Wir gehen auf die Suche nach einem Schuhgeschäft. Mira fragt mich zum x-ten Mal, ob ich mein Geld wirklich dafür ausgeben will, ihnen Schuhe zu kaufen. Ich gerate in Versuchung, ihr zu erzählen, dass es gar nicht mein Geld ist, aber dann müsste ich nur noch mehr erklären, zum Beispiel auch, woher ich das Auto habe. Damit wäre der ganze Tag verdorben. So weit bin ich noch nicht. »Jetzt glaub’s mir doch, Mira!«, erwidere ich, und sie bedankt sich zum x-ten Mal. Am liebsten würde ich ihr eine runterhauen, damit sie endlich Ruhe gibt, aber ich beherrsche mich.
»Ich hätte total Lust auf einen Hotdog«, sagt Aidan.
Seth entgegnet lachend: »Du? Im Internat beschwerst du dich doch immer über die ganzen Zusatzstoffe im Essen!«
»Dieser Ausflug ist sowieso mein Todesurteil. Da kann ich in der mir verbleibenden Zeit ebenso gut wild und gefährlich leben.«
»Der wilde, gefährliche Aidan!« Mira kichert, aber so, wie sie es sagt, klingt es eher bewundernd als spöttisch. Ob Aidan das auch so empfindet?
Wir kommen an eine Querstraße, und siehe da, gleich um die Ecke steht ein Hotdog-Stand. Über dem weißen Wagen prangt ein rotweißgestreifter Sonnenschirm, auf dem Tresen sind riesige Behälter mit Soßen, Ketchup, Senf und anderen Zutaten aufgebaut. Und stapelweise Hotdog-Brötchen natürlich.
»Hast du ein Glück!«, sage ich.
Aidan nickt nachdrücklich. »Ich hab den Stand längst gerochen, aber ich wollte euch verblüffen.«
»Das ist voll gelogen«, sagt Seth halblaut.
Aidan widerspricht nicht. Hat er Seth nicht gehört?
Mir gefällt die Erklärung. Hätte Seth nicht behauptet, dass Aidan schwindelt, hätte ich ihm bereitwillig geglaubt. Ich ziehe einen Geldschein aus der Tasche und überreiche ihn Aidan. Wie viel haben wir eigentlich schon ausgegeben? Egal, ich habe genug Geld, um alles zurückzuzahlen, was ich aus dem Handschuhfach genommen habe, und danach ist immer noch etwas übrig. Mr Anwalter überweist mir jeden Monat ein großzügiges Taschengeld. Meine Eltern würden das bestimmt vergessen.
»Kauf gleich vier Stück«, sage ich.
Seth setzt hinzu: »Und was zu trinken.«
»Zum Mittagessen ist es aber noch zu früh«, gibt Mira zu bedenken.
»Wir wollten doch wild und gefährlich leben, schon vergessen?«, kontert Seth.
»Dann müssen wir eigentlich zuerst den Nachtisch essen!«
Aidan bestellt vier Hotdogs, und wir belegen die Dinger üppig. Abgesehen vom Speisesaal im Internat, wo es genug Abstand und einen vorgeschriebenen Ablauf gibt, habe ich noch nie zusammen mit Klassenkameraden gegessen. Ich beobachte Aidan. Er drückt drei Mal auf die Ketchupflasche, ein Mal auf den Senf und nimmt zwei große Löffel Soße. Er sieht erst Mira an, dann die Röstzwiebeln. Nach kurzem Zögern lässt er die Zwiebeln stehen. Mira macht ihm alles haargenau nach und lässt die Zwiebeln ebenfalls stehen. Seth verziert seinen Hotdog lediglich mit einer hübschen Schlangenlinie aus Senf. Von den Zwiebeln nimmt er ohne Zögern drei Löffel.
Es liegt nicht nur an der ungewohnten Umgebung, dass mir diese Mahlzeit so ganz anders vorkommt als die Mahlzeiten im Internat. Was uns vereint, ist nicht die Schule. Wir haben uns freiwillig zusammengeschlossen. Sogar die Luft fühlt sich anders an. Ich registriere genau den Abstand zwischen uns – und das Gegenteil. Seth schaut mir zu, wie ich nach ihm meinen Hotdog mit zwei breiten Streifen Senf und Ketchup garniere. Ich bin selbst überrascht, wie ich vom Geruch der Hotdogs auf einmal einen Bärenhunger kriege. Mein Magen knurrt vernehmlich. »’tschuldigung!«, sage ich und klopfe mir auf den Bauch.
»Zum Mittagessen ist es noch zu früh!«, äfft Seth Mira nach.
Ich streue zwei Löffel Zwiebeln auf meinen Hotdog. Auf die Weise werden die anderen ja wohl Abstand von mir halten. Mira setzt sich mit ihrem Hotdog auf die Bank an einer Bushaltestelle, wir anderen gesellen uns dazu. »Erzähl uns noch was, Des«, sagt Mira mit vollem Mund.
»Was denn?«
»Eine von deinen Geschichten über bedeutsame Zufälle und so.«
»Wie kommst du drauf, dass ich noch mehr solche Geschichten auf Lager habe?«
Aidan sagt genervt: »Tu doch nicht so.«
Um ihm eins auszuwischen, lächle ich Mira strahlend an und frage: »Von welcher Art Zufall soll die Geschichte denn …«
»Ich kenne auch eine.«
Ich drehe mich verblüfft zu Seth.
»Erzähl!«, sagt Mira.
»Die Geschichte handelt auch von Präsidenten. Als ich in der fünften Klasse war, ist meine Mom in den Ferien mit mir hierhergeflogen, um mir Anschauungsunterricht in amerikanischer Geschichte zu erteilen. Wir haben eine Einzelführung durchs Kapitol mitgemacht, und mir fiel ein großes Gemälde auf. Auf dem Bild tritt ein Mann einem anderen Mann auf den Fuß. Der Typ, der uns geführt hat, hat uns erklärt, das sei John Adams, der Thomas Jefferson auf den Fuß tritt. Der Künstler hatte sich mit dem Bild einen kleinen Scherz erlaubt, weil die beiden Männer so erbitterte Rivalen gewesen waren, dass jeder unbedingt länger leben wollte als der andere. Sie haben sogar darum gewettet.«
»Und wer hat gewonnen?«, will Mira wissen.
»Keiner von beiden. Sie sind am selben Tag gestorben.«
»Irre!«, ruft Mira.
»Du sagst es«, brummelt Aidan.
»Es kommt noch besser. Beide starben am 4. Juli 1826, auf den Tag fünfzig Jahre nach ihrer gemeinsamen Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung.«
»Vielleicht hat jemand den beiden einen vergifteten Drink untergejubelt?«, sagt Aidan skeptisch. »Schließlich gab es was zu feiern.«
»Aidan!«, sagt Mira vorwurfsvoll.
Aidan zuckt bloß die Achseln.
»Vielleicht musst du endlich akzeptieren, dass es solche ungewöhnlichen Zufälle gibt, Aidan«, sage ich.
Seth beißt in seinen Hotdog. »Nein, die beiden wurden nicht vergiftet. Der Typ von der Führung meinte, das Ganze wäre einfach ein erstaunlicher Zufall.«
Mira schluckt den letzten Bissen runter und trinkt einen großen Schluck Limo nach. »Als ich klein war, hab ich mit meinen Freundinnen Hüpfkästchen gespielt. Ich hab meine Schlüsselkette in das nächste Feld geworfen, und so, wie die Kette dalag, hat sie genau ausgesehen wie meine Anfangsbuchstaben: MP, von Mira Peach.«
Auweia. Nur Mira kann auf die Idee kommen, zwei Todesfälle mit einem Kinderspiel zu vergleichen. Seth und Aidan liefern ihre Kommentare dazu, es geht hin und her. Ich höre zu und denke: Das eigentlich Erstaunliche ist doch, dass ich auf einer Bank sitze, einen Hotdog futtere und einfach mal nicht dran denke, was dieser Tag bedeutet. Dass ich einen Tag lang jemand anders bin. Dass ich an diesem besonderen Tag mache, was ich will, statt dass wie sonst der Tag mit mir macht, was er will. Verkehrte Welt.
Seth stößt mich absichtlich mit dem Arm an. »Woran denkst du?«
Ich denke, dass sich sein Arm ein bisschen zu sehr zu meinem Arm hingezogen fühlt. Dass ich anscheinend vergessen habe, wie gefährlich es ist, Nähe zuzulassen. Dass ich mir jedes Härchen auf seinem Unterarm mit dem hochgekrempelten Ärmel einpräge. Ich denke, wenn er mich noch ein Mal so anstupst, sieht mich Mira garantiert vielsagend an, und dann kann ich mich nicht mehr beherrschen, ihr eine reinzuhauen. »Ich denke grade, dass ich gern weitergehen würde.«