2. Isaac

Er tastete sich an dem Bach entlang, der Neumond, dachte er, die Nacht war richtig dunkel. Bald schrumpfte die Schlucht zu einem flachen Flussbett, und er war auf dem Gelände des Stahlwerks südlich der Stadt. Er wandte sich nach Norden, längs den schmalen leeren Bauten, jeder war vierhundert Meter lang und zwanzig Stockwerke hoch, ging vorbei an den verbleibenden vier Hochöfen und den Maschinenhäusern, die rostschwarzen Öfen überragten immer noch die hohen Bauten, Hunderte riesiger Rohre wanden sich wild umeinander in verwickelten Verschlingungen. Schlackenwaggons standen zu Dutzenden noch auf den Gleisen. Isaac kam unter dem Erzkran durch und passierte I-Träger und T-Träger und andere Bauteile in hohen Stapeln. Bei der Demontage war das Geld wohl ausgegangen. Keiner wollte eine alte Stahlfabrik erwerben. Haftungstechnisch zu gefährlich.

Es war dunkel, und es ging ihm gut. Er folgte den Bahngleisen, weg von der Fabrik, vorbei an seiner Stadt, an seiner alten Schule, an der Straße, die zu Poe führte. Das alles war schnell außer Sicht. Das Gleisbett war eng, dunkel und gewunden, in die Hügelflanke eingeschnitten, dichter Wald auf beiden Seiten, und das Echo seiner Schritte schien sehr weit zu tragen. Jetzt beginnt der Kleine seine Reise wirklich. So allein wie als er auf die Welt kam. In der totesten Stunde der Nacht – da sind die Tageswesen noch im Schlaf, die Nachtwesen haben sich hingelegt. Der Kleine unterwegs, zu Fuß. Ziel Kalifornien. Die Wärme seiner eigenen Wüste.

In den Wäldern an der Bahnstrecke gab’s ein paar Pennerlager, und er hielt nach Lagerfeuern Ausschau. Ja, der Kleine wird es schaffen, dachte er. König der Schlangen, Pennerherzog. Hoch am Himmel über ihm zischte ein Licht entlang. Ein Satellit. Genosse der arabischen Händler, der Astronauten. Alles Wanderer.

Der Himmel wurde ganz allmählich weiter, so ein blasses graues Leuchten, und die paar Minuten, eh die Sonne richtig aufging, dachte er: in etwa jetzt, und kurz danach vernahm er ein vereinzeltes Tschilpen und dann ein zweites, wenige Sekunden später raschelten die Büsche und die Wälder vor lauter Bewegung, da erklangen Vogelrufe, Flügelflattern, von Tangaren und Kernbeißern bis hin zu Pirolen. Alle mit derselben inneren Uhr. Sie leben nach denselben Regeln, die sich niemals ändern. Anders als der Kleine. Der macht seine eigene Sonne. Und beschließt, dass er die Nacht vorzieht.

Das andere Flussufer bestrahlte hell die Sonne, während, wie es schien, auf seiner Seite alles dunkler wurde. Vor sich konnte er den hohen Schlot neben dem baufälligen Wasserturm der Eisenbahnwaggonfabrik erkennen. Langsam wurde er nervös. Nein, dachte er, der Kleine liebt doch jede Art von Prüfung. Schleudert seinen scharfen Geist jedem entgegen, der ihm was von »Du sollst nicht« erzählen will. Und er beschließt, sich seinen Rucksack, seine ganzen Sachen jetzt zurückzuholen, weil er es so will. Nur dass er sich diesmal von hinten der Fabrik annähert.

Isaac verließ die Gleise, folgte bergan einem kleinen Bach, unter dem Baldachin aus Erlen lang, deren Baumrinde weiß vor all dem Grün ringsum erschien, und in dem klaren schnellen Wasser hingen Moosschlieren. Einige Pflanzen blühten. Weiß, das ist die Blutwurz, lila, keine Ahnung. Maiblumen sind auch dabei – fast ausgestorben –, hübscher, als es für sie gut ist. Auf der Hügelkuppe kam der Bach aus einem Loch im Boden, und er legte sich ins feuchte Moos und spritzte sich das kalte Wasser in den Mund, bis er den Magen voll hatte. Danach bewegte er sich langsam durch den Wald voran, von Baum zu Baum schlüpfend, bis er die Lichtung sehen konnte, wo am Vorabend Bud Harris seinen Truck geparkt hatte. Die Lichtung war jetzt leer. Er blieb trotzdem im Wald, ging parallel zur Feuerwehrstraße, bis er zur Wiese und zu der Maschinenhalle kam. Es hatte lang gedauert, mittlerweile stand die Sonne schon recht hoch. Er spähte in den offenen, dunklen Eingang der Halle. Schuld und noch ein anderes Gefühl. Der Ort des Sieges. Sollte nicht grad stolz sein, bin es aber. Als er das dachte, nahm gleich sein Schuldgefühl zu, und er ging den Rucksack auf der Wiese suchen.

Darüber wird nachzudenken sein, entschied er. Wie viel Leute kennst du, die im Zorn noch niemals zugeschlagen haben? Dich allein. Und das ist inklusive der Ereignisse von neulich Nacht.

Und da ist auch dein Rucksack, exakt wo du ihn gelassen hattest … Geld und Kladden sind noch drin. Wenn auch ein bisschen feucht. Die Tüte voll Rosinen und Erdnüsse. Gutes Frühstück. Und da fällt dem Kleinen ein, dass er schon seit zwei Tagen nichts gegessen hat. Kein Grund zur Sorge – Essen findet sich, fast überall. Nachdem er alles, was er brauchte, in dem größeren Armeerucksack verstaut hatte, ließ er die kleinere Schultasche auf der Wiese und machte sich auf, zurück zum Bahngleis, unterwegs aß er die Erdnüsse und die Rosinen auf.

***

Zwei Stunden später fuhr ein kurzer Zug an ihm vorüber, mitten auf einer langen Geraden, und er konnte nur frustriert den rauschenden Waggons nachschauen, zu schnell, um sich daran festzuhalten. Sowieso zu müde und zu hungrig. Wenn du es versucht hättest, du wärst am Ende noch unter die Räder gekommen. Was soll’s. Das hätte den natürlichen Ablauf der Dinge nur beschleunigt. Lebewesen in der Zeit, sind auf dem Weg zu unserem Verfall. Wie feige, dachte er. Das soll’s. Von all den Spermien und all den Eiern, die es je gegeben hat, bist du jetzt hier, bewegst dich unter eigener Regie voran. Die Chancen, dass es dich gibt – eins zu zehn Milliarden, nein, noch weniger. Eins zur Avogadroschen Zahl: 6022 mal 1023. Und dann schmeißen Leute glatt ihr Leben weg.

Er wollte lieber nicht dran denken – traurig, viel zu viel für ihn. Er kalkulierte, wo er war, wie schnell. Auf flachem Untergrund kann er fünfeinhalb Kilometer in der Stunde schaffen. Auf dem Schotter hier ein bisschen weniger. Ermüdet schnell die Knöchel. Plus die Gleise folgen jeder Flusskrümmung – die Straßen wären kürzer. Bloß dass hier das Land ja flach ist und der Fluss ihn hinbringt, wo er hinwill. Weil der Kleine weiß, dass er sich auf den Straßen nur verirren wird. Er schwingt sich auf den Kosmos ein, der langsam ist und stetig.

Dann kam Belle Vernon, die nächste größere Stadt flußabwärts. Kürzlich hatte sich dort einiges getan, die Einkaufsmall, der Lowe-Einrichtungsmarkt, der Starbucks, solche Läden. Mittlerweile ist der Kleine auch zu Fuß längst fort aus allen Orten, wo er jemand kennt. Ihm wird kein Ort mehr fremd vorkommen, jetzt, wo aller Komfort wegfällt. Sein Zuhause ist die Welt. Die Lehren schickt er durch den Äther, damit andere sie durch die Haut aufnehmen. Ein Kleinkind beim Sprechen seiner ersten Wörter. Eine Mutter beim Empfangen ihrer Tochter. Und ein alter Mann in Indien, Erkenntnisse auf seinem Totenbett – das ist der Kleine.

Als er um den scharfen Knick des Flusses bog, wo eine Stützmauer den Hügel daran hinderte, aufs Bahngleis abzurutschen, überraschte er zwei Männer, die mit bloßem Oberkörper an der Mauer standen. Dieser Ort war abgelegen, und die Männer hielten Spraydosen in den Händen. Der eine hatte einen glattrasierten Schädel und ein Adler-Tattoo, das sich über seine ganze Brust zog. Isaac war unsicher, ob Umdrehen und Umkehren jetzt besser war oder schlicht Weitergehen. Dann erkannte er den zweiten – Daryl Foster. Der war ein Jahr unter Isaac gewesen, hatte aber dann die Schule hingeschmissen. Er jobbte in Charleroi in einer Resterampe. Isaac entspannte sich.

»Isaac English?«

»Hallo Daryl, du bist das.«

»Stimmt«, sagte er, »das ist ’ne Weile her jetzt, oder?« So wie Daryl lächelte, schien er sich wirklich über die Begegnung hier zu freuen.

»Und, wie läuft’s?«, fragte der Freund mit dem rasierten Schädel.

»Gut«, sagte Isaac.

»Hier, von Nietzsche«, sagte Daryl, zeigte auf das, was sie gerade sprayten.

Isaac nickte. Sie hatten, ordentlich in großen Druckbuchstaben, hingeschrieben: Aus der Kriegsschule des Lebens, Was mich nicht umbringt – dann hatte er sie unterbrochen.

»Na dann, Bruder«, sagte der Freund, nickte Isaac kurz zu.

»Schön locker bleiben«, sagte Isaac, nahm das als Zeichen und setzte sich wieder in Bewegung.

»Hey«, rief Daryl, »kümmerst du dich noch um deinen Dad? Ich dachte, scheiße, du wärst längst schon weg und würdest wissenschaftliche Experimente machen oder so.«

»Bin auf der Flucht«, rief Isaac zurück. »Wenn einer nach mir fragt …«

»Ich sag kein Sterbenswörtchen, Bruder.«

Noch ein Winken, Isaac ging weiter. Das war an dem Tal das Gute. Diese richtig antiautoritäre Tendenz. Wer anschwärzt, steht weit unter einem Mörder. Sogar zwei solche Typen halten zu dem Kleinen, dachte er. Er sucht sich Freunde unter Helden wie auch Mördern. Unter Reichen, unter Hilflosen.

Er setzte seinen Weg fort. Dass sich Daryl mit weißen Rassisten rumtrieb, war nicht ungewöhnlich. »Sturmfront« nannten die sich. Als die Stahlindustrie unterging, waren sie aufgetaucht, und Pennsylvania war mittlerweile voll von ihnen. Mehr als jeder andere Staat, hatte er irgendwo gelesen. So viel Hügel – können die sich ungestört versammeln. Aber keiner nahm sie wirklich ernst. Und dass sie irgendwem mal was getan hätten, noch nie gehört. Natürlich leicht gesagt, wenn du selbst weiß bist.

Kurz darauf kam Allenport am gegenüberliegenden Flussufer, wo die Wheeling-Pittsburgh-Stahlfabrik noch immer lief. Doch jeder wusste, dass auch sie bald dichtmachen würde – sie fuhren nur noch eine Schicht mit ein paar hundert Leuten. Gerade ging ein langer Zug von dem Gelände ab, der Blechrollen abtransportierte.

Dann folgte ein langes Waldstück, und wenige Kilometer später sah er den Schleppkahnanleger gegenüber Fayette City mit den Molen und den riesenhaften weißen Lagertanks, vertäut lag eine Handvoll Schleppboote mit Schornstein, Führerhäuschen und dem stumpfnasigen Bug, am anderen Ufer lagen leere Lastkähne vor Anker. Überall trieben die Bäume und die Büsche frisches Grün hervor, es war ein Aufstand, es war über ihm und ringsherum und überm Wasser, nirgends eine kahle Stelle, nur das Schotterbett der Gleise. Weißer Fleck dort im Gebüsch. Stück Styropor? Ein Beinknochen. Entblößt, gebleicht, von einem Streuner oder einem Zugselbstmörder. Phosphorspender. Alte Knochen bringen frische Blüten. Regeneration. Der Kleine ist schon einmal hier gewesen. Der Kleine hat am Bug von Wikingerschiffen gestanden, Eisbären gejagt. Gehörte zu den toten Helden von Omaha Beach, die ihre Kameraden retten wollten. Schlägt ihn was zu Boden, steht er wieder auf. Und lebt in Ehre – einer von den wenigen. Die Menschen weichen voller Scham vor ihm zurück, der Kleine steht alleine da. Und kann sowohl die Besten wie die Schlechtesten als Weggefährten akzeptieren, ja, sogar sich selbst.

Jetzt macht der Kleine Pause, dachte er. Der Kleine hat seit zweiundsiebzig Stunden nicht geschlafen. In den dichten Büschen an der Flussböschung suchte sich Isaac ein Plätzchen, streckte sich auf seinem Schlafsack aus und war gleich weg. Es war fast dunkel, als er aufwachte und seinen Weg fortsetzte. Du hast acht Stunden geschlafen. Wiederaufladung. Als er nach Fayette City reinkam, war es schon stockfinster, flache, eckige Behausungen und leere Läden, Bahngleise direkt am Fluss, im Schotter lag ein Frauenkleid. Die Bahnlinie passierte kleine weiße Häuser, manikürte Rasenflächen. Er war wieder hungrig, schätzte, dass er etwa fünfzehn Kilometer hinter sich hatte, und steuerte die Hauptstraße an, um etwas zu essen aufzutreiben. Nichts. Die Läden waren alle in die Einkaufszentren außerhalb der Stadt gezogen. Prima, dachte er. Dann isst du dreißig Tage lang halt nichts. Von heute aus ein weiter Weg. Er kehrte zu der Bahnlinie zurück.

Der Fluss war schwarz, die Sterne leuchteten sehr hell. Gefühlte Ewigkeit, seit du mit jemandem gesprochen hast. Und was dein Magen sagt, das ignorierst du jetzt. Den scharfen Schmerz, der stumpf wird und dann wieder scharf. Denk lieber an was anderes. Der nächste Stern ist vierzig Billionen Kilometer weit weg. Proxima Dingsbums. Strahlte schon, bevor es Dinosaurier gab. Und wird noch strahlen, wenn kein Mensch auf Erden übrig ist. Andere Galaxien und Billionen Sterne. Wie klein du dich immer fühlst, ist meilenweit entfernt von aller Wahrheit, den Atomen und den Staubkörnchen.

Nur schwaches Denken, dachte er. Es stimmt natürlich. So wie dich dein eigener Tod auch deprimieren kann. Du hast nur eine Pflicht – du machst das Beste draus. Die einzig echte Sünde ist, dein Leben nicht zu schätzen. Jetzt ist Charleroi da drüben aufgetaucht, er kommt ja gut voran. Die Kräne, das muss schon Lock Four sein. Aufwachen. Er schlug sich ins Gesicht. Deutlich zu spüren. Auf der anderen Flussseite sah er in Charleroi die Lichter, eine Decke auf der Hügelflanke. Näherte sich jetzt den Kränen – das war, wo sie sie gefunden hatten. In dem Schleusenkanal hatte jemand sie erspäht, nur wegen des Kontrasts zur hellen Wand, Beton. Das hat ihm Lee erzählt. Und woher wusste sie das? Keiner wusste, wo genau sie in den Fluss gestiegen war, nur wo sie wieder rauskam. Rausgeholt wurde. Zwei Wochen lang vermisst. Der Alte glaubte fest an Mord, das waren Skinheads, keine Frage, aber dann die Autopsie: die Lungen voller Wasser. Ich hab Durst. Ertrunken aufgefunden und sonst unverletzt – ein Wunder, dass sie überhaupt entdeckt wurde. Die Flusssteine in ihren Manteltaschen, so fünf Kilo. Vorsichtig geschätzt. Du füllst dir Feldsteine in deine Manteltaschen, stellst dich auf die Waage. Fünf Kilo, die ziehen jeden runter, sogar Poe – so austariert, nimmt dich der Fluss mit. Hat der Alte dich erwischt, beim Wiegen. Während du dir vorstelltest, wie deine Mutter Steine sammelnd an dem Fluss entlangging, summend. Hatte ihren eigenen Schmerz. Die schlimmste Sorte, innerlich. Und ewiglich. Jetzt lass sie los.

Er ging, den Blick nach vorn gerichtet, schneller weiter, geh die ganze Nacht, dann liegen ein paar Kilometer zwischen euch. Und schläfst am Tag. Er kam an einem alten Bau vorbei, vielleicht war es ein Lagerhaus, als auf die kleine Straße an der Bahnlinie ein Auto einbog. Ohne dass er wusste warum, schlüpfte er schnell in die Büsche, dann sah er ein Suchlicht, das vom Auto kam – ein Cop. Er hockte sich ins Unkraut, bis der Streifenwagen weggefahren war, das Licht schien in die Zweige direkt über ihm. Die Leute aus den Häusern müssen angerufen haben. Hassen deinen Anblick. Dann erwog er, hinzugehen, ihn um Wasser anzuhauen, aber als er aufstand, war das Auto lange weg.

Er schob sich durchs Gebüsch und bahnte sich den Weg zu diesem alten Bau hin. Mund jetzt trocken – Obsession. Mentales Spiel, und du verlierst. Du musst den Bach jetzt wiederfinden. Doch da würden keine Bäche kommen – hier war Industriegebiet. Ein paar Minuten später ging er auf der Schotterstraße auf das Lagerhaus zu; auf der einen Seite stand ein alter Schaufellader, dort zurückgelassen, überwuchert von stachligem Knöterich. Er schlängelte sich durch die Dornen und ging zu der Schaufel, die voll Regenwasser stand. Er schob das Laub beiseite, hielt die Hand hinein, es schmeckte herb und stark metallisch, doch er schluckte es trotzdem, nur um die Kehle zu befeuchten, und dann nahm er eine weitere Handvoll. Könnte dir noch leid tun, dachte er.

Als er die Lagerhalle fast erreicht hatte, musste er plötzlich dringend, schaffte es kaum in den Graben an der Straße. Nichts zum Abputzen. Und tschüss, Herr Saubermann. Was in dem Wasser? Nein, das ging zu schnell, ist nur irgendein Schock im Magen. Wann du dir das letzte Mal so schmutzig vorgekommen bist, weißt du nicht mehr.

Er ging ums ganze Lagerhaus, versuchte alle Türen, bis auf eine waren sie verschlossen. Mit der Taschenlampe leuchtete er überall herum, der Boden war verdreckt und voller Trümmerhaufen, jemand hatte hier nach Kupferdraht und Rohren rumgewühlt. Gleich neben der Tür, durch die er gekommen war, befand sich eine andere, die in ein kleines Zimmer führte, sah nach dem Büro aus, sauberer und nicht so staubig wie der Rest des Hauses. Alte Aktenschränke standen drin und Schreibtische. Das ist der Ort, dachte er. Stinkt nach abgestandener Pisse. Dann zog er den Schlafsack raus und breitete ihn auf dem Schreibtisch aus, vielleicht war’s auch mal eine Arbeitsbank, wer weiß.

Es lag sich hart, aber ihm wurde immer wärmer, ja, er fand’s sogar gemütlich, und doch lag er da und konnte nicht einschlafen. Kannst den Kopf nicht abschalten, versuch’s halt mit dem alten Trick. Er steckte eine Hand vorn in die Hose, zerrte eine Weile rum, doch nichts passierte. Wohl zu müde. Dann fielen ihm Poe und seine Schwester ein, sie hatte einmal aufgeschrien, so ein unterdrückter und gedämpfter Luft-anhalten-Laut, und kaum hatte er dran gedacht, da war er steif, ein ekliger Gedanke, seine eigene Schwester, aber schön, er nahm es trotzdem, näher war er in den letzten beiden Jahren nicht an Sex herangekommen, nicht seit er und Autumn Dodson nach der Abschlussparty rumgevögelt hatten, er war immer noch nicht sicher, warum sie es überhaupt getan hatte, sie war gleich danach weggegangen, an die Penn State Uni. Weil an dieser Schule du der Einzige mit einem Hirn warst. Das war nicht allein der Grund – der Kleine hatte damals übernommen. Ja, der Kleine sorgte dafür, dass es lief, er sagte Dinge, für die Isaac nie genug Eier in der Hose gehabt hätte. Sitzt du auf der Couch in ihrem Wohnzimmer, sie hebt den süßen kleinen Arsch hoch, dass du ihr das Höschen runterziehen kannst. Und dann, sieh einer an, ein nacktes Mädchen vor dir, Beine breit. Du steckst ihr deinen Finger rein und siehst ihm dabei zu, wie er ganz lange rein und raus geht, echt ein Wunder, dass es da drin derart glitschig war. Und jetzt, im Dunkeln, eine Hand in seiner Hose, stellte er es sich mit ihr vor, altes Material, immer noch gut genug, er machte fertig und schlief gleich darauf ein.

Etwas später träumte er von einem Auto, und er hörte Stimmen, überlegte, ob er einen Keil unter die Tür bekommen würde, und dann wurden diese Stimmen immer lauter, und ihm wurde klar, das war kein Traum. Da liefen Leute rum, in der Fabrik, mit Taschenlampen.

»Jemand hat die Tür hier aufgemacht. Die war vorher nicht so.«

»Ach komm, Hicks.«

»Musst schon gucken. Von da drüben kannst du gar nicht gucken.«

Dröhnend kam die nächste Stimme: »Falls hier irgendwelche Pennerärsche rumhängen, dann kommt ihr besser gleich raus und erspart uns Arbeit.« Ein paar lachten. Einer sagte: »Bist du ein verdammter Dummbeutel, Hicks.«

Isaac begann sich aus dem Schlafsack zu entheddern; kleiner Raum, in dem er sich befand, vielleicht war’s das Büro, es gab nur einen Weg hinaus. Er hatte sich erst halb befreit, da schwang die Tür auf, und Licht rauschte durch den Raum. Er legte eine Hand aufs Messer, doch dann sah er sie, es waren junge Leute, von der Highschool. Also ließ er wieder los.

»Moment«, sagte er, doch kaum war er aufgestanden von der Arbeitsbank, kam einer direkt auf ihn zu, sah kurz zurück zu seinen Freunden, guckt ihr auch, dann boxte er Isaac mitten ins Gesicht.

»Ich war auf der Buell Memorial«, sagte er, doch die anderen rissen ihn zu Boden. Zwar versuchte er, den Kopf zu schützen, aber irgendetwas kriegte er trotzdem aufs Kinn und dann auch in den Magen, auf die Rippen und den Rücken, er versuchte jetzt, die Seiten abzusichern, und kassierte wieder einen Tritt auf seinen Mund. Er sicherte den Kopf, sie traten weiter. Dann blieb ihm die Luft weg, und er konnte nicht mehr atmen, er erstickte. Plötzlich leuchtete ihm eine Lampe ins Gesicht, und damit hörten auch abrupt die Tritte auf.

»Gott, Hicks. Das ist ein Junge, Scheiße.«

Isaac blieb, wo er war, hielt sich bedeckt.

»Jetzt Maul halten«, rief Hicks, »ihr alle.«

Einer von den anderen sagte: »Fick dich selber, Hicks. Das Auto fährt jetzt, kannst zu Fuß heimgehen, wenn du Lust hast.«

Neben ihm ging der, von dem er wusste, dass es Hicks war, in die Hocke, sagte: »Wird schon klargehen, Kumpel. Haben dich wohl mit ’nem anderen verwechselt. Willst du Bier oder so was?«

»Fass mich nicht an.«

Ein paar Sekunden hockte Hicks unsicher weiter da, dann hörte Isaac ihn aufstehen und rasch rausgehen. Hörte Autotüren knallen und das Auto wegfahren. Er hatte Angst, sich zu berühren, Angst vor dem, worauf er stoßen könnte. Er stand auf und ging hinaus zum Parkplatz. Der war leer. Eine Minute, länger hatte es nicht gedauert. Sein Gesicht war größtenteils noch taub, er ging zurück und packte alles ein, und endlich hörte er zu keuchen auf. Er stieß auf eine Gummi-Türmatte, die er mit rausnahm, um darauf zu schlafen. Diese Typen waren sechzehn, siebzehn, vielleicht jünger gewesen. »Na gut«, sagte er laut. »Jetzt weißt du das.« Er stapfte durch das hohe Dickicht auf den Fluss zu, bis es schien, als könnte ihn da keiner finden. Als er sich zu Boden kauerte, war auch kein Wind zu spüren. Immer noch raste sein Herz, im Mund war ein Geschmack von Blut. Das hättest du verhindern können, dachte er. Nur einen davon mit dem Messer leicht verletzt, schon wär der Rest geflüchtet. Er beschloss, es war in Ordnung. Einmal bin ich reingefallen. Dann zog er das Messer und legte es neben seinen Kopf. Es brauchte lange, bis sein Herz zur Ruhe kam, damit er einschlafen konnte.