur Stadtkasse und wurden ausbezahlt. Bud Harris war sich ziemlich sicher, dass so etwas anderswo nicht vorkam.
Die Bevölkerung des Tals wuchs wieder, aber deren Einkommen sank weiter, alle Haushalte schrumpften, und seit Jahrzehnten war kein Geld mehr in die Infrastruktur investiert worden. Sie hatten Kleinstadtmittel für Großstadtprobleme. Nicht mehr lange, sagte Ho, und alles würde kippen. Praktisch alle anderen Städte hier im Tal, mit Ausnahme von Charleroi und Mon City vielleicht, waren schon drüber, und zwar unrettbar. Die letzte Woche war am hellichten Tag in Monessen einem ins Gesicht geschossen worden. So war’s überall, flußauf- und -abwärts, und bei vielen von den jungen Leuten, wenn man sah, wie sie das akzeptierten, ihre nicht vorhandenen Aussichten, das war wie Funken in der Nacht, die dann erlöschen. Schon für einen Bürojob brauchte man einen Uni-Abschluss, und es gab von diesen Jobs eh nicht genug – Computerprogrammierer konnte man nicht endlos viele haben, Unternehmensberater auch nicht. Natürlich gingen diese Jobs heute nach Übersee, genau wie einst die Stahlarbeiterstellen.
Harris hatte keine Ahnung, wie das ganze Land langfristig überleben sollte; für eine stabile Gesellschaft braucht es stabile Arbeitsplätze, fertig, aus. Diese Probleme konnte auch die Polizei nicht lösen. Bürger mit Altersversorgung und Krankenversicherung neigten nicht dazu, ihre Nachbarn auszurauben, ihre Frauen zu verprügeln oder Methamphetamin im Gartenschuppen aufzukochen. Aber trotzdem wollten alle gern den Cops die Schuld zuschieben – so als könnten Polizisten die Gesellschaft vorm Zusammenbruch bewahren. Ihr müsst aggressiver durchgreifen, sagten sie dann, so lange, bis man ihren Sohn beim Autoklau erwischte und ihm etwas grob den Arm verdrehte – dann war man das Ungeheuer. Das die Bürgerrechte vergewaltigte. Sie wollten schlichte Antworten, aber die gab es nicht. Sorgt halt dafür, dass eure Kids die Schule fertig machen. Betet, dass die medizinisch-technischen Fabriken sich hier niederlassen.
In der Zwischenzeit genießt das Leben, wie ihr könnt. Er richtete sich seinen Teller an und gab Fell zwei Tassen Trockenfutter. Sehnsüchtig spähte der Hund zu Harris mit dem Teller auf dem Schoß, zu seinem Steak und der Kartoffel mit dem Schnittlauchquark. Doch Harris zuckte mit den Schultern und aß weiter.
Später würde Zeit sein für ein schönes Feuer und vielleicht auch, um das Buch fertig zu lesen, von James Patterson. Er würde Billy Poe vergessen.
»Komm schon rüber, Blödmann.«
Fell kam an und setzte sich zu Harris, denn er wusste, gleich kriegte er was vom Steak ab.
***
Als er am nächsten Morgen ins Büro ging, warteten schon Nachrichten auf ihn. Die wichtige stammte vom Staatsanwalt – sie hatten einen Zeugen aufgetrieben, der behauptete, er habe sich zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort aufgehalten. Dieser Zeuge schwärzte einen Footballspieler an, zwar wusste er den Namen nicht mehr, aber er war sicher, in der Gegenüberstellung würde er ihn dann erkennen. Ob ihm das was sage?
Als Harris zurückrief, war der Staatsanwalt irgendwo unterwegs. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und rieb sich die Schläfen. Seine kleine Schiebung mit der Jacke hatte nichts gebracht. Sie lag da immer noch, soweit er wusste, war jetzt aber nicht mehr von Belang. Nun Murray Clark – so hieß der Zeuge –, Harris rief den Namen im Computer auf. Da waren Trunkenheit am Steuer ’81, noch mal ’83, und Verhaftung ’87 wegen ungebührlichen Benehmens. Nichts seitdem. Er knetete den steifen Nacken. Offenbar ein Mann, der eine Kehrtwende zum Guten gemacht hatte. Nicht genug, um ihn im Zeugenstand als unglaubwürdig hinzustellen. Harris schaltete den Monitor aus. Schluss jetzt mit diesen Gedanken – die ihn schier umkrempelten.
Es kam ihm heiß vor im Büro; er machte alle Fenster auf und setzte sich in seinen großen Ledersessel, sah mit wippendem Bein auf den Fluss. Eine Zigarre hatte er verdient. Die würde ihm den Kopf durchpusten. Da stand gleich der Humidor. Es zog ein bisschen, das war gut – der Rauch würde hier keinen stören. Als er die Zigarre hatte, die er wollte, rutschte er noch tiefer in den Sessel, gab sich dem Genuss hin. Ein Glas Whiskey wäre noch die Krönung. Jetzt gehst du ein bisschen weit, sagte er sich.
Sein Zimmer war ein guter Ort. Ein Clubraum eigentlich. Den neuen Bau hassten zwar alle, was er ihnen nicht verdenken konnte, Blähbeton und Neonlicht, doch er war das, was man draus machte. Hundert Riesen jährlich hatte schon der Unterhalt des alten Baus gekostet. Sicher konnte man den auch ein Kunstwerk nennen – Türme, Gauben, Holzpaneele innen, hohe Decken, weite Räume. Wer in so einem Gebäude arbeitete, fühlte sich wie wer. Der neue Bau, das sagten alle zutreffend, sah wie ein Parkhaus aus.
Er ließ den Rauch im Mund zirkulieren. Er dachte kurz an Grace, betrachtete die eigenen mageren Beine und die abgewetzten Treter auf dem Schreibtisch, dann sah er sich im Büro um. Ein paar Dinge hatte er noch retten können aus dem alten Bau, den großen Eichenschreibtisch, Tischlampen und Ledermöbel, ein paar impressionistische Bilder vom Mon-Tal, wie es in der guten alten Zeit gewesen sein mochte, mit Männern, die ein Stück flussaufwärts ihre Plattbodenschiffe abschrubbten, und der Abendhimmel, tieforange leuchtend, über einer Stahlfabrik. Es gab auch Hirschköpfe, noch einen Elch, den er in Maine geschossen hatte. Einer von den Köpfen war ein kleiner Rehbock, und ihn auszustopfen war dem Präparator peinlich gewesen. Doch Harris hatte diesen Bock selbst aus dem tiefsten Wald hinausgetragen, an dem letzten Tag der Jagdsaison, er war sechs Kilometer reingelaufen, hatte seinen Bock erlegt und ihn auch wieder rausgeschafft, sechs Kilometer, mit den anderen an dieser Wand verknüpften sich ganz ähnliche Geschichten, keiner davon war eine Trophäe, doch erinnerte ihn jeder an einen Moment, an den er gerne dachte – als die Dinge einmal besser wurden als erwartet.
Und was Billy Poe betraf, das hatte er schon hunderttausend Mal erlebt – es war die Kehrseite davon, in einer kleinen Stadt zu arbeiten, man wusste, wen man grad verhaftete, und kannte auch noch seine Mutter. Schlief mit ihr, in diesem Fall, wobei es mit Grace mehr als das war. Vor ihm türmte sich zu viel Papier, wie immer, doch er wollte jetzt ein bisschen noch den Fluss betrachten, sich erlauben, eine Viertelstunde dazusitzen und dem Himmel zuzuschauen, wie er sich veränderte, dem Fluss beim Fließen, der war dagewesen, noch bevor der erste Mensch ihn sah, und würde dasein, lange nachdem alle abgetreten waren. Eine gute Art, für einen klaren Kopf zu sorgen. Nichts von dem, was Menschen fertigbrachten, nichts vom Schlimmsten, das in Menschen steckte, würde lange genug währen, um Bedeutung zu erlangen, jeder Fluss und jeder Berg bewiesen das – verschmutze sie, schlag alle Bäume ab, und immer heilen sie sich selber, sogar Bäume leben länger als wir, und die Steine würden auch den Weltuntergang überstehen. Das gerät dir manchmal aus dem Blick – dann nimmst du all die Hässlichkeit der Menschen zu persönlich. Dabei war die doch vorübergehend, so wie alles andere auch.
Er hatte die Zigarre erst seit wenigen Minuten an, aber er ging die Pflichtenlisten trotzdem durch, die eine auf seinem Notizblock und die wirkliche, die er im Kopf hatte. Zunächst verbannte er Poe gründlich aus seinen Gedanken – ja, der Junge war kräftig in Fahrt gekommen, doch jetzt lief er offenkundig aus dem Ruder. Ihm tat Grace leid, das war alles.
Warum also kamen seine Kopfschmerzen zurück? In achtzehn Monaten konnte er in Pension gehen, das hatte er auch immer angenommen, doch je näher dieser Zeitpunkt rückte, desto weniger war er sich sicher, wie er dazu stand, er kam gern jeden Tag zur Arbeit, und er mochte seinen Job. Noch ein, zwei freie Tage mehr pro Woche, das wär nett, doch sieben freie Tage konnten tödlich sein – er konnte nicht die ganze Zeit mit Jagen zubringen. Auf einmal sah er, was für einen Riesenfehler er gemacht hatte, in die Hütte zu ziehen: Einmal pensioniert, würde er vollkommen allein sein. Steve Ho und Dick Nance, und Dolly Wagner und Sue Pearson, die im Stadtratsbüro arbeiteten, und Don Cunko, sogar Miller und Borkowski – diese Leute kamen für ihn einer Art Familie noch am nächsten. Alles, bis ins Letzte, sah jetzt wie ein Fehler aus. Er hatte sich das selber angetan.
Rasch stand er auf und ging zu seiner Tasche, wo die Xanax waren, schüttelte sich eine in die Hand und nahm sie nicht. Er legte sie zurück und machte schnell drei Sätze Situps und drei Sätze Liegestütze. Wenn man sich um seinen Körper kümmerte, dann folgte auch der Geist. So hieß es. Harris stand nicht übel da. Ganz gut sogar – genug Geld auf der hohen Kante, wie Joe Lewis würde er nicht enden, der Chief von Monessen, der nach seiner Pensionierung als Schulwächter arbeiten musste. Und, wie er sich andauernd ins Gedächtnis rief, er machte gute Arbeit, konnte stolz auf das sein, was er tat. Buell mochte im Tal eine der ärmsten Städte sein, zum Leben war sie immer noch eine der besten, weil die Kids hier nicht so viel herumsprayten und weil das Dope nicht öffentlich gedealt wurde. Verzögerungstaktik war das, nichts sonst. Es war erst ein paar Wochen her, da hatten sie die Leiche einer jungen Frau gefunden, die in Greene County ansässig war, ihr Körper voller Methamphetamine, keiner wusste, was sie in Buell verloren hatte. Dieses Jahr waren in Fayette County außerdem sechs Leichen aufgefunden worden, und bei dreien fehlte jede Spur. Die Presse war schon dran, der neue Staatsanwalt war in der Defensive. Und die letzten beiden fallen klar in dein Ressort, sagte er sich. Da wird er wohl einen Volltreffer brauchen.
Es klopfte, Harris schloss die Tür auf und erblickte Ho, der seine dicke Wampe vor sich hertrug. Seltsam kleine Hände hatte er und kleine Füße. Seine Eltern stammten aus Hongkong, ihnen gehörte das Chinese Buffet in North Belle Vernon. Er trat ein, schob sich vorbei an Harris ins Büro und schnüffelte. Als er im Aschenbecher die Zigarre fand, nahm er sie kurzerhand und schnippte sie durchs offene Fenster raus.
Bud Harris runzelte die Stirn. Die Zigarre hatte sieben Dollar gekostet.
»Es ist erst zehn Uhr morgens, Scheiße«, sagte Ho.
»Und ich bin ein erwachsener Mann.«
Ho zuckte mit den Schultern. »Könnte sein, dass wir eine Beschwerde kriegen«, sagte er. »Ich hatte gestern Abend einen Einsatz wegen Lärmbelästigung, die Sparrows Point Apartments, und am Ende musste ich den Karabiner einsetzen. Zwölf Schuss.«
Da musste Harris blinzeln, und dann dachte er, nein, wenn es so schlimm wäre, hätte er bereits davon gehört. So oder so, die Ablenkung war ihm willkommen. Ein Gutteil ihrer Probleme kam aus Sparrows Point, aus den Sozialbauwohnungen am Stadtrand.
»Es war bloß ein Pitbull«, fuhr Ho fort. »Du kennst doch diesen kleinen Glatzkopf mit der tätowierten Fresse? Hat mir seinen Köter auf den Hals gehetzt, in voller Absicht, wollte wohl, dass ich aufs Dach vom Wagen hüpfe oder was, den drolligen Chinesen mache.«
»Gab’s noch weitere Verletzte, abgesehen von dem Hund?«
»Um Himmels willen. Nur, du hättest mal die ganzen Wichser sehen sollen, wie sie gleich in Deckung gingen hinter Autos und so’n Scheiß. Zu blöd, dass ich das nicht gefilmt hab.«
»Und was sollte das mit dem Gewehr, bei einer Lärmbelästigung?«
»Die waren sieben oder acht. Was sollte ich denn tun, zum Henker?«
»Weißt du, was uns die Versicherung kostet«, sagte er zu Ho.
»Ich scheiß auf die Versicherung«, sagte Ho. »Wo bleibt die Demoralisierungstaktik? Diese Schweine kochen hinten in den Häusern Meth auf. Eine Umweltsünde ist das.«
»Bloß dass sie die Bürger damit nicht belästigen«, bemerkte Harris. »Irgendwo kriegen’s die Leute immer her.«
»Ach, du und deine liberale Politik.«
»Nee, libertär.«
»Egal.« Ho grinste.
»Pass auf, wie du redest, wenn du die Knarre behalten willst.«
»Jawohl, Sir.«
»Den Papierkram schon erledigt?«
»Wollte erst dich fragen.«
Harris rieb sich an den Schläfen. Insgesamt war’s besser, wenn es über Ho, der einen Hund mit seinem automatischen Gewehr erschoss, nichts Schriftliches gab. Sollte es jedoch zu der Beschwerde kommen … »Lass mich drüber nachdenken. Und gegen elf könntest du mal für Billy Poe was holen, aus dem Dairy Queen.«
»Der Junge ist geliefert, stimmt’s? Ich habe von Carzanos Zeugen schon gehört.«
»Wir werden sehen.«
»Tut mir leid, Chief. Wie gesagt, es wär wohl besser, wenn der Arsch von Cecil Small noch Staatsanwalt wär.«
»Also«, sagte Harris. »Hab zu tun.« Er gab Ho einen Wink, und der ließ ihn allein in dem Büro.
Ho hatte recht. Denn Cecil Small, der länger Staatsanwalt von Fayette County war als Harris Polizist, war vor den Wahlen letztes Jahr um Hilfe bittend angekommen. Harris hatte abgelehnt, und Cecil Small hatte verloren, wegen vierzehn Stimmen. Cecil Small hätte die Sache regeln können – schließlich hatte er schon einmal zugestimmt, dass Billy Poe mit Hilfe eines Deals davonkam und nicht wegen schwerer Körperverletzung belangt wurde. Doch Harris hatte Cecil Small nie leiden können – der genoss das Gott-Spielen ein bisschen zu sehr. Das war würdelos, ein Siebzigjähriger, der sich noch immer dran berauschte, Leute einzusperren. Und von anderen erwartete, dass sie ihm einen Drink spendierten, jedes Mal, wenn er gewonnen hatte. So als ob er bei der Schlacht von Gut und Böse eine Schlüsselposition besetzt hielte. Er war seit dreißig Jahren König hier in Fayette County, und erst jetzt hatte er es gemerkt: Die Wähler waren’s leid. Der neue Staatsanwalt, erst achtundzwanzig, den Harris gewählt und den er überhaupt ins Amt gebracht hatte, indem er die erforderlichen Anrufe für Cecil Small verweigerte, der musste sich beweisen, und er überschlug sich geradezu, um einen Fall wie diesen zu bekommen. Ja, es hatte Folgen, wenn man nach seinem Gewissen abstimmte.
Er fragte sich, was Ho wohl davon hielt, er protegierte schließlich Graces Sohn. Vermutlich akzeptierte er es als natürliches Verhalten. Ho war äußerst realistisch, und er glaubte nicht daran, dass er etwas verändern könnte. Er gehörte zu der neuen Generation, sein stummelnasiges Sturmgewehr nahm er überallhin mit, er war gekleidet, als beträte er gleich eine Kriegszone, wogegen Harris selten daran dachte, seine kugelsichere Weste anzulegen, und als »Arbeitsschuhe« trug er eben diese Cowboystiefel, die er seit der Reise nach Wyoming hatte – keine gute Wahl, falls er mal wen zu Fuß verfolgen musste. Aber Ho lag richtig. Falls was schiefging, war Verstärkung in Gestalt der State Police mindestens eine halbe Stunde weg, die Dinge änderten sich, heute waren alle Kids auf Speed, das sie sich selbst aufkochten, und man hatte keine Ahnung, wozu sie imstande waren. Nein, dachte er, so zu denken ist Teil des Problems. Da steht ihr, du und die, von Anfang an auf gegnerischen Seiten. Harris musste über sich den Kopf schütteln. Wahrscheinlich muss der alte Mann erst noch erfunden werden, der nicht findet, dass die jungen Leute allesamt degeneriert sind. Liegt im Wesen, bei der Jugend wie beim Alter. Es tut weh zu sehen, wie die Welt sich ohne dich verändert.
Allerdings konnte er es Ho nicht verdenken, dass ihm eine Handwaffe nicht reichte, wenn er sich in eine solche Situation begeben musste. Ganz zu schweigen davon, dass Ho nur noch da war, weil ihm Harris freie Hand ließ, nur so machte diese Arbeit Spaß. Die Federal Police stieß all ihre alten M-16s ab, sie schenkte sie den Stadtcops, Harris hatte zehn davon, umsonst, mal abgesehen von den Frachtkosten. Und Ferngläser, Nachtsichtgeräte, Schutzschilde und alte kugelsichere Westen hatten sie auch noch gekriegt, alles umsonst. Jetzt hatten sie mehr Waffen und mehr Ausrüstung als Personal, mehr Ausrüstung, als Harris damals hatte, bei seinem Vietnameinsatz mit den Marines. Das war Hos Werk, der Wochen seiner Freizeit damit zugebracht hatte, die Formulare auszufüllen, der sein eigenes Gewehr für Tausende von Dollar aus der eigenen Tasche mit einem Zehn-Inch-Lauf und dem holografischen Visier hatte versehen lassen. Derzeit wohnte Ho ganz zufrieden im Keller seiner Eltern und betrieb die Waffenschmiede nebenbei, doch eines Tages würde er beschließen, dass es Zeit für etwas Neues wäre. Und je langweiliger Harris ihm die Arbeit machte, desto eher würde dieser Tag anbrechen. Harris würde Ho vermissen. Aber wieder einmal griff er vor. Ho war ja noch nicht weg.
Er überlegte, was er eigentlich jetzt tun musste, doch dann fiel Billy Poe ihm wieder ein und was das mit Grace machen würde. Er erinnerte sich dunkel an den Mann, den Hundebesitzer, laut Ho, er war vor kurzem erst aus West Virginia in die Stadt gezogen, so ein typischer zahnloser Speedfreak, mit Verwandten hier. Er fragte sich, ob in dem Fall ein Extra-Besuch angesagt war. Aber wahrscheinlich war der bedient vom Anblick seines Hundes, der von einer MG-Salve zerlegt worden war.
Nachdem er eine weitere Stunde den Papierkram abgearbeitet hatte, beschloss er, dass er es nicht mehr ertrug. Er ging und holte Billy aus der Zelle. Der sah niedergeschlagen aus. Gutes Zeichen.
»Komm, wir reden im Büro«, sagte Bud Harris.
Billy folgte ihm in das Büro und blieb brav stehen, bis ihm Harris einen Stuhl anbot. Das musste dieser Junge doch schon x-mal durchgemacht haben – zitiert ins Zimmer des Direktors und dann Standpauke. Auch hier in diesen Raum zitiert, und Standpauke. Was hatte er beim letzten Mal gesagt? Bud Harris hoffte, dass er sich nicht wiederholte – sie erinnerten sich alle dran.
»Ich hab dich spielen sehen«, sagte er.
Poe sagte nichts und starrte auf den Boden.
»Hättest damit auf die Uni gehen sollen.«
»Wollte keine Schule mehr, hing mir zum Hals raus.«
»Na, ich werde nicht behaupten, dass das klug war. Ich weiß, andere haben das gesagt oder den Mund gehalten. Ich sag’s noch mal: Das gehört zum Dümmsten, was du je gemacht hast.«
Billy schüttelte den Kopf. »Wenn du wo aufwächst, und kaum bist du achtzehn, musst du weg, so schnell wie möglich – das ist nicht in Ordnung.«
Harris blieb die Spucke weg. »Ich könnte dir jetzt zustimmen, ich könnt’s aber auch lassen«, sagte er, »so oder so, es ändert nichts.«
»Ich will den Trainer anrufen, in Colgate.«
Als es klopfte, war das Ho, und Harris holte ihn herein. Er brachte eine Schachtel mit, vom Dairy Queen, und Harris ging sie durch und stellte einen Hamburger und Pommes vor Poe hin und einen Milchshake. Alle sahen, wie der Dampf vom Essen aufstieg.
»Vanilleshake?«, sagte Harris.
»Danke nein.«
»Los, iss schon.«
»Kann nicht«, sagte Poe. »Von dem Zeug krieg ich Magenschmerzen.«
Ho und Harris tauschten einen Blick, dann sahen sie Poe an.
»Er hat auch nicht gegessen, was ich gestern Abend hingestellt hab«, sagte Ho.
»Nur wegen der Chemie. Das Zeug ist nicht frisch«, sagte Poe.
»Was glaubst du, was du im Gefängnis kriegst?«, fragte Ho. »Alles bio, glaubst du?«
Harris grinste, schickte Ho allerdings aus dem Zimmer. Dann betrachtete er wieder Billy Poe über den Tisch hinweg. Beschloss, dem Jungen etwas zuzusetzen. »Keine Arbeit«, sagte er. »Und keine nennenswerte Ausbildung, kein Auto, wenn man nur die zählt, die fahren. Ich vermute, demnächst bringst du irgendeine Braut in Schwierigkeiten, wenn das nicht schon längst passiert ist. Und jetzt bist du nur um Fotzenhaaresbreite von einer Mordanklage entfernt, mehr als ein Fotzenhaar ist’s nicht, verlass dich drauf.« Er hielt zwei Finger hoch, nah beieinander. »Ob ein Football-Trainer von der Uni jetzt noch weiß, wer du bist, dürfte die geringste deiner Sorgen sein.«
Poe sagte nichts. Er stocherte ein bisschen in den Pommes rum.
»Ich weiß nichts davon.«
»William, ich hab dich gesehen, Mensch. Wie du zurückgekehrt bist an den Tatort, um …« Er hätte fast die Jacke angesprochen, aber bremste sich. »Ich hab dich nur nicht gleich verhaftet wegen deiner Mutter. Es gehen viele Jungs wie du weg, und die bleiben, na, ich hab gesehen, was aus denen wird.«
»Und du bist hier, wo es so toll ist, wegzugehen.«
»Ich bin ein alter Mann. Ich hab ein Boot und einen Liegeplatz und eine Hütte auf dem Berg.«
»Na toll.«
Bud Harris wühlte in dem breiten Eichentisch herum und holte einen Schnellhefter hervor, aus dem er ein paar Ausdrucke von Digitalfotos nahm. Er reichte sie Poe, der ließ sie fallen, und zwar so, dass klar war: Diese Szene kannte er.
»Otto Carson, falls du wissen willst, wie der Kerl hieß. Der Staatsanwalt in Uniontown ist neu im Amt, das weißt du vielleicht schon, und er hat eine Frauenleiche im Container, aber keine Spuren. Da wirfst du ihm das hier in den Schoß. Die von der State Police sagen, ich soll jetzt deine blöden Schuhe konfiszieren.«
Billy sah auf seine Turnschuhe.
»Pass auf, Billy: Der tote Otto Carson war ein Haufen Scheiße. Schon für jeden Mist im Knast gesessen, ein paar Zwischenstopps in der Geschlossenen, zwei Haftbefehle wegen schwerer Körperverletzung, einen aus Baltimore, den anderen aus Philadelphia. Er hätte früher oder später jemand umgebracht. Hatte er höchstwahrscheinlich schon.«
»Worauf willst du hinaus«, fragte Poe.
»Wenn’s von mir abhinge und du gleich zu mir gekommen wärst, dann hätte ich gesagt, ein klarer Fall von Notwehr. Oder alles hätte sich von selbst geregelt. Aber hast du nicht gemacht. Du bist geflohen. Und jetzt hast du einen Typen, der dabei war in der Werkshalle und sagt, du hättest seinen Kumpel umgebracht.«
Bud Harris lehnte sich zurück und in die Sonne. Meist beobachtete er die anderen in dieser Lage, jedes Zucken ihrer schuldigen Gesichter. Aber Billy Poe, den wollte er nicht sehen. »Brauchst du einen Kaffee?«, fragte er.
Poe schüttelte den Kopf.
Er wartete darauf, dass Poe was anmerkte, sich irgendwie bewegte, tat er aber nicht. Harris stand auf und ging ans Fenster, schaute übers Tal. »Ich schätze, ihr wart fünf da in der Halle. Du, ein zweiter, höchstwahrscheinlich Isaac English, Mr. Carson und zwei seiner Freunde –«
»Warum habt ihr Isaac dann nicht verhaftet?«
»Isaac English ist hier kein Verdächtiger«, erklärte Harris, »weil der Staatsanwalt nicht weiß, wer er ist, und je mehr der Staatsanwalt weiß, desto schlimmer bist du dran.«
»Wie ich schon sagte«, meinte Billy, »ich weiß nichts davon.«
Bud Harris nickte und beschloss, den netten Cop zu spielen. »Ist ja alles richtig, Billy. Du musst mir jetzt nur erzählen, was passiert ist und wer noch in der Maschinenhalle war, damit wir dafür sorgen können, dass der Fall als Notwehr vor Gericht kommt. Weil wenn die Geschworenen nichts anderes sehen, als dass du den Mann getötet hast und dann geflohen bist, wird selbst ein Grüppchen erzreaktionärer Selbstjustizanhänger dafür stimmen, dass du an den Galgen kommst.«
»Sein Kumpel hielt mir ’n Messer an die Kehle, und der tote Typ kam auf mich zu und wollte mich plattmachen«, sagte Poe.
»Gut.«
Poe blickte ihn an.
»Hör jetzt nicht auf.«
»Da war es dunkel«, sagte Poe, »konnte die restlichen Gesichter nicht erkennen.«
»Nein.«
»Ich hab ihn nicht getötet.«
»Billy, Scheiße, ich hab dich dabei erwischt, wie du zurückgekehrt bist an den Tatort.« Wieder schaffte er es, nicht die Jacke zu erwähnen, die er dort gefunden hatte. »Überall sind deine Fußabdrücke. Adidas in Größe 47 – wie viele Leute tragen die wohl?« Harris suchte unterm Tisch Poes Füße. »Und vermutlich blaue Schuhe, stimmt’s?«
Poe zuckte mit den Schultern.
»Wenn du Glück hast, sitzt du, bis du fünfzig bist, im Knast. Mit Pech kriegst du die Todesspritze.«
»Was auch immer.«
»Billy, wie die Wahrheit aussieht, auf die’s ankommt, wissen wir doch: Diesen Mann haben die eigenen Entscheidungen im Leben umgebracht. Du hattest daran praktisch keinen Anteil. Aber du musst mir jetzt helfen.«
»Die Gesichter konnte ich nicht sehen.«
Harris schüttelte den Kopf. Befahl Poe, aufzustehen.
»Werde ich jetzt eingebuchtet?«
»Deiner Mom zuliebe lasse ich dich heute Abend gehen, damit du deine Dinge ordnen kannst. Ich komme morgen früh vorbei und hol dich ab, bevor die State Police es tut. Du sorgst dafür, dass diese Turnschuhe verschwinden, und falls du die Schachtel und die Quittung auch noch hast, verbrennst du sie. Komm bloß nicht auf Ideen. Wenn du abhaust, bist du garantiert geliefert.«
»Okay«, sagte Poe. »Ich werde da sein.«
»Dieser Zeuge«, sagte Harris. »Der behauptet, dass er es mit angesehen hätte. Sag mir was zu ihm.«
»Ich muss nach Hause«, sagte Poe. »Lässt du mir einen Tag Bedenkzeit?«
»Haust du ab, wenn ich dich gehen lasse?«
»Ich geh nirgendwohin.«
Ach, was soll’s, dachte er. Und dann: Mach jetzt keinen Fehler in der Sache. Aber noch hatten sie nichts, um Poe festzuhalten. Jedenfalls nichts, wovon der Staatsanwalt gewusst hätte.
»Ich würd sagen, du hast einen Tag oder zwei, bis der Haftbefehl vorliegt. Ich komme morgen früh zu eurem Haus. Sei da, ich sag’s dir.«
Also, dachte Harris, als er Billy Poe zum Eingang des Reviers begleitete. Gerade hast du dir das Leben deutlich spannender gemacht.