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Hier in Hedgebrook versuche ich, mir keinen Ärger einzuhandeln, was mir im Allgemeinen auch gelingt. Aber heute ist von Anfang an der Wurm drin. Als ich vor die Tür trete, stelle ich fest, dass Mrs Wickets Vorhersage zutrifft und der Tag sonnig und windstill ist. Wenn ich will, kann ich mir nämlich alles Mögliche einbilden. Ich kann mir sogar einbilden, dass ich super drauf bin, wenn es mir grade in den Kram passt, und das kommt öfter mal vor. Dabei passe ich aber immer höllisch auf, dass ich Einbildung und Wirklichkeit noch unterscheiden kann. Vorhin im Speisesaal hat sich der Himmel tatsächlich an einem wolkenlosen Tag verdunkelt, so viel steht fest.

Statt mich zu beeilen, weil Staatsbürgerkunde gleich anfängt, schlendere ich um Carroll Hall, unser Wohngebäude, herum und halte nach einer Wolke Ausschau. Vielleicht versteckt sich ja eine im Park, weil es dort schön ist und weil heute der neunzehnte Oktober ist. Solche Übereinstimmungen nehme ich nicht auf die leichte Schulter. Aber als ich im menschenleeren Park den Kopf in den Nacken lege, ist der Himmel immer noch strahlend blau. Nicht das kleinste Wattewölkchen hat sich im Wipfel einer Fichte verfangen.

Von weitem klingelt es zum letzten Mal zum Unterricht. Die Töne wabern durch die Luft, als seien sie auf der Suche nach mir, als wollten sie mir zurufen: Brauchst dich nicht zu beeilen, Des, es ist sowieso wieder mal zu spät. Ich gehe weiter den Kiesweg entlang, bis ich an eine von gestutzten Hecken eingefasste lange Steinbank komme. Ich lasse mich so behutsam nieder, als könnte ich die Welt dazu bringen, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich mich nur ganz unauffällig benehme. Ich spüre, wie leer der Park ist. Kein Wind. Keine Wolken. Keine Tante Edie. Es ist seltsam still, als hielte der Park den Atem an, oder vielleicht bin ich es selbst, die den Atem anhält. Alle vier Reifen geklaut. Eine überzeugende Entschuldigung. Tante Edie kann nicht kommen.

Ein kaltes Zittern kriecht meine Wirbelsäule hoch und breitet sich in meiner Brust aus, und nur weil ich ganz allein bin, gebe ich nach, beuge mich vor und schlage die Hände vors Gesicht. Das Zittern wird stärker, bis es mich schüttelt. In meinem Hals steckt etwas fest und will heraus. Ich schaukle mit zusammengekniffenen Lippen hin und her. Wenn mein Mund zubleibt, habe ich gewonnen. Ich zähle stumm: Eins … zwei … drei …

»Musst du nicht zum Unterricht?«

Die angehaltene Luft platzt aus mir heraus, und ich richte mich auf. Am anderen Ende der Bank sitzt ein Fremder.

»Wie heißt du?«, fragt er.

»Das geht Sie gar nichts an! Man schleicht sich nicht an andere Leute ran!« Ich verstecke die zitternden Hände zwischen den Knien. »Hab ich einen Schreck gekriegt!«, setze ich hinzu.

»Hast du geweint?«

Ich sehe ihn argwöhnisch an. »Sind Sie ein Serienmörder, oder was?«

»Ich bin Mr Nestor.«

»Ich hab Sie hier noch nie gesehen.«

»Ich bin als Gastlehrer bei euch. Mathe. Integralrechnung.«

»Und warum sind Sie nicht im Unterricht?«

»Womit sich die Katze in den Schwanz beißt.«

Ich mustere ihn. Komischer Typ. Ich meine nicht vom Aussehen her. Er sieht ziemlich normal aus. Wie ein Lehrer eben. Dichtes, zerzaustes Haar, das einen Kamm vertragen könnte. Kurzer, gepflegter Bart, am Rand schon ein bisschen grau. Ein altmodischer Anzug von der Stange, der schon länger kein Bügeleisen mehr gesehen hat. Ungewöhnlich ist die Art, wie er spricht, langsam und ruhig, als hätte er alle Zeit der Welt, als hätte er gewusst, dass er mich im Park findet. Was ausgeschlossen ist, weil ich selber nicht wusste, dass es mich hierherzieht.

»Sie sind so plötzlich aufgetaucht … ich hab Sie gar nicht gehört«, sage ich.

Er streckt mir einen Schuh hin. Gummisohlen. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, entgegnet er.

»Die Antwort lautet nein. Ich habe bloß ein paar Dehnübungen gemacht. Yoga – schon mal gehört?« Er nervt mich, und mein Zittern schlägt in Ärger um. Ich werde sauer.

»Yoogaa …« Er zieht das Wort in die Länge und streicht sich den Kinnbart. Die drahtigen Haare knistern wie eine Kokosmatte.

Supersauer.

»Okay, das mit dem Yoga war geschwindelt. Aber geweint habe ich nicht!«

Ein guter Beobachter ist er nicht, so weit kann ich ihn schon einschätzen.

»Aber du warst unglücklich. Wie kann man an so einem wunderschönen Oktobertag unglücklich sein?«

Ich stehe auf. Ich verschwende meine Zeit doch nicht mit irgendwelchem philosophischen Quatsch. »Ich geh dann mal.«

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Unverschämt, der Typ! Aufdringlich! Übergriffig! Ich kenne ihn nicht mal.

Ich setze mich wieder hin. Ich lasse mich doch nicht von so jemandem vertreiben. Und wenn er dreimal Lehrer ist und ich eigentlich im Unterricht sein müsste! Ich war zuerst hier, darauf kommt es an. Heute kommt es darauf an. Ich funkle ihn wütend an, durchbohre ihn mit meinem Blick, damit er kapiert, dass ich keineswegs unglücklich bin.

»Dass heute ein wunderschöner Tag ist, gilt nicht für jeden, Mr Nestor. Für mich jedenfalls nicht.«

»Kann ich etwas für dich tun?«

Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe?

Er zieht aufreizend die Augenbrauen hoch, und dann, es kommt noch schlimmer, legt er den Kopf schief! Als könnte ich jetzt gar nicht mehr anders, als mich ihm anzuvertrauen!

Mir reicht’s. Das geht jetzt echt zu weit. Ich stehe auf. Setze mich wieder. Schaue weg. Schaue wieder hin. Der Kloß in meinem Hals hat sich in eine Feuerkugel verwandelt. Dieser Blödmann hat ihn in Brand gesteckt. Zählen nützt nichts mehr.

»Ob Sie etwas für mich tun können?« Ich stehe wieder auf. »Meinen Sie das ernst?«

»Ja.«

Vor meinen Augen fängt es an zu flimmern. Ich gehe einmal um die Bank herum und bleibe dicht vor seinen abgewetzten Hosenbeinen stehen. »Sie wollen wirklich wissen, was Sie für mich tun können

»Sonst hätte ich nicht gefragt.«

Ich mache die Augen fest zu und kneife mich in den Nasenrücken. Eins … zwei … drei …

»Vier Autoreifen! Sie können mir vier Autoreifen besorgen! Oder ist das zu viel verlangt?« Er will etwas erwidern, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen: »Lassen Sie mich gefälligst ausreden! Ich bin noch lange nicht fertig! Zweitens können Sie dafür sorgen, dass der Haferbrei nicht klumpig ist. Dass die Köchin das Zeug nur ein einziges Mal vernünftig umrührt!« Ich mache drei Schritte rückwärts und dann vier wieder vor, so dass ich noch dichter vor ihm stehe. »Sie können mir ein eigenes Bett beschaffen, ein Bett, das mir allein gehört, und zwar nicht nur einen Monat oder ein Jahr lang, sondern bis an mein Lebensende! Sie können dafür sorgen, dass meine Eltern mir schreiben. Dass sie kapieren, wie man sich fühlt, wenn man abgeschoben wird!«

»Ist das …«

»Und Sie können dafür sorgen, dass Seth einen Zusatzpunkt kriegt!« Ich habe weiche Knie, mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich lasse mich auf die Bank fallen und sehe ihn fest und lange an, ohne zu zwinkern. »Jetzt wissen Sie, was Sie für mich tun können«, knurre ich. »Ich möchte nur, dass einen Tag lang ausnahmsweise das Gute siegt. Dass es ein Mal gerecht und vernünftig auf der Welt zugeht. Dass einen Tag lang alles ist, wie es sein soll. Einen einzigen Tag lang. Ist das denn zu viel verlangt? Mehr will ich gar nicht.«

»Dass alles ist, wie es sein soll …«, wiederholt er langsam, als hätte ich Chinesisch gesprochen. Er steht ebenfalls auf, klopft sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Dass einen Tag lang alles ist, wie es sein soll, und dass es gerecht zugeht. Soso.« Er schaut mich an, schaut mir tief in die Augen. Seine Augen sind ein bisschen zusammengekniffen und wasserblau. Mich fröstelt. »Und warum?«, fragt er. »Warum wünschst du dir das so sehr? Was würde ein einziger solcher Tag ändern?«

Weiß ich doch auch nicht.

Solche Fragen kann man nicht beantworten. Da dreht man sich bloß im Kreis und kommt zu keinem Ende. Ich muss es wissen, denn ich habe mir genau diese Frage schon x-mal gestellt. Ich senke den Blick. Meine Knie zittern, ich drücke sie mit den Handflächen fest nach unten. Einen einzigen Tag lang … Vielleicht würde ich mir dann nicht immerzu wie eine wehrlose Marionette vorkommen. Oder ich hätte einmal das Gefühl, dass es doch einen Ausgleich für die Ungerechtigkeiten dieser Welt gibt. Vielleicht könnte ich wieder an etwas glauben, auch wenn ich nicht recht weiß, woran. Daran, dass alles irgendwie seine Ordnung hat, vielleicht. Dass alles einen Sinn hat. Eine Bedeutung. Vielleicht könnte ich dann die ganzen anderen Tage besser überstehen. Oder ich hätte wenigstens das Gefühl, dass mir jemand zuhört. Oder … ach, vielleicht wäre es einfach nur ein gutes Gefühl. Vielleicht würde es mir ausnahmsweise mal so richtig gutgehen. Einen Tag lang. Das wird man sich ja wohl noch wünschen dürfen, oder?

»Vielleicht …« Ich hebe den Kopf. Mr Nestor ist verschwunden. Ich springe auf und drehe mich einmal um mich selber. Spurlos verschwunden. Ich habe ihn eben doch richtig eingeschätzt. Ein unverschämter Trampel! Er hat nicht mal meine Antwort abgewartet. Integralrechnung … ha! Ich bücke mich und greife mir eine Handvoll Kies. »Dann rechnen Sie doch mal das hier aus!«, brülle ich und schmeiße den Kies, so weit ich kann. Der leere Park schluckt mein Wutgebrüll und das Kiesgeprassel, es kehrt wieder Stille ein. Ich wische mir die schmutzige Hand an der Schuluniform ab.

Ich habe mich umsonst aufgeregt. Aber es hat ja keiner mitgekriegt. Seufzend schüttle ich den Kopf. Das lästige Zittern ist verflogen. Ich gehe den gleichen Weg wieder zurück. Inzwischen ist Staatsbürgerkunde schon halb um, und das alles nur wegen eines wolkenlosen Himmels, der für niemanden außer für mich irgendeine Bedeutung hat, und wegen eines aufdringlichen Lehrers, der nicht mal den Anstand hatte, meine Antwort auf seine bescheuerte Frage abzuwarten. Aber ich bin selber schuld – warum bin ich auch vom vorgeschriebenen Tagesablauf abgewichen.

Ich biege um die Ecke und bleibe verblüfft stehen. Keine zehn Meter vor mir hat jemand sein Auto unter einer mächtigen Fichte abgestellt. Mitten auf dem Rasen. Ich kenne mich mit Automarken nicht aus. Dieses Modell hier ist sehr lang und blassrosa. Das weiße Lederverdeck ist hochgeklappt. Ein ungewöhnliches Fahrzeug, aber es gefällt mir. Ich könnte mir vorstellen, irgendwann so eins zu besitzen. Aber ich habe diesen auffälligen Schlitten noch nie in Hedgebrook gesehen. Unsere Lehrer fahren alle unauffällige, praktische Autos, und sie parken schon gar nicht mitten auf dem Rasen. Die Fahrertür steht weit offen, der Motor läuft. Wer macht denn so was? Wenn das der Direktor sieht …

Ich gehe hin und streichle den seidig glatten Kotflügel. Mein Blick fällt auf die Reifen. Altmodische Reifen, außen weiß. Die beiden mir zugewandten scheinen nagelneu zu sein, praktisch ungefahren. Ich bücke mich und betrachte mein Spiegelbild in der blanken, gewölbten Radkappe. Die Umgebung hinter mir ist verzerrt, mein eigenes Spiegelbild seltsamerweise nicht.

Ich richte mich wieder auf. Ziemlich leichtsinnig, ein Auto offen und mit laufendem Motor hier abzustellen. Da könnte doch jeder einsteigen. Kaum bin ich ein paar Schritte weitergegangen, bleibe ich plötzlich stehen, weil mir ein Gedanke gekommen ist. Bestimmt gehört das Auto diesem Mistkerl. Das sähe ihm ähnlich, sein Auto mit laufendem Motor mitten auf dem Rasen abzustellen! Dabei ist er Lehrer – schönes Vorbild! Schon wieder kocht die Wut in mir hoch. Ich stapfe die Treppe zum Innenhof hinauf. Geschieht ihm ganz recht, wenn jemand mit der Kiste abhaut. Geschieht ihm ganz recht, wenn …

Ich fahre herum. Das Auto steht immer noch mit schnurrendem Motor unter den Bäumen. Die vier nagelneuen Reifen sehnen sich danach, endlich richtig Bekanntschaft mit dem Asphalt machen zu dürfen. Leider ist meine Fahrpraxis gleich null. Ich bin grade erst siebzehn geworden und hatte im Leben noch keine einzige Fahrstunde. Um solchen Kleinkram kümmern sich meine Eltern nicht. Im Gegensatz zu vielen meiner Mitschüler habe ich noch nie am Steuer gesessen …

Seth! Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Mira hat doch erzählt, dass er zu Hause ein eigenes Auto hat. Das heißt, er kann fahren. Und er latscht bestimmt noch irgendwo über das Schulgelände, sammelt Abfall auf und ist sauer wegen der ungerechten Strafe. Er hat eine Pause verdient, finde ich. Ich bleibe stehen und lasse den Blick über den Hof wandern. Das einzige halbwegs menschenähnliche Wesen ist das hässliche Denkmal von Argus Hedgebrook, eine total misslungene Auftragsarbeit und Zielscheibe sämtlicher Schülerstreiche. Argus streckt den Bronzearm so verkrampft aus, als hätte er Angst, von seinem Sockel zu stürzen, dabei soll es natürlich eine einladende Geste darstellen. Mist. Timing ist alles. Seth ist nirgends zu sehen, und der hässliche Argus ist auch keine Hilfe.

Ich lasse den Blick über die drei anderen Gebäude und ihre unmittelbare Umgebung wandern, dann kommt das Verwaltungsgebäude an die Reihe, in dem die Schulleitung sitzt. Kein Seth, nirgendwo Abfall, und auch sonst niemand, den ich als Fahrer anheuern könnte. War doch klar. Der heutige Tag entwickelt sich genau so, wie ich geahnt habe. Ich wende mich schon kopfschüttelnd zum Gehen, da regt sich etwas hinter Angus’ Sockel. Was ist das? Ich kneife die Augen zusammen … ein Fuß! Ein träge vor sich hinwackelnder Fuß. Also da steckt der Faulpelz! Ich renne hin, lasse mich auf die Knie fallen und packe Seth mit beiden Händen am T-Shirt.

»He, mach mal Pause! Unser Auto steht hinten. Kannst du fahren?«

Er starrt mich mit aufgerissenen Augen an, als hätte ich ihn beim Nichtstun ertappt, was ja auch der Fall ist. »Bist du …«

»Ich brauch einen Fahrer! Kannst du mich fahren? Bitte!«

Er sieht mich an wie eine Geisteskranke. »Ich hab Abfalldienst …«

»Aber du hast einen Zusatzpunkt verdient, das weißt du doch. Nur eine kleine Runde drehen … mehr will ich ja gar nicht.«

Er kriegt sich wieder ein, steht auf, schiebt meine Hände weg und streicht sich das T-Shirt glatt. Als wir uns gegenüberstehen, bin ich verblüfft, wie groß er ist. Er sieht mich an, und ich weiß, gleich sagt er nein, aber ich drehe mich nicht weg und weiche seinem Blick nicht aus, denn seit mich Mira verdächtigt, heimlich in ihn verknallt zu sein, habe ich ihn absichtlich ignoriert, und jetzt fällt mir zum ersten Mal auf, dass er goldbraune Augen mit dunkelbraunem Rand hat, was ich wahnsinnig spannend finde, weil ich genau die gleiche Augenfarbe habe, und ich glaube, ihm fällt es auch auf, und es überläuft mich kalt, und dann geschieht ein Wunder, denn er sagt: »Na, dann komm.«

 

»Du hast einen guten Geschmack, Des, das muss man dir lassen.«

»Ich hab mir das Auto nicht ausgesucht … das Auto hat mich ausgesucht.«

Seth streicht über die Kühlerhaube und den Kotflügel und geht dabei um das Auto herum, bis er vor der offenen Fahrertür steht. »Aber nur eine kleine Runde … okay?«

»Okay.« Ich weiß, dass es jetzt schon mehr als das ist. Das verraten mir das heutige Datum und unsere so ähnlichen Augen. Seth kann sich diesen Übereinstimmungen ebenso wenig entziehen wie ich.

Noch einmal schauen wir uns nach allen Seiten um, dann steigen wir ein. Die weißen Ledersitze sind so herrlich glatt wie die Kotflügel, und Seth reckt triumphierend die Faust. »Wer hätte gedacht, dass Abfalldienst so viel Spaß machen kann!« Er schließt behutsam die Wagentür, und es kommt mir vor, als ob er damit die ganze Welt um uns herum ausschließen würde.

Das Blut rauscht mir in den Ohren. »Fahr!«, sage ich leise. »Fahr los!«

Seth tritt aufs Gas, und wir machen einen Satz nach vorn, quer über den Rasen und dann auf den schmalen Weg, der sich über das Schulgelände schlängelt. Bevor wir an Gaspar Hall vorbeikommen, bremst Seth, denn dort gehen die Fenster der Klassenzimmer zur Straße raus. Seth sieht mich fragend an. Dann rutschen wir wie auf Kommando in den Sitzen nach unten, und er fährt langsam und leise weiter, als ob das Auto auf Zehenspitzen schleichen würde.

Trotzdem drehen sich die Schüler, die am Fenster sitzen, nach uns um. Ihre Augen werden groß wie Untertassen, aber keiner von ihnen verrät uns. Staatsbürgerkunde. Englische Literatur. Jillian und Curtis drehen sich gleichzeitig um, ihnen fällt die Kinnlade runter. Mathe. Seth winkt Justin Thomas zu, als würde er ihm zufällig auf der Straße begegnen. Wirtschaft. Physik. Mira. Sie reißt die Augen derart weit auf, dass die Iris einem winzigen Tintenklecks in einem Meer von Weiß gleicht. Dann verschwindet sie vom Fenster. »Gib lieber Gas«, sage ich.

»Reg dich ab. Alles ist gut.«

Eigentlich kenne ich Seth gar nicht richtig. Ich kenne seine Frühstücksgewohnheiten, wie die der anderen auch. Er kommt immer zu spät. Er gibt sich mächtig Mühe, Mrs Wicket zum Schmunzeln zu bringen, als wäre es für ihn ein ausgeklügeltes Spiel. Zwischen zwei Bissen klopft er mit der Gabel auf den Teller, was Aidan zur Weißglut treibt.

Trotzdem habe ich keinen blassen Schimmer, was in ihm vorgeht. Ich kenne weder seine Vorlieben noch seine Abneigungen und Ängste, überhaupt fällt mir auf, dass ich trotz meiner Beobachtungsgabe – auf die ich sehr stolz bin – eigentlich keinen meiner Klassenkameraden richtig kenne, von Äußerlichkeiten und irgendwelchen Ticks mal abgesehen. Wieder spüre ich einen Kloß im Hals.

»Kann ich mitfahren?« Mira kommt um die Ecke geflitzt, und Seth tritt auf die Bremse.

»Schrei nicht so!«, sagt er.

»Hat Miss Boggs mitgekriegt, dass du gegangen bist?«, frage ich im Flüsterton.

»Quatsch!« Mira ist ganz offensichtlich stolz auf sich. »Sie hatte für den Test heute einen Arbeitsbogen zu wenig kopiert. Daraufhin hat sie sich total aufgeregt und ist noch mal losgerannt. Aber jetzt kann ich mich nicht wieder reinschleichen.«

Die alte Boggs bildet sich viel auf ihr Organisationstalent ein und macht immer genug Kopien. Warum muss sie ausgerechnet heute einen Aussetzer haben?

»Steig ein«, sage ich seufzend. Mira hat schon die hintere Tür geöffnet. »Aber halt gefälligst die Klappe!«, setze ich warnend hinzu und drohe ihr mit der Faust. Sie nickt vergnügt, lässt sich in den Sitz fallen und hält zwei Finger zum Schwur hoch. Unter anderen Umständen hätte ich gestaunt, wie unbekümmert sie den unerwarteten Wendungen des Lebens begegnet, jetzt bin ich allerdings darauf vorbereitet, ihr jederzeit eine reinzuhauen.

Seth lässt den Wagen weiterrollen. Wir müssen nur noch ungesehen an der Krankenstation und an der Bibliothek vorbeikommen, dann können wir durchs Tor auf die Straße rausfahren.

»Kann Aidan nicht auch mitkommen?«, fragt Mira da.

Seth und ich drehen uns gleichzeitig um, aber Seth antwortet schon, bevor ich Mira eins auf die Nase geben kann, weil sie ihren Schwur nicht mal eine Minute lang gehalten hat. »Aber klar doch, Mira«, sagt er überfreundlich. »Ich schlage vor, du gehst einfach in seine Klasse und fragst den Lehrer, ob Aidan den Rest des Tages blaumachen darf.«

Man kann zusehen, wie es hinter Miras Stirn mit den erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen arbeitet. Dann fällt der Groschen. Sie rutscht tiefer in ihren Sitz. Wir fahren an der Krankenstation vorbei, da meldet sie sich wieder zu Wort, indem sie unterdrückt quietscht: »Da ist er!«

Aidan drückt sich ein blutiges Taschentuch an die Nase und will eben ins Haus gehen, als Mira hinter uns aufspringt und ihm mit vollem Körpereinsatz winkt. Er bleibt stehen und reißt die Augen über dem Taschentuch auf. Wahrscheinlich glaubt er, dass er vom Blutverlust schon halluziniert.

»Nicht zu fassen«, flüstert Seth und tritt wieder auf die Bremse.

»Nicht anhalten«, sage ich. »Wir brauchen nicht noch einen Mitfahrer!« Zu spät. Aidan kommt schon auf uns zu und bestaunt unseren auffälligen rosa Schlitten. Mira stößt ihre Tür weit auf.

»Wir machen einen Ausflug … steig ein!« Aidan gehorcht, was im Grunde nicht überraschend ist, denn Aidan ist nervtötend autoritätshörig. Allerdings scheint er heute nicht alles im Griff zu haben. Er lehnt sich nach hinten und drückt sich das Taschentuch fest auf die Nase.

»Wem gehört das Auto?«, erkundigt er sich nuschelnd.

»Das gehört Des«, antwortet Seth. »Wehe, du blutest die Sitze voll!«

Das Auto gehört mir? Habe ich das behauptet? Immerhin nett, dass Seth sich Sorgen um meine Sitze macht. »Das ist nicht …« Ich verstumme. Vielleicht ist das jetzt doch nicht der richtige Augenblick.

»Das ist nicht was?«, hakt Seth nach.

»Das ist … jetzt nicht der richtige Augenblick, um sich zu unterhalten. Fahr schon!«