Meine Eltern und mein Bruder sind tot.
Tot.
Das Wort verwandelt mich. Heute, in einem kurzen Augenblick, einem kurzen, unverhüllten Augenblick, ändert sich mein ganzes Leben. Wie schon einmal, vor zehn Jahren. Auch heute hat der Zufall mit mir gespielt, aber er hat andere Mittel gewählt. Ein unbeaufsichtigtes Auto. Abfalldienst. Die pingelige Miss Boggs, die einen Arbeitsbogen zu wenig kopiert. Nasenbluten. Ein nerviger Lehrer, der mich zwingt, laut auszusprechen, was ich mir wünsche. Ein besonderer Tag.
Was würde ein einziger solcher Tag ändern?
Heute Morgen konnte ich Mr Nestor auf diese Frage keine eindeutige Antwort geben, aber meine Vermutungen haben sich allesamt als zutreffend erwiesen. Hoffnung, Glauben, ausgleichende Gerechtigkeit, Ordnung, Mut, Stärke, Wiedergutmachung. Aber das Wichtigste ist das Gefühl, wieder ein Ganzes zu werden. Die abgerissenen, losen Enden deines Lebens flechten sich endlich zwischen die unversehrten und ergeben das Muster, die Beschaffenheit deines Ichs. Hier und da ein wenig zerschlissen, aber doch ein Ganzes. Und wenn man das Leben aller Menschen gegen das Licht halten könnte, kämen vielleicht bei jedem solche zerschlissenen Stellen zum Vorschein.
Kaum ist die Sonne untergegangen, wird es merklich kühler. Als wir wieder beim Auto sind, ist es dunkel. Mira fröstelt. Ich auch. Ich drücke Lucky an mich.
»Weiter oben kann man besser wenden«, sagt Seth. »Mal sehen, ob ich rauskriege, wie man das Verdeck zuklappt.« Nicht weit entfernt, ein Stück von der Straße zurückgesetzt, steht eine Scheune. Eine Lampe am Dachfirst wirft einen Lichtkreis auf den Boden.
Mira wartet nur auf eine Gelegenheit. Das weiß ich. Alle drei warten auf eine Gelegenheit, Fragen zu stellen, nachzuhaken. Lange kann es nicht mehr dauern. Die Atempause, die sie mir gönnen, ist begrenzt. Unsere vorherige Regel gegenseitiger Rücksichtnahme gilt nicht mehr. Ich habe ihnen die Tür geöffnet, jetzt bin ich ihnen auch Erklärungen schuldig. Ich ahne schon, dass es ausführliche, schmerzvolle, peinliche Erklärungen werden. Aber es muss sein. Sie sollen alles wissen. Sie sollen wissen, dass ich nicht verrückt bin. Seth fährt von der Straße ab und hält vor der Scheune. Die Lampe wirft von oben ihren warmen Schein auf uns.
»Los, wir gehen da rein!« Mira ist schon ausgestiegen und hat das Tor geöffnet. Drinnen flammt Licht auf. Seth greift sich Lucky, und wir gehen ihr nach. Mira hat es sich schon auf einem Heuballen bequem gemacht und schaut uns erwartungsvoll entgegen. Sie wartet auf mich. Die Atempause ist um. Aber dann noch lieber im Hellen, wo ich ihnen ansehen kann, was sie über mich denken.