13

Je weiter wir nach Norden fahren, desto flacher werden die Hügel, der Horizont wird weiter. Mira macht uns wie eine Fremdenführerin auf das goldgelbe, orangene und weinrote Herbstlaub der Bäume aufmerksam. Das wäre uns zwar auch ohne ihre Hinweise nicht entgangen, aber ihre Begeisterung ist ansteckend, und zu meiner eigenen Überraschung freue ich mich jedes Mal schon auf ihren nächsten Freudenschrei.

Lucky schläft zwischen Seth und mir auf der Sitzbank. Er hat inzwischen alles Gras aufgefressen, das Seth für ihn gepflückt hatte, und im Eifer des Gefechts hat er auch gleich ein Stück Sitz mitverspeist. Seth verzieht das Gesicht, als er das Loch sieht, aus dem der Schaumstoff quillt, dann schielt er zu mir herüber, um festzustellen, ob mir der Schaden auch schon aufgefallen ist. Ich bringe es nicht fertig, ein entsetztes Gesicht zu machen, denn schließlich geht es nur um ein Auto, das mir noch nicht mal gehört, darum zucke ich bloß die Achseln. Diese Gleichgültigkeit schreibt Seth wahrscheinlich der allseits bekannten Tatsache zu, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin. Tja, harmlose Gesten können zu tiefgreifenden Interpretationen führen.

Wir kommen gut voran, ich schätze, bis Langdon ist es höchstens noch eine halbe Stunde. Im Internat sind jetzt die ersten beiden Unterrichtsstunden um. Im Büro des Direktors sind vier Abwesenheitsmeldungen eingegangen. Die Aufsicht führenden Lehrer haben in unseren Schlafräumen und im Krankenzimmer nachgesehen. Zu guter Letzt wurden vermutlich die Bibliothek, die Speisesäle und die alten Stallungen hinter den Kutscherhaus abgesucht, wo sich gelegentlich subversive Elemente verbotenen Aktivitäten hingeben. Bei gleich vier verschwundenen Schülern hat die Schulleitung vielleicht sogar die Polizei verständigt. Nein, diesen Schritt wird Mrs Wicket so lange wie möglich hinausschieben. Sie gerät nicht so schnell in Panik. Der Direktor schon. Er ruft jedem, der gegen die Schulordnung verstößt, sofort ins Gedächtnis, dass es eine lange Warteliste von Bewerbern gibt und dass unsere Plätze im Handumdrehen neu besetzt werden können. Wie tröstlich zu wissen, dass man so leicht zu ersetzen ist, wo es doch so viele Dinge gibt, die sich nie mehr ersetzen lassen.

Seth entdeckt am Straßenrand einen Bach und fährt rechts ran. Er meint, Lucky hat vielleicht Durst, außerdem könnte er dann sein Geschäft verrichten, bevor er womöglich seine Köttel im Auto hinterlässt. Da sich keiner von uns mit den Verdauungsgewohnheiten von Schafen auskennt, erhebt niemand Einwände. Außerdem bin ich gespannt, wie Seth das Lämmchen überreden will, sein Geschäft auf Knopfdruck zu verrichten.

Seth und Aidan gehen mit Lucky auf die Wiese, Mira und ich warten am Auto. Mir fällt auf, was Seth für lange, lässige Schritte macht, wogegen Aidan mit knappen, steifen Schritten neben ihm hermarschiert. Die beiden sind wirklich grundverschieden. Das fängt schon mit Seths blondem Wuschelkopf und Aidans ordentlich gescheitelten und gegelten braunen Haaren an. Seth lässt Lucky runter, und ich kann trotz der Entfernung erkennen, wie Lucky mit dem Stummelschwanz wackelt, als sei er außer sich vor Entzücken über den weißen Klee, in dem er steht. Unser kleiner Freund ist anscheinend ein Feinschmecker.

Mira lehnt sich ans Auto und verschränkt die Arme. »Findest du, er sieht gut aus?«

»Seth?«

»Quatsch! Aidan natürlich. Er mag mich nämlich.« Lächelnd blickt sie dem über die Wiese stiefelnden Aidan nach. Dass Mira Aidan toll findet, ist nicht zu übersehen. Sie läuft ihm nach wie ein Hündchen, heftet sich an seine Fersen, als wären es Leckerli. Allerdings ist mir noch nie aufgefallen, dass Aidan diese Zuneigung erwidert. Er duldet Mira eher, auch wenn er dabei immer freundlich bleibt.

»Hat er dir das gesagt?« Vielleicht wäre es ein gutes Werk, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ehe sie sich noch länger lächerlich macht.

»Red keinen Unsinn. Von so was verstehst du nichts.«

Ich komme mir vor wie eine Fünfjährige, der ein Erwachsener herablassend den Kopf tätschelt. Ich kann aber nichts entgegnen, weil Mira nach Aidan ruft und ihm dann hinterherläuft. Sie dreht sich noch einmal nach mir um. »Mach in Zukunft die Augen auf, dann kriegst du auch mit, was um dich herum vorgeht, Des!« Damit läuft sie weiter und wartet die Antwort nicht ab, die mir sofort auf der Zunge liegt.

Ich soll die Augen aufmachen? Ich, die große Beobachterin? Was bildet die blöde Kuh sich ein? Ich stapfe wütend los, bleibe aber nach ein paar Schritten stehen. Soll sie doch! Soll sie sich an Aidan ranschmeißen und sich lächerlich machen. Geschieht ihr ganz recht.

Mira ist jetzt bei den beiden Jungen angekommen. Sie wechseln ein paar Worte, dann verlässt Seth die Gruppe und kommt in meine Richtung.

Er springt über den Bach und lässt eine Ladung Klee und Gras vorn ins Auto fallen. Wenn es um Lucky geht, werfen wir offenbar jeglichen Ordnungssinn über Bord. »Mira hat gesagt, du willst was von mir?«

»Ich soll was von dir wollen?«, erwidere ich belustigt. »Diesen billigen Trick durchschaut Aidan doch sofort.«

»Ach so.« Seth grinst. »Stimmt, es hat irgendwie geknistert.«

Ich zucke die Achseln. »Bei Mira knistert es jedenfalls.«

»Bei Aidan aber auch.«

»Bei Aidan, diesem Langweiler? Red keinen Stuss.«

»Langweiler hin oder her, jedes Mal, wenn er ihren Namen ausspricht, kriegt er Sternchenaugen, und er spricht ihn ziemlich oft aus. Da drüben auf der Wiese mindestens drei Mal.«

»Das bildest du dir ein.« Ich drücke den Türgriff herunter und will einsteigen. »Wenn da wirklich was knistern würde, hätte ich es ja wohl als Erste mitgekriegt.«

Seth greift an und hält die Tür fest. »Vielleicht kriegst du ja doch nicht alles mit.«

Ich lasse den Türgriff wieder los. Meine Arme und Beine fühlen sich auf einmal eckig und unbeholfen an. Jemand anders zu sein, und sei es nur einen Tag lang, ist anstrengend. Wäre ich im Internat geblieben, hätte ich mich gar nicht erst in so eine Unterhaltung verwickeln lassen, dann würde ich jetzt nicht so dicht vor Seth stehen, dass ich ihn beim Reden fast anspucke. Oder habe ich ihn schon angespuckt? Seth hat kein Gespür für Abstand. Ich verlagere mein Gewicht auf den anderen Fuß und verschränke die Arme, wobei ich darauf achte, nicht gegen seine Brust zu stoßen. Warum ist er so nah herangekommen? Mir wird heiß, und als ich Luft hole, geht mein Atem ein bisschen zittrig.

»Kann schon sein«, sage ich.

Seth sieht mich einen Augenblick lang an, dann nimmt er die Hand weg. Er geht ein paar Schritte vom Auto weg ans Bachufer, wo er sich auf einen moosbewachsenen Stein setzt. Er legt die Hände erst auf die Oberschenkel, dann auf die Knie und dann wieder auf die Oberschenkel. Anscheinend ist meine Verunsicherung ansteckend. »Aidan hat mir das mit deiner Tante erzählt. Das mit den Reifen. Echt übel.«

»Stimmt.«

»Sag mal … was hat es denn nun mit dem heutigen Tag auf sich? Aidan hatte den Eindruck, du hättest die schlechte Nachricht von deiner Tante irgendwie erwartet.«

Er fragt so vorsichtig, als wäre ich zerbrechlich wie Glas. Ich bin aber nicht zerbrechlich. Wäre ich zerbrechlich, wäre ich schon längst in tausend Stücke zersprungen. Vielleicht habe ich ein paar Risse, aber die hat die Akropolis auch. »Ich hab nicht drauf gewartet. Der Anruf hat mir nur bestätigt, dass an manchen Tagen einfach alles schiefgehen muss.«

»Wohnt deine Tante in Langdon? Fahren wir deswegen dorthin?«

»Nein, meine Tante wohnt … sie wohnt in Chatsworth. Das ist weiter südlich, ungefähr sechs Stunden Fahrt vom Internat. Ich dachte, das ist euch bestimmt zu weit, außerdem hätten wir dazu erst mal durch Hedgebrook durchfahren müssen.«

Seth nickt. »Du willst also aus keinem bestimmten Grund nach Langdon?«

Weiß er etwas? Ich setze mich auf einen Stein neben ihn. »Nein. Wieso?«

»Weil du genau gewusst hast, wie viele Meilen es bis dorthin sind. Das ist schon auffällig, vor allem, wenn jemand selber nicht fahren kann.«

»Langdon ist eine Stadt wie jede andere. Es ist einfach die nächstgelegene Stadt für einen Tag wie heute.«

»Einen Tag, an dem alles ist, wie es sein soll«, sagt er wie zur Bekräftigung.

»Ja.«

»Ich geb’s ja zu, als du mich heute Morgen angesprochen hast, war ich grade stinksauer. Ich hab schon überlegt, wie ich aus Hedgebrook wegkomme, eine Weile jedenfalls. Dein Timing war echt verblüffend.«

»Oder aber es war eine glückliche Fügung. Du hast anscheinend vorhin nicht zugehört.«

Ich merke selbst, dass ich belehrend klinge. Kommt sich Seth jetzt auch vor, als ob ich ihm herablassend den Kopf tätscheln würde? Das war nicht meine Absicht, aber ich habe es offenbar trotzdem bewirkt. Konversation ist nicht mein Spezialgebiet, das steht mal fest.

»Es war nicht nur dein Strubbelkopf«, platze ich heraus.

Er schaut mich wieder an. »Hä?«

Er hat mich sehr wohl verstanden. Warum zwingt er mich, es zu wiederholen? »Mir ist an dir nicht nur aufgefallen, dass deine Haare unordentlich waren.«

»Was denn noch?« Es klingt misstrauisch.

»Am ersten Tag, als du bei uns warst, ist mir aufgefallen, wie du dich durch den Raum bewegst. Durch den Chemieraum, die Bibliothek, den Speisesaal. Wo du eben grade bist. Und wie du redest. Als würdest du die anderen schon ewig kennen, dabei warst du der Neue.«

»Hast du dich darüber gewundert?«

»Nicht gewundert. Ich kannte dich ja gar nicht. Mir ist es einfach aufgefallen, und ich fand es erstaunlich, dass du ganz locker mit Leuten ins Gespräch kommst, die du zum ersten Mal siehst. Und zwar mit allen.«

»Locker?« Er schüttelt grinsend den Kopf. »Ich war total unsicher. Bin ich immer. Aber ich kann inzwischen damit umgehen.«

»Wie meinst du das?«

Er rutscht auf seinem Stein herum und schaut mich an. »Wegen dem Beruf von meinem Vater muss ich oft umziehen. Ich war schon überall auf der Welt, aber nie länger als ein Jahr am selben Ort. Da kann ich es mir nicht leisten, die Leute erst näher kennenzulernen. Ich muss gleich ins kalte Wasser springen, sonst kann ich mich nie mit irgendwem anfreunden, bevor ich wieder wegmuss.«

Nie länger als ein Jahr? Wie schafft man das? Er ist noch öfter umgezogen als ich!

»Und wie lange bleibst du in Hedgebrook?«, frage ich.

»Nach dem, was wir uns heute geleistet haben … tja … Eigentlich soll ich in Hedgebrook meinen Abschluss machen. Meine Eltern sind gerade in Singapur, weil mein Vater dort eine Stelle bekommen hat, aber jetzt, wo ich bald aufs College gehen soll, sieht sich meine Mom nicht mehr in der Lage, mir mit dem Lernstoff zu helfen. Ich bin zwar in allen Fächern ziemlich gut, aber damit mich ein gutes College nimmt, muss ich noch etwas tun. Meine Eltern dachten, es wäre besser für mich, wenn ich mal ein paar Jahre an einem Ort bleibe. Besser in Hinblick auf meine Ausbildung.«

»Hast du Heimweh nach deinen Eltern?«

Er steht auf, wischt sich umständlich die Hände an der Jeans ab, dann nickt er. »Schon.«

Ich beobachte Seth schon lange, aber ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass er unsicher ist. Oder dass er manchmal Heimweh hat. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er und ich irgendetwas gemeinsam haben.

Mira und Aidan kommen zurück, und ich stehe auf. Seth dreht sich um und sieht sie auch.

Mira hat Lucky auf dem Arm. Aidan und sie springen über den Bach, dann stellt Mira Lucky auf dem Boden ab. Er verspeist sogleich eine knallgelbe Löwenzahnblüte.

»Lucky hat sein Geschäft gemacht!«, verkündet Mira stolz.

»Es ist echt nicht zu fassen«, sagt Aidan kopfschüttelnd.

»Es war genial. Ich hab bloß zu ihm gesagt: Lucky, alter Kumpel, wir haben heute noch viel vor. Darum musst du das Fressen mal kurz unterbrechen und aufs Klo gehen. Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Ich habe auf den Boden gezeigt und er …«

»… er hat sein Geschäft so prompt erledigt, dass ich zur Seite springen musste«, beendet Aidan den Satz.

»Wie findet ihr das?«, fragt Mira strahlend.

Ich schüttle den Kopf. »Tadelloses Timing, könnte man sagen.«

»Genau das hab ich auch gesagt, stimmt’s, Mira?«

Mira kichert.

Tatsächlich – ich weiß nicht, ob es gerade zum ersten Mal passiert oder ob es mir nur zum ersten Mal auffällt –, jedenfalls kriegt Aidan tatsächlich einen verträumten Blick, als er Miras Namen ausspricht.

Ein kühler Windstoß macht mir Gänsehaut. »Wir müssen weiter«, sage ich, und wir steigen einer nach dem anderen wieder ein. Wir und Lucky.