6. Isaac

Als er aufwachte, war es schon Morgen, und er lag im hohen Gras hinter dem Lagerhaus. Vom Fluss her waren mehrere Motorboote zu hören. Warum geht das Auge hier nicht auf? Er fasste dran. Getrocknetes Blut, Dreck. Ich bleibe hier, bis es mir wieder besser geht, dachte er. Eingraben und überwintern. Rauskommen, sobald das Wetter besser ist. Sobald die Einheimischen freundlich sind. Er sah sich um. Es ist in Ordnung jetzt, beschloss er. Los, steh auf.

Es war ein windiger und warmer Tag, der Himmel über ihm war trocken, tiefblau, und die Wolken wehten südwärts, drunter flog ein Gänse-V. Die ursprünglichen Wanderer. Und was den Kleinen angeht, ist er nicht besorgt. Er denkt zurück an seine Vietnamzeit – bei den Special Forces –, das hier ist gar nichts dagegen. Rückkehr von den Toten, wie zu Ostern. Ein Gefühl, als säße ihm ein Speer in den gebrochenen Rippen, dazu noch die Knochenprellungen, und vor ihm liegt ein schöner Wandertag.

Mit seinen Schmerzen in der Seite und den Beinen brauchte er dreißig Sekunden, bis er stand. Der Boden war durchnässt, der Schlafsack schlammverklebt, die Kleider waren dreckig. Jetzt der Rückweg, und das hohe Gras bewegte sich im Wind, legte sich flach und richtete sich wieder auf, das Lagerhaus war nicht so weit entfernt, wie’s ihm im Dunkeln vorgekommen war – vielleicht zweihundert Meter von der Landstraße. Das Brachgrundstück war übersät mit Müll und Bierdosen, und hier und dort lag ein Kondom. Das Zeichen einer Kommunion. Im Wunsch, nun seine Blutschuld an dem Schweden Otto zu begleichen, sucht der Kleine das Versteck der örtlichen Verbrecher auf und stellt sein heiliges Gefäß für die Erlösung zur Verfügung. Milch von seiner Menschengüte zieht sie an wie Blut, er wird in seinem eigenen getauft, das ist die Kirche dafür. Er sah hoch zum Backsteinlagerhaus mit seiner narbigen Fassade und den hohen Fensterbögen. Sieh allein – noch sind die Hände voller Schmutz – den unbeglichenen Teil der Schuld.

Auf dem Stück Brachland stieß er auf das eigene Häufchen Kot vom Vorabend und nahm sich Zeit, es mit einigen Tritten Erde zu bedecken, dachte dann, der Kleine sollte sich mit Jesus lieber nicht vergleichen. Und als nächstes dachte er: Das ist die kleinste meiner Sorgen. Wenn es eine Hölle gibt, dann wird es da so eng, dass ich mich auf die Schultern anderer stellen muss – ganz unten sind die Heuchler, massenweise Kirchgänger. Für Päpste ein Spezialabteil.

Er humpelte über die Wiese auf die 906 zu. Sie war recht stark befahren, und er sah schon, das wurde kein angenehmes Wandern, denn die Straßenbreite reichte für die Autos kaum. Er kam sehr langsam voran. Ziemlich sicher hast du eine Rippe durch – das Einatmen tut weh. Die Arme, Beine und den Rücken voller Prellungen. Er fasste sein Gesicht an, offenbar verkrustet unter Dreck und Blut, die Lippen, Wangen, Augen angeschwollen. Fast ein Wunder, dass er alle Zähne noch hatte. Du bist für so was nicht gemacht, dachte er. Aber kaum hatte er das gedacht, da sah er vor sich diesen Schweden, wie er glotzend dastand, klobiger Armeemantel, grünbraune Cargohosen schwarz vom Ruß. Glaub, was du willst, die Faktenlage sagt was anderes. Mit den empirischen Daten lässt sich gut eine andere Hypothese stützen. Scheint recht brauchbar, dieser Kleine – macht zwar Fehler, lernt jedoch sehr schnell. Da zeigen sich einige Urinstinkte. Etwas eingerostet, weiter nichts.

Die 906 lief am Rand der Überschwemmungsebene vorbei, Richtung Monessen. Die bewaldete Talseite stieg direkt dahinter an, doch in der Flusssenke befanden sich alte Gebäude, Lagerhäuser und Fabriken. Dicht an dicht fuhren amerikanische Kleinwagen und dazwischen alte Pick-ups. Es gab kaum genug Asphalt für PKWs, und auch der unkrautige Straßenrand war schmal – die Luft bebte, selbst wenn ein kleineres Gefährt vorüberfuhr. Ein halbes Dutzend Menschen lief in unterschiedlichen Abständen zu Fuß hier lang, wie er Richtung Monessen, was mal zu den wohlhabendsten Städten dieses Tals gehört hatte und heute eine seiner ärmsten war. Da dümpelten die Reste des Verkoksungsbetriebs U.S. Steel noch weiter, ein paar Hundert Arbeitsplätze. Und ansonsten massenhaft Sozialbauten.

Eine halbe Stunde später kam er nach Monessen, größtenteils sah es wie in Buell aus, steile Hügel ragten aus der flachen Flussebene hoch, und oben terrassierte Viertel, Steinkirchen und Holzkirchen sowie drei orthodoxe Kirchen mit vergoldeten Kuppeln. Überall Bäume. Aus der Ferne sah das friedlich aus. Von nahem wirkte es verlassen – die Gebäude größtenteils vollkommen ungepflegt, vandalisiert, vernachlässigt. Auch in der Innenstadt, wo ein paar Autos parkten, standen praktisch alle Häuser leer, alte Geschäfte, alte Ladenschilder, alte Zu vermieten-Schilder in den meisten Schaufenstern. Ein Lebenszeichen kam nur von der Koksfabrik am Fluss mit ihren langen rostfleckigen Bauten, aus dem hohen Abluftschornstein, wo sie Wassergas abbrannten, quollen manchmal Dampfwolken auf Grund der Kokslöschung. Ein Schaufellader, groß genug für einen Sattelschlepper, lud von einem Lastkahn Kohlen ab und warf sie auf ein Fließband, das zum Hauptgebäude führte. Auf den Bahngleisen drängten sich offene Güterwagen, voll mit staubig schwarzem Koks, und bis auf Isaac war keine Menschenseele weit und breit zu sehen.

In der Innenstadt fand er ein Restaurant, das offen war. Die Kellnerin saß ganz allein an einem Tisch am Fenster, starrte lächelnd in die Ferne, bis sie ihn hereinkommen sah. Sonnenlicht lag auf ihr, und sie hatte keine Lust, sich aufzuraffen. Etwa fünfzig, schätzte er, die Haare waren blond gefärbt.

»Ach Kleiner«, sagte sie. »Wenn du so aussiehst, kann ich dich nicht reinlassen.«

»Ich mach mich sauber«, sagte er. »Es war ein Überfall.« Er sah sich in dem Diner um, dem Restaurant, was immer. Es war nur ein anderer Kunde da.

Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt ein Krankenhaus in Charleroi, hinter der Brücke«, sagte sie.

»Ich habe Geld.« Er öffnete das Portemonnaie für sie und roch das Essen, Bratkartoffeln, Fleisch, er würde sich nicht von der Stelle rühren. Er war selber überrascht, dass er ihr standhielt – früher wäre er sofort gegangen, hätte sich was anderes gesucht. »Versetzen Sie sich mal in meine Lage«, sagte er.

Kurz überlegte er, ob er zu weit gegangen war, aber dann seufzte sie und wies ihn in den hinteren Teil des Diners, Richtung Waschräume. Der andere Kunde war ein schwarzer Mann im mittleren Alter mit Vesperdose, der von seiner Zeitschrift zu Isaac hochsah und schnell wieder weg. Er nippte an dem Kaffee und warf keinen Blick mehr in Isaacs Richtung.

Um zu den Toiletten zu gelangen, musste er sich an gestapelten Kisten voller Papierhandtücher oder Speiseöl vorbeizwängen, und als er drin war, schloss er ab und schaute in den Spiegel. Eine schlickverklebte Leiche aus dem Fluss. Oder dem Massengrab. Die Hose und der Anorak waren voll Schlamm und Gras und das Gesicht von Aschendreck verschmiert. Er selber hätte sich in keinen Diner oder sonst wo reingelassen. Auge dick geschwollen, Lippe aufgeplatzt, und schwer zu sagen, wo das getrocknete Blut aufhörte und der Dreck anfing. Nachdem er auf dem Klo gewesen war, zog er sich aus und stellte sich vor Waschbecken und Spiegel; dieses schmutzbraune Gesicht gehörte nicht zu seinem bleichen weißen Körper und den rosa Kratzern an den Rippen und dem schwachen Lila aufblühender blauer Flecken. Er wusch Haare und Gesicht über dem Becken, überall spritzte der Dreck hin, und er dachte, das zerbrechlichste Wesen ist doch der Mensch – die anderen noch mehr als du. Die Wäsche mit dem kalten Handtuch, eine Art der Leichenwäsche. Letztes Bad des Körpers. Mit besonderer Aufmerksamkeit für jede Furche – heute wird wahrscheinlich so ein Spritzschlauch eingesetzt, tropfnass aufhängen, Automatenwäsche für die großen Mengen. Wer einen wohl anfasst, wenn man tot ist? Er nahm noch eine Handvoll Papiertücher und säuberte sich weiter. Zitterst schon, das Wasser kühlt sich schnell ab. Eine Wanne, einen warmen Schoß, das nehmen wir als selbstverständlich – typisch Schoß halt. Meine Mutter hat sich selbst gebadet. Frage mich, ob sie sie nachher auch gewaschen haben. Wie die Moorleichen – gut konserviert im Torf. Nicht Schwede Otto – keine Waschungen auf Steuerzahlers Kosten. Armengrab zu teuer. Seine letzte Wärme ist das Krematorium. Räum deinen Kopf leer, dachte er. Du bist noch lang nicht angekommen.

Als er fertig war, nahm er das Messer raus und seifte sorgfältig die Klinge ein, spülte sie und trocknete sie, dann seine Hände mit den letzten der zerknüllten Papiertücher, zwei komplette Rollen hatte er verbraucht. Bevor er kam, war die Toilette frisch geputzt gewesen, und jetzt wischte er den Boden und das Becken sauber, bevor er zurückging in den Speiseraum. Er überprüfte sich im Spiegel. Oberhalb der Gürtellinie war’s okay. Der Anorak hatte den meisten Dreck von Hemd und Pulli abgehalten. Geh nicht mit dem Anorak irgendwo rein, dachte er. Zieh ihn vorher aus.

Die Kellnerin hielt Ausschau nach ihm, als er aus dem Waschraum kam, sie hievte ihr Gewicht ganz langsam hoch, als gäben ihre Knie nach, und brachte ihm die Speisekarte, dazu eine Tasse Kaffee. Wie er so in seiner Nische saß, den hinteren Bereich des Restaurants für sich, warm, sauber, trocken, war ihm sehr behaglich. Er verrührte Milch und kräftig Zucker im Kaffee, er trank ihn schluckweise und merkte, wie es langsam klar wurde in seinem Kopf. Er würde sich Zeit lassen. Es genießen. Und bestellte bei der Kellnerin gebratenes Landsteak mit Kartoffelpuffern, drei Spiegeleier, von beiden Seiten ganz leicht angebraten, ein Stück Pfirsichkuchen. Sie schrieb alles auf und füllte seinen Kaffee nach, er machte ihn sich so, wie er es mochte, süß und cremig, fast wie Nachtisch. Isaac schaute sich in dem Diner um, ein angenehmer Ort, mehr wie ein Restaurant im Grunde, ein paar Dutzend Tische mit karierten Decken drauf, wahrscheinlich kriegten sie’s hier nie mehr voll, doch es war sauber, nicht zu helles Licht, ein Kiefernholzpaneel und eine hohe, schön verzierte Zinndecke. Die Wände hingen voller Fotos von der Footballmannschaft, den Monessen Greyhounds, von den größten NFL-Stars aus dem Tal wie Dan Marino, Joe Montana, und ein paar gerahmte Poster vom Stierkampf in Spanien, Souvenirs von einer Reise, die vor zwanzig Jahren einer mal gemacht hatte. Die Kellnerin brachte sein Essen.

»Schläge einkassiert?« Sie deutete auf sein Gesicht.

»Ach, kaum.«

»So schlimm?«

»Es waren ziemlich viele.«

»Geh doch einfach wieder heim«, sagte sie. »Besser wird’s nicht werden.«

»Sind Sie immer so nett zu den Kunden?«

Darauf lächelte sie, und er lächelte zurück. Sie hatte eine Zahnspange.

»Da siehst du’s. Lass dir von mir bloß nichts sagen.« Sie ließ zwei gefüllte Essensteller vor ihm stehen und kehrte zu ihrem Tisch zurück. »Den Kuchen bring ich gleich.«

Er schnitt sein Steak in kleine Stücke, außen knusprig, innen zart, tropfsaftig, so gut hatte ihm kein Essen je geschmeckt. Er gabelte Kartoffelpuffer, mit den Zwiebeln kross gebraten, mischte eins der Eier drunter, ein Gefühl, als hätte er noch nie im Leben was gegessen, und am liebsten hätte er es aufgeteilt in kleine Bissen, damit er lang etwas davon hatte, doch stattdessen schaufelte er riesige Gabeln voll in sich rein, sie brachte seinen Kuchen und goss seinen Kaffee nach, und dessen Schärfe schmeckte gut zu dem üppigen Essen. Als der Teller endlich leer war, machte er sich über seinen Kuchen her.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, dabei wusste er, er durfte jetzt nicht einschlafen. Es ist ein gutes Leben, dachte er. Ein gutes Leben, irgendwo hineinzugehen und zu essen. Plötzlich kam die Kellnerin mit einer Schüssel Eiskrem.

»Geht aufs Haus«, sagte sie. »Du isst aber ordentlich.«

Nachdem er eine Zeitlang dagesessen hatte, merkte er, wie er ins Dösen kam, es war so warm, und er beschloss, sein Glück nicht zu versuchen. Er sah auf die Rechnung. Da standen nur Spiegeleier und Kaffee, zwei Dollar und acht Cent. Er blickte hoch, um ihr zu danken, doch sie saß schon wieder an dem Tisch und träumte in den Tag hinein.

Er dachte an ein Trinkgeld, eigentlich sollte sein Geld so lang wie möglich reichen, aber dann ließ er zehn Dollar liegen. Von den Armen für die Armen. Er würd’s sowieso ausgeben.

Wieder auf der Straße, merkte er, dass seine Prellungen weniger schmerzten, so gut hatte er sich jahrelang nicht mehr gefühlt, er hätte gerne in der Sonne jetzt ein Nickerchen gemacht. Als die Stadt hinter ihm lag, ging er von der Straße übers Feld und auf die Gleise zu, bis er am Flussufer eine geschützte grasige Stelle entdeckte. Es war sonnig, er zog Hemd und Schuhe aus und saß da, nur in Hosen. Du musst in Bewegung bleiben, los. Er schüttelte den Kopf. Ich könnte heute Abend tot sein. Freu dich an den schönen Dingen, wie sie kommen.

Er lag da, spürte die Sonne auf der Haut. Schlichte Genüsse, dafür sind wir programmiert. Millionen Jahre Evolution – die Freude über einen Sonnentag.

Du wirst geprüft, dachte er. Was wird mit dem Schweden? Kann ich jetzt nicht drüber nachdenken, beschloss er. Erst mal komme ich nach Berkeley, und dann werd ich sehen. Falls etwas passiert, dann hab ich wenigstens das hingekriegt. Sie werden irgendwann herausfinden, was du getan hast. Poe wird reden. Er ist einfach so. Er kann nicht anders. Na und, dachte er. Poe ist und bleibt mein bester Freund.

Er schloss die Augen, überlegte, ob Lee immer noch in Buell war. Was, wenn sie jetzt hier vorbeikäme? Ich würde mitfahren. Ich habe alles bei mir, was ich brauche. Und er strengte seine Willenskraft an, steig ins Auto, Lee, fahr los. Ich treff dich an der 906. Doch das war natürlich lächerlich. Sie konnte ihn nicht hören.

Er erinnerte sich, wie es war, bei ihrer Abschlussfeier neben ihr zu sitzen. Zehn Minuten lang sprach der Direktor nur von ihr, das National-Merit-Stipendium, die perfekten Zulassungstests für die Uni, angenommen in Cornell, Yale, Stanford, Duke. Da wart ihr alle vier. Dieser Moment trug das Gefühl in sich, dass alles einen Sinn hatte. Du konntest den Moment vorhersehen, wenn du genauso aufstehen würdest, als ob du durch die Zeit hindurchschauen könntest. Glasklar war dieses Bild in deinem Kopf – du sahst sie, und dabei sahst du dich selbst. Vergiss das nicht. Dann war Mom tot, und Lee ging fort, du hofftest darauf, dass sie bliebe, aber klar. Wer würde das schon tun – das neue Leben wartete –, es wurde umso wichtiger, hier wegzukommen. Kannst du ihr nicht vorwerfen.

Da war ein großer Falke, nein, ein Adler, kamen die jetzt schon zurück. Die Dinge änderten sich ständig. Mal zum Guten, mal zum Schlechten. Jetzt hast du nur eine Aufgabe, dich wachzuhalten, bis dich jemand stoppt. Das würde er. Lee hatte es wohl leichter gehabt, doch es brachte nichts, damit zu hadern. Denn er würde seinen eigenen Weg schon finden, würde in den nordkalifornischen Bergen leben, die grün waren und viel höher als die Hügel hier, das waren echte Berge. In der Nähe des Observatoriums. Observatorium im Haus und Sternegucken jederzeit, das Haus besaß eine lange Veranda, die weit über eine Klippe ragte, so dass es sich anfühlte, als schwebte man im Weltraum. Du wirst nicht allein sein, so wie Lee es nicht ist. Denk daran, wie du sie in New Haven besucht hast – da waren alle so wie du und Lee, auf ihre Weise. Es war kaum zu glauben, aber seine Schwester hatte es geschafft, und in den meisten Dingen wusste sie weit weniger als er, was sie vom Leben wollte. Er hatte das immer schon gewusst. Natürlich hatte sie ihn bei den Zulassungstests klar geschlagen, vierzig Punkte besser. Innerhalb der statistischen Fehlertoleranz. Das war das Erste, was sie sagte, als er ihr sein Testergebnis nannte – »Na, das ist doch innerhalb der Fehlertoleranz.« Wie verständnisvoll von ihr. Doch da war noch das Ding mit Poe. Das ruinierte alles. Eigentlich hätte das keine große Sache sein müssen, er kannte jeden aus dem Tal, mit dem sie mal geschlafen hatte, es gab noch zwei andere, das hatte ihm nichts ausgemacht, na jedenfalls nicht viel. Das Ding mit Poe schien irgendwie auf etwas Größeres zu deuten. Warum, das konnte er auch nicht sagen, doch er war sich sicher.

Themenwechsel, dachte er. Spür diese Sonne. Denn in Kalifornien scheint sie die meiste Zeit. Die Tagesdosis Ultraviolett. Heilt Wunden, tötet Keime. Ultra heißt, man kann’s nicht sehen. Nein, das heißt sehr. Schwachkopf. Isaac setzte sich auf, schaute sich um. Ringsum nur Gras und Bäume und der Fluss zu seinen Füßen. Richtung Süden lag ein großer Intermodal-Terminal, mit langen Haufen Kohle, Schlacke, anderem Schüttgut, ein Stück südlich davon die drei Brücken Richtung Charleroi, und hinter diesen Brücken konnte er grad noch die Kräne an der Staustufe erkennen. Lastkähne lagen dort eingekeilt, in Warteschlange für die Schleuse.

Das liegt alles hinter mir, dachte er, nordwärts kommt jetzt nur noch Wald. Die Sonne strahlte hell, er spürte sie auf seiner Haut, kribbelnd wie Finger, die ihn streichelten, er wollte es nicht zulassen, jetzt einzuschlafen, so ein herrliches Gefühl. Am anderen Ufer angelten vier Männer, irgendetwas war mit ihnen, wie sie dort saßen, das fiel selbst quer über das Wasser auf, er döste. Menschenfischer. Als er aufwachte, lag er im Schatten, und die Sonne, die über den Fluss gewandert war, stand tief über den Hügeln westlich, und die Fischer waren weg. Der zweite Tag, den du verschlafen hast. Du könntest dir einfach ein Busticket besorgen, dachte er, schlafen und dabei zugleich vorankommen. Klar – doch die Spur, die du so hinterlässt, verrät dein Ziel. Auf dem Rangierbahnhof müsste er sowieso wen fragen, rausfinden, welcher Zug Richtung Süden oder Westen fuhr. Das war auch besser als der Ticketkauf. Er sah in seinem Portemonnaie nach, immer noch knapp zweiundzwanzig Dollar plus die fast viertausend in dem Umschlag, der in seiner Cargohose steckte.

Zu Fuß weiter, seine Beine waren steif geworden, als er schlief, er kam kaum vorwärts. Lange nach dem Dunkelwerden kam er unter der Mon-City-Brücke durch, die Bahnlinie durchquerte eine ausgedehnte Industriezone voll Lagerhäuser, hell erleuchtet, er marschierte an der Baumlinie, am Rand des Lichts entlang, vorbei an Dutzenden alter Container, einem Haus, das Richtung Wasser wegsackte, an Sattelschleppern, die mit platten Reifen und verwittertem Lack dastanden. Am andern Flussufer lagen Mon City und New Eagle, ebenfalls erleuchtet, er war froh, nicht auf derselben Flussseite zu sein. Vor ihm erstreckte sich ein dunkles Stück durch dichten Wald, die glattpolierten Gleise fingen selbst das bisschen Licht ein, das die schwach schimmernden Sterne abstrahlten. Kaum lief er durch den Schatten, fühlte er sich wieder sicher. Ein paar Eulen riefen, doch sonst war es still bis auf die eigenen Schritte und das Puckern eines Schleppers und der Frachtkähne. Er dachte, dass er hätte durstig sein müssen, aus irgendeinem Grund war er es aber nicht. Er brauchte ein Behältnis für sein Wasser.

Gegenüber stieg am Ufer eine riesenhafte Wolke aus Rauch und Dampf auf, aus dem West-Penn-Kraftwerk, mit hundert Meter hohen Schloten und einer Rauchfahne, die hell vor dem Nachthimmel stand, dunkle Kohlehalden gleich daneben, beinahe kleine Pyramiden. Auf dem Fluss kamen und gingen ein paar Dutzend Lastkähne. Wenige Kilometer später folgte dann das Kraftwerk von Elrama, wieder gegenüber, das noch größer war und gut beleuchtet von den gelben Natriumlampen, der Hauptschornstein vielleicht hundertfünfzig Meter hoch, die Dunstschwaden verdeckten einen ganzen Teil des Himmels, sauber-weiß aussehend. Nur dass Kohle da verbrennt, dachte er. Das ist niemals sauber. Kurz danach kam er durch einen dunklen Bergwerkskomplex mit Rangierbahnhof und großer Kohlenkipphalde, der Boden war rußschwarz davon, die Kohle knirschte unterm Fuß. Unendlich viele Güterwaggons standen voll beladen auf den Gleisen, leere Lastkähne lagen vertäut an ihren Landestellen. Bald darauf gelangte er zu einem Industriepark, wiederum beleuchtet, und damit er nicht gesehen wurde, schnitt er hügelaufwärts Richtung Wald ab, weg vom Fluss, bis er auf eine dunkle Straße kam, die parallel verlief.

Da war ein kleiner finsterer Weiler, eine Feuerwehrstation, leer, für die Nacht geschlossen. Ein paar Häuser, Swimmingpools im Garten, hier und dort eine beleuchtete Veranda, sonst war es stockdunkel. Auf der Straße herrschte Stille, und er konnte gut die Sterne sehen. Ein paar Grundstücke weiter brannte ein Lagerfeuer bei einem der Häuser, mit zwei Dutzend Leuten etwa, die herumstanden und tranken, das war schon der ganze Ort. Gerade wollte einer in ein Schwimmbad springen, an der weißen Haut erkannte er, dass sie nichts anhatten, obwohl es draußen kalt war. Mit gesenktem Kopf versuchte er zügig vorbeizukommen, aber man bemerkte ihn.

»Hey«, brüllte einer, der am Feuer saß. »Komm her und trink ein Bier mit uns.«

Er ignorierte sie, aber sie riefen weiter. Isaac winkte, den Kopf gesenkt, und hoffte, dass er bald schon außer Sicht wäre.

»Wer ist denn das, zum Teufel«, hörte er jemanden rufen. »Ist das Brian Foote?«

Isaac winkte noch mal und ging weiter.

Zwei Blocks später, schon am Stadtrand, hörte er, wie auf der Straße eine Bierflasche zerschellte, und drehte sich um, da folgte ihm ein Pulk Gestalten, ihre Umrisse vorm Licht erkennbar. Sie waren zu viert. Statt abzuwarten, was passierte, rannte er sofort los, presste seinen Rucksack an sich, achtete nicht auf den Knöchel und die Prellungen am Oberschenkel und den scharfen Schmerz in seinen Rippen, hinter ihm schrien die Leute irgendwas, die Beine taten weh bei jedem Schritt, der Rucksack klatschte gegen seinen Rücken, aber er verlangsamte den Lauf nicht.

Als die Straße eine Biegung machte, sprang er in den Wald und wartete im Dunkeln, um zu sehen, ob sie ihn verfolgten. Keiner kam. Viele Erklärungen – sie hielten dich für jemanden, der ihre Party schwänzte. Oder wollten dir noch einen Nachschlag zu der gestrigen Behandlung geben. Trotzdem … Er entspannte sich. Banditen machen auf den Kleinen Jagd, und er hält stand – sogar ohne Verletzung diesmal. Da er aber weiß, dass er der interessanteste Teil ihres Abends ist, befürchtet er, dass sie gleich mit dem Auto kommen werden. Da war ein Entwässerungskanal, der von dem Fluss wegführte, aufwärts an der Talseite entlang, dem folgte er. Das Wasser rauschte ziemlich kräftig, und er brauchte viel Zeit, um im Dunkeln keine nassen Füße zu bekommen. Zwischen steilen Hügeln wand sich der Kanal bergan, bald hatte er die Orientierung verloren, er wurde panisch und beruhigte sich wieder. Guck dir das am Morgen an. Sobald die Sonne aufgeht, wirst du’s sehen. Kurz darauf trat er auf eine große Lichtung, wo das Gras vor kurzem erst gemäht worden war. Keine Lichter, keine Häuser weit und breit. Es war sehr weich, er legte sich am Rand der Wiese nieder, unter ein paar überhängende Äste, um den Tau abzufangen.

In den Schlafsack eingewickelt, schloss er bald die Augen und sah Nachbilder, wovon, das wusste er nicht. Es sah aus wie Menschen unterwegs. Dann hatte er die Straße vor sich, auf der er am Morgen noch gelaufen war, die Menschen. Schlug die Augen wieder auf. Sein Kopf war kühl, ansonsten war ihm warm. Die Nacht war kalt und klar. Er sah den Schweden wieder vor sich, dort beim Ofen, das Gesicht jetzt halb im Schatten. Das ist ganz normal, dachte er. Aus dem Schlafsack griff er nach dem weichen Gras, es fühlte sich kühl, feucht und weich an. Er betrachtete die Sterne und versuchte, Otto zu vergessen.

Hast gewusst, dass du da nicht so lange bleiben solltest. Hast gewusst, dass es zu etwas Schlimmem führen würde. Hast dir selbst gesagt, dass du den rechten Augenblick abwartest, doch du hast’s gewusst. Ich wusste nicht wohin. Wie Lee – die hat sich selber einen Ort geschaffen. Mr. Painter bietet an, dich seinem Vater vorzustellen, der Professor in Cornell ist. Ziemlich sichere Sache, hat er dir gesagt.

Ich war noch nicht bereit, hier wegzugehen, dachte er. Bei Lee war das was anderes – es fällt den Leuten leicht, sie gernzuhaben. Ihre Mutter stirbt, und sie verlässt den Ort, die Narbe ist wie ausradiert. Behauptet, dass sie an zu Hause nur so denkt, »wie es mal war«. Dass du nicht diesen Luxus hattest, ist ihr niemals aufgefallen. Als dein vorletztes Schuljahr begann, da warst du auf einmal allein im Haus, mit deinem Alten. Während Simon und seine Familie um Lee herumsprangen. Das zarte Gänseblümchen. Absolute Ruhe, wenn sie lernen musste, und Trara um ihre Zeugnisse. Doch wenn du deine für ihn rumliegen lässt, sagt er keinen Ton.

Wenn er an deiner Stelle wäre, hätte er dich schon ins Heim gesteckt. Hast ihn ja mal gefragt, was wäre, wenn du so wie er verletzt würdest. Kam keine Antwort. Aber du bist dageblieben. Denn so bin ich nicht, nicht mal zu einem solchen Menschen. Nein, das ist es nicht, dachte er, nicht nur das. Du wolltest seine Zustimmung. Du wolltest, dass er zugibt, dich zu brauchen. Nein, ich bin geblieben, weil es falsch gewesen wäre, ihn allein zu lassen. Dabei bist du doch gegangen. Nach fünf Jahren, dachte er. Das war keine Vernunftentscheidung. Sie ergab gar keinen Sinn.

Er schloss die Augen. Ich komm gut zurecht, dachte er. Besser als noch gestern. Morgen wird es besser sein als heute. Es war dunkel, es war friedlich, und nachdem er eine Weile zu den Sternen hochgestarrt hatte, fand er die, die er kannte, und fiel schnell in einen unruhigen Schlaf.