»Jüdischer Bolschewismus«, Gelber Stern und Deportationen: Anatomie einer Kampagne

Antisemitische Propaganda im Zeichen des Krieges gegen die Sowjetunion

Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion griff das Goebbels-Ministerium das antisemitische Thema wieder auf. Bereits am 22. Juni 1941 hieß es auf der Pressekonferenz: »Schließlich ist eine absolute Klärung des Wesens von Plutokratie und Bolschewismus nötig. Beide haben einen jüdischen Ausgangspunkt. Die Methoden und Ziele sind die gleichen.«1
Am 5. Juli gab die Pressekonferenz – nachdem Goebbels seine Mitarbeiter entsprechend eingestimmt hatte2 – das »Startzeichen zu einer ganz großen Aktion«: der »Schwerpunkt muss darauf liegen, das verbrecherische, jüdische, bolschewistische Regime anzuprangern«. Die Presse wurde aufgefordert, ausführlich über Massaker an politischen Gefangenen und ukrainischen Aufständischen, die die sowjetische Geheimpolizei NKWD (vormals GPU) vor dem Abzug der Sowjets aus Lemberg verübt hatte, zu berichten: »Lemberg ist gewissermaßen ein jüdisch-bolschewistischer Normalzustand, der den Blutwahnsinn der jüdisch-sowjetischen Machthaber unter Beweis stellt.«3
Vor allem die Parteipresse stellte in ihrer Berichterstattung über die Ereignisse in der Ukraine die angebliche Schuld »der Juden« an den Massakern groß heraus.4 Der Völkische Beobachter scheute sich nicht, auch die Pogrome, die in zahlreichen ukrainischen Orten unter den Augen der deutschen Besatzungsmacht (und an vielen Orten auf ihre Veranlassung hin) stattfanden, zumindest anzudeuten.5 Goebbels kommentierte dies in der Ausgabe vom 7. Juli, es kündige sich »für die jüdisch-terroristische Führungsschicht des Bolschewismus das Ende mit Schrecken an«.6 In der Deutschen Allgemeinen Zeitung finden sich Hinweise auf Erschießungen durch ein deutsches Einsatzkommando unmittelbar nach der Besetzung der Stadt Kischinew am 17. Juli 1941.7 Auch anderen Zeitungsberichten (und den Wochenschauen, wie noch gezeigt wird) ließ sich entnehmen, dass die ansässige jüdische Bevölkerung für die NKWD-Morde verantwortlich gemacht und »bestraft« wurde.8
Die Deutsche Allgemeine Zeitung berichtete über die Abschiebung von Tausenden von Juden aus Ungarn in das neu besetzte sowjetische Gebiet: »Man rechnet damit, dass in kurzer Zeit weitere Zehntausende in Lagern gesammelt und dann entfernt werden.« Tatsächlich, davon war in der Zeitung allerdings nichts zu lesen, wurden Ende August nahe der ukrainischen Stadt Kamenez-Podolsk insgesamt 23 600 aus Ungarn als »lästige Ausländer« abgeschobene Juden von einem Kommando des Höheren SS- und Polizeiführers Russland Süd, Friedrich Jeckeln, ermordet. 9
Auf der Propagandakonferenz vom 9. Juli gab Goebbels die Parole aus, die Wendung »Die Juden sind schuld« zum »Tenor der deutschen Presse« zu machen; seine detaillierten Anweisungen bezogen sich ausdrücklich auf Weisungen, die er bei seinem letzten Besuch im Führerhauptquartier von Hitler erhalten hatte.10 Entsprechend wurden die Journalisten auf der anschließenden Pressekonferenz instruiert.11
Vor allem die Parteipresse holte daraufhin zum großen Schlag aus. Bürgerliche Blätter beteiligten sich ebenfalls, ließen aber meist nach wenigen Tagen wieder nach.12 Im Vordergrund der beispiellosen antisemitischen Hasstiraden der NS-Blätter stand das Bemühen, den Lesern nicht nur die angebliche Symbiose von Bolschewismus und Juden einzuhämmern, sondern darüber hinaus den Beweis zu erbringen, dass auch der westliche Kapitalismus und die Regierungen in London und Washington Marionetten der vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung seien.13
Der Völkische Beobachter erschien zwischen dem 10. und 24. Juli insgesamt fünf Mal mit antisemitischen Schlagzeilen, die in die geforderte Richtung wiesen.14 Der Angriff brachte zwischen dem 17. und 22. Juli eine stark antisemitisch ausgerichtete Artikelserie »Ich komme von den Sowjets«; vor allem aber griff DAF-Chef Robert Ley persönlich zur Feder, um im Juli drei und im August vier weitere wüste antisemitische Leitartikel zu verfassen.15
Stets ging es darin um Variationen zum Thema: »Dieser Krieg ist der Krieg Judas«. Die Deutschen, so Ley unverhohlen, müssten »Juda« vernichten, um nicht von den Juden ausgerottet zu werden – eine Rhetorik, die in ihrer Brutalität zu diesem Zeitpunkt noch von keinem anderen nationalsozialistischen Spitzenpolitiker erreicht worden war. »Dieser Krieg ist der Krieg Judas […]. Es ist ein Ringen auf Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein. Einen Kompromiss, ein Zurück gibt es nicht mehr. Wir haben den Rubikon überschritten. […] Der Gott der Juden ist der Gott der Rache. Jehova verzeiht nie, er vergisst nie, er schließt keinen Frieden, er vernichtet und rottet aus.« Am 27. Juli hieß es: »Dieser Krieg ist unerbittlich, wenn es der Jude vermöchte, würde er uns Deutsche mit Stumpf und Stil ausrotten.« Am 13. August war zu lesen: »Deshalb müssen Juda und seine Welt, wie es jetzt im bolschewistischen ›Sowjetparadies‹ geschieht, vernichtet werden, damit dem Fortschritt und der Entwicklung, dem wahren Sozialismus, der Weg in die Freiheit geöffnet wird.« Am 27. August formulierte Ley: »Der Jude ist der Vater des Teufels.«
Diesmal waren auch die Wochenschauen integraler Bestandteil der Kampagne. Die angeblich zentrale Rolle von Juden im Zusammenhang mit den NKWD-Morden wurde ausführlich geschildert; die Hinweise auf Pogrome und hasserfüllte Kommentare ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass die vermeintlichen Täter für diese Untaten mit ihrem Leben bezahlen mussten: »Das jüdische Mordgesindel, das mit den GPU-Agenten Hand in Hand gearbeitet hatte, wird von der empörten Menge den deutschen Truppen zur Bestrafung ausgeliefert«, hieß es beispielsweise im Juli in der Deutschen Wochenschau zu Aufnahmen aus Lemberg. In der gleichen Ausgabe wurde gezeigt, wie Soldaten der Luftwaffe in Jonova Juden abführten: »Jüdische Ghettotypen, Abschaum der Menschheit«, tönte der Sprecher dazu.16
In ihrer nächsten Ausgabe berichtete die Wochenschau nicht nur über »faulenzende Juden«, die zu »Aufräumungsarbeiten herangezogen« würden, sondern auch über den Pogrom in Riga: »Zorn und Empörung der Bevölkerung gegen die feigen, meist jüdischen Mordbuben kennen keine Grenzen. Hier werden die Schuldigen an dem namenlosen Unglück ungezählter Menschen von den erbitterten Angehörigen gestellt und dem verdienten Strafgericht ausgeliefert.«17
Eine Woche später kehrte die Wochenschau noch einmal nach Lemberg zurück und zeigte Juden bei der Exhumierung von Leichen: »Die roten Mordbestien, hauptsächlich Juden, kannten in ihrer teuflischen Mordlust keine Grenzen. Inzwischen sind die meisten dieser Untermenschen ihrer gerechten Bestrafung zugeführt worden.«18 In der kommenden Woche wurden Leichen in der Stadt Doropat vorgeführt, die angeblich »von entmenschten jüdischen Henkersknechten auf das grauenvollste gefoltert und gemartert« worden waren. »Die ganze gesittete Welt« sei »dem Führer und seinen tapferen Soldaten zu ewigem Dank verpflichtet, dass dieses bolschewistische Untermenschentum in letzter Stunde unschädlich gemacht wird«.19
In der nächsten Woche berichtete die Wochenschau über die Deportation von Juden aus der Stadt Balti:«Die jüdische Bevölkerung Baltis wurde in Sammellager gebracht. Das sind jene Ostjudentypen, die besonders nach dem Weltkriege die Großstädte Mittel- und Westeuropas überschwemmten, wo sie als Parasiten ihre Gastvölker zersetzen und tausendjährige Kulturen zu vernichten drohten. Wo sie auch auftauchten, brachten sie Verbrechen, Korruption und Chaos mit sich. Ihr Weg ist Raub und Verwüstung.«20
In der gleichen Ausgabe wurden Aufnahmen von Juden bei Aufräumungsarbeiten in der Nähe von Smolensk gezeigt (»Endlich werden sie zur Arbeit gezwungen«). Im Oktober und November ging es um sowjetische Kriegsgefangene, vor allem jüdische Gefangene: »eine besondere Auslese«, von denen »jeder ungezählte Morde auf dem Gewissen« habe.21
Diese Serie von Berichten sollte allerdings im Herbst 1941 abbrechen. Man kann annehmen, dass dieses Ende der plakativen antisemitischen Berichterstattung in den Kinos damit zusammenhing, dass die »Judenpolitik« des Regimes in der deutschen Bevölkerung zunehmend auf Widerwillen stieß, wie wir noch sehen werden. Das Thema Judenverfolgung sollte die Wochenschau in den kommenden Jahren – mit einigen Ausnahmen – meiden.
Aus dem Sommer 1941 ist auch einer der seltenen Fälle überliefert, in denen im Unterhaltungsfilm Bezug auf die antisemitische Politik genommen wurde. In einem als Vorfilm eingesetzten Streifen aus der Serie »Der Trichter« wurde den Zuschauern unter dem Titel »Volkshumor aus deutschen Gauen« ein Sketch präsentiert, der in einem Buchladen spielte. Der Ladenbesitzer erklärte hier einem sich als Verkäufer bewerbenden jungen Mann seine Verkaufsstrategie »Gegensätze ziehen sich an« und hatte folgende Beispiele parat: »Jungfrau von Orleans – Casanova«, »Kalte Mamsell (Marlitt) und Leitfaden für die warme Küche« sowie »Der Ewige Jude – Vom Winde verweht.«22 Der Unterhaltungsfilm sollte solche und ähnliche »Späße« in den kommenden Jahren ebenfalls sorgsam vermeiden. Ende Juli schwächte sich die intensive antisemitische Kampagne auch in der Parteipresse ab; der Monat August war in dieser Hinsicht – mit der wichtigen Ausnahme von Leys Artikeln – relativ ruhig.23

Entschluss zur Kennzeichnung der deutschen Juden und der Abbruch der »Euthanasie«

Mitte, Ende August verstärkten sich innerhalb des Propagandaapparates indes die Vorbereitungen für eine neue intensive antijüdische Propagandaaktion: Den Anlass hierfür bot die bevorstehende Kennzeichnung der deutschen Juden.24
Die Vorgeschichte der Verordnung vom 1. September 1941, mit der deutsche Juden ab dem 19. September zum Tragen eines Kennzeichens gezwungen wurden, ist eng mit der Entwicklung des Krieges im Osten und der Rückwirkung des Krieges auf die Haltung der deutschen Bevölkerung verknüpft – wobei es in unserem Zusammenhang nicht auf die tatsächliche Haltung der Bevölkerung ankommt, sondern darauf, wie das Regime diese Haltung einschätzte. Die Entscheidung zur Kennzeichnung steht ferner in einem nicht auf den ersten Blick erkennbaren, subtilen Kontext zu dem gleichzeitig gefällten Entschluss des Regimes, das Programm zur Ermordung von Anstaltspatienten abzubrechen, und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf die negativen Rückwirkungen auf die »Stimmung« gerade in konfessionell gebundenen Bevölkerungskreisen. Die außerordentlich gute Quellenlage für diesen Zeitraum erlaubt uns zu rekonstruieren, wie die Regimespitze die Verschränkung der verschiedenen Faktoren – Volksstimmung, Kriegsentwicklung, »Judenfrage«, »Euthanasie«, Kirchenpolitik – wahrnahm und wie man sich entschloss, die komplexe Problemlage durch eine erneute Offensive gegen »die Juden« in den Griff zu bekommen.
Die Entscheidung zur Kennzeichnung erfolgte bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als der Krieg gegen die Sowjetunion in eine erste Krise geraten war. Bereits seit Ende Juli registrierten die Stimmungsberichte ein Nachlassen der in den ersten Kriegswochen noch großen Siegeszuversicht.25 Daran waren nicht nur Befürchtungen, der »Ostfeldzug« könne sich zu einem langwierigen Krieg in den Weiten Russlands entwickeln, schuld, sondern auch Faktoren wie Versorgungsmängel, die britischen Luftangriffe auf Westdeutschland sowie die wachsende Beunruhigung vor allem kirchlich gebundener Bevölkerungskreise wegen der willkürlich vorgenommenen Beschlagnahme von Kirchenvermögen26 und der Ausbreitung von Informationen und Gerüchten über die so genannte Euthanasie. 27 Dramatisch verstärkt wurde diese Beunruhigung insbesondere durch die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August von Galen, der am 3. August – nachdem er in zwei Predigten im Juli gegen die Übergriffe auf Kirchenbesitz protestiert hatte – offen gegen die Ermordung von Anstaltsinsassen Stellung nahm. Die Nachricht über diesen Protest verbreitete sich in den kommenden Tagen wie ein Lauffeuer im gesamten Reichsgebiet.28
Die starke Unruhe unter der Bevölkerung, die durch zahlreiche Quellen bestätigt wird, spiegelt sich auch in der offiziellen Stimmungsberichterstattung. 29 Die Meldungen aus dem Reich, die nationale Übersicht über die SD-Berichte, enthalten zum Thema »Euthanasie« allerdings vor Januar 1942 überhaupt keine Informationen.30 Dass die Geheimhaltung der Morde an Patienten auf breiter Front durchbrochen worden war, durfte offiziell nicht eingestanden werden; noch weniger beabsichtigte der SD, durch Aufnahme entsprechender Berichte in die weit verbreiteten Meldungen aus dem Reich von sich aus die Diskussion über die »Euthanasie«-Morde anzuheizen.
Eine Reihe von lokalen und regionalen Stimmungsberichten zeichnet jedoch ein anderes Bild. So berichtete die NSDAP-Kreisleitung Münster, es werde in der Bevölkerung »davon gesprochen, dass die Kranken der Heilund Pflegeanstalten, u.a. auch der Provinzialheilanstalt in Lengerich, zu Gasversuchen gebraucht werden sollen. […] Tatsache ist, dass zu der gleichen Zeit etwa 240 Kranke der Provinzialanstalt Lengerich abtransportiert worden sind, und zwar wurde nicht bekannt, wohin sie gebracht wurden.«31 Die Ortsgruppe Anholt (Westfalen) gab die Meldung eines NS-Funktionärs wieder, »er habe ein Gerücht gehört, dass sich der Staat der unheilbaren Irren entledige, dass auch die Insassen der Altersheime so ganz allmählich diesen Weg zu gehen hätten«.32 Die Partei meldete aus verschiedenen Orten aus dem westfälischen Kreis Tecklenburg, es kursiere das Gerücht, die laufenden Röntgen-Reihenuntersuchungen dienten der Selektion von Kranken, die dann »beseitigt« werden sollten.33 Eine Reihe ähnlicher Berichte über die Beunruhigung der Bevölkerung durch »Euthanasie«-Gerüchte im Raum Münster, aber auch im gesamten westfälischen Raum sowie am Niederrhein ist für den Zeitraum Juli bis September 1941 nachweisbar.34
Dem Regime gelang es zunächst, die negative Stimmung in der Bevölkerung durch die Bekanntgabe weiterer militärischer Erfolge am 6. und vor allem am 9. August zu neutralisieren und erneut ein gefestigtes »Stimmungsbild« herzustellen.35 Doch Propagandaminister Goebbels zeigte sich, die jüngste Stimmungskrise vor Augen, zu radikalen Maßnahmen entschlossen. Er hatte die noch in Deutschland lebenden Juden als die eigentliche Ursache für den gerade überwundenen Stimmungseinbruch identifiziert: Am 12. August beschäftigte er sich in seinem Tagebuch mit der von ihm – aber nicht nur von ihm – seit längerem verfolgten Idee,36 die »Juden mit einem Abzeichen [zu] versehen«, da sie sich als »Miesmacher und Stimmungsverderber« betätigten. Durch eine äußere Kennzeichnung, wie sie für Juden im besetzten Polen schon seit November 1939 obligatorisch war, sollten sie isoliert und sichtbar »aus dem deutschen Volk ausgeschieden werden«.37 Drei Tage später fand im Propagandaministerium eine interministerielle Konferenz statt, auf der unter anderem die Kennzeichnung besprochen wurde.38
Zur gleichen Zeit war Goebbels bereit, in der »Euthanasie«-Frage nachzugeben. »Mit einer solchen Debatte würde man nur die Gemüter aufs neue erhitzen. Das ist in einer kritischen Periode des Krieges außerordentlich unzweckmäßig«, notierte er am 15. August. Drei Tage später kam er während eines Besuches im Führerhauptquartier mit Bormann überein, ein striktes Verbot aller Erörterungen konfessioneller Streitfragen zu erlassen.39
Als Goebbels Hitler in seinem Hauptquartier traf, wurde ihm sehr schnell klar, dass er es in den vergangenen Wochen nicht nur mit einer momentanen Irritation der Volksstimmung, verursacht durch ausbleibende Siegesmeldungen, zu tun gehabt hatte; vielmehr offenbarte ihm Hitler in einem Gespräch unter vier Augen, dass das »Dritte Reich« soeben eine ernsthafte militärische Krise durchgestanden hatte.40
Im Zuge der allgemeinen Erörterung der Lage erklärte sich Hitler, so notierte es Goebbels, mit der Einführung eines »Judenabzeichens« einverstanden, das »von den Juden in der Öffentlichkeit getragen werden muss, sodass also dann die Gefahr beseitigt wird, dass die Juden sich als Meckerer und Miesmacher betätigen können, ohne überhaupt bekannt zu werden. Auch werden wir den Juden, soweit sie nicht arbeiten, in Zukunft kleinere Lebensmittelrationen zuteilen als dem deutschen Volke. Das ist nicht mehr als recht und billig. Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Das fehlte noch, dass beispielsweise in Berlin von 76 000 Juden nur 26 000 arbeiten, die übrigen aber nicht von der Arbeit, sondern von den Lebensmittelrationen der Berliner Bevölkerung leben!«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs drängte Goebbels auf die Abschiebung der Berliner Juden in die besetzten Ostgebiete. Bereits im Sommer 1940 und im Frühjahr 1941 hatte er – vergeblich – entsprechende Vorstöße initiiert. Diesmal schien er Erfolg zu haben: »Im übrigen sagt der Führer mir zu, die Berliner Juden so schnell wie möglich, sobald sich die erste Transportmöglichkeit bietet, von Berlin in den Osten abzuschieben. Dort werden sie dann unter einem härteren Klima in die Mache genommen. […] Der Führer ist der Überzeugung, dass seine damalige Prophezeiung im Reichstag, dass, wenn es dem Judentum gelänge, noch einmal einen Weltkrieg zu provozieren, er mit der Vernichtung der Juden enden würde, sich bestätigt. […] Im Osten müssen die Juden die Zeche bezahlen; in Deutschland haben sie sie zum Teil schon bezahlt und werden sie in Zukunft noch mehr bezahlen müssen.«41
In ihrer Diskussion der »Judenfrage« unterschieden Goebbels und Hitler offensichtlich mittelfristige und kurzfristige Ziele: Mittelfristig, also nach dem militärischen Sieg über die Sowjetunion, sollten die deutschen Juden »in den Osten« abgeschoben, dort in die »Mache genommen« werden, die »Zeche bezahlen«, also ein ähnliches Schicksal erleiden wie die osteuropäischen Juden; erinnert sei daran, dass im Monat August die Einsatzgruppen und andere deutsche Mordkommandos damit begannen, ihre Massenexekutionen auf die gesamte jüdische Zivilbevölkerung – Männer, Frauen und Kinder – in den neu besetzten Gebieten auszudehnen. Kurzfristig sollte die Kennzeichnung der deutschen Juden jedoch dazu beitragen, die Juden als potenzielle Unruhestifter auszuschalten, mehr Juden in den »Arbeitseinsatz« zu zwingen beziehungsweise ihre Lebensmittelrationen zu kürzen.42
Zwei Tage später, am 20. August 1941, gab Goebbels in einer weiteren Tagebucheintragung seiner Hoffnung Ausdruck, es »aufgrund dieser Kennzeichnung der Juden sehr schnell fertigzubringen, ohne gesetzliche Unterlagen die nach Lage der Dinge gegebenen Reformen durchzuführen«. Die Einführung des Abzeichens diente also vor allem dazu, weitere Beschränkungen des jüdischen Lebensbereiches durch ad-hoc-Maßnahmen, unter Umgehung des schwerfälligen Regierungsapparates, durchzuführen. »Wenn es im Augenblick auch noch nicht möglich ist, aus Berlin eine judenfreie Stadt zu machen, so dürfen die Juden wenigstens öffentlich nicht mehr in Erscheinung treten. […] Sie verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung. Zwar wird das schon anders werden, wenn sie ein Abzeichen tragen, aber ganz abstellen kann man das erst dadurch, dass man sie beseitigt. […] Wenn auch bei den Reichsbehörden noch starke bürokratische und zum Teil wohl auch sentimentale Widerstände zu überwinden sind, so lasse ich mich dadurch nicht verblüffen und nicht beirren. Ich habe den Kampf gegen das Judentum in Berlin im Jahre 1926 aufgenommen und es wird mein Ehrgeiz sein, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis der letzte Jude Berlin verlassen hat.«
Aus Goebbels’ Sicht sollte die Kennzeichnung letztlich die – in einigen Monaten anstehende – Deportation entscheidend erleichtern; kurzfristig diente sie aber vor allem dazu, die Juden aus der Öffentlichkeit herauszudrängen und »ohne gesetzliche Unterlagen die nach Lage der Dinge gegebenen Reformen durchzuführen«, also eine Atmosphäre zu schaffen, in der er die angedeuteten Widerstände der Reichsbehörden überwinden konnte. Eben dies geschah in den Monaten Juli bis September in Berlin: In diesem Zeitraum wurden die Bestimmungen für die jüdische Zwangsarbeit in der Stadt verschärft und der Zuzug von Juden vollkommen gestoppt. 43

Eine neue antisemitische Kampagne

Zur psychologischen Vorbereitung der Bevölkerung auf die Kennzeichnung der Juden wurde nun erneut eine intensive antisemitische Propagandakampagne vorbereitet. Im Protokoll der Ministerkonferenz des Propagandaministeriums vom 21. August heißt es dazu: »Der Minister wünscht, dass alles, was irgendwie gegen die Juden spricht, in der deutschen Presse verwendet wird. Im Laufe der nächsten Zeit seien verschiedene Aktionen gegen die Juden vorgesehen – so u.a. das zwangsweise Tragen von großen gelben Armbinden -, und bis dahin müssten psychologisch die Voraussetzungen geschaffen sein, damit nicht einige sentimentale Intellektuelle über die ›bejammernswerten Juden‹ zu klagen begönnen. Meldungen, dass Israel in England für den Krieg Churchills bete, sowie das Kaufmann-Buch, zu dem in allen Kommentaren scharf herauszuarbeiten sei, dass es ein Jude war, der es schrieb, würden das ihre dazu beitragen, eine unangebrachte Sentimentalität dem Juden gegenüber gar nicht erst aufkommen zu lassen.«44
Bei dem »Kaufmann-Buch« handelte es sich um eine in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Broschüre, in der ein gewisser Theodore N. Kaufman (ein Privatmann ohne jede Verbindungen zu amerikanischen Regierungskreisen) unter anderem die Sterilisation des deutschen Volkes gefordert hatte. Diese Broschüre, die bereits im Juli von der deutschen Presse angeprangert worden war,45 sollte in den kommenden Wochen immer wieder ausgeschlachtet werden.46
In einem ebenfalls am 21. August verfassten Rundschreiben des Reichsrings für Nationalsozialistische Propaganda wurden die Parteigenossen entsprechend instruiert: »Die Forderung dieses jüdischen Ratgebers Roosevelts, das ganze deutsche Volk zu sterilisieren, liegt praktisch auf derselben Ebene wie die Tatsache, dass es Juden sind, die die Schuld an den Gräueltaten haben, von denen wir aus dem Ostfeldzug immer wieder von neuem hören. Dass sie sich in ihrem Vernichtungswillen nicht nur gegen Deutschland, sondern gegen alles, was an europäischer Intelligenz vorhanden ist, richten, ist daraus zu ersehen, dass die Bolschewisten nicht allein zu Gräueltaten gegen deutsche Soldaten aufstacheln, sondern auch die Intelligenz der von den Bolschewisten beherrschten Bevölkerung ausrotten.« Es sei daher »durchaus verständlich, dass nun aus dem deutschen Volke heraus immer wieder an die maßgeblichen Reichsdienststellen Fragen gerichtet werden, wie lange diesem Treiben der Juden noch zugesehen werden soll. Es ist auch notwendig, dass gerade im jetzigen Augenblick der Teil der Bevölkerung, der als kleiner Rest die Judenfrage immer noch nicht verstanden hat, über diese Zusammenhänge aufgeklärt wird.«47
Der Wochenspruch der Reichspropagandaleitung der NSDAP vom 7. September 1941, ein Plakat, das in zahlreichen Schaukästen der Partei ausgehängt wurde, enthielt als Zitat Hitlers berüchtigte Prophezeiung vom 30. Januar 1939, wonach das Ergebnis eines erneuten Weltkrieges »nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein« werde, »sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa«.48
Im Laufe des Monats September publizierte das Propagandaministerium in großer Auflage ein Anti-Kaufman-Pamphlet, in dem Kaufmans Schrift in Zusammenhang mit der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 gebracht und Kaufman als »einer der geistigen Urheber des Zusammentreffens zwischen Roosevelt und Churchill« bezeichnet wurde.49 Gleichzeitig mit seiner antijüdischen Kampagne nahm der deutsche Propagandaapparat seine Polemik gegen Roosevelt wieder auf, der ein Handlanger jüdischer und freimaurerischer Kreise sei.50
Wie zuvor spielte auch in dieser Kampagne die Presse eine zentrale Rolle.51 Die sowjetische Entscheidung zur Deportation der Wolgadeutschen, 52 die unmittelbar vor dem Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung bekannt wurde, lieferte ihr dafür einen ausgezeichneten Ausgangspunkt, wie auf der Pressekonferenz vom 9. September53 ausgeführt wurde: Die Deportation der Wolgadeutschen sei ein Schachzug in »Stalins Mordplan«, die »völlige Ausrottung« dieser Minderheit zu betreiben.54 Der Völkische Beobachter demonstrierte in seinem Kommentar vom 12. September, wie sich ein Zusammenhang zwischen diesem Thema und der »jüdischen Weltverschwörung« herstellen ließ: »Wieder einmal erweist sich an diesem Beispiel die innige Wesensgemeinschaft von Plutokratie und Bolschewismus in dem gemeinsamen Vernichtungswillen gegen das Deutschtum, das ja Roosevelts Vertrauter, der Jude Kaufman, am liebsten mittels Sterilisierung völlig vernichtet sehen möchte.«
Am 13. September informierte das Blatt seine Leser über das Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung wenige Tage später und brachte sie in seinem Kommentar direkt mit dem Krieg im Osten in Verbindung: »Der deutsche Soldat hat im Ostfeldzug den Juden in seiner ganzen Widerwärtigkeit und Grausamkeit kennengelernt. […] Dieses Erlebnis lässt den deutschen Soldaten und das deutsche Volk in seiner Gesamtheit fordern, dass dem Juden in der Heimat die Möglichkeit genommen wird, sich zu tarnen und damit jene Bestimmungen zu durchbrechen, die dem deutschen Volksgenossen die Berührung mit dem Juden ersparen.«55 Auch die übrige Presse setzte ihre Leser, wie vom Propagandaministerium angeordnet,56 ausführlich über die Einführung des Gelben Sterns in Kenntnis, veröffentlichte teilweise Fotos von bereits gekennzeichneten Juden und lieferte Begründungen für die neue Maßnahme.57
Schließlich ließ das Propagandaministerium ein Flugblatt drucken, das mit den Lebensmittelkarten an sämtliche deutschen Haushalte verteilt wurde. Auf der Vorderseite prangte ein Judenstern mit folgender Mahnung: »Wenn du dieses Zeichen siehst […] Dann denke daran, was der Jude unserem Volke angetan hat.« Unter erneutem Hinweis auf die Broschüre des als »Sprecher des Weltjudentums« bezeichneten Kaufman schließt das Pamphlet mit der Aufforderung: »Dass das Judentum niemals wieder auch nur den geringsten Einfluss in unserem Volke erhält, dafür musst Du durch Deine Haltung dem Juden gegenüber sorgen. Erkenne den wahren Feind!« 58
Der Propagandaapparat gab sich also erhebliche Mühe, die Kennzeichnungspflicht zum 19. September 1941 zu begründen und vorzubereiten; nach dem Inkrafttreten der Verordnung herrschte indes weitgehend Schweigen. Über die Auswirkung der Kennzeichnung und die Aufnahme in der Bevölkerung ließ die Propaganda kaum etwas verlauten. Insbesondere auf Fotos der Gekennzeichneten wurde offenbar verzichtet. Warum, wird noch zu erörtern sein.
Die Kennzeichnung der deutschen Juden im September 1941, so viel lässt sich schon festhalten, diente auch dazu, die nationalsozialistisch gelenkte Öffentlichkeit neu auszurichten: Mit der Sichtbarmachung der in Deutschland lebenden Juden durch den Gelben Stern wurde das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den gekennzeichneten Juden – die laut Propaganda wie die angeblichen jüdischen Hintermänner kommunistischer Gräuel im Osten und Kriegstreiber im Westen die Vernichtung des deutschen Volkes anstrebten – zum Gradmesser für ihre Akzeptanz der antijüdischen Propagandakampagne. Denn die endgültige Verdrängung der Juden aus der »Öffentlichkeit«, die sich Goebbels von der Kennzeichnung erhoffte, war ja nur dann möglich, wenn die übrige Bevölkerung den Sternträgern abwehrend und feindselig begegnete. Selbst kleine Gesten der Solidarität mit den gekennzeichneten Juden konnten nun als Kritik an der Politik des Regimes interpretiert werden, »die Juden« zum eigentlichen Hauptfeind im sich abzeichnenden Weltkrieg zu erklären.
Zur gleichen Zeit machte das Regime in der brennenden »Euthanasie«- und Kirchenfrage einen Rückzieher. Bereits Ende Juli hatte Hitler die weitere Beschlagnahme kirchlicher Vermögen untersagt.59 Am 22. August besprach Goebbels mit dem westfälischen Gauleiter Alfred Meyer die »Kirchenlage«.60 Er riet Meyer, sich abwartend zu verhalten: »Die Kirchenfrage ist nach dem Kriege mit einem Federstrich zu lösen. Während des Krieges lässt man besser die Finger davon; da kann sie nur als heißes Eisen wirken. Im allgemeinen stehe ich auf dem Standpunkt, dass es überhaupt nicht zweckmäßig ist, mit einer Nadelstichpolitik zu arbeiten. Das Volk ist jetzt mit schweren Sorgen beladen, dass man auch schon aus Gerechtigkeitsgründen bestrebt sein muss, diese Sorgen nicht noch künstlich zu vergrößern und zu vermehren. Ob es überhaupt richtig gewesen ist, die Frage der Euthanasie in so großem Umfang, wie das in den letzten Monaten geschehen ist, aufzurollen, mag dahingestellt bleiben.« Bereits in diesem Gespräch ging Goebbels davon aus, dass der Massenmord an Patienten zu Ende ging: »Jedenfalls können wir froh sein, wenn die daran geknüpfte Aktion zu Ende ist. Notwendig war sie.« Am 24. August wurde die »Euthanasie«-Aktion dann offiziell auf Anordnung Hitlers eingestellt, eine Entscheidung, die unter dem Eindruck der anschwellenden Proteste zustande kam, aber auch sicher darauf zurückzuführen ist, dass die »Euthanasie«-Planer zu diesem Zeitpunkt ihre zu Kriegsbeginn anvisierten Ziele als erfüllt betrachten konnten.61 Tatsächlich sollten die Morde an Anstaltspatienten in dezentraler und sorgfältiger getarnter Form weitergehen.
Noch während Goebbels Ende August die Propagandakampagne zum Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung im September vorbereitete, registrierte das Regime den Beginn einer erneuten Stimmungskrise, die zwei bis drei Wochen anhalten sollte: Demzufolge hatte die Bekanntgabe der militärischen Erfolge zu Beginn des Monats die Skepsis in der Bevölkerung nicht wirklich ausräumen können,62 denn es wurde immer offenkundiger, dass der deutsche Vormarsch trotz aller Siegesmeldungen in absehbarer Zeit nicht zu dem entscheidenden, den Krieg beendenden Schlag gegen die Rote Armee führen würde.63 Die Tatsache, dass dieser wiederholte allgemeine Stimmungseinbruch genau in den Zeitraum fiel, in dem die Kennzeichnungsverordnung mit großem propagandistischem Aufwand in Kraft gesetzt wurde, wirkte sich negativ auf die Reaktion der Bevölkerung auf diese erneute Radikalisierung der Judenverfolgung aus.

Die Juden werden gekennzeichnet: Propaganda und Reaktionen der Bevölkerung

Goebbels war zunächst entschlossen, die Propaganda zur Einführung des Gelben Sterns Ende September noch zu steigern, um eine allgemeine Eskalation der antijüdischen Politik voranzutreiben, zumal er bei einem Besuch im Führerhauptquartier am 23. September den Eindruck gewann, es werde bald mit der Deportation der Berliner Juden begonnen.64
Die Reaktion auf die Kennzeichnung blieb jedoch hinter den Erwartungen des Propagandaministers zurück, wie dem Protokoll der Propagandakonferenz vom 25. September zu entnehmen ist: »Es liegen Meldungen vor, dass bei einem Teil der Bevölkerung – ganz besonders den so genannten besseren Schichten – die Judenabzeichen Mitleidsäußerungen erregt haben. Dr. Goebbels hat daher angeordnet, dass sofort eine großzügige Aufklärung auf diesem Gebiet durchgeführt wird. Die gesamte Presse und der Rundfunk haben sich mit dem Thema zu befassen. Hierbei soll aufgezeigt werden, was wir Deutschen den Juden zu verdanken haben. Die Juden sollen als die maßgeblichen Verbreiter der Hetz- und Revanchepolitik herausgestellt werden, ihr Anteil an diesem Krieg mit dem Ziel der Vernichtung Deutschlands an Hand von Unterlagen und Aussprüchen der Juden bewiesen werden. In diesem Zusammenhang gab Dr. Goebbels seiner Empörung über diese so genannten besseren Kreise, die in jedem Fall seit 1933 immer wieder versagt haben, Ausdruck: ›Der deutsche Bildungsspießer ist schon ein Dreckstück.‹« Goebbels habe sich dabei, so der Berichterstatter der Reichspropagandaleitung, auf die »so genannte Intelligenzpresse« bezogen.65
Am nächsten Tag ging der Sprecher des Propagandaministeriums das Thema auf der Pressekonferenz an: Es gebe eine »gewisse Mitleidswelle« mit den Juden, und zwar hauptsächlich in den »Kreisen der Intelligenzbestien«. Es sei notwendig, »mit aller Schärfe dieses Thema aufzugreifen und dem deutschen Volke klarzumachen, was das Judentum ihm bereits angetan habe und antun würde, wenn es die Macht dazu hätte«. Allerdings sei mit Vorsicht vorzugehen: Man möge das Problem »nun nicht in der gesamten Presse mit einem Schlage« aufgreifen, sondern es »gelegentlich behandeln«.66
In der Parteipresse lässt sich eine Reihe von Beiträgen finden, die verdeutlichen, wie sehr die Nationalsozialisten durch die ablehnende Reaktion des Publikums auf die Kennzeichnungsverordnung in die Defensive gerieten. So erschien zum Beispiel im Stuttgarter NS-Kurier vom 3. Oktober 1941 ein Beitrag, in dem eine Szene aus einer überfüllten Straßenbahn geschildert wird: Als eine Frau laut forderte, ein mit dem Stern gekennzeichneter Passagier solle gefälligst »Platz machen«, erhoben sich doch, so der Artikel »mehrere Stimmen, die nichts weniger meinten als dies, dass ›der Jude auch ein Mensch‹ sei«. Der Autor des Beitrags empfahl als »ein probates Mittel gegen falsches Mitleid und falsche Menschlichkeit« den von ihm selbst »lange geübte(n) Brauch, den Juden überhaupt nicht zu sehen, durch ihn hindurchzublicken, als wäre er aus Glas oder weniger als Glas, als wäre er Luft, selbst dann, wenn der gelbe Stern mich auf ihn aufmerksam machen möchte«. Was hier dem Publikum »empfohlen« wird, ist genau jene Haltung, die zeitgenössische Beobachter in den folgenden Monaten in deutschen Verkehrsmitteln als vorherrschende Haltung gegenüber jüdischen Mitreisenden ausmachten. Fünf Tage später, am 8. Oktober, kam der Lokalredakteur des Stuttgarter NS-Kuriers noch einmal auf das Thema zurück. Unter der Überschrift »Es ist doch schlimmer« teilte er seinen Lesern mit, eine »große Zahl von Anrufen und Leser-Briefen hat mir indessen bewiesen, dass ich mich im Irrtum befand, als ich annahm, falsches Mitleid und schlecht angewandte ›Menschlichkeit‹ gegenüber besternten Juden seien Einzelerscheinungen«. Zur Illustration zitierte er die Zuschrift einer älteren Nationalsozialistin, die sich darüber beschwerte, es würde nach wie vor alten Jüdinnen in der Straßenbahn der Platz frei gemacht und man könne immer wieder beobachten, dass Juden durch »arische« Bekannte auf der Straße ostentativ begrüßt würden und dass man ihnen Mut zuspreche. Bei einer dieser Gelegenheiten, so die Briefschreiberin, habe sie den Satz aufgeschnappt: »Es gehört wahrlich mehr Mut dazu, diesen Stern zu tragen, als in den Krieg zu ziehen.« Der Stuttgarter NS-Kurier zögerte nicht, diese Äußerung als besonders verabscheuungswürdig anzuprangern.67
Der Westdeutsche Beobachter veröffentlichte am 26. Oktober 1941 den Bericht einer seiner Mitarbeiter über ein Erlebnis in Berlin. Ein Bekannter, der als loyaler Nationalsozialist und Antisemit vorgestellt wird, habe ihm anvertraut, eigentlich habe ihm »die Sache mit dem Judenstern« zunächst nicht behagt, er habe die Einführung der Kennzeichnung als überflüssig angesehen. Um seinen mittlerweile eingetretenen Sinneswandel zu erklären, habe der Bekannte ihn dann zu einem gemeinsamen Spaziergang durch Wilmersdorf eingeladen, wo sich schon beim ersten Augenschein zeigte, dass er »im Getto« lebe, denn im Stadtviertel ergebe sich auf Schritt und Tritt immer der gleiche Eindruck: »Die gelben Fünfzacks beherrschten das Bild.« Der Bekannte, so versichert der Autor, habe nun die Notwendigkeit der Kennzeichnung vollkommen eingesehen.68
Die Artikel veranschaulichen die Schwierigkeiten der Propaganda im Umgang mit dem Thema: Eine zu intensive »Aufklärung« über die Folgen der Kennzeichnungspflicht musste notwendigerweise dazu führen, dass Kritik aus der Bevölkerung zu viel Platz eingeräumt und so ungewollt im Rahmen der kontrollierten öffentlichen Meinung eine Plattform für Gegenstimmen geschaffen wurde.
Dies galt es jedoch unter allen Umständen zu verhindern. Das Propagandaministerium erklärte zwar am 28. September auf der Pressekonferenz, der »Aufklärungsfeldzug gegen das Judentum könne jetzt gestartet werden«, doch ein Blick in die Presse zeigt, dass dieser »Feldzug« zumindest in diesem wichtigen Medium zunächst ausblieb. Stattdessen geschahen höchst ungewöhnliche Dinge: Die Gaupropagandaleitung Danzig-Westpreußen schickte beispielsweise die Sendung mit dem Flugblatt »Wenn Du dieses Zeichen siehst«, das anlässlich der Kennzeichnung der Juden an alle Haushalte verteilt werden sollte, mit der Begründung nach Berlin zurück, dass man »auf dem Standpunkt stünde, die Verbreitung dieses Flugblatts würde nur Unruhe in die Bevölkerung hineintragen«. Die Bevölkerung, so die weiteren Ausführungen, könne zu dem Schluss kommen, dass sich im Gau noch »eine große Anzahl Juden befinden«.69
Entgegen der Ankündigung spielte das Thema bis Ende Oktober in den Presseanweisungen eine relativ untergeordnete Rolle.70 Entsprechend ging auch die Zahl der antisemitischen Beiträge in den meisten Zeitungen im Monat Oktober gegenüber dem September deutlich zurück.71 Dafür war mit Sicherheit eine gewisse Irritation der Propagandisten angesichts der negativen Aufnahme der Kennzeichnung in der Bevölkerung verantwortlich. Verschärft wurde diese Verunsicherung jedoch noch durch einen weiteren Faktor.
Auf dem Höhepunkt der Stimmungskrise Mitte September hatte Hitler einen weiteren, folgenschweren Entschluss in der »Judenpolitik« gefasst: die Entscheidung zur Deportation der deutschen Juden, eine Maßnahme, die er noch im August auf die Zeit nach dem Ende des Ostfeldzuges hatte verschieben wollen.72 Am 18. September instruierte Himmler den Gauleiter im Warthegau, Arthur Greiser, Hitler wünsche, dass »möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden«; die ersten 60 000 Juden seien bereits während des kommenden Winters im Ghetto von Lodz unterzubringen.
Die Motive für diese Entscheidung Hitlers sind komplex und können hier nicht im Detail erörtert werden: Moskaus Entschluss, die Wolgadeutschen nach Sibirien zu deportieren, lieferte den Vorwand;73 das Motiv, die deutschen Juden für den erwarteten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten als Geiseln zu nehmen,74 ist ebenso nachweisbar wie die Überlegung, »Judenwohnungen« in den vom Luftkrieg bedrohten Städten »freizumachen«, um so »die Juden« ostentativ als Drahtzieher der Bombenkrieges anzuprangern.75 Vor allem aber ging Hitler mit seiner Entscheidung vom September 1941 daran, den ursprünglichen, seit Anfang des Jahres verfolgten Plan zur Deportation der Juden in die zu besetzenden Ostgebiete zu realisieren. Der Termin für den Beginn der Deportationen – Mitte Oktober – entsprach exakt dem Zeitpunkt, den Hitler im Juni 1941 für den deutschen Sieg im Ostfeldzug ins Auge gefasst hatte.76 Offensichtlich verfolgte er also die Absicht, angesichts des sich andeutenden Scheiterns des »Blitzkrieges« gegen die Sowjetunion die künftige Führung des Krieges, der länger und blutiger zu werden drohte als ursprünglich angenommen, ganz unter das Motiv eines Kampfes gegen »die Juden« zu stellen.
Es scheint, dass die Kennzeichnung, mit der Goebbels das Ziel verfolgt hatte, die Juden sichtbar zu machen, um sie ostentativ »aus der Öffentlichkeit« zu entfernen, durch die mittlerweile ergangene Deportationsentscheidung Hitlers in propagandistischer Hinsicht überholt worden war. Goebbels war zwar immer davon ausgegangen, dass Berlin bald »judenfrei« werden würde, aber dass zwischen der Kennzeichnung und dem Beginn der Deportationen nur wenige Wochen liegen würden, damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Die Deportationen sollten aber – wie wir sehen werden – gerade nicht öffentlich herausgestellt werden, sondern die Juden sollten weitgehend unbemerkt »verschwinden«; aus propagandistischer Sicht war es daher kontraproduktiv, die Juden im September »sichtbar« zu machen, um dann ab Oktober mit der Frage konfrontiert zu werden, wo die Sternträger denn geblieben seien. Und die reservierte bis ablehnende Aufnahme der Kennzeichnungsverordnung, die Goebbels bei den Berlinern konstatierte, ließ es erst recht nicht ratsam erscheinen, das antisemitische Thema propagandistisch weiter zu strapazieren.
Die ganz überwiegend negative Reaktion77 auf die Kennzeichnungsverordnung zumindest in Teilen der Bevölkerung wird durch eine Reihe von zeitgenössischen Beobachtern bestätigt. Elisabeth Freund, selbst von der Kennzeichnung betroffen, berichtet in Aufzeichnungen, die sie wenige Monate später anfertigte, die Berliner Bevölkerung missbillige in ihrer Mehrheit den Judenstern: »Die Judensterne sind nicht populär. Das ist ein Misserfolg der Partei, und dazu kommen die Misserfolge an der Ostfront.«78
Die bereits erwähnte Ruth Andreas-Friedrich, eine Nichtjüdin, die in Berlin dem Widerstand angehörte, hielt mit Datum vom 19. September 1941 in ihrem Tagebuch fest: »Es ist soweit. Die Juden sind vogelfrei. Als Ausgestoßene gekennzeichnet durch einen gelben Davidstern, den jeder von ihnen auf der linken Brustseite tragen muss. Wir möchten laut um Hilfe schreien. Doch was fruchtet unser Geschrei? ›Jude‹ steht in hebräischen Schriftzügen mitten auf dem Davidstern, ›Jude‹ höhnen die Kinder, wenn sie einen so Gezeichneten durch die Straßen wandern sehen. ›Schämt euch!‹ schnauzt Andrik zwei solche Lümmel an und haut ihnen ein paar rechts und links hinter die Ohren. Die Umstehenden lächeln zustimmend. Wie ertappte Sünder schleichen die Bengel beiseite. Das Gros des Volkes freut sich nicht über die neue Verordnung. Fast alle, die uns begegnen, schämen sich wie wir. Und selbst der Spott der Kinder hat mit ernsthaftem Antisemitismus wenig zu tun. Sie spotten, weil sie sich einen Spaß davon versprechen. Einen Spaß, der nichts kostet, da er auf Kosten von Wehrlosen geht. Es liegt kein großer Unterschied darin, ob man Fliegen die Beine ausreißt, Schmetterlinge aufspießt oder Juden ein Schimpfwort nachruft.«79
Die Berlinerin Ingeborg Tafel schrieb ihrem Ehemann, einem Offizier, am 21. September 1941: »Seit dem 19. September müssen Juden einen gelben Stern auf der linken Brustseite tragen. Wie schrecklich, ›gekennzeichnet‹ zu sein – es kommt mir vor wie ein Kainsmal.«80 Ulrich von Hassell, der dem Widerstand angehörende, nicht mehr im aktiven Dienst befindliche deutsche Diplomat, hielt den gleichen Eindruck in seinem Tagebuch fest, nannte aber auch ein Gegenbeispiel.81
Eine jüdische Lehrerin, der es Ende 1941 noch gelang, Deutschland zu verlassen, berichtet in Notizen, die sie kurz nach dem Grenzübertritt anfertigte, die Bevölkerung habe durchaus unterschiedlich auf den Stern reagiert. Besonders von Kindern seien antisemitische Bemerkungen zu hören gewesen, während Erwachsene sich häufiger negativ über die Kennzeichnung geäußert hätten.82
Else Behrend-Rosenfeld, eine in München lebende Jüdin, machte zwei Tage nach Einführung der Kennzeichnung folgende Beobachtung: »Die meisten Leute tun, als sähen sie den Stern nicht, vereinzelt gibt jemand in der Straßenbahn seiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass man nun das ›Judenpack‹ erkennt. Aber wir erlebten und erleben auch viele Äußerungen der Abscheu über diese Maßnahme und viele Sympathiekundgebungen für die Betroffenen.« Behrend-Rosenfeld schildert weitere Solidaritätsgesten und fährt dann fort: »Mir scheint, dass jedenfalls in München die jetzigen Machthaber mit dieser Verfügung nicht erreichen werden, was sie bezwecken: die vollkommene Verfemung der Juden durch die Menge des Volkes.« Am 26. Oktober heißt es: »Die Bevölkerung tut, als sähe sie die Sterne nicht. Viele Freundlichkeiten in der Öffentlichkeit und noch viel mehr im geheimen werden uns erwiesen. Äußerungen der Verachtung und des Hasses uns gegenüber sind selten.«83
Wie Behrend-Rosenfelds Aufzeichnungen zeigen, wurde das ostentative Übersehen des Sterns von einer Betroffenen keineswegs als Ausdruck der Indifferenz gegenüber den Verfolgten gewertet, sondern als demonstrative Ablehnung der Kennzeichnung. Vergegenwärtigt man sich die zitierte »Empfehlung« des Stuttgarter NS-Kuriers vom 3. Oktober, durch die gekennzeichneten Juden »wie Luft« hindurchzusehen, um damit seine Verachtung zum Ausdruck zu bringen, so wird deutlich, wie nuancenreich und interpretationsfähig zur Schau getragene Indifferenz sein kann.
Jochen Klepper, der mit einer Jüdin verheiratete und an seiner Berufsausübung verhinderte Journalist, dessen aus der ersten Ehe der Frau stammende Tochter den Stern tragen musste, bestätigt diese negative Haltung der Bevölkerung gegenüber der Kennzeichnung.84
Auch Victor Klemperer vermerkte in seinem Tagebuch in diesen Wochen überwiegend Einträge, die die negative Einstellung der Bevölkerung zur Sternpflicht dokumentieren. »Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde«, notierte er am 4. Oktober.85 Generell ist jedoch bei solchen Stellungnahmen zu berücksichtigen, dass Sternträger bevorzugte Adressaten regimekritischer Äußerungen waren, da man von ihnen keine Denunziation erwartete. Am 25. September 1941 hielt Klemperer die Äußerung eines Straßenbahnfahrers ihm gegenüber fest: »Ganz gut, Ihr Zeichen, da weiß man, wen man vor sich hat, da kann man sich mal aussprechen.«
Howard K. Smith, der bis Ende 1941 als amerikanischer Korrespondent in Deutschland arbeiten konnte, kam in einem nach seiner Rückkehr in die USA veröffentlichten Buch zu der Schlussfolgerung, die Kampagne zur Einführung des Gelben Sterns sei »ein monumentaler Misserfolg« gewesen; die Bevölkerung habe durchgängig durch kleine Gesten ihre Sympathien mit den Sternträgern und ihre Missbilligung der Kennzeichnung zum Ausdruck gebracht. Die Empörung sei auch von überzeugten Parteianhängern geteilt worden. Goebbels habe mit seinen Propagandamaßnahmen den Rassegedanken »für alle Zeiten ruiniert«.86 Ähnlich wie Behrend-Rosenfeld beobachtete Smith, dass die Menschen den Sternträgern meist mit gesenktem Kopf begegneten. Smith erklärte diese Verhaltensweise teils mit Schamgefühlen, teils mit dem Motiv, den Juden das Gefühl des Angestarrtwerdens ersparen zu wollen.
Der schwedische Zeitungskorrespondent Arvid Fredborg schilderte ähnliche Eindrücke: »Die Bevölkerung von Berlin reagierte auf den Davidstern in einer Art und Weise, die den Propagandamachern einigen Stoff zum Nachdenken gegeben haben muss. Immer wieder gab es kleine Sympathiekundgebungen für die Juden, und die stoische Ruhe, mit der sie ihr Schicksal ertrugen, verfehlte nicht ihre Wirkung, sogar auf die fanatischsten Nazis.«87
Der für die militärische Abwehr arbeitende Regimegegner Helmuth James von Moltke schließlich schrieb am 18. November an seine Frau zur »Lage im Innern«: »Durch Judenverfolgung und Kirchensturm ist eine rasende Unruhe hervorgerufen worden.«88
Diese Zeugnisse verleihen der Episode einige Glaubwürdigkeit, die Speer in den Spandauer Tagebüchern schildert. Goebbels habe sich anlässlich eines Mittagessens bei Hitler über die Berliner beklagt: »Die Einführung des Judensterns hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was erreicht werden sollte, mein Führer! Wir wollten die Juden aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Aber die einfachen Menschen meiden sie nicht, im Gegenteil, sie zeigen überall Sympathie für sie. Dieses Volk ist einfach noch nicht reif und steckt voller Gefühlsduseleien!«89
Eine vom britischen Foreign Office angelegte Sammlung von Berichten mit Nachrichten aus Deutschland90 bestätigt den Befund: In einer Zusammenfassung des Central Department im Foreign Office vom November 1941 heißt es, »Juden scheinen eine freundlichere Behandlung seitens der Deutschen zu erfahren«.91 Auch die britische Post- und Telegraphenzensur, die abgefangene Briefe aus Deutschland und Briefe mit Informationen über Deutschland aus neutralen Ländern auswertete, kam im März 1942 zu der Schlussfolgerung, dass »das Tragen des Judensterns exakt das Gegenteil von dem zur Folge hatte, was man erwartet hatte, nämlich eine wesentlich freundlichere und hilfsbereitere Verhaltensweise der anderen«.92
Daneben finden sich in den Akten des Foreign Office Berichte verschiedener britischer Auslandsmissionen, die Beobachtungen von Personen weitergaben, die sich aus unterschiedlichen Gründen in Deutschland aufgehalten hatten. Auch diese Augenzeugenberichte deuten auf Ablehnung der Kennzeichnungspflicht hin; die Menschen seien den Sternträgern mit Scham und Gesten des Mitgefühls begegnet. Diese übereinstimmenden Einschätzungen stammten von ganz unterschiedlichen Personen: einem amerikanischen Zeitungskorrespondenten,93 einem Informanten, der sich drei Wochen in Deutschland aufgehalten hatte und von dort nach Schweden ausgereist war,94 einem Österreicher, der anlässlich eines Schweiz-Besuches mit dem dortigen britischen Militärattaché zusammengekommen war,95 sowie einer Schwedin, die soeben von einem Besuch in München zurückgekehrt war.96
Ein jüdischer Mechaniker aus Hamburg, der Ende 1941 noch in die USA emigrieren konnte, wusste zu berichten, dass die Arbeiter in seiner Firma durchgehend oppositionell zum Regime eingestellt seien und auf die Einführung des Gelben Sterns mit deutlichen Kundgebungen der Solidarität reagiert hätten.97 Kate Cohn, eine Berliner Jüdin, die im Februar 1942 in die Schweiz geflohen war und im Herbst nach Großbritannien gelangte, berichtete, die Sternträger seien zum Teil voller Mitleid angestarrt worden, andere Passanten hätten Mitgefühl und Sympathie gezeigt. Insgesamt hätte die Kennzeichnung keineswegs Begeisterung ausgelöst.98
Der schwedische Botschafter in Deutschland erklärte seinem britischen Kollegen in Stockholm in einem Gespräch, die Berliner Bevölkerung sei vollkommen damit beschäftigt, das Alltagsleben zu bewältigen; für sie sei die »Judenfrage« genauso uninteressant wie die anderen Themen, denen sich die Propaganda ständig widme – ob es sich nun um Deutschlands Größe, die Freimaurerei, die kommunistische Gefahr oder was auch immer handele.99
Andere Augenzeugenberichte in den Akten des Public Record Office vermitteln einen Eindruck von der Abwehrreaktion, mit der Deutsche reagierten, wenn sie auf die Kennzeichnung der Juden angesprochen wurden. Ein finnischer Geschäftsmann, der sich zu einem kurzen Besuch in Deutschland aufgehalten hatte, erzählte, seine deutschen Gesprächspartner hätten auf Fragen zum Gelben Stern stets mit dem Hinweis reagiert, es sei allgemein bekannt, dass die Deutschen in den USA mit einem großen D auf ihrer Kleidung gekennzeichnet würden.100 Das Gleiche wusste der ehemalige Sekretär der US-Handelskammer in Frankfurt am Main, van d’Elden, zu berichten, der sich, abgesehen von einer mehrwöchigen Internierung Anfang 1942, bis zu seiner Ausweisung im Mai 1942 relativ frei in Frankfurt bewegen durfte. Seine deutschen Gesprächspartner, so van d’Elden, seien durchgängig der Meinung, die Deutschen in den USA würden mit einem Hakenkreuz gekennzeichnet. Die meisten Deutschen stünden also unter dem Eindruck, ihre Landsleute würden in ähnlicher Weise verfolgt wie die Juden in Deutschland.101
Die ablehnende oder doch zumindest zurückhaltende Reaktion der Bevölkerung auf die Einführung der Kennzeichnungspflicht ist sogar der Berichterstattung des SD zu entnehmen, auch wenn hier als dominierende Antwort Zustimmung dokumentiert wird. So heißt es in den Meldungen aus dem Reich in einem zusammenfassenden Bericht: »Die Verordnung über die Kennzeichnung der Juden wurde vom überwiegenden Teil der Bevölkerung begrüßt und mit Genugtuung aufgenommen, zumal eine solche Kennzeichnung von vielen schon lange erwartet worden war. Nur in geringem Umfange, vor allem in katholischen und in bürgerlichen Kreisen, wurden einzelne Stimmen des Mitleids laut. Vereinzelt wurde auch von ›mittelalterlichen Methoden‹ gesprochen. Vorwiegend in diesen Kreisen wird befürchtet, dass das feindliche Ausland die dort lebenden Deutschen mit einem Hakenkreuz kennzeichnen und gegenüber diesen zu weiteren Repressalien greifen werden. Überall ist das erste Auftreten von gekennzeichneten Juden stark beachtet worden. Mit Erstaunen wurde festgestellt, wie viele Juden es eigentlich noch in Deutschland gibt.«102
Verschiedene regionale und lokale Stimmungsberichte meldeten hingegen eindeutig und uneingeschränkt positive Reaktionen auf die Einführung des Abzeichens.103 Soweit in den Berichten Kritik geübt wurde, bezog sie sich vor allem auf die angeblich zu weitgehenden Ausnahmeregelungen der Kennzeichnungsverordnung, insbesondere für in »Mischehen« lebende Juden.104 Die zum Teil sehr detaillierten, auf die bestehende Rechtslage Bezug nehmenden Vorschläge für eine Verschärfung der Verordnung (etwa in den Meldungen aus dem Reich vom 2. Februar 1942)105 machen allerdings deutlich, dass es sich hier weniger um Volkes Stimme handelt, als vielmehr um Parteifunktionäre, die sich hinter der angeblich populären Empörung verbargen.
Bezeichnend für dieses Vorgehen ist etwa, dass die NSDAP-Kreisleitung Augsburg-Stadt in ihrem Lagebericht für September selbst die Forderung nach Ausdehnung der Kennzeichnung erhob, ohne sich auf die »Stimmung« zu beziehen – während die Kollegen von der Kreisleitung Augsburg-Land das gleiche Anliegen verfolgten, sich aber auf das mangelnde Verständnis der Bevölkerung beriefen.106
Bemerkenswert ist auch die Formulierung im Bericht der SD-Außenstelle Höxter, die »Kenntlichmachung der Juden mit dem Davidstern ist von der Bevölkerung des hiesigen Bereiches allgemein begrüßt worden«; zwar seien »Diskussionen größeren Umfangs« darüber nicht geführt worden, trotzdem sei »die allgemeine Zustimmung zu dieser Maßnahme sofort zum Ausdruck« gekommen. Treffender kann man die »Meinungsbildung« in einer kontrollierten »Öffentlichkeit« wohl kaum beschreiben.107
Allerdings enthalten die lokalen Stimmungsberichte auch direkte Hinweise auf Kritik aus der Bevölkerung. So meldete etwa die SD-Außenstelle Paderborn, die Kennzeichnung werde »nur in Kreisen konfessionell fest gebundener älterer Menschen« kritisiert.108
Die Meldungen aus dem Reich vom 24. November 1941 gehen speziell auf die Reaktionen kirchlicher Kreise auf die Kennzeichnung ein, und zwar insbesondere auf Bemühungen, die nun in den Gottesdiensten sichtbar gewordenen »getauften Juden« vor Anfeindungen zu schützen, denn nach dem Inkrafttreten der Verordnung »wurden an den darauffolgenden Sonntagen verschiedene Kirchenbesucher bei ihren Ortsgeistlichen vorstellig. Sie verlangten, dass die Juden nicht mehr die gemeinsamen Gottesdienste besuchen dürften und dass man von ihnen nicht verlangen könne, dass sie neben einem Juden die Kommunion empfangen sollen.«
Besondere Aufmerksamkeit verwandte der Bericht auf ein Flugblatt, das von der Breslauer Stadtvikarin verfasst und in verschiedenen Teilen des Reichsgebietes verbreitet wurde. In dem Flugblatt wurde daran erinnert, es sei »Christenpflicht, sie [die Juden] nicht etwa wegen der Kennzeichnung vom Gottesdienst auszuschließen«. Es folgte eine Reihe praktischer Vorschläge, wie die gekennzeichneten Gemeindemitglieder durch die Gemeinden geschützt werden könnten.
Die Meldungen aus dem Reich zitierten ferner ausführlich aus zwei Rundschreiben, die vom Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, und vom Wiener Kardinal Innitzer stammten. Beide wandten sich gegen die Absicht, die nun gekennzeichneten Juden zu einer »Judenchristengemeinde« mit eigenem Gottesdienst zusammenzufassen oder sie sonstwie von der übrigen Gemeinde abzusondern.109
Offensichtlich war jedoch die Missstimmung über die Einführung der Kennzeichnung – insbesondere in Berlin – wesentlich stärker, als es die Berichte glauben machen wollten; die geradezu wütenden Maßnahmen Goebbels’ gegen diejenigen, die der Kennzeichnungsverordnung kritisch gegenüberstanden und Solidaritätsbekundungen gegenüber Juden zeigten, wären sonst nicht verständlich.
Am 6. Oktober empfahl Goebbels auf der Propagandakonferenz, mit der Gestapo zu vereinbaren, »ohne etwas darüber zu veröffentlichen, in Zukunft alle Leute ohne Judenstern, gleichgültig ob in Breslau oder auf dem Kurfürstendamm in Berlin, die in Begleitung von Leuten mit Judenstern angetroffen werden, dingfest zu machen und dann – sofern es sich nicht um Ausländer handelt – entweder ins KZ oder eine Zeitlang in eine Munitionsfabrik zu stecken«. Als Vorbild diente ihm eine entsprechende Anweisung, die Reinhard Heydrich für das Protektorat Böhmen und Mähren getroffen hatte.110 Tatsächlich wurde eine solche Regelung wenige Tage später in Form einer Polizeiverordnung erlassen: Wer »in der Öffentlichkeit freundschaftliche Beziehungen zu Juden« erkennen lasse, sei in »Schutzhaft« zu nehmen und bis zu drei Monaten in Konzentrationslager einzusperren.111 Die Verordnung wurde jedoch nicht im Wortlaut veröffentlicht, sondern im November inhaltlich in einem Goebbels-Artikel (auf den noch eingegangen wird) wiedergegeben und entsprechend im Rundfunk propagiert. Erst mit diesem Mittel, unerwünschte Kontakte mit Juden zu unterbinden, an der Hand, sollte Goebbels die nächste antisemitische Kampagne in Gang setzen, um die vom Regime erwünschte Distanz zu Juden einzufordern.

Der Beginn der Deportationen

Die Stimmung der deutschen Bevölkerung begann sich, so nahm es das Regime wahr, in der zweiten Septemberhälfte unter dem Eindruck neuer Sondermeldungen von der Ostfront wieder aufzuhellen112 – allerdings in einem Ausmaß, das den Propagandaminister schon wieder beunruhigte, ging seiner Ansicht doch zumindest zum Teil »die Stimmung des Volks weit über die realen Möglichkeiten hinaus«.113
Die optimistische Stimmung in der Bevölkerung, die der Berichterstattung des Regimes zufolge bis Ende des Monats Oktober anhielt,114 reflektierte vor allem die Einschätzung in Hitlers Hauptquartier. Dort herrschte auf Grund der militärischen Erfolge (insbesondere in den Schlachten im Raum Kiew sowie bei Brjansk und Wjasma) geradezu Euphorie, ein Umstand, der sich in den offiziellen Verlautbarungen zur militärischen Entwicklung deutlich niederschlug. Am 23. September gab Hitler gegenüber Goebbels seiner Hoffnung Ausdruck, »die Kämpfe im Osten bis zum 15. Oktober im wesentlichen abgeschlossen haben zu können«. 115 Bei ihrem Treffen am 3. Oktober fand Goebbels den Diktator immer noch in äußerst optimistischer Stimmung vor, davon überzeugt, die »sowjetische Wehrmacht in vierzehn Tagen im wesentlichen zertrümmert« zu haben.116 Goebbels, der sich in der ersten Oktoberhälfte nachhaltig um eine Dämpfung dieses seiner Ansicht nach übertriebenen Optimismus bemühte, drohte gegen Mitte des Monats sogar in einen gewissen Gegensatz zu dieser vom Führerhauptquartier ausgehenden positiven Grundstimmung zu geraten.117
In dieser Situation begann am 15. Oktober die vier Wochen zuvor durch Hitler angeordnete Deportation der Berliner Juden. Das Protokoll der Propagandakonferenz vom 23. Oktober enthält folgende Anweisung des Ministers zur Behandlung der Massenverschleppung: »Zum Abtransport der ersten 20 000 Juden führt der Minister aus, dass über diese Frage so viele Lügen verbreitet würden, dass es zweckmäßig erscheine, über dieses Thema überhaupt nichts zu sagen. Um zu verhindern, dass ausländische Agenturen nähere Einzelheiten erfahren, sind weder Telefonate noch Kabel herauszulassen. Es wird lediglich dazu gesagt, dass es sich um eine kriegswirtschaftliche Maßnahme handelt, über die nicht berichtet wird. Herr Hinkel empfiehlt, hinzuzufügen, dass die Juden nicht in ein Lager überführt werden. Der Minister hält diesen Vorschlag für gut; auf die vielen Anfragen ist zu antworten: Die Juden kommen in kein Lager, weder in ein Konzentrationslager noch in ein Gefängnis. Sie werden individuell behandelt. Wohin sie kommen, kann aus kriegswirtschaftlichen Gründen nicht gesagt werden. Jedenfalls ist Vorsorge getroffen, dass die, die zum größten Teil bisher nicht an der Arbeit teilgenommen haben, jetzt in den Arbeitsprozess eingeschaltet werden.« In der Inlandspropaganda solle zur Frage der Deportationen hingegen »überhaupt nicht Stellung genommen werden«.118
Einen Tag später notierte Goebbels in seinem Tagebuch: »Allmählich fangen wir nun auch mit der Ausweisung von Juden aus Berlin nach dem Osten an. Einige tausend sind schon in Marsch gesetzt worden. Sie kommen vorerst nach Litzmannstadt. Darob große Aufregung in den betroffenen Kreisen. Die Juden wenden sich in anonymen Briefen hilfesuchend an die Auslandspresse, und es sickern auch in der Tat einige Nachrichten davon ins Ausland durch. Ich verbiete weitere Informationen darüber für die Auslandskorrespondenten. Trotzdem wird es nicht zu verhindern sein, dass dieses Thema in den nächsten Tagen weitergesponnen wird. Daran ist nichts zu ändern. Wenn es auch im Augenblick etwas unangenehm ist, diese Frage vor einer breiteren Weltöffentlichkeit erörtert zu sehen, so muss man diesen Nachteil schon in Kauf nehmen. Hauptsache ist, dass die Reichshauptstadt judenrein gemacht wird; und ich werde nicht eher ruhen und rasten, bis dieses Ziel vollkommen erreicht ist.«
In der Propagandakonferenz vom 25. Oktober räumte Goebbels seinen Mitarbeitern gegenüber ein, es sei »auch mit begütigenden Nachrichten nicht zu verhindern, dass die Juden, die inzwischen gewittert haben, dass sie aus Berlin herausgeholt werden sollen, nun an die Auslandskorrespondenten, die amerikanische Botschaft usw. schreiben. – So ist es auch unzweckmäßig, generell anzuordnen, dass Juden in den Verkehrsmitteln Platz zu machen haben; Aufgabe der Partei ist es, hier dem einzelnen das richtige Taktgefühl und psychologische Einfühlungsvermögen anzuerziehen. Darüber hinaus sind in den U-Bahnen und sonstigen Verkehrsmitteln Schilder anzubringen, in denen […] ausgeführt wird: ›Die Juden sind unser Unglück. Sie haben diesen Krieg gewollt, um Deutschland zu vernichten. Deutsche Volksgenossen, vergesst das nie!‹ Damit ist für eventuelle Zwischenfälle eine Basis geschaffen, auf die erforderlichenfalls hingewiesen werden kann.«
Am 26. Oktober ordnete Goebbels an, die antijüdische Propaganda wieder zu intensivieren.119 Des weiteren heißt es im Protokoll der Propagandakonferenz, es befänden sich »im Reichsgebiet und Generalgouvernement insgesamt 1 250 000 Juden ohne diejenigen, die in den Ghettos zusammengepfercht sind. Im Reichsgebiet selbst leben noch 323 000 Juden, davon entfallen auf die Reichshauptstadt 67 000. Inzwischen wurden Vorbereitungen getroffen, um noch in diesem Jahre 17 500 Juden aus Berlin abzutransportieren. Der Minister bezeichnet es als unhaltbar, dass damit noch rund ein Fünftel aller in Deutschland lebenden Juden auf die Reichshauptstadt entfallen. Es ist unbedingt zu erwirken, dass der Satz der aus Berlin abzutransportierenden Juden erhöht wird, so dass ab 1. Januar 1942 nicht mehr als etwa 25 000 Juden in der Reichshauptstadt sein werden. Erforderlichenfalls sind die Waggons zum Abtransport der Juden mit der doppelten Anzahl als bisher vorgesehen zu belegen. Der Minister beauftragt [Staatssekretär; P. L.] Gutterer, an zuständiger Stelle zu erwirken, dass als erste deutsche Stadt die Reichshauptstadt, schon aus politischen, psychologischen und Repräsentationsgründen, judenfrei zu machen ist. Diese Angelegenheit ist schnellstens zu bereinigen und darf sich keinesfalls über längere Zeit erstrecken. Weiterhin ist dafür zu sorgen, dass das Verbot, das den Juden die Benutzung öffentlicher Fernsprecher untersagt, strikt durchgeführt wird. Das gleiche gilt für das Verbot, das den Juden untersagt, Ausländer als Untermieter zu haben bezw. bei Ausländern in Untermiete zu wohnen.« Auf einen Einwurf, die Juden würden für Arbeiten in der Rüstungsindustrie reklamiert, äußerte Goebbels, man solle »diese Juden erforderlicherweise durch russische Kriegsgefangene ersetzen« lassen.
In seinem Tagebuch gab Goebbels am 28. Oktober 1941, anders als auf der Propagandakonferenz, deutlich zu erkennen, dass der Stimmungsberichterstattung zufolge die Deportationen auf relativ starke Bedenken in der Bevölkerung stießen: »Unsere intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten haben plötzlich wieder ihr Humanitätsgefühl für die armen Juden entdeckt. Der deutsche Michel ist ihnen nicht auszutreiben. Die Juden brauchen nur eine Greisin mit einem Judenstern über den Kurfürstendamm zu schicken, so ist der deutsche Michel schon geneigt, alles zu vergessen, was die Juden uns in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten angetan haben. Allerdings wir nicht! Wir denken in diesen Dingen konsequenter und verzeichnen in unserem Charakter wenigstens nicht den deutschen Nationalfehler der Vergesslichkeit. Es gibt auch noch eine Reihe von anderen Anlässen, die es uns gestatten, die Judenfrage in stärkerem Umfang wieder in Presse und Rundfunk zu behandeln. Die vorläufig in bescheidenem Umfang durchgeführten Judenevakuierungen aus Berlin sind immer noch ein Hauptthema der gegnerischen Propaganda. Man hat den Plan gefasst, noch im Laufe dieses Jahres an die 15 000 Juden aus Berlin auszuweisen. Es bleiben dann immerhin noch 50 000. Das ist falsch. Ich dringe darauf, dass, wenn die Juden evakuiert werden, dieser Prozess in möglichst kurzer Frist beendet sein muss. Man soll nicht aus jeder Stadt einen Teil der Juden evakuieren, weil dann das Problem ja dauernd brennend bleibt, sondern man soll eine Stadt nach der anderen evakuieren. Am ehesten kommt natürlich Berlin dran, denn die Reichshauptstadt muss nach Lage der Dinge judenfrei sein. In der Reichshauptstadt auch wirken sich Maßnahmen wie die Evakuierung immer propagandistisch übler aus als in anderen Städten, weil wir hier ja die ganze Diplomatie und die Auslandspresse sitzen haben. Es muss also erstrebt werden, noch im Laufe dieses Jahres die letzten Juden aus Berlin herauszubringen, damit endlich das Problem für die Reichshauptstadt als gelöst gelten kann. Ob mir das gelingt, weiß ich noch nicht; denn die Juden finden immer noch mächtige Beschützer in den obersten Reichsbehörden, und wenn sie auch gegen den Erlass der Maßnahmen nicht viel unternehmen können, so sind sie doch in der Lage, gegen die Durchführung in weitem Umfang zu sabotieren. Es ist merkwürdig, welch eine Instinktlosigkeit der Judenfrage gegenüber immer noch in unseren gesellschaftlichen und intellektuellen Kreisen zu finden ist. Es ist das gewissermaßen ein Erlahmen des nationalen Widerstandswillens, der zweifellos mit der intellektuellen Erziehung unserer akademischen und Gesellschaftskreise zusammenhängt. Jedenfalls werde ich mich dadurch nicht von meinem Wege abbringen oder beirren lassen, sondern konsequent bis zum Ziel weiterschreiten.«
Der Propagandist Goebbels stand im Oktober 1941 vor einem fast unlösbaren Dilemma: Auf der einen Seite sollten die Deportationen in der deutschen Propaganda nicht stattfinden; auf der anderen Seite wurde das Thema außerhalb Deutschlands so stark aufgegriffen, dass man reagieren musste – zumal die Verschleppungen auch in der deutschen Bevölkerung weithin bekannt und offenbar unpopulär waren.
Goebbels’ Lösung bestand darin, Ende Oktober zwar eine antisemitische Propagandakampagne in Gang zu setzen, die Deportationen aber auszusparen.120 Stattdessen richtete sich die Propagandakampagne wieder einmal gegen den angeblich dominierenden Einfluss der Juden in der Sowjetunion, in den USA und in Großbritannien, um auf diese Weise die Existenz einer »jüdischen Weltverschwörung« nachzuweisen.121
Den Auftakt zur Kampagne bildete jedoch ein anderes Ereignis: In einem großen Teil der Presse wurde ein Brief groß herausgestellt und kommentiert, den der rumänische Staatschef Ion Antonescu an den führenden Vertreter der jüdischen Minderheit im Lande, Wilhelm Filderman, geschrieben hatte. In diesem Schreiben wies Antonescu Fildermans Beschwerden über die Deportationen von bessarabischen Juden nach Transnistrien massiv zurück.
Die Vertrauliche Information des Propagandaministeriums vom 26. Oktober 1941 erteilte der Presse folgende Anweisung: »Die Antwort Marschall Antonescus auf das Schreiben des Präsidenten der jüdischen Gemeinschaften in Rumänien Fildermann [sic!] ist für die deutsche Presse der Anlass, sich einmal ausführlicher und in massiven Formulierungen mit der Kriegsschuld des Judentums auseinanderzusetzen. […] Die jüdischen Kriegsbrandstifter und Kriegsverbrecher sollen heute nicht winseln, wenn die Völker, die durch sie in diesen Krieg hineingetrieben wurden, diesen jüdischen Verbrechern die gebührende Antwort erteilen. Wie im Falle des Weltkrieges haben Juden, Judenstämmlinge auch diesen Krieg angezettelt und weiter geschürt. In diesem Zusammenhang kann auch noch einmal die Rolle des Judenstämmlings Roosevelt eingehend beleuchtet werden.« 122
In Erinnerung an Hitlers »Prophezeiung« vom Januar 1939, im Falle eines Weltkrieges drohe die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa«, hieß es weiter: »So, wie es der Führer damals vorausgesagt hat, ist es auch gekommen, die Juden büßen heute für das, was sie durch ihr eigenes Verbrechen als Blutschuld auf sich geladen haben. Die Juden sind die einzigen Verantwortlichen, die diesen Krieg auf dem Gewissen haben. Dieses Thema ist auf der ersten Seite zweispaltig zu bringen.«
Am folgenden Tag legte die Vertrauliche Information nach: »Unter anderem kann auch die Tatsache, dass die Juden in Deutschland jetzt den Judenstern tragen müssen, noch einmal gestreift werden. Es muss dabei eindeutig festgestellt werden, dass die Juden trotz der mehrfachen Warnungen des Führers Deutschland und damit Europa noch einmal in einen Konflikt zu stürzen, nunmehr die Konsequenzen tragen müssen, die ihre verbrecherische Tätigkeit nach sich ziehen musste.« 123
Der Völkische Beobachter erschien am 27. Oktober 1941 entsprechend mit folgenden Schlagzeilen: »Sie gruben sich selbst ihr Grab! Jüdische Kriegshetzer besiegelten Judas Schicksal – Ihr Verbrechen findet verdiente Sühne – Antonescu weist freche Beschwerden der rumänischen Juden schneidend ab.« Wie von der Vertraulichen Information vorgezeichnet, brachte der Artikel das Hitler-Zitat aus der Rede vom 30. Januar 1939 in voller Länge und fügte an: »Was der Führer damals seherischen Geistes verkündete, erfüllt sich heute. Der von Juda geschürte Rachekrieg gegen Deutschland rächt sich nun an den Juden selbst. Die Juden müssen den Weg gehen, den sie sich selbst bereitet haben.«
Und weiter: »Das Judentum erbaut sich an dem Wunschbild der physischen Vernichtung des deutschen Volkes, das diesen Schmarotzern entschlossen den Stuhl vor die Tür gesetzt hat. Kaltblütig will es ungezählte Millionen von Männern aller Länder opfern, um diesen Rachekrieg durchzuführen, will es das Wohl und Wehe großer und kleiner Staaten gewissenlos aufs Spiel setzen, um dieses Ziel zu erreichen, will es andere Nationen den bolschewistischen Schlächtern ausliefern, um mit ihrer Unterstützung auch dort herrschen zu können. Es hat sich diesmal vollkommen verrechnet. Ein großes Volk ist dieser Herausforderung begegnet, andere schließen sich ihm an. Noch zwischen den Schlachten dieses Krieges trifft Juda in Europa die herausgeforderte Vergeltung für ein Verbrechen, das beispiellos dasteht, werden die Werkzeuge zerbrochen, die es in der Hoffnung auf einen Sieg einsetzte.«
Auch die Kommentierung des Antonescu-Briefes in einigen der großen, nicht von der Partei herausgegebenen Zeitungen ist aufschlussreich. Sie verdeutlicht, dass der deutsche Zeitungsleser unmittelbar nach dem Beginn der Deportationen kaum zu übersehende Hinweise auf das Schicksal der Juden erhielt.
In den Münchner Neuesten Nachrichten vom 28. Oktober 1941 konnte man beispielsweise lesen: »Das Antwortschreiben des Marschalls stellt eine grundsätzlich bedeutsame Auseinandersetzung mit dem gesamten, nicht nur mit dem rumänischen Judentum dar, dem der Appell an Mitleid und Humanität schlecht ansteht. […] Die Absicht des Judentums, durch Entfesselung eines zweiten Weltkrieges das nationalsozialistische Deutschland auf die Knie zu zwingen und zu vernichten, liegt sei Jahr und Tag klar vor Augen. Die Kenntnis dieser Vorbereitungen hatte dem Führer zum Anlass gedient, in seiner Reichstagsrede vom 31. Januar 1939 eine Warnung an das Weltjudentum zu richten, die nicht überhört werden konnte. Sie gipfelte in folgendem Satz: ›Ich will heute wieder ein Prophet sein. Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, so wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.‹ Die, denen diese Worte galten, haben geglaubt, sie in den Wind schlagen zu können. Um so mehr treffen sie die Folgen dieses Krieges, an dessen Schürung sie die Hauptverantwortung tragen.«
In der gleichen Ausgabe befindet sich ein weiterer, mit »Kriegsberichter Kränzlein« gezeichneter Kommentar, der konkret auf die antijüdischen Maßnahmen in den besetzten Ostgebieten einging: »Gegen dieses Judentum, das mit der politischen meist auch eine kriminelle Verbrechertätigkeit entwickelt, gehen die deutschen Besatzungsbehörden mit eiserner Hand vor. In allen Städten werden den Juden eigene Wohnviertel zugewiesen. Aus den Dörfern werden sie nach und nach evakuiert. Überall werden sie zu produktiver Arbeit herangezogen. Zweifellos findet damit das Problem in diesen vom Judentum verseuchten Gebieten noch keine endgültige Erledigung. Es bleibt einer gründlichen und umfassenden Regelung vorbehalten. Aber schon ist Luft geworden in diesem Raum, und die Bevölkerung, von dem jahrelangen Druck und der quälenden Aufpasserei und Angeberei des Judentums befreit, erkennt den Ernst dieser Frage sowie die Zusammenhänge zwischen Sowjets und Juden. Ja, das Wachsen dieser Erkenntnis drängt die Schlussfolgerung auf, dass die Wiederkehr der natürlichen Ordnung und der Neuaufbau unlöslich mit dem Grad der Schnelligkeit zusammenhängen, mit dem das Judenproblem liquidiert [sic!] wird.«124
Auch die Deutsche Allgemeine Zeitung brachte in ihrer Abendausgabe vom 27. Oktober 1941 den Brief und kommentierte ihn ausführlich. Der Kommentator zitierte ebenfalls wörtlich Hitlers »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939 und fuhr dann fort: »Der Brief des Marschalls Antonescu ist ein besonders klar formuliertes, aber keineswegs das einzige Zeichen dafür, dass der deutsche Nationalsozialismus nicht allein auf dem Boden der Anschauungen steht, die der Führer damals in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat. Seit dem Ausbruch des Krieges ist mit steigender Klarheit in Erscheinung getreten, wer ihn gewollt hat, und der Feldzug im Osten hat besonders drastische Beweise dafür geliefert, die mit den anderen verbündeten Truppen auch die rumänischen Soldaten unmittelbar erfahren mussten. Ihr Marschall hat jetzt ausgesprochen, was sich ihnen allen als bittere Erkenntnis aufgedrängt hat.«125
Der Stuttgarter NS-Kurier berichtete darüber hinaus über die Deportation von Juden in einem anderen verbündeten Land – in der Slowakei. Dort würde, so die Zeitung, die »Aussiedlung der Juden aus den größeren Städten […] in 14 Judenzentren eingeleitet«. Dabei handele »es sich, wie amtlich versichert wird, um vorübergehende Einrichtungen, da nach dem Kriege eine endgültige Aussiedlung der Juden ins Auge gefasst ist«.126 Allerdings war diese Meldung über die Konzentration der slowakischen Juden bereits zwei Monate alt;127 sie wurde ganz offensichtlich gezielt »aufgewärmt«. In der übrigen Presse erschienen Ende Oktober Meldungen über Verschärfungen der antjüdischen Gesetzgebung in der Slowakei. 128
Diejenigen Deutschen, die mehr über die Deportationen erfahren wollten, konnten demnach in der deutschen Presse durchaus fündig werden: Zwar waren die Informationen als Nachrichten über die rumänischen (oder auch slowakischen) Deportationen verfremdet, aber die Kommentare ließen am endgültigen Zweck der Verschleppungen keinen großen Zweifel. Der Rückgriff auf Hitlers Prophezeiung vom Januar 1939, in der dieser die »Vernichtung« der Juden angekündigt hatte, die Schlagzeile des Völkischen Beobachters über die Juden, die sich selbst ihr Grab gruben, oder drastische Hinweise wie der aus den Münchner Neuesten Nachrichten, dass die »Judenfrage« in der Sowjetunion trotz der dort bereits erprobten »eisernen Hand« der Besatzungsbehörden immer noch einer endgültigen Lösung harre – all dies waren recht deutliche Anzeichen dafür, dass die »Lösung« der »Judenfrage« zugleich das gewaltsame physische Ende der Juden bedeuten würde.
Noch während die Kampagne anlief, kam es Ende Oktober erneut zu einem Stimmungseinbruch (so nahmen es jedenfalls die Stimmungsbeobachter des Regimes wahr); allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Krieg im Osten trotz aller großen militärischen Erfolge vor Jahresende 1941 nicht mehr gewonnen werden konnte.129 Hitler selbst musste in seiner Rede vor den Reichs- und Gauleitern am 9. November eingestehen, dass größere Angriffsoperationen auf das kommende Frühjahr verschoben werden mussten. 130 Am Tag zuvor hatte Hitler aus Anlass der Feiern zum 9. November vor der »alten Garde« der Partei eine Rede gehalten, in der er die Juden als »Weltbrandstifter« und das Judentum als »Inspirator der Weltkoalition gegen das deutsche Volk und gegen das Deutsche Reich« bezeichnet hatte.
Ein Kommentar, der wenige Tage später, am 12. November 1941, unter dem Titel »Der jüdische Feind« im Völkischen Beobachter erschien, griff diese Passage auf und forderte zum bedingungslosen Kampf gegen »Bolschewismus und Rooseveltivismus« auf: »Der Krieg gegen die jüdische Internationale ist ein Ringen auf Leben und Tod, das rücksichtslos zu Ende geführt werden muss und zu Ende geführt werden wird.« 131
Ende 1941 häuften sich solche Äußerungen, die das Publikum auf eine finale Auseinandersetzung mit »dem jüdischen Feind« vorbereiteten. Auf Goebbels’ Beitrag zu diesem Thema werden wir gleich eingehen; ähnliche Töne lassen sich aber auch anderweitig nachweisen. So berichtete etwa die Parteizeitung Frankfurter Volksblatt am 31. Oktober 1941 über eine Kundgebung in Eltville, auf der der hessische Gauleiter Jakob Sprenger gesagt hatte, das »Judentum aber, das als letzte Reserve Amerika in den Krieg führen will, und im Präsidenten Roosevelt, wie die Lügen und Verleumdungen seiner letzten Rede wieder deutlich beweisen, ein willfähriges Werkzeug gefunden hat, werde seiner Vernichtung nicht entgehen«.
Die antisemitische Propagandakampagne des Herbstes 1941 stützte sich neben der Presse vor allem auf die typischen Propagandamittel der Partei. Die von der Reichspropagandaleitung der NSDAP herausgegebene Wandzeitung Parole der Woche war in den Monaten Juli bis Dezember 1941 deutlich antisemitisch gefärbt; in etwa zwei Dritteln der Ausgaben in diesem Zeitraum finden sich antisemitische Aussagen. 1940 und in der ersten Jahreshälfte 1941 hatte das Thema demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle gespielt. 1942 sollte knapp die Hälfte der Parolen der Woche antisemitisch ausgerichtet sein.132
Im Kino war das Thema dagegen kaum präsent. Die Deutsche Wochenschau hatte, wie erwähnt, in den ersten Wochen des Krieges gegen die Sowjetunion ein Mal Aufnahmen von der Verhaftung sowjetischer Juden und mehrfach Szenen, die Juden bei Aufräumungsarbeiten zeigten, vorgeführt. 133 Die Präsenz des Themas Judenverfolgung in den Rundfunkprogrammen lässt sich aus Mangel an Material leider nicht mehr ermitteln.
 
Seit Anfang November stellte Goebbels sich darauf ein, in der Propaganda einen neuen Kurs einzuleiten, der der tatsächlichen militärischen Lage Rechnung trug und die sich anbahnende Depression in der Bevölkerung abfangen sollte.134 Zu diesem Zweck ließ Goebbels am 9. und am 16. November in der Wochenzeitschrift Das Reich für die Stimmungsführung in Deutschland zentrale Leitkolumnen veröffentlichen, die verdeutlichen, wie das NS-Regime versuchte, die Frage der Kriegsentscheidung mit der »Judenfrage« zu verknüpfen.
Der erste Artikel, »Wann oder Wie«, den Goebbels vorab Hitler zur Genehmigung vorlegte,135 behandelte die heikle Frage des immer wieder als unmittelbar bevorstehend angekündigten, aber nun in weite Ferne gerückten Sieges im Osten. Goebbels unternahm hier den Versuch, seinen Lesern klar zu machen, dass es sich bei dem gegenwärtigen Krieg um einen Existenzkampf handele: Ginge der Krieg verloren, sei auch »unser nationales Leben überhaupt und insgesamt« verloren. Angesichts der ernsten Lage sei jede weitere Erörterung der Kriegsdauer unproduktiv und schädlich. Alle Anstrengungen hätten sich auf den Sieg zu konzentrieren: »Fragen wir nicht, wann er kommt, sorgen wir vielmehr dafür, dass er kommt.«
Bereits am 3. November machte sich Goebbels an die Abfassung des zweiten großen Leitkommentars.136 Bevor dieser erschien, trat erneut ein Ereignis ein, das geeignet war, das von Goebbels so bekämpfte Mitgefühl Berliner bürgerlicher und intellektueller Kreise mit den Juden der Reichshauptstadt zu wecken: Das Schauspieler-Ehepaar Gottschalk, das in einer so genannten Mischehe lebte, brachte sich um – ein aufsehenerregender Freitod, der Goebbels ausweislich seiner Tagebucheinträge zwischen dem 7. und dem 11. November stark beschäftigte.137 In dem schließlich am 16. November 1941 im Reich veröffentlichten Artikel erinnerte Goebbels unter der Überschrift »Die Juden sind schuld!« an Hitlers Prophezeiung vom 30. Januar 1939: »Wir erleben eben den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich damit am Judentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist. Mitleid oder Bedauern ist da gänzlich unangebracht.« Mit seiner Formulierung, das »Weltjudentum« erleide »nun einen allmählichen Vernichtungsprozess«, stellte Goebbels klar, welches Schicksal die seit einigen Wochen aus deutschen Großstädten deportierten Juden letztlich erwartete.
Der Artikel endete mit einem Dekalog von Verhaltensvorschriften für den Umgang mit den noch in Deutschland lebenden Juden; de facto ging es dabei um die öffentliche Bekanntgabe der – im Wortlaut nicht veröffentlichten – Polizeiverordnung, die Ende Oktober auf Initiative Goebbels’ erlassen worden war und den Kontakt mit Juden mit KZ-Haft bis zu drei Monaten bedrohte. »Jeder Jude ist ein geschworener Feind des deutschen Volkes […] Wenn einer den Judenstern trägt, so ist er damit als Volksfeind gekennzeichnet. Wer mit ihm noch privaten Umgang pflegt, gehört zu ihm und muss gleich wie ein Jude gewertet und behandelt werden«, hieß es drohend, bevor Goebbels noch einmal auf sein Grundthema zurückkam: »Die Juden sind schuld am Kriege. Sie erleiden durch die Behandlung, die wir ihnen angedeihen lassen, kein Unrecht. Sie haben sie mehr als verdient.«
Goebbels sorgte für weitestmögliche Verbreitung dieses Textes: Er wurde, wie alle seine Reich-Artikel im Rundfunk verlesen, durch Teile der Presse nachgedruckt, und die entscheidenden Passagen wiederholte er wörtlich in einer Rede, die er am 1. Dezember vor der Deutschen Akademie hielt und als Broschüre verteilen ließ.138 Die Botschaft wurde in der Bevölkerung offensichtlich verstanden: Die Meldungen aus dem Reich berichteten, der Artikel habe »starken Widerhall« gefunden, insbesondere die zehn Punkte am Schluss seien als »klar und aufrüttelnd« aufgefasst worden; aus kirchlich gebundenen Kreisen lägen »Gegenstimmen« vor.139
Zeitgleich machte offenbar die Partei auf breiter Front140 das Ende Oktober durch die Gestapo verfügte und bereits exekutierte Kontaktverbot zu Juden allgemein bekannt. Als Victor Klemperer im November in der Straßenbahn von einer nichtjüdischen Bekannten angesprochen wurde, notierte er in seinem Tagebuch: »Eine tapfere Tat, zumal vor wenigen Tagen der Rundfunk, auf einen Goebbelsartikel gestützt, ausdrücklich vor jedem Verkehr mit Juden gewarnt haben soll.«141
Das Regime, so der Tenor der Kampagne, war nicht länger bereit, öffentlich bekundetes Missfallen gegenüber der Judenverfolgung oder Gesten der Solidarität mit den Verfolgten zu dulden: Das Verhalten der Bevölkerung gegenüber Juden hatte sich strikt im Rahmen derVerhaltensvorschriften zu bewegen, die für die kontrollierte Öffentlichkeit des »Dritten Reiches« vorgegeben waren. Darin kam ein dramatischer Wechsel in der öffentlichen Behandlung der Judenverfolgung zum Ausdruck: Noch Mitte September hatte das Regime offensichtlich seine antisemitische Propagandakampagne angesichts der negativen Reaktionen auf die Kennzeichnung eingedämmt und sich entschlossen, die Kennzeichnung der deutschen Juden in der offiziellen Propaganda nicht weiter zu thematisieren. Die Mitte Oktober 1941 einsetzenden, der Bevölkerung keineswegs verborgen bleibenden Deportationen wurden in der Inlandspropaganda ganz totgeschwiegen. Die Tatsache, dass die Propaganda Ende Oktober – versteckt in der ausgiebigen Kommentierung über die Judenverfolgung in Rumänien – sehr deutliche Hinweise auf das Schicksal der aus Deutschland Deportierten gab und offen von der Vernichtung der Juden zu sprechen begann, verlieh dem offiziellen Schweigen über die Deportationen aus Deutschland einen düsteren Hintergrund.
Sodann verband Goebbels das Thema Kriegführung und Judenverfolgung im November 1941 in einer Weise, die klarstellte, dass Kritik an der Verfolgung künftig als Sabotage der Kriegsanstrengungen behandelt werden würde. Gleichzeitig wurde die für den Umgang mit Juden eingeführte KZ-Haft in Form einer dunklen Drohung publik gemacht: Man werde diejenigen, die sich zu Juden freundlich verhielten, wie Juden behandeln. Wir haben verschiedene Hinweise darauf, dass außerdem die Parteiorganisation in diesen Wochen dafür sorgte, das öffentliche Verhalten der Bevölkerung gegenüber Juden an die offiziellen Verhaltensnormen anzupassen: Goebbels’ Bemerkung in der Propagandakonferenz etwa, es sei hinsichtlich des Verhaltens gegenüber Juden in den Verkehrsmitteln Aufgabe der Partei, »hier dem einzelnen das richtige Taktgefühl und psychologische Einfühlungsvermögen anzuerziehen«, oder die Ausführungen des Stuttgarter Beobachters zum gleichen Thema.
Um eine Vorstellung von der Wirkung dieser Kampagne vom Herbst 1941 auf die Bevölkerung zu erhalten, muss man sich den kumulativen Effekt der einzelnen Komponenten vor Augen halten. Offensichtlich gelang es Goebbels in diesen Wochen, durch eine Mischung aus antisemitischer Hetze, Vernichtungsankündigungen, beredtem Schweigen, Drohungen und Einschüchterung eine unheimliche und angstbeladene Atmosphäre zu schaffen. Es war vor allem diese Atmosphäre, die das öffentliche Verhalten der Bevölkerungsmehrheit gegenüber Juden in den kommenden Monaten äußerst effektiv ändern sollte.
In der zweiten Jahreshälfte 1941 ging das Regime also dazu über, eine immer engere Verbindung zwischen der allgemeinen »Stimmung« der Bevölkerung, das heißt ihrer Einschätzung der Kriegsentwicklung, und der öffentlich bekundeten Einstellung der Menschen zur »Judenfrage« herzustellen. Da das Regime seit Beginn des Sommers 1941 große propagandistische Anstrengungen unternommen hatte, um den Krieg zum »Krieg der Juden« umzumünzen, registrierte es sehr aufmerksam, inwieweit militärische Rückschläge beziehungsweise ausbleibende Erfolge auch Auswirkungen auf die Einstellung der Bevölkerung zur »Judenfrage« hatten. Denn: Reagierte die Bevölkerung reserviert bis ablehnend auf die Verschärfung der Verfolgungsmaßnahmen gegen die deutlich als »innerer Feind« gebrandmarkten Juden, so musste dies als mangelnde Unterstützung der allgemeinen Kriegsanstrengungen gesehen werden.
Die massive Propaganda verfehlte ihr Ziel nicht. Je weiter der Krieg voranschritt, desto mehr entwickelte die Bevölkerung ein Gespür dafür, dass, wer Kritik an der Verfolgung der Juden übte, zugleich die allgemeine Kriegspolitik des Regimes und seine Anstrengungen zur politischen Radikalisierung der Verhältnisse während des Krieges infrage stellte. Dies mag auch erklären, warum solche kritischen Äußerungen in den Spitzelberichten des Regimes von nun an kaum noch zu finden sind. Dort aber, wo Kritik an der Judenverfolgung noch so laut geäußert wurde, dass sie von der »Stimmungsberichterstattung« erfasst wurde, war sie bezeichnenderweise häufig verbunden mit Besorgnissen über das eigene Schicksal im Falle eines negativen Kriegsausgangs.
Wenn man aber davon ausgeht, dass die vom Regime konstruierte Verbindung von »Krieg« und »Judenverfolgung« in der Bevölkerung in einem gewissen Grade verfing, dann wird eine bisher weithin akzeptierte Annahme über die Einstellung der Deutschen zur Judenverfolgung brüchig: die Behauptung, die deutsche Bevölkerung sei gegenüber dem Schicksal der Juden indifferent gewesen, da sie in erster Linie mit der weiteren Entwicklung des Krieges und dessen Auswirkungen auf die eigene Existenz beschäftigt gewesen sei. Es scheint vielmehr umgekehrt gewesen zu sein: Je mehr Anlass es gab, sich über den weiteren Verlauf und den Ausgang des Krieges Sorgen zu machen, desto größer wurde die Angst, dass die Verfolgung der Juden nicht ohne Konsequenzen für die eigene Zukunft bleiben werde.

Erste Reaktionen der Bevölkerung auf die Deportationen

Was lässt sich auf Grundlage des offiziellen Materials zur »Stimmung« über die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die ersten Deportationen sagen? Orientiert man sich an den Meldungen aus dem Reich, der nationalen Zusammenfassung der SD-Berichterstattung, so wird man hier vergeblich Berichte über die Verschleppung von Juden aus Deutschland suchen. Die Schlussfolgerung, dies sei auf die Indifferenz der deutschen Bevölkerung zurückzuführen, wäre jedoch voreilig. Vielmehr wird hier deutlich, dass ein Thema, das in der von den Nationalsozialisten kontrollierten Öffentlichkeit tabu war – also in der Propaganda nicht aufgegriffen wurde und jeder öffentlichen Debatte entzogen war -, auch in der internen Stimmungsberichterstattung (zumindest auf Reichsebene) nicht auftauchte: Für das Un-Thema durfte kein Forum geschaffen werden.
Wie wir in Goebbels’ Tagebuchnotizen gesehen haben, stieß das Thema jedoch keineswegs auf Desinteresse, wie etwa Kulka und Bankier glauben.142 Leider verfügen wir nicht mehr über das Material, das Goebbels zu seinen teilweise wütenden Reaktionen veranlasste (es handelte sich im Wesentlichen um die Berichte der Reichspropagandaämter, die insgesamt als verloren gelten müssen), doch erlauben die lokalen und regionalen Berichte verschiedener Behörden gewisse Erkenntnisse darüber, ob die Bevölkerung die Verschleppungen zur Kenntnis nahm und wie sie darauf reagierte.
Die Stapostelle Bremen stellte im November fest, dass zwar »der politisch geschulte Teil der Bevölkerung die bevorstehende [sic!] Evakuierung der Juden allgemein begrüßt« habe, jedoch »insbesondere kirchliche und gewerbliche Kreise […] hierfür kein Verständnis aufbringen und heute noch glauben, sich für die Juden einsetzen zu müssen. So wurden in katholischen und evangelischen Kreisen der Bekenntnisfront die Juden lebhaft bedauert. – In einer bekennenden Gemeinde, die sich fast ausschließlich aus sogenannten bürgerlichen Intelligenzkreisen zusammensetzt, brachten es zahlreiche Gemeindemitglieder fertig, Juden durch materielle Zuwendungen zu unterstützen. In der Geschäftswelt sind es insbesondere Firmen, die Juden beschäftigen und laufend Anträge stellen, die Juden behalten zu dürfen. Selbst angesehene Firmen scheuen sich nicht, in ihren Anträgen darauf hinzuweisen, dass sie nicht weiter könnten, wenn der bei ihnen beschäftigte Jude evakuiert würde.«143
Die Stapoleitstelle Magdeburg berichtete ebenfalls im November, dass »deutschblütige Personen nach wie vor freundschaftliche Beziehungen zu Juden unterhalten und sich mit diesen in auffälliger Weise in der Öffentlichkeit zeigen«. Da »die betreffenden Deutschblütigen durch ein derartiges Verhalten beweisen, dass sie auch heute noch den elementarsten Grundbegriffen des Nationalsozialismus verständnislos gegenüberstehen und ihr Verhalten als Missachtung der staatlichen Maßnahmen anzusehen ist«, müsse man »bei solchen Vorkommnissen den deutschblütigen Teil sowie den Juden in Schutzhaft nehmen« – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Ende Oktober 1941 verhängte, jedoch nicht veröffentliche Polizeiverordnung über das Kontaktverbot mit Juden von der Gestapo bereits in die Praxis umgesetzt wurde.144
Einem Bericht aus der Kriegschronik der Stadt Münster ist zu entnehmen, dass auch hier die Deportationen Tagesgespräch waren. Wir kennen den Berichterstatter nicht, doch dürfen wir annehmen, dass er als Mitarbeiter der Chronik regimetreu war. Entsprechend sind selbstverständlich seine rein subjektiven Beobachtungen und Einschätzungen zu bewerten: »Ich gehöre heute zu denen, die noch zwei Kneipen aufsuchen und sich zwischen die Gäste am Tresen drängen. Da höre ich in der zweiten Kneipe an der Aegidiistraße, während ich zwischen mittleren Beamten, Handwerkern und Kaufleuten stehe, dass bis zum 13. dieses Monats alle Juden aus Münster heraus sein müssten. Die Nachricht wird sehr lebhaft besprochen. Überwiegend sind die Tresengäste mit der Maßnahme sehr zufrieden. Die Juden kämen alle nach dem Osten in große Arbeitslager, einmal, damit sie dort arbeiten könnten, und dann auch, damit sie die dringend benötigten Wohnräume in Münster freimachten. Richtig, richtig, lautet wiederholt die Zustimmung der Umstehenden, als sie davon hören, dass auf solche Weise auch der Wohnungsnot entgegengearbeitet werden soll. […] Zwei, die mit mir heimgehen, munkeln davon, dass wahrscheinlich die Juden in der nächsten Woche allesamt nach dem Osten abtransportiert würden. – Auch zu Hause unter der Petroleumlampe begegnet mir das Gerücht. Auch die Frauen scheinen in der Stadt für die Gerüchte vom Abtransport der Juden lebhaft interessiert zu sein. Nur wenige hätten geäußert, dass sie die Juden bedauerten, denn die Juden seien die Kriegsschürer.«145
Die SD-Außenstelle Minden berichtete Anfang November 1941: »Die inzwischen zur Tatsache gewordene Evakuierung der Juden aus dem hiesigen Bereich wird in einem großen Teil der Bevölkerung mit großer Besorgnis aufgenommen. Dabei sind es zwei Gesichtspunkte, die den Leuten am meisten am Herzen liegen. Einmal vermuten sie, dass dadurch den vielen Deutschen im noch neutralen Ausland, besonders in Amerika, wieder neues Leid zugefügt werden könnte. Man weist dabei wieder auf den 9. Nov. 1938, der uns auch im ganzen Auslande mehr geschadet hat, als er uns hier im Inland genutzt hat.
Der zweite Punkt ist der, dass es doch wohl sehr bedenklich sei, jetzt im Winter mit allen seinen Gefahren die Leute ausgerechnet nach dem Osten zu verfrachten. Es könnte doch damit gerechnet werden, dass sehr viele Juden den Transport nicht überständen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die jetzt evakuierten Juden doch durchweg Leute wären, die seit ewigen Jahren in hiesiger Gegend gewohnt hätten. Man ist der Ansicht, dass für viele Juden diese Entscheidung zu hart sei. Wenn auch diese Meinung nicht in verstärktem Maße festzustellen ist, so findet man sie aber doch in einem großen Teil gerade unter den gutsituierten Kreisen. Hierbei sind auch wieder die älteren Leute die überwiegende Anzahl.
Seitens der Volksgenossen, die die Judenfrage beherrschen, wird die ganze Aktion jedoch absolut bejaht. Man stellt dem gegenüber das deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich doch immer wieder gezeigt habe. Als der Führer gemerkt habe, dass den Deutschen in Russland eine Gefahr drohte, sei er sofort dazu übergegangen, diese alle ins Reich zurückzuholen. Der Jude hätte ja ein gleiches seit 1933 auch tun können, dann wäre diese Aktion heute nicht mehr erforderlich.«146
Der nächste Bericht der SD-Außenstelle Minden, sechs Tage später verfasst, zeigt, dass in der Bevölkerung detaillierte Informationen über die Deportationen kursierten: »Das Besitztum verfalle dem Staat. Es wird sich erzählt [sic!], dass die Juden alle nach Russland abgeschoben würden, der Transport würde durchgeführt bis Warschau in Personenwagen und von dort mit Viehwagen der Deutschen Reichsbahn. Der Führer wolle bis zum 15.1.1942 die Meldung haben, dass sich kein Jude innerhalb der Deutschen Reichsgrenze aufhalte. In Russland würden die Juden zur Arbeit in ehemals sowjetischen Fabriken herangezogen, während die älteren und kranken Juden erschossen werden sollten. Durch diese Redereien wird tatsächlich die Mitleidsdrüse verschiedener christlich Eingestellter stark in Tätigkeit gebracht. Es wäre nicht zu verstehen, dass man mit Menschen so brutal umgehen könne, ob Jude oder Arier, alle wären letztlich doch von Gott geschaffene Menschen. Man sieht verschiedentlich Juden mit Haushaltsgegenständen beladen durch die Straßen ziehen. Von irgendwelcher Gedrücktheit ist keine Spur zu erkennen.
Viel wird in der Bevölkerung davon gesprochen, dass alle Deutschen in Amerika zum Zwecke ihrer Erkenntlichkeit ein Hakenkreuz auf der linken Brustseite tragen müssen, nach dem Vorbild, wie hier in Deutschland die Juden gekennzeichnet sind. Die Deutschen in Amerika müssten dafür schwer büßen, dass die Juden in Deutschland so schlecht behandelt werden.«147
Die vorgesetzte Dienststelle des Mindener SD-Büros, die SD-Hauptaußenstelle Bielefeld, übernahm diesen detaillierten Bericht in ihre vierzehntägig erfolgende Zusammenstellung von Meldungen, schaltete ihm jedoch einen »freundlicheren« Bericht aus Bielefeld vor (wo die Juden aus dem gesamten Regierungsbezirk in einem Sammellager festgehalten wurden) und stellte – deutlicher, als dies die Mindener SD-Leute getan hatten – die Bedenken gegen die Deportationen als das Gerede konfessionell gebundener Bevölkerungskreise hin, das nicht besonders ernst zu nehmen sei:148
»Obwohl diese Aktion von Seiten der Staatspolizei geheim gehalten wurde, hatte sich die Tatsache der Verschickung von Juden doch in allen Bevölkerungskreisen herumgesprochen […] Es muss festgestellt werden, dass die Aktion vom weitaus größten Teil der Bevölkerung begrüßt wurde. Einzeläußerungen war zu entnehmen, dass man den Führer Dank wisse, dass er uns von der Pest des jüdischen Blutes befreie. Ein Arbeiter äußerte z.B.: ›Das hätte man vor 50 Jahren mit den Juden machen sollen, dann hätte man weder einen Weltkrieg noch den jetzigen Krieg durchstehen brauchen.« Erstaunen zeigte man vielfach in der Bevölkerung, dass man den Juden zum Transport nach dem Bahnhof die gut eingerichteten städtischen Verkehrsautobusse zur Verfügung stellte.«
»Lediglich aus konfessionellen Kreisen«, so fuhr der Bericht fort, »wurden, wie bei allen staatlichen Aktionen zur Gewohnheit geworden, ablehnende Stimmen laut. Ja, man ging sogar so weit, diese Aktion zu benutzen, wildeste Gerüchte zu verbreiten.« Nun folgten die Informationen der Mindener Dienststelle, wobei die Gerüchte über die negativen Auswirkungen der Judenverfolgung auf die Deutschen in Amerika wiederum gezielt »konfessionellen Kreisen« zugeschrieben wurden, was man dem Mindener Bericht nicht entnehmen konnte. Die Tendenz der regionalen Berichtsebene, das relativ brisante Informationsmaterial der lokalen Ebene zu entschärfen, ist unübersehbar.
Neben diesen offiziellen Berichten verfügen wir auch über andere Quellen, die deutlich machen, dass die Deportationen keineswegs geheim vor sich gingen – nicht in den Großstädten, wo die meisten Juden wohnten, nicht in den zahlreichen Kleinstädten und auch nicht auf dem Land, wo es meist ältere, alteingesessene jüdische Bürger traf.149
Verschiedene Augenzeugenberichte, die David Bankier zusammengetragen hat, bestätigen, dass die Deportationen tatsächlich »vor aller Augen« vor sich gingen.150 Hilde Miekley hat die Deportation von jüdischen Freunden aus Berlin im Sommer 1942151 geschildert, die in Marburg lebende Schriftstellerin Lisa de Boor hielt im Dezember 1941 in ihrem Tagebuch fest: »In ganz Deutschland werden jetzt Juden nach Polen abtransportiert. Wir wissen von furchtbaren Einzelschicksalen innerhalb dieses schauerlichen Karmas eines Volkes, dessen Los seit Jahrtausenden Verfolgung heißt. Die späteren Auswirkungen dieser Verfolgung sind gar nicht auszudenken.«152
Freiherr von Hoverbeck, der nach der Beendigung seiner Offizierskarriere im Jahre 1920 zum engagierten Pazifisten geworden war, notierte im Juli 1942 in einem Brief: »Ich habe aus verschiedenen zuverlässigen Quellen gehört, dass dieser Tage alle nicht mehr arbeitsfähigen alten Juden aus Hamburg und, soweit es noch nicht geschehen ist, aus ganz Deutschland nach Polen abtransportiert werden.« Die Transporte gingen in Viehwagen vor sich.153 Der ehemalige Deutschland-Korrespondent Howard K. Smith schilderte in seinem 1942 in den USA veröffentlichten Buch ebenfalls die ersten Deportationen aus Deutschland; die Menschen würden nach Polen und in die besetzten sowjetischen Gebiete verschleppt, um dort an Hunger und Entbehrung umzukommen.154
Ein anderes Beispiel, diesmal von einem Anhänger des Regimes, verdeutlicht, dass auch die späteren Deportationen keineswegs insgeheim abliefen: Der für das SS-Organ Das Schwarze Korps arbeitende Redakteur von Alvensleben wandte sich im März 1943 an den Leiter des Persönlichen Stabes beim Reichsführer SS, Rudolf Brandt, um ihm eine wichtige Beobachtung mitzuteilen, die er für »entwürdigend und beschämend zugleich« hielt. Die Sammelstelle für diejenigen Juden, die aus Berlin deportiert werden sollten, befinde sich in direkter Nachbarschaft zu den Gebäuden des parteieigenen Eher-Verlages, mitten im Berliner Zeitungsviertel. Beim Besteigen der Lastwagen, so von Alvensleben, würden die Juden auf brutalste Weise von Angehörigen der Gestapo und SS geschlagen; dies geschehe unter den Augen der Angestellten des Eher-Verlages, die diese Vorgänge von allen Fenstern und Türen der umliegenden Gebäude aus beobachteten.155
Ferner existieren aus zahlreichen Orten Fotos, die den Abtransport der Juden – am hellichten Tag im Beisein der Bevölkerung – dokumentieren. 156 Auch die zahlreichen, lebhaft besuchten Auktionen in vielen Städten und Gemeinden, in denen das Mobiliar und der persönliche Besitz der Deportierten versteigert wurde, zeigen, dass große Teile der Bevölkerung über das »Verschwinden« der Juden informiert waren.157 Frank Bajohr geht beispielsweise in seiner Studie über Hamburg von rund 100 000 Nutznießern jüdischen Eigentums in Hamburg und der unmittelbaren Umgebung aus.158
Hinzu kam das große Interesse an den verlassenen Wohnungen der Deportierten. Die NSDAP-Kreisleitung Göttingen etwa berichtete im Dezember 1941, die »Absicht, die Juden in nächster Zeit von Göttingen abzutransportieren«, sei »in der Bevölkerung bereits bekannt« geworden; als Folge werde die Kreisleitung wegen Anträgen auf Zuweisung der verlassenen Wohnungen regelrecht »überlaufen«.159 Das Motiv, materielle Vorteile aus den Deportationen ziehen zu können, müssen wir ebenfalls als einen Faktor in Rechnung stellen, der gegen die These von der »Indifferenz« der Bevölkerung angesichts der Deportationen spricht.
Die Deportationen waren so offensichtlich, dass auch ausländische Besucher keine große Mühe hatten, in den Besitz von Informationen über die Verschleppungen zu gelangen. Der britische Botschafter in Stockholm berichtete zum Beispiel im November 1941 über ein Gespräch mit dem gerade von einer Reise nach Deutschland zurückgekehrtem Jacob Wallenberg. Dieser habe den Eindruck gewonnen, dass viele Deutsche »angewidert seien über die Art und Weise, in der Juden von deutschen Städten in Ghettos in Polen deportiert werden würden«.160
Der ehemalige Sekretär der US-Handelskammer in Frankfurt, van d’Elden, der seit 1925 in Deutschland gelebt hatte, dort Ende 1941 interniert, aus Krankheitsgründen im Februar 1942 aber wieder entlassen worden war und sich bis zu seiner Abschiebung im Mai 1942 weitgehend ungehindert in Frankfurt bewegen konnte, berichtete nach seiner Rückkehr aus Deutschland, die Behörden hätten im Oktober 1941 ein »systematisches Programm der Deportation von Juden aus Frankfurt nach Lodz« begonnen.161
Die weiteren Ausführungen des Amerikaners offenbaren, in welchem Umfang er weitgehend zutreffende Einzelheiten über die Transporte in Erfahrung gebracht hatte.162 Insgesamt seien bisher fünf Deportationszüge in polnische Ghettos abgefahren. Nur ein Zug habe sein Bestimmungsziel – Lodz – erreicht; die Insassen dreier weiterer Züge seien gezwungen worden, die Züge auf freier Strecke, irgendwo in Polen, zu verlassen, und seien an Ort und Stelle erschossen worden. Diese Information sei von aus Polen zurückkehrenden deutschen Soldaten, die selbst an den Exekutionen teilgenommen hätten, bestätigt worden. Über den fünften Transport könne er, so van d’Elden weiter, wegen seiner Abreise aus Frankfurt nichts sagen.
Das Un-Thema Deportationen, das machen all diese Berichte deutlich, wurde also durchaus wahrgenommen und in der Bevölkerung diskutiert. Über die Reaktionen lässt sich kein einheitliches Bild gewinnen, doch haben wir genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Deportationen in der Bevölkerung kontrovers erörtert wurden. Gleichwohl zeigte das im Oktober verfügte absolute Kontaktverbot zu Juden, gekoppelt mit der erneuten antisemitischen Propagandakampagne, Wirkung. Waren ostentative Gesten der Hilfsbereitschaft gegenüber den gekennzeichneten Juden im September noch möglich gewesen, so war das Regime im Herbst 1941 dazu übergegangen, solche Gesten massiv zu unterdrücken. Und das öffentliche Verhalten der Menschen scheint sich tatsächlich geändert und entsprechend den Vorgaben des Regimes ausgerichtet zu haben.