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»Der Haferbrei ist heute klumpig.«

Ich lasse drei Löffel davon in meine Schüssel fallen und gieße mehr Milch obendrauf. Klar ist der Haferbrei klumpig, das ist jeden Morgen so. Mira könnte sich mal etwas Neues einfallen lassen. Aber ich gehe wie immer ausführlich darauf ein, damit sie sich nicht auch noch wiederholt.

»Hm-hm.«

Der Speisesaal ist ungewöhnlich leer. In Hedgebrook gibt es drei Speisesäle: einen großen, in den alle vierhundertzwanzig Schüler reinpassen, und die zwei kleineren neben der Küche. Meistens esse ich zusammen mit acht, neun anderen Schülern im kleinsten Saal. Die Einrichtung ist schlicht, ein großer, zweckmäßiger Holztisch mit robusten Stühlen drum herum. Ich stelle meine Schüssel und mein Glas Saft auf den Tisch.

Ich setze mich zwischen Curtis und Jillian, gegenüber sitzen Mira, Aidan und Ben. Am Tischende hat Mrs Wicket Platz genommen. Mit einer Hand blättert sie die Zeitung durch, mit der anderen führt sie ihren Toast zum Mund, und zwischendurch begrüßt sie die eintretenden Schüler. Wenn das nicht Multitasking ist!

»Guten Morgen, Destiny.«

»Man spricht nicht mit vollem Mund, Mrs Wicket.«

»Was du nicht sagst. Ausgeschlafen?«

»Wo sind denn die anderen?« Damit meine ich unsere übliche Runde. Ich zermansche die Haferbreiklumpen mit dem Löffel, und ein bisschen Milch kleckert auf den Tisch.

»Isabel ist krank. Ein grippaler Infekt, nicht so schlimm, aber sie soll trotzdem auf ihrem Zimmer bleiben«, antwortet Mrs Wicket.

»Isabel ist doch nie krank«, sagt Jillian.

»Außerdem muss sie heute ihr Referat halten. So was Blödes«, setzt Mira hinzu.

Ben schüttelt den Kopf und nuschelt mit vollem Mund: »Schlechtes Timing.«

Ich schaue aus dem Fenster und fröstele, aber innerlich, nicht, weil mir kalt ist. Ein Windstoß treibt welkes Laub gegen das Fenster. Mrs Wicket erschrickt und legt ihren Toast weg. »Was war das denn? Die Vorhersage hat doch schönes Wetter angekündigt!«

»Also mich wundert das nicht«, sage ich und kippe noch einen Löffel Zucker auf die Pampe, damit das Zeug halbwegs genießbar wird. »Heute ist schließlich der Neunzehnte.«

»Jetzt fängt das wieder an!« Aidan lehnt sich zurück. »Geht bloß nicht drauf ein.«

»Was hat denn der Neunzehnte mit dem Wetter zu tun?«, will Jillian wissen.

»Das hast du bloß so gesagt, stimmt’s, Des?«, will Mira einlenken.

»Nichts«, beantworte ich Jillians Frage, »aber heute wird gar nichts schön, das Wetter nicht und auch sonst nichts, verlass dich drauf.«

»Genau. Können wir jetzt das Thema wechseln?« Aidan kriegt immer Schiss, wenn es um Vorahnungen oder Zufälle oder so was geht.

»Ich mein ja bloß …« Wozu soll ich ihnen Angst machen? Und wenn ich noch ein Wort sage, würden sie es garantiert mit der Angst zu tun bekommen. Ich weiß über sämtliche Marotten und Ängste unserer Frühstücksrunde Bescheid. Ich weiß, wer unter dem Tisch die Beine übereinanderschlägt und wer wie viel auf dem Teller liegen lässt. Wer wann heimlich zu den anderen rüberschielt und überlegt, ob er überhaupt wahrgenommen wird. Ich weiß, wie oft sich Jillian mit der Serviette den Mund wischt (zweiundzwanzig Mal) und wie oft sich Curtis räuspert (siebzehn Mal), als müsste er erst Mut sammeln, um etwas zu sagen. Ich weiß, wie oft Mira unsicher in die Runde schaut (vierundvierzig Mal) und hofft, dass wir uns alle vertragen. Und wie oft Ben mich anschaut, wenn ich gerade wegsehe (fünf Mal), weil er rauskriegen will, was eigentlich mit mir los ist. Dafür brauche ich mich nicht nach ihm umzudrehen, ich spüre seinen forschenden Blick auch so. Ich weiß das alles, ohne dass ich lange darüber nachdenken müsste. Nach knapp zwei Jahren habe ich mir die Angewohnheiten der anderen sozusagen angeeignet.

»Diese Isabel!«, sagt Ben. »Das Jahr hat dreihundertfünfundsechzig Tage, und sie wird ausgerechnet heute krank.«

Ich zerdrücke die Haferbreibatzen am Schüsselrand. Klumpen sind auch nicht schön. Jedenfalls nicht, wenn man sich jeden Morgen damit rumärgern muss.

Isabel ist nicht meine Freundin. Ich habe in Hedgebrook keine Freunde. Trotzdem machen mich Bens Worte nachdenklich.

»Du bist so still, Curtis. Du trägst heute Morgen gar nichts zur Unterhaltung bei«, sagt Mrs Wicket und versucht es wieder mit Multitasking: Toast knabbern, Zeitung lesen und dafür sorgen, dass sich in unserer Runde keiner ausgeschlossen fühlt. Curtis schüttelt stumm den Kopf. Er legt Wert darauf, mit uns zusammen zu frühstücken, kriegt aber außer zum Essen kaum die Zähne auseinander, wenn ihm Mrs Wicket nicht irgendeine Bemerkung geradezu in den Mund legt.

»Und Faith? Wo steckt die?«, erkundige ich mich.

Mrs Wicket lässt die Zeitung sinken und späht über den Rand ihrer Lesebrille.

Ben sieht erst mich an und dann Mrs Wicket. Die setzt sich kerzengerade auf. Aidan kann ihre Körpersprache anscheinend nicht deuten, denn er platzt heraus: »Die ist doch schwanger, bist du blind? Sie verlässt demnächst die Schule.«

Jeder hat mitgekriegt, dass Faith täglich runder wurde. Weil wir alle Sexualkundeunterricht gehabt hatten, war uns auch sonnenklar, woher das kam.

»Aber …«

»In Hedgebrook wird nicht getratscht«, sagt Mrs Wicket streng.

»Doch«, sagt Jillian.

»Aber nur manchmal«, greift Mira ein.

»Und warum muss Faith deswegen die Schule verlassen?«, frage ich.

»Wir sind hier nicht so auf Säuglinge eingestellt«, antwortet Mrs Wicket.

»Muss der Junge auch gehen?«

»Es ist keiner von unseren Schülern.«

»Auf welcher Schule er auch ist, er kriegt bestimmt nicht mal eine Verwarnung«, sagt Jillian.

Es wird dunkler im Saal, aber das merke anscheinend nur ich. Dann wird es wieder heller, als wäre eine Wolke an der Sonne vorbeigezogen. Ganz kurz scheint alles stillzustehen, meine Mitschüler gleichen den Steinfiguren draußen im Park. Ich betrachte sie nacheinander und denke, wie schnell es gehen kann, dass etwas Unbeeinflussbares wie Wind, Wolken oder andere Menschen in ihr Leben eingreift.

Mira schaut mich an. »Willst du denn gar nicht wissen, wo Seth heute Morgen ist, Des?«

Seth ist erst dieses Jahr nach Hedgebrook gekommen. Bloß weil ich bei seiner Ankunft in der Nähe rumgestanden habe und eine Bemerkung über seinen blonden Wuschelkopf gemacht habe, glaubt Mira offenbar, dass ich heimlich in ihn verknallt bin oder so. Was natürlich nicht stimmt, denn damit hätte ich gegen meine persönliche Vorschrift Nummer eins verstoßen, die da lautet: Lass dich bloß auf niemanden ein. Leider kann ich nicht damit aufhören, andere zu beobachten. Ich habe mir angewöhnt, aus der Distanz heraus zu erforschen, hinter welchen Fassaden sich die anderen verstecken, und meinen eigenen Charakter mit ihrem zu vergleichen. Ich versuche mir auszumalen, weshalb sie so sind, wie sie sind, zu begreifen, warum das Leben eines Menschen gewissen Einflüssen unterliegt und das eines anderen nicht. Seth mit seiner entgegenkommenden Art, seinem netten Lächeln ist das Gegenstück zu meiner Distanziertheit, meinen täglichen Berechnungen. Was für unterschiedliche Einflüsse mögen uns beide geprägt haben? Nicht, dass mich das übermäßig beschäftigt. Im Gegenteil, dass er so locker und zu jedem gleich nett und freundlich ist, geht mir unglaublich auf die Nerven, so dass es mir ziemlich egal ist, wo er heute Morgen bleibt, aber Mira scheint auf eine Erwiderung zu warten.

»Na schön, Mira«, sage ich seufzend. »Wo ist Seth?«

Aidan kommt Mira zuvor. »Der hat heute früh Abfalldienst.«

»Was hat er denn angestellt?« Jillian beugt sich vor. Sie scheint Seths Untaten entschieden spannender zu finden als ihr verschrumpeltes Frühstückswürstchen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich Mrs Wicket missbilligend den Kopf schütteln, aber sie macht keine Anstalten, Aidan zu bremsen.

Aidan kippelt mit dem Stuhl. »Gestern in Englische Literatur hat Mr Bingham das Fenster aufgemacht und …«

»… und ein Windstoß hat die Blätter von seinem Tisch gefegt …«, fällt ihm Mira ins Wort.

»… und seine Haare hochgepustet!«

»Echt? Etwa die Haare über …«

»Ja! Die Haare, die er sich immer über die Glatze kämmt«, bestätigt Aidan. »Die ganze Klasse musste sich das Lachen verbeißen, und dann hat sich Seth gemeldet. Mr Bingham hat ihn aufgerufen, und Seth hat gesagt: ›Äh … ich glaube, die Luke zu ihrem Oberstübchen steht offen, Mr Bingham.‹«

Alle prusten los. Mrs Wicket räuspert sich mahnend.

»Und was hat Bingham gesagt?«, fragt Jillian kichernd.

»Mr Bingham«, berichtigt Mrs Wicket sie.

»Was sollte er schon sagen? Er hat die Luke wieder zugeklappt. Und als sich die Klasse wieder eingekriegt hatte, hat er Seth einen Tadel ins Klassenbuch eingetragen und ihn für heute früh zum Abfalldienst verdonnert.«

»Das finde ich unfair.« Jillian nimmt ihr Würstchen in die Hand und beißt ab.

»Es war schließlich im Literaturkurs – Mr Bingham hätte Seth auch für die Metapher loben können«, wirft Ben ein.

»Stimmt, die Metapher war eigentlich gut.«

»Ich finde, Bingham hätte Seth dafür einen Zusatzpunkt geben müssen, oder?«, meint Mira. »War doch ein Kompliment für seinen Unterricht.«

»Ein Zusatzpunkt wäre aber auch nicht fair gewesen.«

»Richtig«, pflichtet Curtis Jillian bei, womit er sich unüberhörbar an der Morgenrunde beteiligt hat.

Mrs Wicket schmunzelt. »Dann esst mal auf. Der Unterricht beginnt in zehn Minuten.« Wie jeden Morgen, seit ich hier bin, trinkt sie ihren Tee aus, steht auf und klatscht in die Hände.

Als wir den Tisch abräumen, kommt Miss Plunkett mit einem Zettel rein. Miss Plunkett ist neu und kennt noch nicht alle Schüler. »Eben hat jemand angerufen. Es geht um Miss …«, sie schaut auf ihren Zettel, »… Miss Faraday.«

Ich drehe mich um.

Mrs Wicket überfliegt den Zettel und schaut mich an. »Ach herrje, Destiny, es hat jemand für dich angerufen. Anscheinend hat jemand deiner Tante Edie die Reifen vom Auto weggeklaut – alle vier auf einmal. Darum kann deine Tante heute leider nicht kommen, aber …«

Ich stehe auf. Mein Stuhl quietscht über den Boden.

Alle halten inne und drehen sich nach mir um. Sie glotzen mich an, als ob sie drauf warten, dass ich jetzt losheule. Ich muss sie leider enttäuschen.

»Seth hätte es schlauer anstellen sollen«, sage ich und nehme mein Geschirr, die Schüssel und das Glas. »Noch fieser wäre es gewesen, wenn er die Klappe gehalten hätte. Dann hätte Mr Bingham einfach mit dem Unterricht weitergemacht und dabei ausgesehen wie ein schiefer Gockelhahn.« Ich stelle Glas und Haferbreischüssel in die Kiste für das gebrauchte Geschirr neben der Tür. »Das wär doch mal ein schöner Anblick gewesen!«