Fazit
Bei dieser Studie sind wir von der Überlegung
ausgegangen, dass die Frage nach der Reaktion der deutschen
Bevölkerung auf die Judenverfolgung und nach ihrem Wissen über die
»Endlösung« präziser beantwortet werden kann, wenn wir diese Frage
mit einem anderen Themenkomplex verbinden: dem Problem, inwieweit
die Judenverfolgung unter der NS-Diktatur öffentlich stattfand und
durch das Regime auch offen propagiert wurde – oder, anders
formuliert, welche Rolle die »Judenfrage« bei den Bemühungen des
Regimes besaß, die Öffentlichkeit des »Dritten Reiches« zu
kontrollieren und auszurichten.
Antisemitische Propagandawellen
Ein Hauptergebnis dieser Studie ist, dass es
zwischen 1933 und 1945 Phasen intensiver antisemitischer Propaganda
gab; zwischen diesen Kampagnen wurde das Thema in der Propaganda
zwar wach gehalten, trat jedoch in den Hintergrund.
In diesen Phasen intensiver antisemitischer
Propaganda erklärte das Regime die »Judenfrage« zum zentralen
innenpolitischen Problem: 1933, 1935 und 1938 erweckte das Regime
den Eindruck, als ob erst durch die »Befreiung« vom angeblich
drückenden jüdischen Einfluss die reine nationalsozialistische
»Volksgemeinschaft« hergestellt werden könne. Der Ausschluss der
als parasitär dargestellten Tätigkeit der Juden aus der Wirtschaft,
die Reinhaltung des »deutschen Blutes«, die »Entjudung« des
gesamten öffentlichen und kulturellen Lebens galten als wesentliche
Elemente eines umfassenden Säuberungsprozesses, der für die
Verwirklichung der völkischen Utopie des Nationalsozialismus
unumgänglich sei. Das Regime stellte somit in allen drei Phasen
intensiver antisemitischer Agitation klar, dass die »Beseitigung«
der Juden keineswegs nur eine Nebenlinie nationalsozialistischer
Politik war, sondern ein vorrangiges Ziel.
Es ist offensichtlich, dass die NS-Bewegung mit
der »Ausschaltung« der Juden aus sämtlichen Lebensbereichen ihre
eigene Machtbasis Schritt für Schritt ausbaute. Antijüdische
Propaganda war daher auch ein Indikator für die innenpolitische
Machterweiterung der nationalsozialistischen Bewegung, die mit
einer allgemeinen Radikalisierung des Regimes einherging.
Nach Kriegsausbruch spielte die antisemitische
Propaganda zunächst keine wesentliche Rolle; seit Mitte 1941 erhob
das Regime die »Judenfrage« jedoch zur zentralen Frage des Krieges.
Seit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Juni 1941
vermittelte das Regime der Bevölkerung die Botschaft, der Kampf
gegen das »bolschewistisch-jüdische System« sei für das deutsche
Volk eine Existenzfrage. Um dieses Ziel in vollem Umfang zu
erreichen, müsse auch der jüdische »Feind« im Innern isoliert und
schließlich gewaltsam ausgeschaltet werden. Die Kennzeichnung der
Juden im September 1941 sollte dazu die Voraussetzung
schaffen.
Noch im Sommer 1941 machte sich das Regime daran,
die Bevölkerung angesichts des immer kritischer werdenden
Verhältnisses zu den USA auf die Ausweitung des Krieges zum
Weltkrieg vorzubereiten: Dieser große Krieg, so die These der
Propaganda, werde dem Reich durch eine »jüdische Weltverschwörung«
aufgezwungen.
Während dieses Sujet unmittelbar nach dem
Kriegseintritt der USA (und parallel zur Ausweitung der Massenmorde
auf ganz Europa) in der ersten Jahreshälfte 1942 weniger stark
strapaziert wurde, stellte die Propaganda in der zweiten
Jahreshälfte 1942 die Parole vom Kampf gegen die jüdische
Weltverschwörung mehr und mehr in den Vordergrund. Wieder ging es
angeblich um eine existentielle Auseinandersetzung: »Sieg oder
Untergang«, lautete die Parole. Im Frühjahr und Frühsommer 1943
wurde diese Kampagne noch einmal erheblich intensiviert, seit Mitte
1943 jedoch wieder zurückgefahren. Auch während des Krieges war die
antisemitische Propaganda also ein wichtiger Indikator für die
Radikalisierung des Regimes.
Für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 gilt, dass
illegale antisemitische Aktionen und die Anwendung physischer
Gewalt gegen Juden in der Propaganda nicht oder nur andeutungsweise
stattfanden. So wurden die gewalttätigen Ausschreitungen während
des Boykotts 1933 verschwiegen, die antisemitischen Übergriffe von
1935 verharmlost, das wahre Ausmaß der »Reichskristallnacht«
verheimlicht; die Deportationen aus Deutschland kamen in der
Propaganda nicht vor, und der systematische Massenmord an den Juden
wurde mit Begriffen wie Vernichtung und Ausrottung umschrieben,
ohne dass Einzelheiten des Mordprogramms preisgegeben wurden.
Doch schon die eindeutigen Aussagen während der
Katyn-Kampagne über die Ermordung der Juden machen deutlich, dass
das von vielen deutschen Zeitgenossen im Nachhinein behauptete
vollkommene Unwissen – mit dem Beigeschmack unschuldiger
Ahnungslosigkeit – in Bezug auf die »Endlösung« entweder als leicht
durchschaubarer Verteidigungsmechanismus zu betrachten ist oder als
Hinweis darauf, dass Menschen einen beträchtlichen Teilaspekt
nationalsozialistischer Politik konsequent ignorierten. Denn die
»Judenpolitik« nahm immer dann, wenn das Regime die Verfolgung
radikalisierte, in der Darstellung des Regimes einen herausragenden
Platz ein, und das Regime wurde nicht müde, die Zentralität der
Judenverfolgung für die Durchsetzung seiner Politik offensiv und
öffentlich zu betonen.
Propaganda und Ausrichtung der nationalsozialistischen »Öffentlichkeit«
Die Propaganda war aber nur ein Element in einem
weit umfassenderen Prozess, der darauf zielte, die
nationalsozialistisch dirigierte Öffentlichkeit mit Hilfe der
»Judenfrage« mehrfach neu auszurichten. Das Regime versuchte dabei,
durch »Erziehung« auf verschiedenen Ebenen das öffentlich
wahrnehmbare Verhalten der Bevölkerung an die jeweils neue Phase
der »Judenpolitik« anzupassen.
1933 ging es zunächst darum, unter der Parole des
»Boykotts« das Einkaufen in jüdischen Geschäften und die
Inanspruchnahme von Juden angebotener Dienstleistungen zu
unterbinden. Da dies nicht gelang, bildete die Aufforderung zum
Boykott bis 1938 eines der Dauerthemen bei den Bemühungen des
Regimes, das Verhalten der Bevölkerung mit der offiziellen Politik
in Einklang zu bringen.
1935 wurde mit Hilfe des immer lauter öffentlich
erhobenen »Rassenschande«-Vorwurfs und schließlich durch die
Nürnberger Gesetze die biologische Segregation der Juden von der
übrigen Bevölkerung durchgesetzt.
Im Herbst 1938 sollte der seit Jahren
vorangetriebene Prozess der Ausgliederung der Juden aus der
deutschen Wirtschaft und Gesellschaft durch den inszenierten Pogrom
zum Abschluss gebracht werden. Es galt, die Bevölkerung in den
Pogrom einzubeziehen, wenn schon nicht als aktive Teilnehmer, dann
zumindest als Zuschauer, die die Gewaltorgie aus nächster Nähe
miterlebten und schwerste Rechtsbrüche hinnahmen – ein Verhalten,
das die Propaganda dann relativ leicht als Genugtuung und
Zustimmung zu den »Vergeltungsaktionen« auslegen konnte.
Anschließend – so das Hauptziel der nach dem Pogrom gestarteten
Propagandakampagne – sollte die Bevölkerung die Isolation der Juden
durch ein möglichst distanziertes Verhalten im Alltag
sanktionieren.
Im Herbst 1941 wurde schließlich zusammen mit der
Einführung des Gelben Sterns ein totales Kontaktverbot zu jüdischen
Bürgern verhängt. Die Bevölkerung wurde angehalten, etwa in
öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften gegenüber Juden auf
allgemein übliche Umgangsformen zu verzichten, um die noch in
Deutschland lebenden Juden für alle sichtbar als »inneren Feind« zu
brandmarken.
Im Frühjahr 1943 wurde die Mobilisierung der
Bevölkerung für den Totalen Krieg damit begründet, in dem
behaupteten »Rassenkrieg« gegen die Juden gebe es nur für den
Sieger ein Überleben. Die unterlegene Seite werde zwangsläufig
»vernichtet«. Das Regime versuchte damit, allerdings nur für etwa
acht Wochen, die Kriegsanstrengungen im Zeichen des Totalen Krieges
zum Plebiszit über die »Endlösung der Judenfrage« zu machen, über
deren mörderischen Charakter kein Zweifel gelassen wurde.
In all diesen Phasen war die Propaganda, wie wir
bei den einzelnen antisemitischen Kampagnen sehen konnten, eng mit
Gewaltanwendung und Repression beziehungsweise mit gesetzlicher
Reglementierung verbunden. Es ging also nicht darum, die Menschen
von der antisemitischen Politik zu überzeugen oder sie mit Hilfe
einer geschickten Propaganda zu verführen – vielmehr führte man
ihnen die vermeintliche Unausweichlichkeit antisemitischer
Maßnahmen vor Augen und forderte von ihnen, ihr Verhalten in der
Öffentlichkeit entsprechend darauf einzustellen.
Wie reagierten die Menschen auf diesen
Erziehungsprozess?
Aussagekraft der Stimmungsberichte
Die wichtigste Quelle für die Beantwortung dieser
Frage sind die offiziellen Stimmungsberichte des Regimes. Die
Interpretation der darin enthaltenen Einschätzungen über das
Verhalten der Bevölkerung erfordert indes eine besonders
sorgfältige Quellenkritik, da die Stimmungsberichte, wie in der
Einleitung bereits ausgeführt, nicht einmal ansatzweise die
Funktion einer demoskopischen Beobachtung der »wahren«
Volksstimmung erfüllten.
Die Berichte erfassten nicht die »öffentliche
Meinung« (die sich in der Diktatur nicht konstituieren konnte),
sondern waren an der Formierung einer künstlich hergestellten
Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Diktatur mit beteiligt.
Sie sind deshalb nicht als Forum für unterschiedliche Auffassungen,
sondern als Resonanzboden zu betrachten, mit dessen Hilfe
Zustimmung dokumentiert und die Propaganda des Regimes verstärkt
werden sollte. In diesem Rahmen hatte die
Stimmungsberichterstattung vor allem die Aufgabe zu dokumentieren,
dass die Bevölkerung in ihrem Alltagsverhalten ihre Zustimmung zur
Politik des Regimes zum Ausdruck brachte. Entsprechend beobachtete
das Regime bei jeder neuen Radikalisierung der »Judenpolitik«
aufmerksam, ob die Menschen ihr alltägliches Verhalten auf die
jeweils neue Phase der Verfolgung einstellten.
Aus diesem Grund lieferte die
Stimmungsberichterstattung vorwiegend in den Phasen intensiver
antisemitischer Propaganda umfangreiches Material, nicht jedoch in
den Zwischenphasen, in denen hinsichtlich der Judenverfolgung
relative Ruhe herrschte. Die Berichterstattung konzentrierte sich
darauf, die äußerlich wahrnehmbare Reaktion der Bevölkerung auf
antijüdische Kampagnen und auf konkrete, unübersehbare Maßnahmen
gegen die jüdische Bevölkerung aufzuzeichnen; sie wurden nicht mit
der Absicht verfasst, so etwas wie eine »Grundeinstellung« über
einen längeren Zeitraum zu verfolgen.
Wegen dieser Eigenart der Berichterstattung kann
aus der Abwesenheit von Reaktionen auf die Verfolgung in bestimmten
Phasen nicht auf »Indifferenz« der Bevölkerung geschlossen werden.
Dokumentiert wird dadurch vielmehr, dass der staatliche
Propagandaapparat in bestimmten Phasen kein Interesse daran hatte,
diesen Themenkomplex aufzuwerfen und seiner Erörterung in der
internen Berichterstattung eine Plattform zu bieten.
Die offiziellen Stimmungsberichte spiegeln daher
in erster Linie die diskursiven Mechanismen unter dem NS-Regime
wider: Sie wirkten mit an der Etablierung einer »master narrative«,
einer »herrschenden Erzählung«, die alternative Diskurse nicht
zulassen konnte. Diese Funktion der Berichte erklärt eine Reihe von
Eigentümlichkeiten der Berichterstattung, auf die bereits in der
Einleitung eingegangen wurde: So wurde das Volk grundsätzlich immer
als eine homogene Größe angesehen, der Nationalsozialismus galt als
Ausdruck eines einheitlichen Volkswillens – in grundsätzlichen
Fragen konnte also gar keine Diskrepanz zwischen Regime und Volk
entstehen. Damit betraut, vor allem die Zustimmung der Bevölkerung
zur Politik des Regimes zu dokumentieren, neigten die
Berichterstatter dazu, oppositionelle Strömungen grundsätzlich als
Ausnahmeerscheinung darzustellen, als eigentlich überwundene
Denkweise. Hinzu kam, dass die Berichterstatter die Wirklichkeit
des »Dritten Reiches« von einer ideologisch bestimmten
Grundposition aus wahrnahmen: Sie benutzten in ihren Berichten im
Allgemeinen die gleichen gedanklichen Grundfiguren und
Sprachmuster, die auch in den offiziellen Verlautbarungen verwendet
wurden.
Die Berichte hatten demnach mit einer Art
Feldforschung, bei der negative Äußerungen sorgsam beobachtet und
evaluiert werden, nichts zu tun. Sie fungierten stattdessen als
Warnsystem, um etwaige negative Reaktionen auf die Politik
aufzuspüren, damit solche unerwünschten Erscheinungen mit Hilfe von
Propaganda und Repression wieder zum Verschwinden gebracht werden
konnten.
Schließlich sind die Eigeninteressen zu beachten,
die die verschiedenen Stellen im Zuge der Berichterstattung
verfolgten. Da eine öffentliche Meinungsbildung nicht stattfand,
stellten die Berichte für die Staats- und Parteibürokratie eine
Möglichkeit dar, unter dem Rubrum »Volksstimmung« innerhalb
bestimmter Grenzen auch Maßnahmen des Regimes zu kritisieren und
politische Auffassungen auszutauschen.
Die Berichte als Abbild einer im Verborgenen
existierenden »wirklichen« öffentlichen Meinung zu lesen, wäre also
grundfalsch. Festzuhalten ist vielmehr, dass die kollektive
Meinungsbildung, das heißt der Prozess, in dem unterschiedliche
Einzelstimmen auf einen generellen Nenner gebracht werden, ganz
wesentlich im Rahmen der offiziellen Stimmungsberichterstattung
stattfand. Die Stimmungsberichte sind, das sei noch einmal betont,
ein formatives Element einer künstlich hergestellten, offiziellen
öffentlichen Meinung.
Gab es unter der Diktatur eine vorherrschende »Volksmeinung«?
Wenn es aber, so die weitere Überlegung, unter den
Bedingungen der NS-Diktatur keine diskursiven Mechanismen für eine
unabhängige Meinungsbildung und für die Konstituierung einer
»öffentlichen Meinung« gab, dann stellt sich die Frage, ob man
überhaupt sinnvollerweise von der Existenz einer einheitlichen oder
dominierenden »Volksmeinung« oder einer mehrheitlichen
»Einstellung« der Bevölkerung ausgehen kann. Auch wenn es in
Grenzen möglich war, politische Auffassungen im privaten Bereich
auszutauschen, fehlte diesen Diskussionen doch das entscheidende
Element, das die Konstituierung eines alternativen Diskurses erst
ermöglicht hätte: Öffentlichkeit.
Außerhalb der Privatsphäre konnten sich
kollektive, vom offiziellen Kurs abweichende Meinungen nur
ansatzweise innerhalb von Milieus oder Milieuresten etablieren, die
noch nicht von den Nationalsozialisten zerstört waren und in denen
noch halbwegs intakte moralische Referenzsysteme bestanden: Zu
denken ist etwa an die kirchlich gebundene Bevölkerung, an
bürgerliche Kreise oder an die Reste des sozialistischen Milieus.
Allerdings zeichneten sich diese in der Halböffentlichkeit
nachweisbaren abweichenden Meinungen dadurch aus, dass sie die
Judenverfolgung in traditionelle, aus der Zeit vor 1933 stammende
Erklärungsmuster einordneten; den präzedenzlosen Charakter der
NS-Judenverfolgung konnten sie daher nur unzureichend erfassen. Die
Grundlage für die Herstellung eines alternativen Diskurses, der mit
der Radikalisierung der nationalsozialistischen »Judenpolitik«
hätte Schritt halten können, war damit nicht gegeben.
Es scheint demnach relativ sinnlos zu sein, durch
die offenkundigen Verzerrungen der Berichterstattung hindurch zu so
etwas wie einer »wahren« Volksmeinung vorstoßen zu wollen. Dass das
Volk ohne Vorhandensein entsprechender Kommunikationskanäle
kollektiv, sozusagen aus sich selbst heraus, mehr oder weniger
einheitliche Stimmungen und Meinungsbilder hervorbringen könne, ist
ein Mythos, der nicht zuletzt durch die nationalsozialistische
Volksgemeinschaftsideologie befördert wurde. Was wir in den
Berichten finden können, ist die von den Berichterstattern aus
ihrem Blickwinkel vorgenommene Kompilation von Einzelstimmen, die
sich vorzugsweise im Rahmen von traditionellen, milieutypischen
Auffassungen bewegten.
Die Ausrichtung der nationalsozialistischen Öffentlichkeit und ihre Grenzen
Angesichts der primären Aufgabenstellung der
Stimmungsberichterstattung, an der möglichst einheitlichen
Ausrichtung der Öffentlichkeit mitzuwirken, verdienen jedoch solche
Berichte besondere Aufmerksamkeit, in denen die Auswirkungen
staatlicher Maßnahmen und Propaganda übereinstimmend und/oder über
einen längeren Zeitraum als negativ beschrieben wurden; dies gilt
vor allem dann, wenn sich solche negativen Tendenzen durch andere
Zeugnisse bestätigen lassen. In diesen Fällen ließ sich also Kritik
oder Ablehnung der antisemitischen Politik offensichtlich nicht
herunterspielen oder schnell und wirksam bekämpfen. Die Ausrichtung
der Öffentlichkeit durch das Regime stieß offensichtlich an ihre
Grenzen.
Dabei ist stets das Problem im Auge zu behalten,
ob und aus welchen Gründen die berichterstattenden Behörden ein
eigenes Interesse daran haben mochten, negative Reaktionen der
Bevölkerung auf die »Judenpolitik« besonders herauszustellen. Wir
können jedoch diesen Verzerrungsfaktor dadurch eingrenzen, dass wir
das Berichtsmaterial untereinander und mit anderen Quellengruppen
vergleichen und außerdem den Aufbau und Verlauf der
Propagandakampagnen sorgfältig in die Analyse mit einbeziehen. Denn
das Auf und Ab der antisemitischen Propaganda und die Art und
Weise, in der offenkundig erfolglose Propaganda durch repressive
Maßnahmen unterstützt wurde, lassen darauf schließen, wie der
Propagandaapparat selbst die Einstellung der Bevölkerung zur
»Judenpolitik« einschätzte – eine Einschätzung, die umso
bedeutungsvoller ist, als sie in erster Linie auf internem,
verloren gegangenem Material des Goebbels-Ministeriums beruhte. Das
aber hatte keinerlei Interesse daran, die Reaktion der Bevölkerung
auf die Propaganda als besonders negativ darzustellen.
Während des gesamten Zeitraums von 1933 bis 1945
zeigt sich in den Stimmungsberichten und in anderen Quellen, dass
die NS-»Judenpolitik« in der Bevölkerung ein erhebliches Maß an
Verständnislosigkeit, Skepsis und Kritik zu überwinden hatte. Große
Teile der Bevölkerung waren offenbar nicht ohne weiteres bereit,
durch ihr Alltagsverhalten Zustimmung zur antisemitischen Politik
und Propaganda zu signalisieren. Solche negativen Reaktionen
äußerten sich allerdings auf disparate Weise. Eine geschlossene,
politisch und moralisch fundierte Gegenbewegung konnte sich unter
den herrschenden Bedingungen nicht formieren.
Am ehesten kann man diese unbestimmten negativen
Reaktionen, die mangels alternativer kollektiver Meinungsbildung
unterhalb der Ebene des Protests oder gar des Widerstandes blieben,
wohl mit dem Begriff des »Unwillens« erfassen. Dieser Unwille, die
Weigerung, sein Verhalten in der »Judenfrage« an die vom Regime
verordneten Normen anzupassen, war die einfachste und risikoloseste
Form für die Masse der Bevölkerung, abweichende Einstellungen zur
»Judenpolitik« zum Ausdruck zu bringen; auf solche Verhaltensweisen
konnte man sich auch ohne verbale Kommunikation im Alltag relativ
leicht verständigen. Zugleich ließen sich solche öffentlichen
Äußerungen des Unwillens – im Gegensatz zur »wahren Einstellung«
der Bevölkerung – verhältnismäßig zuverlässig erfassen. Aus
heutiger Sicht kann man ihnen daher am ehesten Glauben schenken.
Bei der Analyse der Reaktion der Deutschen auf die Judenverfolgung
konzentrieren wir uns daher auf die Momente, in denen die
Bemühungen des Regimes zur antisemitischen Ausrichtung der
Öffentlichkeit deutlich auf Schwierigkeiten stießen.
Überblickt man den gesamten Zeitraum der
NS-Diktatur, wird ein deutlicher Trend erkennbar: Der Unwille der
Bevölkerung, ihr Verhalten zur »Judenfrage« entsprechend den vom
Regime verordneten Normen auszurichten, wuchs, je radikaler die
Verfolgung wurde. Das Regime war jedoch entschlossen, sich bei
seinen Anstrengungen zur Ausrichtung der Öffentlichkeit gegen
solche Äußerungen des Unwillens durchzusetzen und die Bevölkerung
mehr und mehr in die »Judenpolitik« zu involvieren, selbst wenn
dies einen immer größeren Aufwand an Propaganda und Repression
erforderte und die Geheimhaltung der »Endlösung« zumindest
teilweise aufgegeben werden musste.
Werfen wir abschließend noch einmal einen Blick auf
die einzelnen Phasen jenes Prozesses im Zusammenhang. Wir fassen
dabei die Ergebnisse der Stimmungsberichtsanalyse mit dem zusammen,
was wir aus anderen Quellen über die Reaktion der Bevölkerung
wissen, und stellen diese Informationen dem rekonstruierten Verlauf
der Propagandakampagnen gegenüber.
Die schon in der Weimarer Republik einsetzenden
Bemühungen der Nationalsozialisten, in der Bevölkerung einen
Boykott jüdischer Geschäfte und Dienstleistungen durchzusetzen,
blieben außerhalb der Kernanhängerschaft der Nationalsozialisten
ohne größere sichtbare Auswirkungen. Der Boykott war nur dann –
einigermaßen – erfolgreich, wenn er wie am 1. April 1933 mit
massiven Bedrohungen der Kundschaft einherging. Durch bloße
Propaganda war das Käuferverhalten offenkundig nicht wesentlich zu
beeinflussen.
Trotz erheblicher Anstrengungen, die in den
folgenden Jahren noch intensiviert wurden, sollte es dem Regime
nicht gelingen, den Boykott mit Hilfe von Propaganda, Druck durch
die örtlichen Parteiorganisationen auf die Kunden und Krawall in
der Bevölkerung durchzusetzen. Erst Berufsverbote und »Arisierung«,
schließlich das gesetzliche Verbot der wirtschaftlichen Betätigung
der Juden in Folge des Novemberpogroms unterbanden die
geschäftlichen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden
tatsächlich.
Die von der Partei erhobene Forderung an die
Bevölkerung, intime und freundschaftliche Beziehungen zu Juden
abzubrechen, ließ sich erst mittels der Rassenschande-Krawalle
1935, letztlich erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze
durchsetzen. Die bloße Verächtlichmachung als »Judenfreunde« und
»Rasseschänder« seitens der Partei hatte offenbar nicht
ausgereicht, nichtjüdische Menschen von solchen Beziehungen
abzuhalten.
Dass die Bevölkerung nach dem Erlass der
Nürnberger Gesetze allgemein mit Befriedigung auf die nun
erfolgende biologische Segregation der Juden reagierte, ist nicht
nachweisbar. Eher dürfte sich das Gefühl der Erleichterung auf das
– scheinbare – Ende der Krawalle bezogen haben, und wir haben
einige Anhaltspunkte dafür, dass das Gefühl der Zufriedenheit mit
den Gesetzen durch die Berichterstattung übertrieben wurde, da die
berichterstattenden Instanzen Partei, Polizei und staatliche
Bürokratie alle drei ein starkes Interesse daran hatten, die
antisemitische Kampagne des Jahres 1935 abzuschließen. Man muss
sich auch vor Augen halten, dass die Forderung nach dem Ausschluss
der Juden von der deutschen Staatsbürgerschaft und das Verbot von
Eheschließungen beziehungsweise intimen Beziehungen zwischen Juden
und Nichtjuden vor 1933 nur von der aktiven Anhängerschaft der
NSDAP und völkischen Splittergruppen vertreten wurde. Die
etablierten rechtskonservativen Kräfte griffen diese Themen nicht
auf, und in der politischen Mitte und auf Seiten der Linken galten
solche Überlegungen geradezu als absurd. Dass es den
Nationalsozialisten gelungen sein sollte, in einem Zeitraum von
weniger als drei Jahren für diese radikal-antisemitischen
Forderungen eine breite Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich zu
bringen, ist höchst unwahrscheinlich – zumal angesichts der
Tatsache, dass sich das Regime insgesamt gesehen noch keineswegs
konsolidiert hatte.
Die Politik des Regimes, den vollständigen
Ausschluss der Juden aus dem wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Leben mit dem Pogrom vom November 1938 zu
vervollkommnen und durch Terror eine Massenflucht der Juden aus
Deutschland auszulösen, nahm die Bevölkerung letztlich zwar hin,
aber mit erheblichem Widerwillen, der sich vor allem gegen die
Gewalttätigkeiten und Zerstörungen richtete. Trotz der vom Regime
öffentlich gepflegten Interpretation der passiven Hinnahme als
Zustimmung lässt sich an der unmittelbar nach dem Novemberpogrom
gestarteten Propagandakampagne ablesen, dass aus Sicht der
Verantwortlichen Rechtfertigungsbedarf bestand und der öffentlich
zur Schau gestellte Antisemitismus noch zu wünschen übrig
ließ.
Diese Propagandakampagne konnte nur unter großen
Anstrengungen und Schwierigkeiten über den Winter 1938/39 hinweg
aufrechterhalten werden. Die Tatsache, dass die Zeitungsredaktionen
die Weisungen des Propagandaministeriums nicht so recht umsetzen
wollten, hatte mehrere Ursachen: Zum einen zeigte sich, dass nach
sechs Jahren NS-Judenverfolgung die weitere Hervorhebung einer
»jüdischen Gefahr« in Deutschland propagandistisch wenig
glaubwürdig war. Zum anderen erwies sich der Anfang 1939
eingeschlagene Kurs, die international angeblich dominierende
Stellung der Juden zu betonen, als außenpolitisch riskant. Und: Wir
können annehmen, dass die relativ starke Ablehnung, auf die die
Gewaltaktionen vom 9. November bei der deutschen Bevölkerung
trafen, ein Klima geschaffen hatte, das für die Rezeption einer
scharfen antisemitischen Propagandakampagne nicht günstig war. Die
Strategie, die Gewaltaktion im Nachhinein propagandistisch zu
rechtfertigen und gerade die Schichten der deutschen Gesellschaft,
die sich über den Pogrom so empört gezeigt hatten – insbesondere
das Bildungsbürgertum -, unter Druck zu setzten, fruchtete
letztlich wenig.
Die den Stimmungsberichten des Jahres 1939 zu
entnehmende Indifferenz der Bevölkerung in der »Judenfrage« ist
daher nicht glaubwürdig. Dieses Desinteresse scheint eher Ausdruck
einer Übersättigung mit antisemitischer Propaganda zu sein.
Außerdem hatten die Parteidienststellen und staatlichen Behörden
kein Interesse daran, nach der vollzogenen Ausschaltung der Juden
aus Wirtschaft und Gesellschaft das Thema in den Stimmungsberichten
weiter übermäßig zu strapazieren. Die Zeichen waren auf
»Beruhigung« der Situation gesetzt.
Zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im
September 1939 und dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im
Juni 1941 spielte die »Judenfrage« in der nationalsozialistisch
ausgerichteten Öffentlichkeit keine wesentliche Rolle und taucht
dementsprechend auch in der Stimmungsberichterstattung nur selten
auf. Dies änderte sich erst im Sommer 1941, als das Regime den
Kampf gegen den »jüdischen Bolschewismus« zu einem zentralen
Kriegsziel erhob. Mit zunehmender Verschlechterung des
Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten im Laufe des Sommers
geriet auch Präsident Roosevelt als »Marionette jüdischer
Interessen« ins Visier der Propaganda, und die Bevölkerung wurde
allmählich auf einen Weltkrieg gegen eine »jüdische
Weltverschwörung« vorbereitet.
Die äußere Kennzeichnung der deutschen Juden im
September 1941, ihre Sichtbarmachung als »innere Feinde«, war Teil
dieses Szenarios. Insbesondere den internen Unterlagen des
Propagandaministeriums und dem Verlauf der Propagandakampagne lässt
sich aber entnehmen, dass die Kennzeichnung keineswegs Zustimmung,
sondern in unerwartetem Ausmaß Gesten der Solidarität provozierte.
Das Regime entschloss sich daher, ein mit Konzentrationslagerhaft
bewehrtes totales Kontaktverbot gegenüber Juden zu verhängen und
die antisemitische Propaganda weiter zu verschärfen. Die Mitte
Oktober beginnenden Deportationen dagegen thematisierte die
Propaganda nur indirekt; gleichwohl wurden sie, wie aus lokalen
Stimmungsberichten hervorgeht, in der Bevölkerung durchaus stark
beachtet. Dem Regime gelang es offenbar nur noch mit äußerster
Mühe, das äußerlich wahrnehmbare Verhalten der Bevölkerung in der
»Judenfrage« so zu steuern, dass es sich als populäre Zustimmung
zur offiziellen Politik darstellen ließ.
Ab 1942 gerieten die Anstrengungen zur Ausrichtung
der Bevölkerung auf die »Endlösung« endgültig zum Fiasko. Nach dem
Misserfolg der Kennzeichnungspropaganda verzichteten die
Verantwortlichen in den folgenden Monaten darauf, weitere
Einzelheiten der deutschen »Judenpolitik« publik zu machen. Im
Gegensatz dazu standen jedoch die wiederholten, groß aufgemachten
Erklärungen Hitlers und anderer führender Nationalsozialisten zur
»Vernichtung« und »Ausrottung« der Juden sowie die Tatsache, dass
die Propaganda das antisemitische Thema keineswegs aufgab.
Im Laufe des Jahres 1942 machten im Reichsgebiet
zunehmend Gerüchte über die Ermordung der Juden die Runde. Vor
allem über Erschießungen wurde häufig spekuliert, und vielen war
klar, dass die Deportierten dem Tod entgegensahen. Gemutmaßt wurde
auch über den Massenmord mit Giftgas, konkrete Informationen über
Vernichtungslager waren indes kaum in Umlauf. Ab Mitte 1942 begann
das Regime, auf die zunehmenden Gerüchte über die Ermordung der
Juden offensiv zu reagieren. Im Oktober erließ die Partei-Kanzlei
eine parteiinterne Sprachregelung, in der sie in einer Weise
Stellung zu Gerüchten über die Erschießungen im Osten nahm, die als
Bestätigung gelesen werden konnte. Gleichzeitig versuchte das
Regime, die immer offener propagierte Vernichtung der Juden zu
rechtfertigen: Man komme damit der jüdischen Vernichtungsabsicht
zuvor.
Als die Alliierten im Dezember 1942 mit großem
propagandistischem Aufwand die systematische Ermordung der Juden
Europas durch das NS-Regime anprangerten, wies die deutsche
Propaganda diese Anklage nicht zurück, sondern bemühte sich
vielmehr mit einer Entlastungskampagne, die angebliche alliierte
Kriegsverbrechen zum Inhalt hatte, um Ablenkung. Das Regime
unternahm gar nicht erst den Versuch, das Verbrechen zu leugnen.
Die Entlastungskampagne scheiterte jedoch nicht zuletzt an ihrer
eigenen Unglaubwürdigkeit kläglich. Die Schilderungen der angeblich
von Alliierten verübten Gräueltaten lieferten allerdings den
Gerüchten über den Massenmord an Juden neue Nahrung.
Die öffentliche Handhabung des Themas durch das
Regime in der zweiten Jahreshälfte 1942 lief also darauf hinaus,
die umlaufenden Gerüchte indirekt zu bestätigen; dahinter stand
offenkundig das Kalkül, die deutsche Bevölkerung zu Zeugen und
Mitwissern des Massenmordes an den Juden zu machen. Die
»Judenfrage« wurde so zu einem öffentlichen Geheimnis; umgeben von
einer Aura des Unheimlichen, handelte es sich um etwas, worüber man
besser nicht sprach, das im allgemeinen Bewusstsein jedoch deutlich
präsent war. Die vorhandenen Informationen zu einem Gesamtbild vom
wirklichen Umfang der Judenverfolgung – europaweiten Deportationen
mit dem Ziel der Ermordung der Juden in den Gaskammern der
Vernichtungslager – zusammenzusetzen, war in dieser Atmosphäre für
die meisten offenbar außerordentlich schwierig.
Seit Mitte 1942 propagierte das Regime zunehmend –
ein ungefähres Wissen um die »Endlösung« voraussetzend – und ganz
offen, dass im Falle einer Niederlage in diesem Krieg die Juden den
Deutschen das Gleiche zufügen würden, was diese ihnen angetan
hatten. Ein unbestimmtes Gefühl, dass die »Judenfrage« mit dem
Fortgang des Krieges und mit der Frage des eigenen Überlebens
verbunden sei, war offenbar weit verbreitet. Nach der Entdeckung
der Massengräber in Katyn ging die deutsche Propaganda Mitte April
1943 weiter in die Offensive. Nun bekannte sich das Regime nicht
nur in aller Offenheit und in unmissverständlichen Formulierungen
zur Vernichtung der Juden, sondern ging so weit, diese zum
zentralen Kriegsziel zu erklären. Nach offizieller Darstellung ging
es eigentlich um einen »Kampf gegen Juda«, um einen »Kampf auf
Leben und Tod«.
Der deutschen Bevölkerung wurde eingehämmert, die
Mobilisierung für den Totalen Krieg, die das Regime seit Anfang
1943 betrieb, sei für einen kompromisslos geführten »Rassekrieg«
notwendig, in dem der jüdische »Erzfeind« ausgerottet werden müsse,
bevor dieser seine Ausrottungsabsicht gegenüber dem deutschen Volk
verwirklichen könne. Nach der drastischen Art und Weise, in der im
Zuge der Katyn-Kampagne über die Beseitigung der Juden gesprochen
wurde, sollte niemand mehr behaupten können, er habe von diesen
Vorgängen nichts gewusst.
1943 versuchte das Regime also noch einmal, die
von ihm gesteuerte Öffentlichkeit mit Hilfe der »Judenfrage« neu
auszurichten. Der Bevölkerung wurde klar gemacht, dass sie im Falle
einer Niederlage für die Verbrechen des Regimes als dessen
Mitwisser und Komplizen zur Rechenschaft gezogen werden würde;
Angst vor Vergeltung sollte die letzten Reserven mobilisieren und
den Durchhaltewillen der Bevölkerung zum Fanatismus steigern. Dabei
wurde insbesondere der Luftkrieg als jüdischer Terror und
Vorgeschmack auf das, was dem deutschen Volk nach einem alliierten
Sieg drohe, dargestellt. Die »dem Volk« abverlangten zusätzlichen
Kriegsanstrengungen versuchte das Regime in ein Plebiszit für die
radikalste denkbare »Lösung der Judenfrage« umzumünzen.
Die antisemitische Kampagne nach Katyn fuhr sich
jedoch Ende Mai/Anfang Juni 1943 fest und wurde schließlich
abgebrochen, ja Goebbels musste sich für das Übermaß an
antisemitischer Propaganda gegenüber der Partei offiziell
rechtfertigen. Denn es stellte sich heraus, dass die
Angstpropaganda erhebliche Irritationen und negative Reaktionen
auslöste. Zum einen hielten viele es offensichtlich nicht für
opportun, Gräueltaten der Kriegsgegner anzuprangern, weil dadurch
nur die Aufmerksamkeit auf die – wohlbekannten- eigenen Verbrechen
gelenkt werde. Zum anderen führte die Mobilisierung von Ängsten vor
jüdisch-bolschewistischen Schergen und anglo-jüdischen
Luftgangstern zu unliebsamen Erörterungen in der Bevölkerung, warum
man sich denn überhaupt mit einer so mächtigen Kriegskoalition
angelegt habe, sowie zu Fatalismus und Depression.
Die Botschaft des Regimes, an der »Judenfrage«
entscheide sich nicht nur die Existenz des »Dritten Reiches«,
sondern auch die des deutschen Volkes, wurde in der Bevölkerung
durchaus verstanden – und gleichzeitig sperrte man sich offenkundig
gegen die Vorstellung einer kollektiven Haftung für die verübten
Verbrechen. Je wahrscheinlicher diese Niederlage wurde, desto
größer war das Bedürfnis, sich dem Wissen über das offensichtlich
vor sich gehende Verbrechen zu entziehen und sich in ostentative
Ahnungslosigkeit zu flüchten. Diese Tendenz, die Hoffnung, dass die
allgemeine Bevölkerung im Falle einer Niederlage nicht für den Mord
an den Juden zur Rechenschaft gezogen werden würde, verstärkte sich
noch, nachdem das Regime seine »Kraft durch Furcht«-Propaganda
Mitte 1943 als weitgehend kontraproduktiv erkannt und aufgegeben
hatte. Denn nachdem das Deutsche Reich in die Defensive geraten
war, musste die Beschwörung der »jüdischen Weltverschwörung« als
»Kitt« der heterogenen Feindkoalition vorhandene Ängste noch
verschärfen. Aus Sicht der Propagandisten galt es nun vielmehr, die
Gegensätze im feindlichen Lager herauszuarbeiten – insbesondere,
indem sie das Übergewicht der Sowjetunion in der Feindkoalition
betonten und die im Falle einer deutschen Niederlage drohende
Beherrschung Europas durch den Bolschewismus in dramatischer Form
schilderten. Die Drohungen mit der »jüdischen Rache« traten, ebenso
wie die öffentlichen Hinweise auf die vor sich gehende »Ausrottung«
der Juden in den Hintergrund. Stattdessen wurde ein Mantel des
Schweigens über die Maßnahmen zur »Endlösung« ausgebreitet. Die
Partei-Kanzlei belegte das Thema offiziell mit einem
Erörterungsverbot, die Justiz griff hinsichtlich der
Gerüchtebildung in der Bevölkerung schärfer durch. Hatte das Regime
zwischen Spätsommer 1941 und Frühjahr 1943 auf den deutlichen
Unwillen der Bevölkerung in der »Judenfrage« mit verstärkter
antisemitischer Propaganda reagiert und sich immer offener zur
Vernichtung und Ausrottung der Juden bekannt, so wurde die
»Endlösung« ab Mitte 1943 mehr und mehr zum Un-Thema. Die Tatsache,
dass Goebbels Ende 1943 Schlägertrupps der Partei in die Berliner
Kneipen entsandte, um möglicher Kritik schlagkräftig zu begegnen,
charakterisiert die Situation: Äußerungen, die sich außerhalb des
vom Regime verordneten Rahmens bewegten, wurden gewaltsam
unterdrückt.
In dieser von Angst – sowohl vor der »jüdischen
Rache« als auch vor Erörterung der zum Tabu gewordenen »Endlösung«
– erfüllten Atmosphäre der zweiten Kriegshälfte war die Bevölkerung
offenbar mehr oder weniger unwillig, sich weiterhin mit Details der
»Judenfrage« zu befassen und die bruchstückhaft vorhandenen
Einzelinformationen und offiziellen Stellungnahmen des Regimes zu
einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Damit hätte man sich eingestehen
müssen, dass der Massenmord an den Juden ein Jahrhundertverbrechen
darstellte, das sich wesentlich von den an anderen verfolgten
Gruppen und unterjochten Völkern verübten Verbrechen unterschied.
Zwischen Wissen und Unwissen gab es also eine breite Grauzone,
gekennzeichnet durch Gerüchte und Halbwahrheiten, Imagination,
verordnete und selbst auferlegte Kommunikationsbeschränkungen,
Nicht-Wissen-Wollen und Nicht-Begreifen-Können. Die Tatsache, dass
das Thema in den letzten beiden Kriegsjahren eine wesentlich
geringere Rolle in der Propaganda des Regimes wie in der
Deutschlandpropaganda der Alliierten spielte als im Zeitraum 1942
bis Mitte 1943, beförderte die Tendenz zur Verdrängung noch.
Die einfachste und vorherrschende Haltung war
daher sichtbar zur Schau getragene Indifferenz und Passivität
gegenüber der »Judenfrage« – eine Einstellung, die nicht mit bloßem
Desinteresse an der Verfolgung der Juden verwechselt werden darf,
sondern als Versuch gesehen werden muss, sich jeder Verantwortung
für das Geschehen durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen.
Es scheint, als habe die nach Kriegsende zur stereotypen Floskel
gewordene Redewendung, man habe »davon« nichts gewusst, ihre
Wurzeln in eben dieser Verweigerungshaltung der zweiten
Kriegshälfte: in der Flucht in die Unwissenheit.