19

Wir fahren auf die rostige Eisenbrücke zu, die nach Langdon hineinführt. Der modrige Geruch des Flusses und das Rumms-rumms-rumms, wenn man über die Brücke fährt, sind meine deutlichsten Erinnerungen an Langdon. Hinter den sich überkreuzenden Eisenstreben taucht eine Mini-Skyline auf. Die Stadt ist doch größer, als ich sie in Erinnerung hatte, oder ist sie in der Zwischenzeit gewachsen?

Mira klatscht in die Hände. »Wir sind gleich da! Wie wär’s mit noch einem Geheimnis, Des? Deine letzte Chance!«

Letzte Chance. Mach den Sack zu. Sei kein Spielverderber.

Nachdem ich mich jahrelang bewusst aus allem rausgehalten habe, fällt mir das Mitspielen schwer. Ach, erzähl ihnen einfach irgendwas. Ist doch nur ein Spiel. Außerdem ist es sonst ungerecht. Ich sprudele drauflos, ehe mir Vorsicht und Vernunft ins Wort fallen können. »Ich habe einen Bruder. Er wohnt hier in Langdon. Und meine Eltern auch.«

»Hab ich’s mir doch gedacht«, sagt Seth halblaut.

»Wie bitte?« Aidans Ton ist so argwöhnisch, als hätte ich ihn bis jetzt absichtlich an der Nase herumgeführt.

Mira beugt sich vor und legt mir die Hand auf die Schulter. »Ist das jetzt wahr, Des?« Ich drehe mich um.

Das Auto rumpelt über die Brücke, das vertraute Rumms-rumms-rumms ertönt, die Schatten der Eisenstreben huschen über Miras Gesicht. Hell, dunkel, hell, dunkel – wie ein alter Schwarzweißfilm, der im Projektor hüpft. Ich schaue ihr in die Augen. Schaue Aidan in die Augen.

»Ja, das ist wahr«, erwidere ich und bereue es sofort.

»Ich dachte immer, deine Eltern leben im Ausland oder mindestens in einem anderen Bundesstaat«, sagt Aidan. »Und dass du deswegen …«

Mira versetzt ihm einen Rippenstoß. Ich bin mal wieder die Zerbrechliche. Ich drehe mich nach vorn.

»Sind wir deswegen hergefahren?«, will Seth wissen. »Willst du deine Eltern besuchen?«

»Bloß nicht!«

»Wieso denn nicht?«, fragt Mira. »Du hast sie doch bestimmt lange nicht mehr gesehen. Wann bist du das letzte Mal zu Hause gewesen?«

Ich sehe sie scharf an. Das ist lange her. Zu lange. Länger, als Mira begreifen könnte. »Vor einem Jahr.« Das klingt gerade noch glaubwürdig. Wenn ich meine Eltern ein Jahr lang nicht besucht habe, bin ich noch nicht total abartig, was man durchaus von mir behaupten könnte, wenn man will.

»Vor einem Jahr!«, wiederholt Mira so verdattert, dass ich mir das Grinsen verkneifen muss. Hätte ich ihr die ganze Wahrheit erzählt, hätte sie garantiert gedacht, ich schwindle sie wieder an.

Aidan verkündet: »Also ich fahre immer in den Ferien nach Hause und dazwischen auch fast jedes zweite Wochenende. Wie kann man nur …«

Mira verpasst ihm den nächsten Rippenstoß.

»Für mich ist das okay, Mira«, sage ich schnell, um nicht gänzlich das Gesicht zu verlieren und obendrein Aidan eine Rippenprellung zu ersparen. »Ich hab mich dran gewöhnt. Meine Eltern haben wenig Zeit für mich, und ich habe mich entsprechend darauf eingestellt.« Die Erklärungen, die ich mir im Lauf der Jahre zurechtgelegt habe, gehen mir ganz leicht über die Zunge. Dabei ist mir alles andere als leicht ums Herz.

»Aber heute ist doch bestimmt eine Ausnahme!«, beharrt Mira auf dem Thema. »Heute ist doch der Tag, an dem alles ist, wie es sein soll. Da gehört es dazu, dass du deine Eltern besuchst, Des. Erzähl ihnen, was du davon hältst. Dass es ungerecht ist!« Sie reckt das Kinn und kneift die Lippen zusammen. »Ich finde es richtig unverschämt von deinen Eltern, dich so zu behandeln!«

»Wir kommen auch mit, Des.« Seth wendet kurz den Blick von der Straße und schaut mich an. »Natürlich nur, wenn du willst.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Es hat sowieso keinen Zweck.«

Aidan packt meine Rückenlehne. »Wahrscheinlich hat sie recht. Vielleicht fahren wir lieber gar nicht erst nach Langdon rein. Womöglich laufen wir ihren Eltern zufällig über den Weg, und was machen wir dann? Womöglich fällt ihnen auf …«

Ich schalte mich rasch ein. Wir müssen nach Langdon. Und zwar heute. »Meine Eltern sind viel auf Reisen, wir laufen ihnen bestimmt nicht über den Weg. Außerdem hat meine Mutter heute Geburtstag. Da ist sie sowieso immer verreist. Meine Eltern verbringen mehr Zeit im Flugzeug als zu Hause.« Sie verbringen ihre ganze Zeit im Flugzeug, denke ich im Stillen. Sie reisen an Orte, wohin sie mich nicht mitnehmen wollen. Ich drehe mich kurz zu Aidan um. »Darum sehe ich sie ja auch nie, falls dir das Kopfzerbrechen macht.« Dann schaue ich wieder geradeaus und setze hinzu: »Darüber zerbricht sich doch bestimmt das ganze Internat den Kopf, stimmt’s? Ich wette, da gibt es eine Menge Gerede.«

»Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf«, sagt Mira beschwichtigend. »Und es gibt kein Gerede. Höchstens manchmal.«

»Mira!«, zischelt Aidan.

Als ob ich das nicht wüsste. Ich höre doch das Getuschel. Alle reden sie darüber. Nur ich nicht. Ich bin die Ausnahme. Der heutige Tag ist eine Ausnahme. Heute habe ich das Geheimnis gelüftet, über das sich alle Welt den Kopf zerbricht. Jawohl, meine Eltern haben mich meinem Schicksal überlassen. Jawohl, sie haben für meine Unterbringung gesorgt, für meine Ausbildung, aber das, was ich wirklich brauchen würde, verweigern sie mir. Ihre Zeit. Ihre Zuwendung. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich begriffen habe, dass es nicht meine Schuld ist, sondern ihre, aber so richtig überzeugt davon bin ich nie gewesen. Jetzt habe ich mich offenbart und gleich drei Leute auf einen Schlag davon überzeugt. Vielleicht können die drei ja im Gegenzug mich endgültig davon überzeugen, dass es nicht meine Schuld ist. Vielleicht ist an einem Tag wie diesem sogar das Unmögliche möglich.

»Aber wenn wir deinen Eltern heute in die Arme laufen würden, Des, wäre das bestimmt kein Zufall. Und dann würde ich ihnen mal erzählen, was ich von ihnen halte!«

Warum setzt sich Mira so für mich ein? Warum hat sie sich schon immer für mich eingesetzt? Das habe ich noch nie verstanden. Vielleicht habe ich mir aber auch nicht die Mühe gemacht, Mira zu verstehen. Beobachten und Verstehen sind nämlich nicht dasselbe. Das eine ist amüsant, das andere gefährlich. Ich mache mir ja nicht mal die Mühe, mich selbst zu verstehen. Damit bin ich bis jetzt immer gut gefahren. Trotzdem würde ich meinen Eltern auch gern mal sagen, was ich von ihnen halte … wenn ich könnte. Dann würde ich rumbrüllen und toben und sie mit Vorwürfen überschütten, und hinterher würde ich mich entschuldigen und alles könnte wieder sein wie früher. Aber vielleicht ist das zu viel verlangt von einem einzigen Tag.

»Übrigens danke, Des«, sagt Mira leise.

»Wofür?«

»Dass du mitgespielt hast. Jetzt sind wir eine richtige … Bande. Wir halten zusammen, gehen miteinander durch dick und dünn. Oder nicht?«

Sollen wir jetzt alle die Hand zum Schwur heben und die Schwerter aneinanderklirren lassen oder was? Wie kommt sie bloß auf solche Ideen? Na ja, Mira trägt eben das Herz auf der Zunge, und manchmal scheint sie noch weniger Realitätssinn zu besitzen als ich. Aber wenn sie sich nun schon so leidenschaftlich für mich einsetzt, kann ich ihr die kleine Freude ja machen. Ich strecke die Hand aus, die anderen drei schlagen ein, und Mira jubelt: »Aufgepasst, Langdon – wir kommen!«

Aufgepasst. Allerdings.