»Jüdischer Bolschewismus«, Gelber Stern und
Deportationen: Anatomie einer Kampagne
Antisemitische Propaganda im Zeichen des Krieges gegen die Sowjetunion
Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion
griff das Goebbels-Ministerium das antisemitische Thema wieder auf.
Bereits am 22. Juni 1941 hieß es auf der Pressekonferenz:
»Schließlich ist eine absolute Klärung des Wesens von Plutokratie
und Bolschewismus nötig. Beide haben einen jüdischen Ausgangspunkt.
Die Methoden und Ziele sind die gleichen.«1
Am 5. Juli gab die Pressekonferenz – nachdem
Goebbels seine Mitarbeiter entsprechend eingestimmt
hatte2 – das »Startzeichen zu einer
ganz großen Aktion«: der »Schwerpunkt muss darauf liegen, das
verbrecherische, jüdische, bolschewistische Regime anzuprangern«.
Die Presse wurde aufgefordert, ausführlich über Massaker an
politischen Gefangenen und ukrainischen Aufständischen, die die
sowjetische Geheimpolizei NKWD (vormals GPU) vor dem Abzug der
Sowjets aus Lemberg verübt hatte, zu berichten: »Lemberg ist
gewissermaßen ein jüdisch-bolschewistischer Normalzustand, der den
Blutwahnsinn der jüdisch-sowjetischen Machthaber unter Beweis
stellt.«3
Vor allem die Parteipresse stellte in ihrer
Berichterstattung über die Ereignisse in der Ukraine die angebliche
Schuld »der Juden« an den Massakern groß heraus.4 Der Völkische Beobachter
scheute sich nicht, auch die Pogrome, die in zahlreichen
ukrainischen Orten unter den Augen der deutschen Besatzungsmacht
(und an vielen Orten auf ihre Veranlassung hin) stattfanden,
zumindest anzudeuten.5 Goebbels
kommentierte dies in der Ausgabe vom 7. Juli, es kündige sich »für
die jüdisch-terroristische Führungsschicht des Bolschewismus das
Ende mit Schrecken an«.6 In der
Deutschen Allgemeinen Zeitung finden sich
Hinweise auf Erschießungen durch ein deutsches Einsatzkommando
unmittelbar nach der Besetzung der Stadt Kischinew am 17. Juli
1941.7 Auch anderen Zeitungsberichten
(und den Wochenschauen, wie noch gezeigt wird) ließ sich entnehmen,
dass die ansässige jüdische Bevölkerung für die NKWD-Morde
verantwortlich gemacht und »bestraft« wurde.8
Die Deutsche Allgemeine
Zeitung berichtete über die Abschiebung von Tausenden von Juden
aus Ungarn in das neu besetzte sowjetische Gebiet: »Man rechnet
damit, dass in kurzer Zeit weitere Zehntausende in Lagern gesammelt
und dann entfernt werden.« Tatsächlich, davon war in der Zeitung
allerdings nichts zu lesen, wurden Ende August nahe der
ukrainischen Stadt Kamenez-Podolsk insgesamt 23 600 aus Ungarn als
»lästige Ausländer« abgeschobene Juden von einem Kommando des
Höheren SS- und Polizeiführers Russland Süd, Friedrich Jeckeln,
ermordet. 9
Auf der Propagandakonferenz vom 9. Juli gab
Goebbels die Parole aus, die Wendung »Die Juden sind schuld« zum
»Tenor der deutschen Presse« zu machen; seine detaillierten
Anweisungen bezogen sich ausdrücklich auf Weisungen, die er bei
seinem letzten Besuch im Führerhauptquartier von Hitler erhalten
hatte.10 Entsprechend wurden die
Journalisten auf der anschließenden Pressekonferenz
instruiert.11
Vor allem die Parteipresse holte daraufhin zum
großen Schlag aus. Bürgerliche Blätter beteiligten sich ebenfalls,
ließen aber meist nach wenigen Tagen wieder nach.12 Im Vordergrund der beispiellosen
antisemitischen Hasstiraden der NS-Blätter stand das Bemühen, den
Lesern nicht nur die angebliche Symbiose von Bolschewismus und
Juden einzuhämmern, sondern darüber hinaus den Beweis zu erbringen,
dass auch der westliche Kapitalismus und die Regierungen in London
und Washington Marionetten der vermeintlichen jüdischen
Weltverschwörung seien.13
Der Völkische Beobachter
erschien zwischen dem 10. und 24. Juli insgesamt fünf Mal mit
antisemitischen Schlagzeilen, die in die geforderte Richtung
wiesen.14 Der
Angriff brachte zwischen dem 17. und 22. Juli eine stark
antisemitisch ausgerichtete Artikelserie »Ich komme von den
Sowjets«; vor allem aber griff DAF-Chef Robert Ley persönlich zur
Feder, um im Juli drei und im August vier weitere wüste
antisemitische Leitartikel zu verfassen.15
Stets ging es darin um Variationen zum Thema:
»Dieser Krieg ist der Krieg Judas«. Die Deutschen, so Ley
unverhohlen, müssten »Juda« vernichten, um nicht von den Juden
ausgerottet zu werden – eine Rhetorik, die in ihrer Brutalität zu
diesem Zeitpunkt noch von keinem anderen nationalsozialistischen
Spitzenpolitiker erreicht worden war. »Dieser Krieg ist der Krieg
Judas […]. Es ist ein Ringen auf Leben und Tod, um Sein oder
Nichtsein. Einen Kompromiss, ein Zurück gibt es nicht mehr. Wir
haben den Rubikon überschritten. […] Der Gott der Juden ist der
Gott der Rache. Jehova verzeiht nie, er vergisst nie, er schließt
keinen Frieden, er vernichtet und rottet aus.« Am 27. Juli hieß es:
»Dieser Krieg ist unerbittlich, wenn es der Jude vermöchte, würde
er uns Deutsche mit Stumpf und Stil ausrotten.« Am 13. August war
zu lesen: »Deshalb müssen Juda und seine Welt, wie es jetzt im
bolschewistischen ›Sowjetparadies‹ geschieht, vernichtet werden,
damit dem Fortschritt und der Entwicklung, dem wahren Sozialismus,
der Weg in die Freiheit geöffnet wird.« Am 27. August formulierte
Ley: »Der Jude ist der Vater des Teufels.«
Diesmal waren auch die Wochenschauen integraler
Bestandteil der Kampagne. Die angeblich zentrale Rolle von Juden im
Zusammenhang mit den NKWD-Morden wurde ausführlich geschildert; die
Hinweise auf Pogrome und hasserfüllte Kommentare ließen keinen
Zweifel daran aufkommen, dass die vermeintlichen Täter für diese
Untaten mit ihrem Leben bezahlen mussten: »Das jüdische
Mordgesindel, das mit den GPU-Agenten Hand in Hand gearbeitet
hatte, wird von der empörten Menge den deutschen Truppen zur
Bestrafung ausgeliefert«, hieß es beispielsweise im Juli in der
Deutschen Wochenschau zu Aufnahmen aus
Lemberg. In der gleichen Ausgabe wurde gezeigt, wie Soldaten der
Luftwaffe in Jonova Juden abführten: »Jüdische Ghettotypen,
Abschaum der Menschheit«, tönte der Sprecher dazu.16
In ihrer nächsten Ausgabe berichtete die
Wochenschau nicht nur über »faulenzende Juden«, die zu
»Aufräumungsarbeiten herangezogen« würden, sondern auch über den
Pogrom in Riga: »Zorn und Empörung der Bevölkerung gegen die
feigen, meist jüdischen Mordbuben kennen keine Grenzen. Hier werden
die Schuldigen an dem namenlosen Unglück ungezählter Menschen von
den erbitterten Angehörigen gestellt und dem verdienten
Strafgericht ausgeliefert.«17
Eine Woche später kehrte die Wochenschau noch
einmal nach Lemberg zurück und zeigte Juden bei der Exhumierung von
Leichen: »Die roten Mordbestien, hauptsächlich Juden, kannten in
ihrer teuflischen Mordlust keine Grenzen. Inzwischen sind die
meisten dieser Untermenschen ihrer gerechten Bestrafung zugeführt
worden.«18 In der kommenden Woche
wurden Leichen in der Stadt Doropat vorgeführt, die angeblich »von
entmenschten jüdischen Henkersknechten auf das grauenvollste
gefoltert und gemartert« worden waren. »Die ganze gesittete Welt«
sei »dem Führer und seinen tapferen Soldaten zu ewigem Dank
verpflichtet, dass dieses bolschewistische Untermenschentum in
letzter Stunde unschädlich gemacht wird«.19
In der nächsten Woche berichtete die Wochenschau
über die Deportation von Juden aus der Stadt Balti:«Die jüdische
Bevölkerung Baltis wurde in Sammellager gebracht. Das sind jene
Ostjudentypen, die besonders nach dem Weltkriege die Großstädte
Mittel- und Westeuropas überschwemmten, wo sie als Parasiten ihre
Gastvölker zersetzen und tausendjährige Kulturen zu vernichten
drohten. Wo sie auch auftauchten, brachten sie Verbrechen,
Korruption und Chaos mit sich. Ihr Weg ist Raub und
Verwüstung.«20
In der gleichen Ausgabe wurden Aufnahmen von Juden
bei Aufräumungsarbeiten in der Nähe von Smolensk gezeigt (»Endlich
werden sie zur Arbeit gezwungen«). Im Oktober und November ging es
um sowjetische Kriegsgefangene, vor allem jüdische Gefangene: »eine
besondere Auslese«, von denen »jeder ungezählte Morde auf dem
Gewissen« habe.21
Diese Serie von Berichten sollte allerdings im
Herbst 1941 abbrechen. Man kann annehmen, dass dieses Ende der
plakativen antisemitischen Berichterstattung in den Kinos damit
zusammenhing, dass die »Judenpolitik« des Regimes in der deutschen
Bevölkerung zunehmend auf Widerwillen stieß, wie wir noch sehen
werden. Das Thema Judenverfolgung sollte die Wochenschau in den
kommenden Jahren – mit einigen Ausnahmen – meiden.
Aus dem Sommer 1941 ist auch einer der seltenen
Fälle überliefert, in denen im Unterhaltungsfilm Bezug auf die
antisemitische Politik genommen wurde. In einem als Vorfilm
eingesetzten Streifen aus der Serie »Der Trichter« wurde den
Zuschauern unter dem Titel »Volkshumor aus deutschen Gauen« ein
Sketch präsentiert, der in einem Buchladen spielte. Der
Ladenbesitzer erklärte hier einem sich als Verkäufer bewerbenden
jungen Mann seine Verkaufsstrategie »Gegensätze ziehen sich an« und
hatte folgende Beispiele parat: »Jungfrau von Orleans – Casanova«,
»Kalte Mamsell (Marlitt) und Leitfaden für die warme Küche« sowie
»Der Ewige Jude – Vom Winde verweht.«22
Der Unterhaltungsfilm sollte solche und ähnliche »Späße« in den
kommenden Jahren ebenfalls sorgsam vermeiden. Ende Juli schwächte
sich die intensive antisemitische Kampagne auch in der Parteipresse
ab; der Monat August war in dieser Hinsicht – mit der wichtigen
Ausnahme von Leys Artikeln – relativ ruhig.23
Entschluss zur Kennzeichnung der deutschen Juden und der Abbruch der »Euthanasie«
Mitte, Ende August verstärkten sich innerhalb des
Propagandaapparates indes die Vorbereitungen für eine neue
intensive antijüdische Propagandaaktion: Den Anlass hierfür bot die
bevorstehende Kennzeichnung der deutschen Juden.24
Die Vorgeschichte der Verordnung vom 1. September
1941, mit der deutsche Juden ab dem 19. September zum Tragen eines
Kennzeichens gezwungen wurden, ist eng mit der Entwicklung des
Krieges im Osten und der Rückwirkung des Krieges auf die Haltung
der deutschen Bevölkerung verknüpft – wobei es in unserem
Zusammenhang nicht auf die tatsächliche
Haltung der Bevölkerung ankommt, sondern darauf, wie das Regime
diese Haltung einschätzte. Die Entscheidung
zur Kennzeichnung steht ferner in einem nicht auf den ersten Blick
erkennbaren, subtilen Kontext zu dem gleichzeitig gefällten
Entschluss des Regimes, das Programm zur Ermordung von
Anstaltspatienten abzubrechen, und zwar nicht zuletzt im Hinblick
auf die negativen Rückwirkungen auf die »Stimmung« gerade in
konfessionell gebundenen Bevölkerungskreisen. Die außerordentlich
gute Quellenlage für diesen Zeitraum erlaubt uns zu rekonstruieren,
wie die Regimespitze die Verschränkung der verschiedenen Faktoren –
Volksstimmung, Kriegsentwicklung, »Judenfrage«, »Euthanasie«,
Kirchenpolitik – wahrnahm und wie man sich entschloss, die komplexe
Problemlage durch eine erneute Offensive gegen »die Juden« in den
Griff zu bekommen.
Die Entscheidung zur Kennzeichnung erfolgte
bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als der Krieg gegen die
Sowjetunion in eine erste Krise geraten war. Bereits seit Ende Juli
registrierten die Stimmungsberichte ein Nachlassen der in den
ersten Kriegswochen noch großen Siegeszuversicht.25 Daran waren nicht nur Befürchtungen, der
»Ostfeldzug« könne sich zu einem langwierigen Krieg in den Weiten
Russlands entwickeln, schuld, sondern auch Faktoren wie
Versorgungsmängel, die britischen Luftangriffe auf Westdeutschland
sowie die wachsende Beunruhigung vor allem kirchlich gebundener
Bevölkerungskreise wegen der willkürlich vorgenommenen
Beschlagnahme von Kirchenvermögen26 und
der Ausbreitung von Informationen und Gerüchten über die so
genannte Euthanasie. 27 Dramatisch
verstärkt wurde diese Beunruhigung insbesondere durch die Predigt
des Münsteraner Bischofs Clemens August von Galen, der am 3. August
– nachdem er in zwei Predigten im Juli gegen die Übergriffe auf
Kirchenbesitz protestiert hatte – offen gegen die Ermordung von
Anstaltsinsassen Stellung nahm. Die Nachricht über diesen Protest
verbreitete sich in den kommenden Tagen wie ein Lauffeuer im
gesamten Reichsgebiet.28
Die starke Unruhe unter der Bevölkerung, die durch
zahlreiche Quellen bestätigt wird, spiegelt sich auch in der
offiziellen Stimmungsberichterstattung. 29 Die Meldungen aus dem Reich, die nationale
Übersicht über die SD-Berichte, enthalten zum Thema »Euthanasie«
allerdings vor Januar 1942 überhaupt keine
Informationen.30 Dass die Geheimhaltung
der Morde an Patienten auf breiter Front durchbrochen worden war,
durfte offiziell nicht eingestanden werden; noch weniger
beabsichtigte der SD, durch Aufnahme entsprechender Berichte in die
weit verbreiteten Meldungen aus dem Reich von sich aus die
Diskussion über die »Euthanasie«-Morde anzuheizen.
Eine Reihe von lokalen und regionalen
Stimmungsberichten zeichnet jedoch ein anderes Bild. So berichtete
die NSDAP-Kreisleitung Münster, es werde in der Bevölkerung »davon
gesprochen, dass die Kranken der Heilund Pflegeanstalten, u.a. auch
der Provinzialheilanstalt in Lengerich, zu Gasversuchen gebraucht
werden sollen. […] Tatsache ist, dass zu der gleichen Zeit etwa 240
Kranke der Provinzialanstalt Lengerich abtransportiert worden sind,
und zwar wurde nicht bekannt, wohin sie gebracht
wurden.«31 Die Ortsgruppe Anholt
(Westfalen) gab die Meldung eines NS-Funktionärs wieder, »er habe
ein Gerücht gehört, dass sich der Staat der unheilbaren Irren
entledige, dass auch die Insassen der Altersheime so ganz
allmählich diesen Weg zu gehen hätten«.32 Die Partei meldete aus verschiedenen Orten aus
dem westfälischen Kreis Tecklenburg, es kursiere das Gerücht, die
laufenden Röntgen-Reihenuntersuchungen dienten der Selektion von
Kranken, die dann »beseitigt« werden sollten.33 Eine Reihe ähnlicher Berichte über die
Beunruhigung der Bevölkerung durch »Euthanasie«-Gerüchte im Raum
Münster, aber auch im gesamten westfälischen Raum sowie am
Niederrhein ist für den Zeitraum Juli bis September 1941
nachweisbar.34
Dem Regime gelang es zunächst, die negative
Stimmung in der Bevölkerung durch die Bekanntgabe weiterer
militärischer Erfolge am 6. und vor allem am 9. August zu
neutralisieren und erneut ein gefestigtes »Stimmungsbild«
herzustellen.35 Doch Propagandaminister
Goebbels zeigte sich, die jüngste Stimmungskrise vor Augen, zu
radikalen Maßnahmen entschlossen. Er hatte die noch in Deutschland
lebenden Juden als die eigentliche Ursache für den gerade
überwundenen Stimmungseinbruch identifiziert: Am 12. August
beschäftigte er sich in seinem Tagebuch mit der von ihm – aber
nicht nur von ihm – seit längerem verfolgten Idee,36 die »Juden mit einem Abzeichen [zu] versehen«,
da sie sich als »Miesmacher und Stimmungsverderber« betätigten.
Durch eine äußere Kennzeichnung, wie sie für Juden im besetzten
Polen schon seit November 1939 obligatorisch war, sollten sie
isoliert und sichtbar »aus dem deutschen Volk ausgeschieden
werden«.37 Drei Tage später fand im
Propagandaministerium eine interministerielle Konferenz statt, auf
der unter anderem die Kennzeichnung besprochen wurde.38
Zur gleichen Zeit war Goebbels bereit, in der
»Euthanasie«-Frage nachzugeben. »Mit einer solchen Debatte würde
man nur die Gemüter aufs neue erhitzen. Das ist in einer kritischen
Periode des Krieges außerordentlich unzweckmäßig«, notierte er am
15. August. Drei Tage später kam er während eines Besuches im
Führerhauptquartier mit Bormann überein, ein striktes Verbot aller
Erörterungen konfessioneller Streitfragen zu erlassen.39
Als Goebbels Hitler in seinem Hauptquartier traf,
wurde ihm sehr schnell klar, dass er es in den vergangenen Wochen
nicht nur mit einer momentanen Irritation der Volksstimmung,
verursacht durch ausbleibende Siegesmeldungen, zu tun gehabt hatte;
vielmehr offenbarte ihm Hitler in einem Gespräch unter vier Augen,
dass das »Dritte Reich« soeben eine ernsthafte militärische Krise
durchgestanden hatte.40
Im Zuge der allgemeinen Erörterung der Lage
erklärte sich Hitler, so notierte es Goebbels, mit der Einführung
eines »Judenabzeichens« einverstanden, das »von den Juden in der
Öffentlichkeit getragen werden muss, sodass also dann die Gefahr
beseitigt wird, dass die Juden sich als Meckerer und Miesmacher
betätigen können, ohne überhaupt bekannt zu werden. Auch werden wir
den Juden, soweit sie nicht arbeiten, in Zukunft kleinere
Lebensmittelrationen zuteilen als dem deutschen Volke. Das ist
nicht mehr als recht und billig. Wer nicht arbeitet, soll nicht
essen. Das fehlte noch, dass beispielsweise in Berlin von 76 000
Juden nur 26 000 arbeiten, die übrigen aber nicht von der Arbeit,
sondern von den Lebensmittelrationen der Berliner Bevölkerung
leben!«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs drängte Goebbels
auf die Abschiebung der Berliner Juden in die besetzten Ostgebiete.
Bereits im Sommer 1940 und im Frühjahr 1941 hatte er – vergeblich –
entsprechende Vorstöße initiiert. Diesmal schien er Erfolg zu
haben: »Im übrigen sagt der Führer mir zu, die Berliner Juden so
schnell wie möglich, sobald sich die erste Transportmöglichkeit
bietet, von Berlin in den Osten abzuschieben. Dort werden sie dann
unter einem härteren Klima in die Mache genommen. […] Der Führer
ist der Überzeugung, dass seine damalige Prophezeiung im Reichstag,
dass, wenn es dem Judentum gelänge, noch einmal einen Weltkrieg zu
provozieren, er mit der Vernichtung der Juden enden würde, sich
bestätigt. […] Im Osten müssen die Juden die Zeche bezahlen; in
Deutschland haben sie sie zum Teil schon bezahlt und werden sie in
Zukunft noch mehr bezahlen müssen.«41
In ihrer Diskussion der »Judenfrage« unterschieden
Goebbels und Hitler offensichtlich mittelfristige und kurzfristige
Ziele: Mittelfristig, also nach dem militärischen Sieg über die
Sowjetunion, sollten die deutschen Juden »in den Osten«
abgeschoben, dort in die »Mache genommen« werden, die »Zeche
bezahlen«, also ein ähnliches Schicksal erleiden wie die
osteuropäischen Juden; erinnert sei daran, dass im Monat August die
Einsatzgruppen und andere deutsche Mordkommandos damit begannen,
ihre Massenexekutionen auf die gesamte jüdische Zivilbevölkerung –
Männer, Frauen und Kinder – in den neu besetzten Gebieten
auszudehnen. Kurzfristig sollte die Kennzeichnung der deutschen
Juden jedoch dazu beitragen, die Juden als potenzielle
Unruhestifter auszuschalten, mehr Juden in den »Arbeitseinsatz« zu
zwingen beziehungsweise ihre Lebensmittelrationen zu
kürzen.42
Zwei Tage später, am 20. August 1941, gab Goebbels
in einer weiteren Tagebucheintragung seiner Hoffnung Ausdruck, es
»aufgrund dieser Kennzeichnung der Juden sehr schnell
fertigzubringen, ohne gesetzliche Unterlagen die nach Lage der
Dinge gegebenen Reformen durchzuführen«. Die Einführung des
Abzeichens diente also vor allem dazu, weitere Beschränkungen des
jüdischen Lebensbereiches durch ad-hoc-Maßnahmen, unter Umgehung
des schwerfälligen Regierungsapparates, durchzuführen. »Wenn es im
Augenblick auch noch nicht möglich ist, aus Berlin eine judenfreie
Stadt zu machen, so dürfen die Juden wenigstens öffentlich nicht
mehr in Erscheinung treten. […] Sie verderben nicht nur das
Straßenbild, sondern auch die Stimmung. Zwar wird das schon anders
werden, wenn sie ein Abzeichen tragen, aber ganz abstellen kann man
das erst dadurch, dass man sie beseitigt. […] Wenn auch bei den
Reichsbehörden noch starke bürokratische und zum Teil wohl auch
sentimentale Widerstände zu überwinden sind, so lasse ich mich
dadurch nicht verblüffen und nicht beirren. Ich habe den Kampf
gegen das Judentum in Berlin im Jahre 1926 aufgenommen und es wird
mein Ehrgeiz sein, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis der
letzte Jude Berlin verlassen hat.«
Aus Goebbels’ Sicht sollte die Kennzeichnung
letztlich die – in einigen Monaten anstehende – Deportation
entscheidend erleichtern; kurzfristig diente sie aber vor allem
dazu, die Juden aus der Öffentlichkeit herauszudrängen und »ohne
gesetzliche Unterlagen die nach Lage der Dinge gegebenen Reformen
durchzuführen«, also eine Atmosphäre zu schaffen, in der er die
angedeuteten Widerstände der Reichsbehörden überwinden konnte. Eben
dies geschah in den Monaten Juli bis September in Berlin: In diesem
Zeitraum wurden die Bestimmungen für die jüdische Zwangsarbeit in
der Stadt verschärft und der Zuzug von Juden vollkommen gestoppt.
43
Eine neue antisemitische Kampagne
Zur psychologischen Vorbereitung der Bevölkerung
auf die Kennzeichnung der Juden wurde nun erneut eine intensive
antisemitische Propagandakampagne vorbereitet. Im Protokoll der
Ministerkonferenz des Propagandaministeriums vom 21. August heißt
es dazu: »Der Minister wünscht, dass alles, was irgendwie gegen die
Juden spricht, in der deutschen Presse verwendet wird. Im Laufe der
nächsten Zeit seien verschiedene Aktionen gegen die Juden
vorgesehen – so u.a. das zwangsweise Tragen von großen gelben
Armbinden -, und bis dahin müssten psychologisch die
Voraussetzungen geschaffen sein, damit nicht einige sentimentale
Intellektuelle über die ›bejammernswerten Juden‹ zu klagen
begönnen. Meldungen, dass Israel in England für den Krieg
Churchills bete, sowie das Kaufmann-Buch, zu dem in allen
Kommentaren scharf herauszuarbeiten sei, dass es ein Jude war, der
es schrieb, würden das ihre dazu beitragen, eine unangebrachte
Sentimentalität dem Juden gegenüber gar nicht erst aufkommen zu
lassen.«44
Bei dem »Kaufmann-Buch« handelte es sich um eine
in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Broschüre, in der ein
gewisser Theodore N. Kaufman (ein Privatmann ohne jede Verbindungen
zu amerikanischen Regierungskreisen) unter anderem die
Sterilisation des deutschen Volkes gefordert hatte. Diese
Broschüre, die bereits im Juli von der deutschen Presse
angeprangert worden war,45 sollte in
den kommenden Wochen immer wieder ausgeschlachtet
werden.46
In einem ebenfalls am 21. August verfassten
Rundschreiben des Reichsrings für Nationalsozialistische Propaganda
wurden die Parteigenossen entsprechend instruiert: »Die Forderung
dieses jüdischen Ratgebers Roosevelts, das ganze deutsche Volk zu
sterilisieren, liegt praktisch auf derselben Ebene wie die
Tatsache, dass es Juden sind, die die Schuld an den Gräueltaten
haben, von denen wir aus dem Ostfeldzug immer wieder von neuem
hören. Dass sie sich in ihrem Vernichtungswillen nicht nur gegen
Deutschland, sondern gegen alles, was an europäischer Intelligenz
vorhanden ist, richten, ist daraus zu ersehen, dass die
Bolschewisten nicht allein zu Gräueltaten gegen deutsche Soldaten
aufstacheln, sondern auch die Intelligenz der von den Bolschewisten
beherrschten Bevölkerung ausrotten.« Es sei daher »durchaus
verständlich, dass nun aus dem deutschen Volke heraus immer wieder
an die maßgeblichen Reichsdienststellen Fragen gerichtet werden,
wie lange diesem Treiben der Juden noch zugesehen werden soll. Es
ist auch notwendig, dass gerade im jetzigen Augenblick der Teil der
Bevölkerung, der als kleiner Rest die Judenfrage immer noch nicht
verstanden hat, über diese Zusammenhänge aufgeklärt
wird.«47
Der Wochenspruch der Reichspropagandaleitung der
NSDAP vom 7. September 1941, ein Plakat, das in zahlreichen
Schaukästen der Partei ausgehängt wurde, enthielt als Zitat Hitlers
berüchtigte Prophezeiung vom 30. Januar 1939, wonach das Ergebnis
eines erneuten Weltkrieges »nicht die Bolschewisierung der Erde und
damit der Sieg des Judentums sein« werde, »sondern die Vernichtung
der jüdischen Rasse in Europa«.48
Im Laufe des Monats September publizierte das
Propagandaministerium in großer Auflage ein Anti-Kaufman-Pamphlet,
in dem Kaufmans Schrift in Zusammenhang mit der Atlantik-Charta vom
14. August 1941 gebracht und Kaufman als »einer der geistigen
Urheber des Zusammentreffens zwischen Roosevelt und Churchill«
bezeichnet wurde.49 Gleichzeitig mit
seiner antijüdischen Kampagne nahm der deutsche Propagandaapparat
seine Polemik gegen Roosevelt wieder auf, der ein Handlanger
jüdischer und freimaurerischer Kreise sei.50
Wie zuvor spielte auch in dieser Kampagne die
Presse eine zentrale Rolle.51 Die
sowjetische Entscheidung zur Deportation der Wolgadeutschen,
52 die unmittelbar vor dem
Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung bekannt wurde, lieferte
ihr dafür einen ausgezeichneten Ausgangspunkt, wie auf der
Pressekonferenz vom 9. September53
ausgeführt wurde: Die Deportation der Wolgadeutschen sei ein
Schachzug in »Stalins Mordplan«, die »völlige Ausrottung« dieser
Minderheit zu betreiben.54 Der
Völkische Beobachter demonstrierte in
seinem Kommentar vom 12. September, wie sich ein Zusammenhang
zwischen diesem Thema und der »jüdischen Weltverschwörung«
herstellen ließ: »Wieder einmal erweist sich an diesem Beispiel die
innige Wesensgemeinschaft von Plutokratie und Bolschewismus in dem
gemeinsamen Vernichtungswillen gegen das Deutschtum, das ja
Roosevelts Vertrauter, der Jude Kaufman, am liebsten mittels
Sterilisierung völlig vernichtet sehen möchte.«
Am 13. September informierte das Blatt seine Leser
über das Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung wenige Tage
später und brachte sie in seinem Kommentar direkt mit dem Krieg im
Osten in Verbindung: »Der deutsche Soldat hat im Ostfeldzug den
Juden in seiner ganzen Widerwärtigkeit und Grausamkeit
kennengelernt. […] Dieses Erlebnis lässt den deutschen Soldaten und
das deutsche Volk in seiner Gesamtheit fordern, dass dem Juden in
der Heimat die Möglichkeit genommen wird, sich zu tarnen und damit
jene Bestimmungen zu durchbrechen, die dem deutschen Volksgenossen
die Berührung mit dem Juden ersparen.«55 Auch die übrige Presse setzte ihre Leser, wie
vom Propagandaministerium angeordnet,56
ausführlich über die Einführung des Gelben Sterns in Kenntnis,
veröffentlichte teilweise Fotos von bereits gekennzeichneten Juden
und lieferte Begründungen für die neue Maßnahme.57
Schließlich ließ das Propagandaministerium ein
Flugblatt drucken, das mit den Lebensmittelkarten an sämtliche
deutschen Haushalte verteilt wurde. Auf der Vorderseite prangte ein
Judenstern mit folgender Mahnung: »Wenn du dieses Zeichen siehst
[…] Dann denke daran, was der Jude unserem Volke angetan hat.«
Unter erneutem Hinweis auf die Broschüre des als »Sprecher des
Weltjudentums« bezeichneten Kaufman schließt das Pamphlet mit der
Aufforderung: »Dass das Judentum niemals wieder auch nur den
geringsten Einfluss in unserem Volke erhält, dafür musst Du durch
Deine Haltung dem Juden gegenüber sorgen. Erkenne den wahren
Feind!« 58
Der Propagandaapparat gab sich also erhebliche
Mühe, die Kennzeichnungspflicht zum 19. September 1941 zu begründen
und vorzubereiten; nach dem Inkrafttreten der Verordnung herrschte
indes weitgehend Schweigen. Über die Auswirkung der Kennzeichnung
und die Aufnahme in der Bevölkerung ließ die Propaganda kaum etwas
verlauten. Insbesondere auf Fotos der Gekennzeichneten wurde
offenbar verzichtet. Warum, wird noch zu erörtern sein.
Die Kennzeichnung der deutschen Juden im September
1941, so viel lässt sich schon festhalten, diente auch dazu, die
nationalsozialistisch gelenkte Öffentlichkeit neu auszurichten: Mit
der Sichtbarmachung der in Deutschland lebenden Juden durch den
Gelben Stern wurde das Verhalten der deutschen Bevölkerung
gegenüber den gekennzeichneten Juden – die laut Propaganda wie die
angeblichen jüdischen Hintermänner kommunistischer Gräuel im Osten
und Kriegstreiber im Westen die Vernichtung des deutschen Volkes
anstrebten – zum Gradmesser für ihre Akzeptanz der antijüdischen
Propagandakampagne. Denn die endgültige Verdrängung der Juden aus
der »Öffentlichkeit«, die sich Goebbels von der Kennzeichnung
erhoffte, war ja nur dann möglich, wenn die übrige Bevölkerung den
Sternträgern abwehrend und feindselig begegnete. Selbst kleine
Gesten der Solidarität mit den gekennzeichneten Juden konnten nun
als Kritik an der Politik des Regimes interpretiert werden, »die
Juden« zum eigentlichen Hauptfeind im sich abzeichnenden Weltkrieg
zu erklären.
Zur gleichen Zeit machte das Regime in der
brennenden »Euthanasie«- und Kirchenfrage einen Rückzieher. Bereits
Ende Juli hatte Hitler die weitere Beschlagnahme kirchlicher
Vermögen untersagt.59 Am 22. August
besprach Goebbels mit dem westfälischen Gauleiter Alfred Meyer die
»Kirchenlage«.60 Er riet Meyer, sich
abwartend zu verhalten: »Die Kirchenfrage ist nach dem Kriege mit
einem Federstrich zu lösen. Während des Krieges lässt man besser
die Finger davon; da kann sie nur als heißes Eisen wirken. Im
allgemeinen stehe ich auf dem Standpunkt, dass es überhaupt nicht
zweckmäßig ist, mit einer Nadelstichpolitik zu arbeiten. Das Volk
ist jetzt mit schweren Sorgen beladen, dass man auch schon aus
Gerechtigkeitsgründen bestrebt sein muss, diese Sorgen nicht noch
künstlich zu vergrößern und zu vermehren. Ob es überhaupt richtig
gewesen ist, die Frage der Euthanasie in so großem Umfang, wie das
in den letzten Monaten geschehen ist, aufzurollen, mag
dahingestellt bleiben.« Bereits in diesem Gespräch ging Goebbels
davon aus, dass der Massenmord an Patienten zu Ende ging:
»Jedenfalls können wir froh sein, wenn die daran geknüpfte Aktion
zu Ende ist. Notwendig war sie.« Am 24. August wurde die
»Euthanasie«-Aktion dann offiziell auf Anordnung Hitlers
eingestellt, eine Entscheidung, die unter dem Eindruck der
anschwellenden Proteste zustande kam, aber auch sicher darauf
zurückzuführen ist, dass die »Euthanasie«-Planer zu diesem
Zeitpunkt ihre zu Kriegsbeginn anvisierten Ziele als erfüllt
betrachten konnten.61 Tatsächlich
sollten die Morde an Anstaltspatienten in dezentraler und
sorgfältiger getarnter Form weitergehen.
Noch während Goebbels Ende August die
Propagandakampagne zum Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung
im September vorbereitete, registrierte das Regime den Beginn einer
erneuten Stimmungskrise, die zwei bis drei Wochen anhalten sollte:
Demzufolge hatte die Bekanntgabe der militärischen Erfolge zu
Beginn des Monats die Skepsis in der Bevölkerung nicht wirklich
ausräumen können,62 denn es wurde immer
offenkundiger, dass der deutsche Vormarsch trotz aller
Siegesmeldungen in absehbarer Zeit nicht zu dem entscheidenden, den
Krieg beendenden Schlag gegen die Rote Armee führen
würde.63 Die Tatsache, dass dieser
wiederholte allgemeine Stimmungseinbruch genau in den Zeitraum
fiel, in dem die Kennzeichnungsverordnung mit großem
propagandistischem Aufwand in Kraft gesetzt wurde, wirkte sich
negativ auf die Reaktion der Bevölkerung auf diese erneute
Radikalisierung der Judenverfolgung aus.
Die Juden werden gekennzeichnet: Propaganda und Reaktionen der Bevölkerung
Goebbels war zunächst entschlossen, die Propaganda
zur Einführung des Gelben Sterns Ende September noch zu steigern,
um eine allgemeine Eskalation der antijüdischen Politik
voranzutreiben, zumal er bei einem Besuch im Führerhauptquartier am
23. September den Eindruck gewann, es werde bald mit der
Deportation der Berliner Juden begonnen.64
Die Reaktion auf die Kennzeichnung blieb jedoch
hinter den Erwartungen des Propagandaministers zurück, wie dem
Protokoll der Propagandakonferenz vom 25. September zu entnehmen
ist: »Es liegen Meldungen vor, dass bei einem Teil der Bevölkerung
– ganz besonders den so genannten besseren Schichten – die
Judenabzeichen Mitleidsäußerungen erregt haben. Dr. Goebbels hat
daher angeordnet, dass sofort eine großzügige Aufklärung auf diesem
Gebiet durchgeführt wird. Die gesamte Presse und der Rundfunk haben
sich mit dem Thema zu befassen. Hierbei soll aufgezeigt werden, was
wir Deutschen den Juden zu verdanken haben. Die Juden sollen als
die maßgeblichen Verbreiter der Hetz- und Revanchepolitik
herausgestellt werden, ihr Anteil an diesem Krieg mit dem Ziel der
Vernichtung Deutschlands an Hand von Unterlagen und Aussprüchen der
Juden bewiesen werden. In diesem Zusammenhang gab Dr. Goebbels
seiner Empörung über diese so genannten besseren Kreise, die in
jedem Fall seit 1933 immer wieder versagt haben, Ausdruck: ›Der
deutsche Bildungsspießer ist schon ein Dreckstück.‹« Goebbels habe
sich dabei, so der Berichterstatter der Reichspropagandaleitung,
auf die »so genannte Intelligenzpresse« bezogen.65
Am nächsten Tag ging der Sprecher des
Propagandaministeriums das Thema auf der Pressekonferenz an: Es
gebe eine »gewisse Mitleidswelle« mit den Juden, und zwar
hauptsächlich in den »Kreisen der Intelligenzbestien«. Es sei
notwendig, »mit aller Schärfe dieses Thema aufzugreifen und dem
deutschen Volke klarzumachen, was das Judentum ihm bereits angetan
habe und antun würde, wenn es die Macht dazu hätte«. Allerdings sei
mit Vorsicht vorzugehen: Man möge das Problem »nun nicht in der
gesamten Presse mit einem Schlage« aufgreifen, sondern es
»gelegentlich behandeln«.66
In der Parteipresse lässt sich eine Reihe von
Beiträgen finden, die verdeutlichen, wie sehr die
Nationalsozialisten durch die ablehnende Reaktion des Publikums auf
die Kennzeichnungsverordnung in die Defensive gerieten. So erschien
zum Beispiel im Stuttgarter NS-Kurier vom
3. Oktober 1941 ein Beitrag, in dem eine Szene aus einer
überfüllten Straßenbahn geschildert wird: Als eine Frau laut
forderte, ein mit dem Stern gekennzeichneter Passagier solle
gefälligst »Platz machen«, erhoben sich doch, so der Artikel
»mehrere Stimmen, die nichts weniger meinten als dies, dass ›der
Jude auch ein Mensch‹ sei«. Der Autor des Beitrags empfahl als »ein
probates Mittel gegen falsches Mitleid und falsche Menschlichkeit«
den von ihm selbst »lange geübte(n) Brauch, den Juden überhaupt
nicht zu sehen, durch ihn hindurchzublicken, als wäre er aus Glas
oder weniger als Glas, als wäre er Luft, selbst dann, wenn der
gelbe Stern mich auf ihn aufmerksam machen möchte«. Was hier dem
Publikum »empfohlen« wird, ist genau jene Haltung, die
zeitgenössische Beobachter in den folgenden Monaten in deutschen
Verkehrsmitteln als vorherrschende Haltung gegenüber jüdischen
Mitreisenden ausmachten. Fünf Tage später, am 8. Oktober, kam der
Lokalredakteur des Stuttgarter NS-Kuriers
noch einmal auf das Thema zurück. Unter der Überschrift »Es ist
doch schlimmer« teilte er seinen Lesern mit, eine »große Zahl von
Anrufen und Leser-Briefen hat mir indessen bewiesen, dass ich mich
im Irrtum befand, als ich annahm, falsches Mitleid und schlecht
angewandte ›Menschlichkeit‹ gegenüber besternten Juden seien
Einzelerscheinungen«. Zur Illustration zitierte er die Zuschrift
einer älteren Nationalsozialistin, die sich darüber beschwerte, es
würde nach wie vor alten Jüdinnen in der Straßenbahn der Platz frei
gemacht und man könne immer wieder beobachten, dass Juden durch
»arische« Bekannte auf der Straße ostentativ begrüßt würden und
dass man ihnen Mut zuspreche. Bei einer dieser Gelegenheiten, so
die Briefschreiberin, habe sie den Satz aufgeschnappt: »Es gehört
wahrlich mehr Mut dazu, diesen Stern zu tragen, als in den Krieg zu
ziehen.« Der Stuttgarter NS-Kurier zögerte
nicht, diese Äußerung als besonders verabscheuungswürdig
anzuprangern.67
Der Westdeutsche
Beobachter veröffentlichte am 26. Oktober 1941 den Bericht
einer seiner Mitarbeiter über ein Erlebnis in Berlin. Ein
Bekannter, der als loyaler Nationalsozialist und Antisemit
vorgestellt wird, habe ihm anvertraut, eigentlich habe ihm »die
Sache mit dem Judenstern« zunächst nicht behagt, er habe die
Einführung der Kennzeichnung als überflüssig angesehen. Um seinen
mittlerweile eingetretenen Sinneswandel zu erklären, habe der
Bekannte ihn dann zu einem gemeinsamen Spaziergang durch
Wilmersdorf eingeladen, wo sich schon beim ersten Augenschein
zeigte, dass er »im Getto« lebe, denn im Stadtviertel ergebe sich
auf Schritt und Tritt immer der gleiche Eindruck: »Die gelben
Fünfzacks beherrschten das Bild.« Der Bekannte, so versichert der
Autor, habe nun die Notwendigkeit der Kennzeichnung vollkommen
eingesehen.68
Die Artikel veranschaulichen die Schwierigkeiten
der Propaganda im Umgang mit dem Thema: Eine zu intensive
»Aufklärung« über die Folgen der Kennzeichnungspflicht musste
notwendigerweise dazu führen, dass Kritik aus der Bevölkerung zu
viel Platz eingeräumt und so ungewollt im Rahmen der kontrollierten
öffentlichen Meinung eine Plattform für Gegenstimmen geschaffen
wurde.
Dies galt es jedoch unter allen Umständen zu
verhindern. Das Propagandaministerium erklärte zwar am 28.
September auf der Pressekonferenz, der »Aufklärungsfeldzug gegen
das Judentum könne jetzt gestartet werden«, doch ein Blick in die
Presse zeigt, dass dieser »Feldzug« zumindest in diesem wichtigen
Medium zunächst ausblieb. Stattdessen geschahen höchst
ungewöhnliche Dinge: Die Gaupropagandaleitung Danzig-Westpreußen
schickte beispielsweise die Sendung mit dem Flugblatt »Wenn Du
dieses Zeichen siehst«, das anlässlich der Kennzeichnung der Juden
an alle Haushalte verteilt werden sollte, mit der Begründung nach
Berlin zurück, dass man »auf dem Standpunkt stünde, die Verbreitung
dieses Flugblatts würde nur Unruhe in die Bevölkerung
hineintragen«. Die Bevölkerung, so die weiteren Ausführungen, könne
zu dem Schluss kommen, dass sich im Gau noch »eine große Anzahl
Juden befinden«.69
Entgegen der Ankündigung spielte das Thema bis
Ende Oktober in den Presseanweisungen eine relativ untergeordnete
Rolle.70 Entsprechend ging auch die
Zahl der antisemitischen Beiträge in den meisten Zeitungen im Monat
Oktober gegenüber dem September deutlich zurück.71 Dafür war mit Sicherheit eine gewisse
Irritation der Propagandisten angesichts der negativen Aufnahme der
Kennzeichnung in der Bevölkerung verantwortlich. Verschärft wurde
diese Verunsicherung jedoch noch durch einen weiteren Faktor.
Auf dem Höhepunkt der Stimmungskrise Mitte
September hatte Hitler einen weiteren, folgenschweren Entschluss in
der »Judenpolitik« gefasst: die Entscheidung zur Deportation der
deutschen Juden, eine Maßnahme, die er noch im August auf die Zeit
nach dem Ende des Ostfeldzuges hatte verschieben wollen.72 Am 18. September instruierte Himmler den
Gauleiter im Warthegau, Arthur Greiser, Hitler wünsche, dass
»möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach
dem Osten von Juden geleert und befreit werden«; die ersten 60 000
Juden seien bereits während des kommenden Winters im Ghetto von
Lodz unterzubringen.
Die Motive für diese Entscheidung Hitlers sind
komplex und können hier nicht im Detail erörtert werden: Moskaus
Entschluss, die Wolgadeutschen nach Sibirien zu deportieren,
lieferte den Vorwand;73 das Motiv, die
deutschen Juden für den erwarteten Kriegseintritt der Vereinigten
Staaten als Geiseln zu nehmen,74 ist
ebenso nachweisbar wie die Überlegung, »Judenwohnungen« in den vom
Luftkrieg bedrohten Städten »freizumachen«, um so »die Juden«
ostentativ als Drahtzieher der Bombenkrieges
anzuprangern.75 Vor allem aber ging
Hitler mit seiner Entscheidung vom September 1941 daran, den
ursprünglichen, seit Anfang des Jahres verfolgten Plan zur
Deportation der Juden in die zu besetzenden Ostgebiete zu
realisieren. Der Termin für den Beginn der Deportationen – Mitte
Oktober – entsprach exakt dem Zeitpunkt, den Hitler im Juni 1941
für den deutschen Sieg im Ostfeldzug ins Auge gefasst
hatte.76 Offensichtlich verfolgte er
also die Absicht, angesichts des sich andeutenden Scheiterns des
»Blitzkrieges« gegen die Sowjetunion die künftige Führung des
Krieges, der länger und blutiger zu werden drohte als ursprünglich
angenommen, ganz unter das Motiv eines Kampfes gegen »die Juden« zu
stellen.
Es scheint, dass die Kennzeichnung, mit der
Goebbels das Ziel verfolgt hatte, die Juden sichtbar zu machen, um
sie ostentativ »aus der Öffentlichkeit« zu entfernen, durch die
mittlerweile ergangene Deportationsentscheidung Hitlers in
propagandistischer Hinsicht überholt worden war. Goebbels war zwar
immer davon ausgegangen, dass Berlin bald »judenfrei« werden würde,
aber dass zwischen der Kennzeichnung und dem Beginn der
Deportationen nur wenige Wochen liegen würden, damit hatte er
offensichtlich nicht gerechnet. Die Deportationen sollten aber –
wie wir sehen werden – gerade nicht öffentlich herausgestellt
werden, sondern die Juden sollten weitgehend unbemerkt
»verschwinden«; aus propagandistischer Sicht war es daher
kontraproduktiv, die Juden im September »sichtbar« zu machen, um
dann ab Oktober mit der Frage konfrontiert zu werden, wo die
Sternträger denn geblieben seien. Und die reservierte bis
ablehnende Aufnahme der Kennzeichnungsverordnung, die Goebbels bei
den Berlinern konstatierte, ließ es erst recht nicht ratsam
erscheinen, das antisemitische Thema propagandistisch weiter zu
strapazieren.
Die ganz überwiegend negative Reaktion77 auf die Kennzeichnungsverordnung zumindest in
Teilen der Bevölkerung wird durch eine Reihe von zeitgenössischen
Beobachtern bestätigt. Elisabeth Freund, selbst von der
Kennzeichnung betroffen, berichtet in Aufzeichnungen, die sie
wenige Monate später anfertigte, die Berliner Bevölkerung
missbillige in ihrer Mehrheit den Judenstern: »Die Judensterne sind
nicht populär. Das ist ein Misserfolg der Partei, und dazu kommen
die Misserfolge an der Ostfront.«78
Die bereits erwähnte Ruth Andreas-Friedrich, eine
Nichtjüdin, die in Berlin dem Widerstand angehörte, hielt mit Datum
vom 19. September 1941 in ihrem Tagebuch fest: »Es ist soweit. Die
Juden sind vogelfrei. Als Ausgestoßene gekennzeichnet durch einen
gelben Davidstern, den jeder von ihnen auf der linken Brustseite
tragen muss. Wir möchten laut um Hilfe schreien. Doch was fruchtet
unser Geschrei? ›Jude‹ steht in hebräischen Schriftzügen mitten auf
dem Davidstern, ›Jude‹ höhnen die Kinder, wenn sie einen so
Gezeichneten durch die Straßen wandern sehen. ›Schämt euch!‹
schnauzt Andrik zwei solche Lümmel an und haut ihnen ein paar
rechts und links hinter die Ohren. Die Umstehenden lächeln
zustimmend. Wie ertappte Sünder schleichen die Bengel beiseite. Das
Gros des Volkes freut sich nicht über die neue Verordnung. Fast
alle, die uns begegnen, schämen sich wie wir. Und selbst der Spott
der Kinder hat mit ernsthaftem Antisemitismus wenig zu tun. Sie
spotten, weil sie sich einen Spaß davon versprechen. Einen Spaß,
der nichts kostet, da er auf Kosten von Wehrlosen geht. Es liegt
kein großer Unterschied darin, ob man Fliegen die Beine ausreißt,
Schmetterlinge aufspießt oder Juden ein Schimpfwort
nachruft.«79
Die Berlinerin Ingeborg Tafel schrieb ihrem
Ehemann, einem Offizier, am 21. September 1941: »Seit dem 19.
September müssen Juden einen gelben Stern auf der linken Brustseite
tragen. Wie schrecklich, ›gekennzeichnet‹ zu sein – es kommt mir
vor wie ein Kainsmal.«80 Ulrich von
Hassell, der dem Widerstand angehörende, nicht mehr im aktiven
Dienst befindliche deutsche Diplomat, hielt den gleichen Eindruck
in seinem Tagebuch fest, nannte aber auch ein
Gegenbeispiel.81
Eine jüdische Lehrerin, der es Ende 1941 noch
gelang, Deutschland zu verlassen, berichtet in Notizen, die sie
kurz nach dem Grenzübertritt anfertigte, die Bevölkerung habe
durchaus unterschiedlich auf den Stern reagiert. Besonders von
Kindern seien antisemitische Bemerkungen zu hören gewesen, während
Erwachsene sich häufiger negativ über die Kennzeichnung geäußert
hätten.82
Else Behrend-Rosenfeld, eine in München lebende
Jüdin, machte zwei Tage nach Einführung der Kennzeichnung folgende
Beobachtung: »Die meisten Leute tun, als sähen sie den Stern nicht,
vereinzelt gibt jemand in der Straßenbahn seiner Genugtuung darüber
Ausdruck, dass man nun das ›Judenpack‹ erkennt. Aber wir erlebten
und erleben auch viele Äußerungen der Abscheu über diese Maßnahme
und viele Sympathiekundgebungen für die Betroffenen.«
Behrend-Rosenfeld schildert weitere Solidaritätsgesten und fährt
dann fort: »Mir scheint, dass jedenfalls in München die jetzigen
Machthaber mit dieser Verfügung nicht erreichen werden, was sie
bezwecken: die vollkommene Verfemung der Juden durch die Menge des
Volkes.« Am 26. Oktober heißt es: »Die Bevölkerung tut, als sähe
sie die Sterne nicht. Viele Freundlichkeiten in der Öffentlichkeit
und noch viel mehr im geheimen werden uns erwiesen. Äußerungen der
Verachtung und des Hasses uns gegenüber sind selten.«83
Wie Behrend-Rosenfelds Aufzeichnungen zeigen,
wurde das ostentative Übersehen des Sterns von einer Betroffenen
keineswegs als Ausdruck der Indifferenz gegenüber den Verfolgten
gewertet, sondern als demonstrative Ablehnung der Kennzeichnung.
Vergegenwärtigt man sich die zitierte »Empfehlung« des Stuttgarter
NS-Kuriers vom 3. Oktober, durch die
gekennzeichneten Juden »wie Luft« hindurchzusehen, um damit seine
Verachtung zum Ausdruck zu bringen, so wird deutlich, wie
nuancenreich und interpretationsfähig zur Schau getragene
Indifferenz sein kann.
Jochen Klepper, der mit einer Jüdin verheiratete
und an seiner Berufsausübung verhinderte Journalist, dessen aus der
ersten Ehe der Frau stammende Tochter den Stern tragen musste,
bestätigt diese negative Haltung der Bevölkerung gegenüber der
Kennzeichnung.84
Auch Victor Klemperer vermerkte in seinem Tagebuch
in diesen Wochen überwiegend Einträge, die die negative Einstellung
der Bevölkerung zur Sternpflicht dokumentieren. »Fraglos empfindet
das Volk die Judenverfolgung als Sünde«, notierte er am 4.
Oktober.85 Generell ist jedoch bei
solchen Stellungnahmen zu berücksichtigen, dass Sternträger
bevorzugte Adressaten regimekritischer Äußerungen waren, da man von
ihnen keine Denunziation erwartete. Am 25. September 1941 hielt
Klemperer die Äußerung eines Straßenbahnfahrers ihm gegenüber fest:
»Ganz gut, Ihr Zeichen, da weiß man, wen man vor sich hat, da kann
man sich mal aussprechen.«
Howard K. Smith, der bis Ende 1941 als
amerikanischer Korrespondent in Deutschland arbeiten konnte, kam in
einem nach seiner Rückkehr in die USA veröffentlichten Buch zu der
Schlussfolgerung, die Kampagne zur Einführung des Gelben Sterns sei
»ein monumentaler Misserfolg« gewesen; die Bevölkerung habe
durchgängig durch kleine Gesten ihre Sympathien mit den
Sternträgern und ihre Missbilligung der Kennzeichnung zum Ausdruck
gebracht. Die Empörung sei auch von überzeugten Parteianhängern
geteilt worden. Goebbels habe mit seinen Propagandamaßnahmen den
Rassegedanken »für alle Zeiten ruiniert«.86 Ähnlich wie Behrend-Rosenfeld beobachtete
Smith, dass die Menschen den Sternträgern meist mit gesenktem Kopf
begegneten. Smith erklärte diese Verhaltensweise teils mit
Schamgefühlen, teils mit dem Motiv, den Juden das Gefühl des
Angestarrtwerdens ersparen zu wollen.
Der schwedische Zeitungskorrespondent Arvid
Fredborg schilderte ähnliche Eindrücke: »Die Bevölkerung von Berlin
reagierte auf den Davidstern in einer Art und Weise, die den
Propagandamachern einigen Stoff zum Nachdenken gegeben haben muss.
Immer wieder gab es kleine Sympathiekundgebungen für die Juden, und
die stoische Ruhe, mit der sie ihr Schicksal ertrugen, verfehlte
nicht ihre Wirkung, sogar auf die fanatischsten Nazis.«87
Der für die militärische Abwehr arbeitende
Regimegegner Helmuth James von Moltke schließlich schrieb am 18.
November an seine Frau zur »Lage im Innern«: »Durch Judenverfolgung
und Kirchensturm ist eine rasende Unruhe hervorgerufen
worden.«88
Diese Zeugnisse verleihen der Episode einige
Glaubwürdigkeit, die Speer in den Spandauer
Tagebüchern schildert. Goebbels habe sich anlässlich eines
Mittagessens bei Hitler über die Berliner beklagt: »Die Einführung
des Judensterns hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was
erreicht werden sollte, mein Führer! Wir wollten die Juden aus der
Volksgemeinschaft ausschließen. Aber die einfachen Menschen meiden
sie nicht, im Gegenteil, sie zeigen überall Sympathie für sie.
Dieses Volk ist einfach noch nicht reif und steckt voller
Gefühlsduseleien!«89
Eine vom britischen Foreign Office angelegte
Sammlung von Berichten mit Nachrichten aus Deutschland90 bestätigt den Befund: In einer Zusammenfassung
des Central Department im Foreign Office vom November 1941 heißt
es, »Juden scheinen eine freundlichere Behandlung seitens der
Deutschen zu erfahren«.91 Auch die
britische Post- und Telegraphenzensur, die abgefangene Briefe aus
Deutschland und Briefe mit Informationen über Deutschland aus
neutralen Ländern auswertete, kam im März 1942 zu der
Schlussfolgerung, dass »das Tragen des Judensterns exakt das
Gegenteil von dem zur Folge hatte, was man erwartet hatte, nämlich
eine wesentlich freundlichere und hilfsbereitere Verhaltensweise
der anderen«.92
Daneben finden sich in den Akten des Foreign
Office Berichte verschiedener britischer Auslandsmissionen, die
Beobachtungen von Personen weitergaben, die sich aus
unterschiedlichen Gründen in Deutschland aufgehalten hatten. Auch
diese Augenzeugenberichte deuten auf Ablehnung der
Kennzeichnungspflicht hin; die Menschen seien den Sternträgern mit
Scham und Gesten des Mitgefühls begegnet. Diese übereinstimmenden
Einschätzungen stammten von ganz unterschiedlichen Personen: einem
amerikanischen Zeitungskorrespondenten,93 einem Informanten, der sich drei Wochen in
Deutschland aufgehalten hatte und von dort nach Schweden ausgereist
war,94 einem Österreicher, der
anlässlich eines Schweiz-Besuches mit dem dortigen britischen
Militärattaché zusammengekommen war,95
sowie einer Schwedin, die soeben von einem Besuch in München
zurückgekehrt war.96
Ein jüdischer Mechaniker aus Hamburg, der Ende
1941 noch in die USA emigrieren konnte, wusste zu berichten, dass
die Arbeiter in seiner Firma durchgehend oppositionell zum Regime
eingestellt seien und auf die Einführung des Gelben Sterns mit
deutlichen Kundgebungen der Solidarität reagiert hätten.97 Kate Cohn, eine Berliner Jüdin, die im Februar
1942 in die Schweiz geflohen war und im Herbst nach Großbritannien
gelangte, berichtete, die Sternträger seien zum Teil voller Mitleid
angestarrt worden, andere Passanten hätten Mitgefühl und Sympathie
gezeigt. Insgesamt hätte die Kennzeichnung keineswegs Begeisterung
ausgelöst.98
Der schwedische Botschafter in Deutschland
erklärte seinem britischen Kollegen in Stockholm in einem Gespräch,
die Berliner Bevölkerung sei vollkommen damit beschäftigt, das
Alltagsleben zu bewältigen; für sie sei die »Judenfrage« genauso
uninteressant wie die anderen Themen, denen sich die Propaganda
ständig widme – ob es sich nun um Deutschlands Größe, die
Freimaurerei, die kommunistische Gefahr oder was auch immer
handele.99
Andere Augenzeugenberichte in den Akten des Public
Record Office vermitteln einen Eindruck von der Abwehrreaktion, mit
der Deutsche reagierten, wenn sie auf die Kennzeichnung der Juden
angesprochen wurden. Ein finnischer Geschäftsmann, der sich zu
einem kurzen Besuch in Deutschland aufgehalten hatte, erzählte,
seine deutschen Gesprächspartner hätten auf Fragen zum Gelben Stern
stets mit dem Hinweis reagiert, es sei allgemein bekannt, dass die
Deutschen in den USA mit einem großen D auf ihrer Kleidung
gekennzeichnet würden.100 Das Gleiche
wusste der ehemalige Sekretär der US-Handelskammer in Frankfurt am
Main, van d’Elden, zu berichten, der sich, abgesehen von einer
mehrwöchigen Internierung Anfang 1942, bis zu seiner Ausweisung im
Mai 1942 relativ frei in Frankfurt bewegen durfte. Seine deutschen
Gesprächspartner, so van d’Elden, seien durchgängig der Meinung,
die Deutschen in den USA würden mit einem Hakenkreuz
gekennzeichnet. Die meisten Deutschen stünden also unter dem
Eindruck, ihre Landsleute würden in ähnlicher Weise verfolgt wie
die Juden in Deutschland.101
Die ablehnende oder doch zumindest zurückhaltende
Reaktion der Bevölkerung auf die Einführung der
Kennzeichnungspflicht ist sogar der Berichterstattung des SD zu
entnehmen, auch wenn hier als dominierende Antwort Zustimmung
dokumentiert wird. So heißt es in den Meldungen aus dem Reich in
einem zusammenfassenden Bericht: »Die Verordnung über die
Kennzeichnung der Juden wurde vom überwiegenden Teil der
Bevölkerung begrüßt und mit Genugtuung aufgenommen, zumal eine
solche Kennzeichnung von vielen schon lange erwartet worden war.
Nur in geringem Umfange, vor allem in katholischen und in
bürgerlichen Kreisen, wurden einzelne Stimmen des Mitleids laut.
Vereinzelt wurde auch von ›mittelalterlichen Methoden‹ gesprochen.
Vorwiegend in diesen Kreisen wird befürchtet, dass das feindliche
Ausland die dort lebenden Deutschen mit einem Hakenkreuz
kennzeichnen und gegenüber diesen zu weiteren Repressalien greifen
werden. Überall ist das erste Auftreten von gekennzeichneten Juden
stark beachtet worden. Mit Erstaunen wurde festgestellt, wie viele
Juden es eigentlich noch in Deutschland gibt.«102
Verschiedene regionale und lokale
Stimmungsberichte meldeten hingegen eindeutig und uneingeschränkt
positive Reaktionen auf die Einführung des Abzeichens.103 Soweit in den Berichten Kritik geübt wurde,
bezog sie sich vor allem auf die angeblich zu weitgehenden
Ausnahmeregelungen der Kennzeichnungsverordnung, insbesondere für
in »Mischehen« lebende Juden.104 Die
zum Teil sehr detaillierten, auf die bestehende Rechtslage Bezug
nehmenden Vorschläge für eine Verschärfung der Verordnung (etwa in
den Meldungen aus dem Reich vom 2. Februar 1942)105 machen allerdings deutlich, dass es sich hier
weniger um Volkes Stimme handelt, als vielmehr um
Parteifunktionäre, die sich hinter der angeblich populären Empörung
verbargen.
Bezeichnend für dieses Vorgehen ist etwa, dass die
NSDAP-Kreisleitung Augsburg-Stadt in ihrem Lagebericht für
September selbst die Forderung nach Ausdehnung der Kennzeichnung
erhob, ohne sich auf die »Stimmung« zu beziehen – während die
Kollegen von der Kreisleitung Augsburg-Land das gleiche Anliegen
verfolgten, sich aber auf das mangelnde Verständnis der Bevölkerung
beriefen.106
Bemerkenswert ist auch die Formulierung im Bericht
der SD-Außenstelle Höxter, die »Kenntlichmachung der Juden mit dem
Davidstern ist von der Bevölkerung des hiesigen Bereiches allgemein
begrüßt worden«; zwar seien »Diskussionen größeren Umfangs« darüber
nicht geführt worden, trotzdem sei »die allgemeine Zustimmung zu
dieser Maßnahme sofort zum Ausdruck« gekommen. Treffender kann man
die »Meinungsbildung« in einer kontrollierten »Öffentlichkeit« wohl
kaum beschreiben.107
Allerdings enthalten die lokalen Stimmungsberichte
auch direkte Hinweise auf Kritik aus der Bevölkerung. So meldete
etwa die SD-Außenstelle Paderborn, die Kennzeichnung werde »nur in
Kreisen konfessionell fest gebundener älterer Menschen«
kritisiert.108
Die Meldungen aus dem Reich vom 24. November 1941
gehen speziell auf die Reaktionen kirchlicher Kreise auf die
Kennzeichnung ein, und zwar insbesondere auf Bemühungen, die nun in
den Gottesdiensten sichtbar gewordenen »getauften Juden« vor
Anfeindungen zu schützen, denn nach dem Inkrafttreten der
Verordnung »wurden an den darauffolgenden Sonntagen verschiedene
Kirchenbesucher bei ihren Ortsgeistlichen vorstellig. Sie
verlangten, dass die Juden nicht mehr die gemeinsamen Gottesdienste
besuchen dürften und dass man von ihnen nicht verlangen könne, dass
sie neben einem Juden die Kommunion empfangen sollen.«
Besondere Aufmerksamkeit verwandte der Bericht auf
ein Flugblatt, das von der Breslauer Stadtvikarin verfasst und in
verschiedenen Teilen des Reichsgebietes verbreitet wurde. In dem
Flugblatt wurde daran erinnert, es sei »Christenpflicht, sie [die
Juden] nicht etwa wegen der Kennzeichnung vom Gottesdienst
auszuschließen«. Es folgte eine Reihe praktischer Vorschläge, wie
die gekennzeichneten Gemeindemitglieder durch die Gemeinden
geschützt werden könnten.
Die Meldungen aus dem Reich zitierten ferner
ausführlich aus zwei Rundschreiben, die vom Vorsitzenden der
Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, und vom Wiener
Kardinal Innitzer stammten. Beide wandten sich gegen die Absicht,
die nun gekennzeichneten Juden zu einer »Judenchristengemeinde« mit
eigenem Gottesdienst zusammenzufassen oder sie sonstwie von der
übrigen Gemeinde abzusondern.109
Offensichtlich war jedoch die Missstimmung über
die Einführung der Kennzeichnung – insbesondere in Berlin –
wesentlich stärker, als es die Berichte glauben machen wollten; die
geradezu wütenden Maßnahmen Goebbels’ gegen diejenigen, die der
Kennzeichnungsverordnung kritisch gegenüberstanden und
Solidaritätsbekundungen gegenüber Juden zeigten, wären sonst nicht
verständlich.
Am 6. Oktober empfahl Goebbels auf der
Propagandakonferenz, mit der Gestapo zu vereinbaren, »ohne etwas
darüber zu veröffentlichen, in Zukunft alle Leute ohne Judenstern,
gleichgültig ob in Breslau oder auf dem Kurfürstendamm in Berlin,
die in Begleitung von Leuten mit Judenstern angetroffen werden,
dingfest zu machen und dann – sofern es sich nicht um Ausländer
handelt – entweder ins KZ oder eine Zeitlang in eine
Munitionsfabrik zu stecken«. Als Vorbild diente ihm eine
entsprechende Anweisung, die Reinhard Heydrich für das Protektorat
Böhmen und Mähren getroffen hatte.110
Tatsächlich wurde eine solche Regelung wenige Tage später in Form
einer Polizeiverordnung erlassen: Wer »in der Öffentlichkeit
freundschaftliche Beziehungen zu Juden« erkennen lasse, sei in
»Schutzhaft« zu nehmen und bis zu drei Monaten in
Konzentrationslager einzusperren.111
Die Verordnung wurde jedoch nicht im Wortlaut veröffentlicht,
sondern im November inhaltlich in einem Goebbels-Artikel (auf den
noch eingegangen wird) wiedergegeben und entsprechend im Rundfunk
propagiert. Erst mit diesem Mittel, unerwünschte Kontakte mit Juden
zu unterbinden, an der Hand, sollte Goebbels die nächste
antisemitische Kampagne in Gang setzen, um die vom Regime
erwünschte Distanz zu Juden einzufordern.
Der Beginn der Deportationen
Die Stimmung der deutschen Bevölkerung begann sich,
so nahm es das Regime wahr, in der zweiten Septemberhälfte unter
dem Eindruck neuer Sondermeldungen von der Ostfront wieder
aufzuhellen112 – allerdings in einem
Ausmaß, das den Propagandaminister schon wieder beunruhigte, ging
seiner Ansicht doch zumindest zum Teil »die Stimmung des Volks weit
über die realen Möglichkeiten hinaus«.113
Die optimistische Stimmung in der Bevölkerung, die
der Berichterstattung des Regimes zufolge bis Ende des Monats
Oktober anhielt,114 reflektierte vor
allem die Einschätzung in Hitlers Hauptquartier. Dort herrschte auf
Grund der militärischen Erfolge (insbesondere in den Schlachten im
Raum Kiew sowie bei Brjansk und Wjasma) geradezu Euphorie, ein
Umstand, der sich in den offiziellen Verlautbarungen zur
militärischen Entwicklung deutlich niederschlug. Am 23. September
gab Hitler gegenüber Goebbels seiner Hoffnung Ausdruck, »die Kämpfe
im Osten bis zum 15. Oktober im wesentlichen abgeschlossen haben zu
können«. 115 Bei ihrem Treffen am 3.
Oktober fand Goebbels den Diktator immer noch in äußerst
optimistischer Stimmung vor, davon überzeugt, die »sowjetische
Wehrmacht in vierzehn Tagen im wesentlichen zertrümmert« zu
haben.116 Goebbels, der sich in der
ersten Oktoberhälfte nachhaltig um eine Dämpfung dieses seiner
Ansicht nach übertriebenen Optimismus bemühte, drohte gegen Mitte
des Monats sogar in einen gewissen Gegensatz zu dieser vom
Führerhauptquartier ausgehenden positiven Grundstimmung zu
geraten.117
In dieser Situation begann am 15. Oktober die vier
Wochen zuvor durch Hitler angeordnete Deportation der Berliner
Juden. Das Protokoll der Propagandakonferenz vom 23. Oktober
enthält folgende Anweisung des Ministers zur Behandlung der
Massenverschleppung: »Zum Abtransport der ersten 20 000 Juden führt
der Minister aus, dass über diese Frage so viele Lügen verbreitet
würden, dass es zweckmäßig erscheine, über dieses Thema überhaupt
nichts zu sagen. Um zu verhindern, dass ausländische Agenturen
nähere Einzelheiten erfahren, sind weder Telefonate noch Kabel
herauszulassen. Es wird lediglich dazu gesagt, dass es sich um eine
kriegswirtschaftliche Maßnahme handelt, über die nicht berichtet
wird. Herr Hinkel empfiehlt, hinzuzufügen, dass die Juden nicht in
ein Lager überführt werden. Der Minister hält diesen Vorschlag für
gut; auf die vielen Anfragen ist zu antworten: Die Juden kommen in
kein Lager, weder in ein Konzentrationslager noch in ein Gefängnis.
Sie werden individuell behandelt. Wohin sie kommen, kann aus
kriegswirtschaftlichen Gründen nicht gesagt werden. Jedenfalls ist
Vorsorge getroffen, dass die, die zum größten Teil bisher nicht an
der Arbeit teilgenommen haben, jetzt in den Arbeitsprozess
eingeschaltet werden.« In der Inlandspropaganda solle zur Frage der
Deportationen hingegen ȟberhaupt nicht Stellung genommen
werden«.118
Einen Tag später notierte Goebbels in seinem
Tagebuch: »Allmählich fangen wir nun auch mit der Ausweisung von
Juden aus Berlin nach dem Osten an. Einige tausend sind schon in
Marsch gesetzt worden. Sie kommen vorerst nach Litzmannstadt. Darob
große Aufregung in den betroffenen Kreisen. Die Juden wenden sich
in anonymen Briefen hilfesuchend an die Auslandspresse, und es
sickern auch in der Tat einige Nachrichten davon ins Ausland durch.
Ich verbiete weitere Informationen darüber für die
Auslandskorrespondenten. Trotzdem wird es nicht zu verhindern sein,
dass dieses Thema in den nächsten Tagen weitergesponnen wird. Daran
ist nichts zu ändern. Wenn es auch im Augenblick etwas unangenehm
ist, diese Frage vor einer breiteren Weltöffentlichkeit erörtert zu
sehen, so muss man diesen Nachteil schon in Kauf nehmen. Hauptsache
ist, dass die Reichshauptstadt judenrein gemacht wird; und ich
werde nicht eher ruhen und rasten, bis dieses Ziel vollkommen
erreicht ist.«
In der Propagandakonferenz vom 25. Oktober räumte
Goebbels seinen Mitarbeitern gegenüber ein, es sei »auch mit
begütigenden Nachrichten nicht zu verhindern, dass die Juden, die
inzwischen gewittert haben, dass sie aus Berlin herausgeholt werden
sollen, nun an die Auslandskorrespondenten, die amerikanische
Botschaft usw. schreiben. – So ist es auch unzweckmäßig, generell
anzuordnen, dass Juden in den Verkehrsmitteln Platz zu machen
haben; Aufgabe der Partei ist es, hier dem einzelnen das richtige
Taktgefühl und psychologische Einfühlungsvermögen anzuerziehen.
Darüber hinaus sind in den U-Bahnen und sonstigen Verkehrsmitteln
Schilder anzubringen, in denen […] ausgeführt wird: ›Die Juden sind
unser Unglück. Sie haben diesen Krieg gewollt, um Deutschland zu
vernichten. Deutsche Volksgenossen, vergesst das nie!‹ Damit ist
für eventuelle Zwischenfälle eine Basis geschaffen, auf die
erforderlichenfalls hingewiesen werden kann.«
Am 26. Oktober ordnete Goebbels an, die
antijüdische Propaganda wieder zu intensivieren.119 Des weiteren heißt es im Protokoll der
Propagandakonferenz, es befänden sich »im Reichsgebiet und
Generalgouvernement insgesamt 1 250 000 Juden ohne diejenigen, die
in den Ghettos zusammengepfercht sind. Im Reichsgebiet selbst leben
noch 323 000 Juden, davon entfallen auf die Reichshauptstadt 67
000. Inzwischen wurden Vorbereitungen getroffen, um noch in diesem
Jahre 17 500 Juden aus Berlin abzutransportieren. Der Minister
bezeichnet es als unhaltbar, dass damit noch rund ein Fünftel aller
in Deutschland lebenden Juden auf die Reichshauptstadt entfallen.
Es ist unbedingt zu erwirken, dass der Satz der aus Berlin
abzutransportierenden Juden erhöht wird, so dass ab 1. Januar 1942
nicht mehr als etwa 25 000 Juden in der Reichshauptstadt sein
werden. Erforderlichenfalls sind die Waggons zum Abtransport der
Juden mit der doppelten Anzahl als bisher vorgesehen zu belegen.
Der Minister beauftragt [Staatssekretär; P. L.] Gutterer, an
zuständiger Stelle zu erwirken, dass als erste deutsche Stadt die
Reichshauptstadt, schon aus politischen, psychologischen und
Repräsentationsgründen, judenfrei zu machen ist. Diese
Angelegenheit ist schnellstens zu bereinigen und darf sich
keinesfalls über längere Zeit erstrecken. Weiterhin ist dafür zu
sorgen, dass das Verbot, das den Juden die Benutzung öffentlicher
Fernsprecher untersagt, strikt durchgeführt wird. Das gleiche gilt
für das Verbot, das den Juden untersagt, Ausländer als Untermieter
zu haben bezw. bei Ausländern in Untermiete zu wohnen.« Auf einen
Einwurf, die Juden würden für Arbeiten in der Rüstungsindustrie
reklamiert, äußerte Goebbels, man solle »diese Juden
erforderlicherweise durch russische Kriegsgefangene ersetzen«
lassen.
In seinem Tagebuch gab Goebbels am 28. Oktober
1941, anders als auf der Propagandakonferenz, deutlich zu erkennen,
dass der Stimmungsberichterstattung zufolge die Deportationen auf
relativ starke Bedenken in der Bevölkerung stießen: »Unsere
intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten haben plötzlich
wieder ihr Humanitätsgefühl für die armen Juden entdeckt. Der
deutsche Michel ist ihnen nicht auszutreiben. Die Juden brauchen
nur eine Greisin mit einem Judenstern über den Kurfürstendamm zu
schicken, so ist der deutsche Michel schon geneigt, alles zu
vergessen, was die Juden uns in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten angetan haben. Allerdings wir nicht! Wir denken in
diesen Dingen konsequenter und verzeichnen in unserem Charakter
wenigstens nicht den deutschen Nationalfehler der Vergesslichkeit.
Es gibt auch noch eine Reihe von anderen Anlässen, die es uns
gestatten, die Judenfrage in stärkerem Umfang wieder in Presse und
Rundfunk zu behandeln. Die vorläufig in bescheidenem Umfang
durchgeführten Judenevakuierungen aus Berlin sind immer noch ein
Hauptthema der gegnerischen Propaganda. Man hat den Plan gefasst,
noch im Laufe dieses Jahres an die 15 000 Juden aus Berlin
auszuweisen. Es bleiben dann immerhin noch 50 000. Das ist falsch.
Ich dringe darauf, dass, wenn die Juden evakuiert werden, dieser
Prozess in möglichst kurzer Frist beendet sein muss. Man soll nicht
aus jeder Stadt einen Teil der Juden evakuieren, weil dann das
Problem ja dauernd brennend bleibt, sondern man soll eine Stadt
nach der anderen evakuieren. Am ehesten kommt natürlich Berlin
dran, denn die Reichshauptstadt muss nach Lage der Dinge judenfrei
sein. In der Reichshauptstadt auch wirken sich Maßnahmen wie die
Evakuierung immer propagandistisch übler aus als in anderen
Städten, weil wir hier ja die ganze Diplomatie und die
Auslandspresse sitzen haben. Es muss also erstrebt werden, noch im
Laufe dieses Jahres die letzten Juden aus Berlin herauszubringen,
damit endlich das Problem für die Reichshauptstadt als gelöst
gelten kann. Ob mir das gelingt, weiß ich noch nicht; denn die
Juden finden immer noch mächtige Beschützer in den obersten
Reichsbehörden, und wenn sie auch gegen den Erlass der Maßnahmen
nicht viel unternehmen können, so sind sie doch in der Lage, gegen
die Durchführung in weitem Umfang zu sabotieren. Es ist merkwürdig,
welch eine Instinktlosigkeit der Judenfrage gegenüber immer noch in
unseren gesellschaftlichen und intellektuellen Kreisen zu finden
ist. Es ist das gewissermaßen ein Erlahmen des nationalen
Widerstandswillens, der zweifellos mit der intellektuellen
Erziehung unserer akademischen und Gesellschaftskreise
zusammenhängt. Jedenfalls werde ich mich dadurch nicht von meinem
Wege abbringen oder beirren lassen, sondern konsequent bis zum Ziel
weiterschreiten.«
Der Propagandist Goebbels stand im Oktober 1941
vor einem fast unlösbaren Dilemma: Auf der einen Seite sollten die
Deportationen in der deutschen Propaganda nicht stattfinden; auf
der anderen Seite wurde das Thema außerhalb Deutschlands so stark
aufgegriffen, dass man reagieren musste – zumal die Verschleppungen
auch in der deutschen Bevölkerung weithin bekannt und offenbar
unpopulär waren.
Goebbels’ Lösung bestand darin, Ende Oktober zwar
eine antisemitische Propagandakampagne in Gang zu setzen, die
Deportationen aber auszusparen.120
Stattdessen richtete sich die Propagandakampagne wieder einmal
gegen den angeblich dominierenden Einfluss der Juden in der
Sowjetunion, in den USA und in Großbritannien, um auf diese Weise
die Existenz einer »jüdischen Weltverschwörung«
nachzuweisen.121
Den Auftakt zur Kampagne bildete jedoch ein
anderes Ereignis: In einem großen Teil der Presse wurde ein Brief
groß herausgestellt und kommentiert, den der rumänische Staatschef
Ion Antonescu an den führenden Vertreter der jüdischen Minderheit
im Lande, Wilhelm Filderman, geschrieben hatte. In diesem Schreiben
wies Antonescu Fildermans Beschwerden über die Deportationen von
bessarabischen Juden nach Transnistrien massiv zurück.
Die Vertrauliche Information des
Propagandaministeriums vom 26. Oktober 1941 erteilte der Presse
folgende Anweisung: »Die Antwort Marschall Antonescus auf das
Schreiben des Präsidenten der jüdischen Gemeinschaften in Rumänien
Fildermann [sic!] ist für die deutsche Presse der Anlass, sich
einmal ausführlicher und in massiven Formulierungen mit der
Kriegsschuld des Judentums auseinanderzusetzen. […] Die jüdischen
Kriegsbrandstifter und Kriegsverbrecher sollen heute nicht winseln,
wenn die Völker, die durch sie in diesen Krieg hineingetrieben
wurden, diesen jüdischen Verbrechern die gebührende Antwort
erteilen. Wie im Falle des Weltkrieges haben Juden, Judenstämmlinge
auch diesen Krieg angezettelt und weiter geschürt. In diesem
Zusammenhang kann auch noch einmal die Rolle des Judenstämmlings
Roosevelt eingehend beleuchtet werden.« 122
In Erinnerung an Hitlers »Prophezeiung« vom Januar
1939, im Falle eines Weltkrieges drohe die »Vernichtung der
jüdischen Rasse in Europa«, hieß es weiter: »So, wie es der Führer
damals vorausgesagt hat, ist es auch gekommen, die Juden büßen
heute für das, was sie durch ihr eigenes Verbrechen als Blutschuld
auf sich geladen haben. Die Juden sind die einzigen
Verantwortlichen, die diesen Krieg auf dem Gewissen haben. Dieses
Thema ist auf der ersten Seite zweispaltig zu bringen.«
Am folgenden Tag legte die Vertrauliche
Information nach: »Unter anderem kann auch die Tatsache, dass die
Juden in Deutschland jetzt den Judenstern tragen müssen, noch
einmal gestreift werden. Es muss dabei eindeutig festgestellt
werden, dass die Juden trotz der mehrfachen Warnungen des Führers
Deutschland und damit Europa noch einmal in einen Konflikt zu
stürzen, nunmehr die Konsequenzen tragen müssen, die ihre
verbrecherische Tätigkeit nach sich ziehen musste.« 123
Der Völkische Beobachter
erschien am 27. Oktober 1941 entsprechend mit folgenden
Schlagzeilen: »Sie gruben sich selbst ihr Grab! Jüdische
Kriegshetzer besiegelten Judas Schicksal – Ihr Verbrechen findet
verdiente Sühne – Antonescu weist freche Beschwerden der
rumänischen Juden schneidend ab.« Wie von der Vertraulichen
Information vorgezeichnet, brachte der Artikel das Hitler-Zitat aus
der Rede vom 30. Januar 1939 in voller Länge und fügte an: »Was der
Führer damals seherischen Geistes verkündete, erfüllt sich heute.
Der von Juda geschürte Rachekrieg gegen Deutschland rächt sich nun
an den Juden selbst. Die Juden müssen den Weg gehen, den sie sich
selbst bereitet haben.«
Und weiter: »Das Judentum erbaut sich an dem
Wunschbild der physischen Vernichtung des deutschen Volkes, das
diesen Schmarotzern entschlossen den Stuhl vor die Tür gesetzt hat.
Kaltblütig will es ungezählte Millionen von Männern aller Länder
opfern, um diesen Rachekrieg durchzuführen, will es das Wohl und
Wehe großer und kleiner Staaten gewissenlos aufs Spiel setzen, um
dieses Ziel zu erreichen, will es andere Nationen den
bolschewistischen Schlächtern ausliefern, um mit ihrer
Unterstützung auch dort herrschen zu können. Es hat sich diesmal
vollkommen verrechnet. Ein großes Volk ist dieser Herausforderung
begegnet, andere schließen sich ihm an. Noch zwischen den
Schlachten dieses Krieges trifft Juda in Europa die
herausgeforderte Vergeltung für ein Verbrechen, das beispiellos
dasteht, werden die Werkzeuge zerbrochen, die es in der Hoffnung
auf einen Sieg einsetzte.«
Auch die Kommentierung des Antonescu-Briefes in
einigen der großen, nicht von der Partei herausgegebenen Zeitungen
ist aufschlussreich. Sie verdeutlicht, dass der deutsche
Zeitungsleser unmittelbar nach dem Beginn der Deportationen kaum zu
übersehende Hinweise auf das Schicksal der Juden erhielt.
In den Münchner Neuesten
Nachrichten vom 28. Oktober 1941 konnte man beispielsweise
lesen: »Das Antwortschreiben des Marschalls stellt eine
grundsätzlich bedeutsame Auseinandersetzung mit dem gesamten, nicht
nur mit dem rumänischen Judentum dar, dem der Appell an Mitleid und
Humanität schlecht ansteht. […] Die Absicht des Judentums, durch
Entfesselung eines zweiten Weltkrieges das nationalsozialistische
Deutschland auf die Knie zu zwingen und zu vernichten, liegt sei
Jahr und Tag klar vor Augen. Die Kenntnis dieser Vorbereitungen
hatte dem Führer zum Anlass gedient, in seiner Reichstagsrede vom
31. Januar 1939 eine Warnung an das Weltjudentum zu richten, die
nicht überhört werden konnte. Sie gipfelte in folgendem Satz: ›Ich
will heute wieder ein Prophet sein. Wenn es dem internationalen
Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die
Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, so wird das
Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des
Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in
Europa.‹ Die, denen diese Worte galten, haben geglaubt, sie in den
Wind schlagen zu können. Um so mehr treffen sie die Folgen dieses
Krieges, an dessen Schürung sie die Hauptverantwortung
tragen.«
In der gleichen Ausgabe befindet sich ein
weiterer, mit »Kriegsberichter Kränzlein« gezeichneter Kommentar,
der konkret auf die antijüdischen Maßnahmen in den besetzten
Ostgebieten einging: »Gegen dieses Judentum, das mit der
politischen meist auch eine kriminelle Verbrechertätigkeit
entwickelt, gehen die deutschen Besatzungsbehörden mit eiserner
Hand vor. In allen Städten werden den Juden eigene Wohnviertel
zugewiesen. Aus den Dörfern werden sie nach und nach evakuiert.
Überall werden sie zu produktiver Arbeit herangezogen. Zweifellos
findet damit das Problem in diesen vom Judentum verseuchten
Gebieten noch keine endgültige Erledigung. Es bleibt einer
gründlichen und umfassenden Regelung vorbehalten. Aber schon ist
Luft geworden in diesem Raum, und die Bevölkerung, von dem
jahrelangen Druck und der quälenden Aufpasserei und Angeberei des
Judentums befreit, erkennt den Ernst dieser Frage sowie die
Zusammenhänge zwischen Sowjets und Juden. Ja, das Wachsen dieser
Erkenntnis drängt die Schlussfolgerung auf, dass die Wiederkehr der
natürlichen Ordnung und der Neuaufbau unlöslich mit dem Grad der
Schnelligkeit zusammenhängen, mit dem das Judenproblem liquidiert
[sic!] wird.«124
Auch die Deutsche Allgemeine
Zeitung brachte in ihrer Abendausgabe vom 27. Oktober 1941 den
Brief und kommentierte ihn ausführlich. Der Kommentator zitierte
ebenfalls wörtlich Hitlers »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939 und
fuhr dann fort: »Der Brief des Marschalls Antonescu ist ein
besonders klar formuliertes, aber keineswegs das einzige Zeichen
dafür, dass der deutsche Nationalsozialismus nicht allein auf dem
Boden der Anschauungen steht, die der Führer damals in seiner Rede
zum Ausdruck gebracht hat. Seit dem Ausbruch des Krieges ist mit
steigender Klarheit in Erscheinung getreten, wer ihn gewollt hat,
und der Feldzug im Osten hat besonders drastische Beweise dafür
geliefert, die mit den anderen verbündeten Truppen auch die
rumänischen Soldaten unmittelbar erfahren mussten. Ihr Marschall
hat jetzt ausgesprochen, was sich ihnen allen als bittere
Erkenntnis aufgedrängt hat.«125
Der Stuttgarter NS-Kurier
berichtete darüber hinaus über die Deportation von Juden in einem
anderen verbündeten Land – in der Slowakei. Dort würde, so die
Zeitung, die »Aussiedlung der Juden aus den größeren Städten […] in
14 Judenzentren eingeleitet«. Dabei handele »es sich, wie amtlich
versichert wird, um vorübergehende Einrichtungen, da nach dem
Kriege eine endgültige Aussiedlung der Juden ins Auge gefasst
ist«.126 Allerdings war diese Meldung
über die Konzentration der slowakischen Juden bereits zwei Monate
alt;127 sie wurde ganz offensichtlich
gezielt »aufgewärmt«. In der übrigen Presse erschienen Ende Oktober
Meldungen über Verschärfungen der antjüdischen Gesetzgebung in der
Slowakei. 128
Diejenigen Deutschen, die mehr über die
Deportationen erfahren wollten, konnten demnach in der deutschen
Presse durchaus fündig werden: Zwar waren die Informationen als
Nachrichten über die rumänischen (oder auch slowakischen)
Deportationen verfremdet, aber die Kommentare ließen am endgültigen
Zweck der Verschleppungen keinen großen Zweifel. Der Rückgriff auf
Hitlers Prophezeiung vom Januar 1939, in der dieser die
»Vernichtung« der Juden angekündigt hatte, die Schlagzeile des
Völkischen Beobachters über die Juden, die
sich selbst ihr Grab gruben, oder drastische Hinweise wie der aus
den Münchner Neuesten Nachrichten, dass die
»Judenfrage« in der Sowjetunion trotz der dort bereits erprobten
»eisernen Hand« der Besatzungsbehörden immer noch einer endgültigen
Lösung harre – all dies waren recht deutliche Anzeichen dafür, dass
die »Lösung« der »Judenfrage« zugleich das gewaltsame physische
Ende der Juden bedeuten würde.
Noch während die Kampagne anlief, kam es Ende
Oktober erneut zu einem Stimmungseinbruch (so nahmen es jedenfalls
die Stimmungsbeobachter des Regimes wahr); allmählich setzte sich
die Erkenntnis durch, dass der Krieg im Osten trotz aller großen
militärischen Erfolge vor Jahresende 1941 nicht mehr gewonnen
werden konnte.129 Hitler selbst musste
in seiner Rede vor den Reichs- und Gauleitern am 9. November
eingestehen, dass größere Angriffsoperationen auf das kommende
Frühjahr verschoben werden mussten. 130
Am Tag zuvor hatte Hitler aus Anlass der Feiern zum 9. November vor
der »alten Garde« der Partei eine Rede gehalten, in der er die
Juden als »Weltbrandstifter« und das Judentum als »Inspirator der
Weltkoalition gegen das deutsche Volk und gegen das Deutsche Reich«
bezeichnet hatte.
Ein Kommentar, der wenige Tage später, am 12.
November 1941, unter dem Titel »Der jüdische Feind« im Völkischen Beobachter erschien, griff diese Passage
auf und forderte zum bedingungslosen Kampf gegen »Bolschewismus und
Rooseveltivismus« auf: »Der Krieg gegen die jüdische Internationale
ist ein Ringen auf Leben und Tod, das rücksichtslos zu Ende geführt werden muss und zu
Ende geführt werden wird.« 131
Ende 1941 häuften sich solche Äußerungen, die das
Publikum auf eine finale Auseinandersetzung mit »dem jüdischen
Feind« vorbereiteten. Auf Goebbels’ Beitrag zu diesem Thema werden
wir gleich eingehen; ähnliche Töne lassen sich aber auch
anderweitig nachweisen. So berichtete etwa die Parteizeitung
Frankfurter Volksblatt am 31. Oktober 1941
über eine Kundgebung in Eltville, auf der der hessische Gauleiter
Jakob Sprenger gesagt hatte, das »Judentum aber, das als letzte
Reserve Amerika in den Krieg führen will, und im Präsidenten
Roosevelt, wie die Lügen und Verleumdungen seiner letzten Rede
wieder deutlich beweisen, ein willfähriges Werkzeug gefunden hat,
werde seiner Vernichtung nicht entgehen«.
Die antisemitische Propagandakampagne des Herbstes
1941 stützte sich neben der Presse vor allem auf die typischen
Propagandamittel der Partei. Die von der Reichspropagandaleitung
der NSDAP herausgegebene Wandzeitung Parole der
Woche war in den Monaten Juli bis Dezember 1941 deutlich
antisemitisch gefärbt; in etwa zwei Dritteln der Ausgaben in diesem
Zeitraum finden sich antisemitische Aussagen. 1940 und in der
ersten Jahreshälfte 1941 hatte das Thema demgegenüber nur eine
untergeordnete Rolle gespielt. 1942 sollte knapp die Hälfte der
Parolen der Woche antisemitisch
ausgerichtet sein.132
Im Kino war das Thema dagegen kaum präsent. Die
Deutsche Wochenschau hatte, wie erwähnt, in
den ersten Wochen des Krieges gegen die Sowjetunion ein Mal
Aufnahmen von der Verhaftung sowjetischer Juden und mehrfach
Szenen, die Juden bei Aufräumungsarbeiten zeigten, vorgeführt.
133 Die Präsenz des Themas
Judenverfolgung in den Rundfunkprogrammen lässt sich aus Mangel an
Material leider nicht mehr ermitteln.
Seit Anfang November stellte Goebbels sich darauf
ein, in der Propaganda einen neuen Kurs einzuleiten, der der
tatsächlichen militärischen Lage Rechnung trug und die sich
anbahnende Depression in der Bevölkerung abfangen
sollte.134 Zu diesem Zweck ließ
Goebbels am 9. und am 16. November in der Wochenzeitschrift
Das Reich für die Stimmungsführung in
Deutschland zentrale Leitkolumnen veröffentlichen, die
verdeutlichen, wie das NS-Regime versuchte, die Frage der
Kriegsentscheidung mit der »Judenfrage« zu verknüpfen.
Der erste Artikel, »Wann oder Wie«, den Goebbels
vorab Hitler zur Genehmigung vorlegte,135 behandelte die heikle Frage des immer wieder
als unmittelbar bevorstehend angekündigten, aber nun in weite Ferne
gerückten Sieges im Osten. Goebbels unternahm hier den Versuch,
seinen Lesern klar zu machen, dass es sich bei dem gegenwärtigen
Krieg um einen Existenzkampf handele: Ginge der Krieg verloren, sei
auch »unser nationales Leben überhaupt und insgesamt« verloren.
Angesichts der ernsten Lage sei jede weitere Erörterung der
Kriegsdauer unproduktiv und schädlich. Alle Anstrengungen hätten
sich auf den Sieg zu konzentrieren: »Fragen wir nicht, wann er
kommt, sorgen wir vielmehr dafür, dass er kommt.«
Bereits am 3. November machte sich Goebbels an die
Abfassung des zweiten großen Leitkommentars.136 Bevor dieser erschien, trat erneut ein
Ereignis ein, das geeignet war, das von Goebbels so bekämpfte
Mitgefühl Berliner bürgerlicher und intellektueller Kreise mit den
Juden der Reichshauptstadt zu wecken: Das Schauspieler-Ehepaar
Gottschalk, das in einer so genannten Mischehe lebte, brachte sich
um – ein aufsehenerregender Freitod, der Goebbels ausweislich
seiner Tagebucheinträge zwischen dem 7. und dem 11. November stark
beschäftigte.137 In dem schließlich am
16. November 1941 im Reich veröffentlichten
Artikel erinnerte Goebbels unter der Überschrift »Die Juden sind
schuld!« an Hitlers Prophezeiung vom 30. Januar 1939: »Wir erleben
eben den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich damit am
Judentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist.
Mitleid oder Bedauern ist da gänzlich unangebracht.« Mit seiner
Formulierung, das »Weltjudentum« erleide »nun einen allmählichen
Vernichtungsprozess«, stellte Goebbels klar, welches Schicksal die
seit einigen Wochen aus deutschen Großstädten deportierten Juden
letztlich erwartete.
Der Artikel endete mit einem Dekalog von
Verhaltensvorschriften für den Umgang mit den noch in Deutschland
lebenden Juden; de facto ging es dabei um die öffentliche
Bekanntgabe der – im Wortlaut nicht veröffentlichten –
Polizeiverordnung, die Ende Oktober auf Initiative Goebbels’
erlassen worden war und den Kontakt mit Juden mit KZ-Haft bis zu
drei Monaten bedrohte. »Jeder Jude ist ein geschworener Feind des
deutschen Volkes […] Wenn einer den Judenstern trägt, so ist er
damit als Volksfeind gekennzeichnet. Wer mit ihm noch privaten
Umgang pflegt, gehört zu ihm und muss gleich wie ein Jude gewertet
und behandelt werden«, hieß es drohend, bevor Goebbels noch einmal
auf sein Grundthema zurückkam: »Die Juden sind schuld am Kriege.
Sie erleiden durch die Behandlung, die wir ihnen angedeihen lassen,
kein Unrecht. Sie haben sie mehr als verdient.«
Goebbels sorgte für weitestmögliche Verbreitung
dieses Textes: Er wurde, wie alle seine Reich-Artikel im Rundfunk verlesen, durch Teile der
Presse nachgedruckt, und die entscheidenden Passagen wiederholte er
wörtlich in einer Rede, die er am 1. Dezember vor der Deutschen
Akademie hielt und als Broschüre verteilen ließ.138 Die Botschaft wurde in der Bevölkerung
offensichtlich verstanden: Die Meldungen aus dem Reich berichteten,
der Artikel habe »starken Widerhall« gefunden, insbesondere die
zehn Punkte am Schluss seien als »klar und aufrüttelnd« aufgefasst
worden; aus kirchlich gebundenen Kreisen lägen »Gegenstimmen«
vor.139
Zeitgleich machte offenbar die Partei auf breiter
Front140 das Ende Oktober durch die
Gestapo verfügte und bereits exekutierte Kontaktverbot zu Juden
allgemein bekannt. Als Victor Klemperer im November in der
Straßenbahn von einer nichtjüdischen Bekannten angesprochen wurde,
notierte er in seinem Tagebuch: »Eine tapfere Tat, zumal vor
wenigen Tagen der Rundfunk, auf einen Goebbelsartikel gestützt,
ausdrücklich vor jedem Verkehr mit Juden gewarnt haben
soll.«141
Das Regime, so der Tenor der Kampagne, war nicht
länger bereit, öffentlich bekundetes Missfallen gegenüber der
Judenverfolgung oder Gesten der Solidarität mit den Verfolgten zu
dulden: Das Verhalten der Bevölkerung gegenüber Juden hatte sich
strikt im Rahmen derVerhaltensvorschriften zu bewegen, die für die
kontrollierte Öffentlichkeit des »Dritten Reiches« vorgegeben
waren. Darin kam ein dramatischer Wechsel in der öffentlichen
Behandlung der Judenverfolgung zum Ausdruck: Noch Mitte September
hatte das Regime offensichtlich seine antisemitische
Propagandakampagne angesichts der negativen Reaktionen auf die
Kennzeichnung eingedämmt und sich entschlossen, die Kennzeichnung
der deutschen Juden in der offiziellen Propaganda nicht weiter zu
thematisieren. Die Mitte Oktober 1941 einsetzenden, der Bevölkerung
keineswegs verborgen bleibenden Deportationen wurden in der
Inlandspropaganda ganz totgeschwiegen. Die Tatsache, dass die
Propaganda Ende Oktober – versteckt in der ausgiebigen
Kommentierung über die Judenverfolgung in Rumänien – sehr deutliche
Hinweise auf das Schicksal der aus Deutschland Deportierten gab und
offen von der Vernichtung der Juden zu sprechen begann, verlieh dem
offiziellen Schweigen über die Deportationen aus Deutschland einen
düsteren Hintergrund.
Sodann verband Goebbels das Thema Kriegführung und
Judenverfolgung im November 1941 in einer Weise, die klarstellte,
dass Kritik an der Verfolgung künftig als Sabotage der
Kriegsanstrengungen behandelt werden würde. Gleichzeitig wurde die
für den Umgang mit Juden eingeführte KZ-Haft in Form einer dunklen
Drohung publik gemacht: Man werde diejenigen, die sich zu Juden
freundlich verhielten, wie Juden behandeln. Wir haben verschiedene
Hinweise darauf, dass außerdem die Parteiorganisation in diesen
Wochen dafür sorgte, das öffentliche Verhalten der Bevölkerung
gegenüber Juden an die offiziellen Verhaltensnormen anzupassen:
Goebbels’ Bemerkung in der Propagandakonferenz etwa, es sei
hinsichtlich des Verhaltens gegenüber Juden in den Verkehrsmitteln
Aufgabe der Partei, »hier dem einzelnen das richtige Taktgefühl und
psychologische Einfühlungsvermögen anzuerziehen«, oder die
Ausführungen des Stuttgarter Beobachters
zum gleichen Thema.
Um eine Vorstellung von der Wirkung dieser
Kampagne vom Herbst 1941 auf die Bevölkerung zu erhalten, muss man
sich den kumulativen Effekt der einzelnen Komponenten vor Augen
halten. Offensichtlich gelang es Goebbels in diesen Wochen, durch
eine Mischung aus antisemitischer Hetze, Vernichtungsankündigungen,
beredtem Schweigen, Drohungen und Einschüchterung eine unheimliche
und angstbeladene Atmosphäre zu schaffen. Es war vor allem diese
Atmosphäre, die das öffentliche Verhalten der Bevölkerungsmehrheit
gegenüber Juden in den kommenden Monaten äußerst effektiv ändern
sollte.
In der zweiten Jahreshälfte 1941 ging das Regime
also dazu über, eine immer engere Verbindung zwischen der
allgemeinen »Stimmung« der Bevölkerung, das heißt ihrer
Einschätzung der Kriegsentwicklung, und der öffentlich bekundeten
Einstellung der Menschen zur »Judenfrage« herzustellen. Da das
Regime seit Beginn des Sommers 1941 große propagandistische
Anstrengungen unternommen hatte, um den Krieg zum »Krieg der Juden«
umzumünzen, registrierte es sehr aufmerksam, inwieweit militärische
Rückschläge beziehungsweise ausbleibende Erfolge auch Auswirkungen
auf die Einstellung der Bevölkerung zur »Judenfrage« hatten. Denn:
Reagierte die Bevölkerung reserviert bis ablehnend auf die
Verschärfung der Verfolgungsmaßnahmen gegen die deutlich als
»innerer Feind« gebrandmarkten Juden, so musste dies als mangelnde
Unterstützung der allgemeinen
Kriegsanstrengungen gesehen werden.
Die massive Propaganda verfehlte ihr Ziel nicht.
Je weiter der Krieg voranschritt, desto mehr entwickelte die
Bevölkerung ein Gespür dafür, dass, wer Kritik an der Verfolgung
der Juden übte, zugleich die allgemeine Kriegspolitik des Regimes
und seine Anstrengungen zur politischen Radikalisierung der
Verhältnisse während des Krieges infrage stellte. Dies mag auch
erklären, warum solche kritischen Äußerungen in den
Spitzelberichten des Regimes von nun an kaum noch zu finden sind.
Dort aber, wo Kritik an der Judenverfolgung noch so laut geäußert
wurde, dass sie von der »Stimmungsberichterstattung« erfasst wurde,
war sie bezeichnenderweise häufig verbunden mit Besorgnissen über
das eigene Schicksal im Falle eines negativen Kriegsausgangs.
Wenn man aber davon ausgeht, dass die vom Regime
konstruierte Verbindung von »Krieg« und »Judenverfolgung« in der
Bevölkerung in einem gewissen Grade verfing, dann wird eine bisher
weithin akzeptierte Annahme über die Einstellung der Deutschen zur
Judenverfolgung brüchig: die Behauptung, die deutsche Bevölkerung
sei gegenüber dem Schicksal der Juden indifferent gewesen, da sie
in erster Linie mit der weiteren Entwicklung des Krieges und dessen
Auswirkungen auf die eigene Existenz beschäftigt gewesen sei. Es
scheint vielmehr umgekehrt gewesen zu sein: Je mehr Anlass es gab,
sich über den weiteren Verlauf und den Ausgang des Krieges Sorgen
zu machen, desto größer wurde die Angst, dass die Verfolgung der
Juden nicht ohne Konsequenzen für die eigene Zukunft bleiben
werde.
Erste Reaktionen der Bevölkerung auf die Deportationen
Was lässt sich auf Grundlage des offiziellen
Materials zur »Stimmung« über die Reaktionen der deutschen
Bevölkerung auf die ersten Deportationen sagen? Orientiert man sich
an den Meldungen aus dem Reich, der nationalen Zusammenfassung der
SD-Berichterstattung, so wird man hier vergeblich Berichte über die
Verschleppung von Juden aus Deutschland suchen. Die
Schlussfolgerung, dies sei auf die Indifferenz der deutschen
Bevölkerung zurückzuführen, wäre jedoch voreilig. Vielmehr wird
hier deutlich, dass ein Thema, das in der von den
Nationalsozialisten kontrollierten Öffentlichkeit tabu war – also
in der Propaganda nicht aufgegriffen wurde und jeder öffentlichen
Debatte entzogen war -, auch in der internen
Stimmungsberichterstattung (zumindest auf Reichsebene) nicht
auftauchte: Für das Un-Thema durfte kein Forum geschaffen
werden.
Wie wir in Goebbels’ Tagebuchnotizen gesehen
haben, stieß das Thema jedoch keineswegs auf Desinteresse, wie etwa
Kulka und Bankier glauben.142 Leider
verfügen wir nicht mehr über das Material, das Goebbels zu seinen
teilweise wütenden Reaktionen veranlasste (es handelte sich im
Wesentlichen um die Berichte der Reichspropagandaämter, die
insgesamt als verloren gelten müssen), doch erlauben die lokalen
und regionalen Berichte verschiedener Behörden gewisse Erkenntnisse
darüber, ob die Bevölkerung die Verschleppungen zur Kenntnis nahm
und wie sie darauf reagierte.
Die Stapostelle Bremen stellte im November fest,
dass zwar »der politisch geschulte Teil der Bevölkerung die
bevorstehende [sic!] Evakuierung der Juden allgemein begrüßt« habe,
jedoch »insbesondere kirchliche und gewerbliche Kreise […] hierfür
kein Verständnis aufbringen und heute noch glauben, sich für die
Juden einsetzen zu müssen. So wurden in katholischen und
evangelischen Kreisen der Bekenntnisfront die Juden lebhaft
bedauert. – In einer bekennenden Gemeinde, die sich fast
ausschließlich aus sogenannten bürgerlichen Intelligenzkreisen
zusammensetzt, brachten es zahlreiche Gemeindemitglieder fertig,
Juden durch materielle Zuwendungen zu unterstützen. In der
Geschäftswelt sind es insbesondere Firmen, die Juden beschäftigen
und laufend Anträge stellen, die Juden behalten zu dürfen. Selbst
angesehene Firmen scheuen sich nicht, in ihren Anträgen darauf
hinzuweisen, dass sie nicht weiter könnten, wenn der bei ihnen
beschäftigte Jude evakuiert würde.«143
Die Stapoleitstelle Magdeburg berichtete ebenfalls
im November, dass »deutschblütige Personen nach wie vor
freundschaftliche Beziehungen zu Juden unterhalten und sich mit
diesen in auffälliger Weise in der Öffentlichkeit zeigen«. Da »die
betreffenden Deutschblütigen durch ein derartiges Verhalten
beweisen, dass sie auch heute noch den elementarsten Grundbegriffen
des Nationalsozialismus verständnislos gegenüberstehen und ihr
Verhalten als Missachtung der staatlichen Maßnahmen anzusehen ist«,
müsse man »bei solchen Vorkommnissen den deutschblütigen Teil sowie
den Juden in Schutzhaft nehmen« – ein deutlicher Hinweis darauf,
dass die Ende Oktober 1941 verhängte, jedoch nicht veröffentliche
Polizeiverordnung über das Kontaktverbot mit Juden von der Gestapo
bereits in die Praxis umgesetzt wurde.144
Einem Bericht aus der Kriegschronik der Stadt
Münster ist zu entnehmen, dass auch hier die Deportationen
Tagesgespräch waren. Wir kennen den Berichterstatter nicht, doch
dürfen wir annehmen, dass er als Mitarbeiter der Chronik regimetreu
war. Entsprechend sind selbstverständlich seine rein subjektiven
Beobachtungen und Einschätzungen zu bewerten: »Ich gehöre heute zu
denen, die noch zwei Kneipen aufsuchen und sich zwischen die Gäste
am Tresen drängen. Da höre ich in der zweiten Kneipe an der
Aegidiistraße, während ich zwischen mittleren Beamten, Handwerkern
und Kaufleuten stehe, dass bis zum 13. dieses Monats alle Juden aus
Münster heraus sein müssten. Die Nachricht wird sehr lebhaft
besprochen. Überwiegend sind die Tresengäste mit der Maßnahme sehr
zufrieden. Die Juden kämen alle nach dem Osten in große
Arbeitslager, einmal, damit sie dort arbeiten könnten, und dann
auch, damit sie die dringend benötigten Wohnräume in Münster
freimachten. Richtig, richtig, lautet wiederholt die Zustimmung der
Umstehenden, als sie davon hören, dass auf solche Weise auch der
Wohnungsnot entgegengearbeitet werden soll. […] Zwei, die mit mir
heimgehen, munkeln davon, dass wahrscheinlich die Juden in der
nächsten Woche allesamt nach dem Osten abtransportiert würden. –
Auch zu Hause unter der Petroleumlampe begegnet mir das Gerücht.
Auch die Frauen scheinen in der Stadt für die Gerüchte vom
Abtransport der Juden lebhaft interessiert zu sein. Nur wenige
hätten geäußert, dass sie die Juden bedauerten, denn die Juden
seien die Kriegsschürer.«145
Die SD-Außenstelle Minden berichtete Anfang
November 1941: »Die inzwischen zur Tatsache gewordene Evakuierung
der Juden aus dem hiesigen Bereich wird in einem großen Teil der
Bevölkerung mit großer Besorgnis aufgenommen. Dabei sind es zwei
Gesichtspunkte, die den Leuten am meisten am Herzen liegen. Einmal
vermuten sie, dass dadurch den vielen Deutschen im noch neutralen
Ausland, besonders in Amerika, wieder neues Leid zugefügt werden
könnte. Man weist dabei wieder auf den 9. Nov. 1938, der uns auch
im ganzen Auslande mehr geschadet hat, als er uns hier im Inland
genutzt hat.
Der zweite Punkt ist der, dass es doch wohl sehr
bedenklich sei, jetzt im Winter mit allen seinen Gefahren die Leute
ausgerechnet nach dem Osten zu verfrachten. Es könnte doch damit
gerechnet werden, dass sehr viele Juden den Transport nicht
überständen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die jetzt
evakuierten Juden doch durchweg Leute wären, die seit ewigen Jahren
in hiesiger Gegend gewohnt hätten. Man ist der Ansicht, dass für
viele Juden diese Entscheidung zu hart sei. Wenn auch diese Meinung
nicht in verstärktem Maße festzustellen ist, so findet man sie aber
doch in einem großen Teil gerade unter den gutsituierten Kreisen.
Hierbei sind auch wieder die älteren Leute die überwiegende
Anzahl.
Seitens der Volksgenossen, die die Judenfrage
beherrschen, wird die ganze Aktion jedoch absolut bejaht. Man
stellt dem gegenüber das deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl, das
sich doch immer wieder gezeigt habe. Als der Führer gemerkt habe,
dass den Deutschen in Russland eine Gefahr drohte, sei er sofort
dazu übergegangen, diese alle ins Reich zurückzuholen. Der Jude
hätte ja ein gleiches seit 1933 auch tun können, dann wäre diese
Aktion heute nicht mehr erforderlich.«146
Der nächste Bericht der SD-Außenstelle Minden,
sechs Tage später verfasst, zeigt, dass in der Bevölkerung
detaillierte Informationen über die Deportationen kursierten: »Das
Besitztum verfalle dem Staat. Es wird sich erzählt [sic!], dass die
Juden alle nach Russland abgeschoben würden, der Transport würde
durchgeführt bis Warschau in Personenwagen und von dort mit
Viehwagen der Deutschen Reichsbahn. Der Führer wolle bis zum
15.1.1942 die Meldung haben, dass sich kein Jude innerhalb der
Deutschen Reichsgrenze aufhalte. In Russland würden die Juden zur
Arbeit in ehemals sowjetischen Fabriken herangezogen, während die
älteren und kranken Juden erschossen werden sollten. Durch diese
Redereien wird tatsächlich die Mitleidsdrüse verschiedener
christlich Eingestellter stark in Tätigkeit gebracht. Es wäre nicht
zu verstehen, dass man mit Menschen so brutal umgehen könne, ob
Jude oder Arier, alle wären letztlich doch von Gott geschaffene
Menschen. Man sieht verschiedentlich Juden mit
Haushaltsgegenständen beladen durch die Straßen ziehen. Von
irgendwelcher Gedrücktheit ist keine Spur zu erkennen.
Viel wird in der Bevölkerung davon gesprochen,
dass alle Deutschen in Amerika zum Zwecke ihrer Erkenntlichkeit ein
Hakenkreuz auf der linken Brustseite tragen müssen, nach dem
Vorbild, wie hier in Deutschland die Juden gekennzeichnet sind. Die
Deutschen in Amerika müssten dafür schwer büßen, dass die Juden in
Deutschland so schlecht behandelt werden.«147
Die vorgesetzte Dienststelle des Mindener
SD-Büros, die SD-Hauptaußenstelle Bielefeld, übernahm diesen
detaillierten Bericht in ihre vierzehntägig erfolgende
Zusammenstellung von Meldungen, schaltete ihm jedoch einen
»freundlicheren« Bericht aus Bielefeld vor (wo die Juden aus dem
gesamten Regierungsbezirk in einem Sammellager festgehalten wurden)
und stellte – deutlicher, als dies die Mindener SD-Leute getan
hatten – die Bedenken gegen die Deportationen als das Gerede
konfessionell gebundener Bevölkerungskreise hin, das nicht
besonders ernst zu nehmen sei:148
»Obwohl diese Aktion von Seiten der Staatspolizei
geheim gehalten wurde, hatte sich die Tatsache der Verschickung von
Juden doch in allen Bevölkerungskreisen herumgesprochen […] Es muss
festgestellt werden, dass die Aktion vom weitaus größten Teil der
Bevölkerung begrüßt wurde. Einzeläußerungen war zu entnehmen, dass
man den Führer Dank wisse, dass er uns von der Pest des jüdischen
Blutes befreie. Ein Arbeiter äußerte z.B.: ›Das hätte man vor 50
Jahren mit den Juden machen sollen, dann hätte man weder einen
Weltkrieg noch den jetzigen Krieg durchstehen brauchen.« Erstaunen
zeigte man vielfach in der Bevölkerung, dass man den Juden zum
Transport nach dem Bahnhof die gut eingerichteten städtischen
Verkehrsautobusse zur Verfügung stellte.«
»Lediglich aus konfessionellen Kreisen«, so fuhr
der Bericht fort, »wurden, wie bei allen staatlichen Aktionen zur
Gewohnheit geworden, ablehnende Stimmen laut. Ja, man ging sogar so
weit, diese Aktion zu benutzen, wildeste Gerüchte zu verbreiten.«
Nun folgten die Informationen der Mindener Dienststelle, wobei die
Gerüchte über die negativen Auswirkungen der Judenverfolgung auf
die Deutschen in Amerika wiederum gezielt »konfessionellen Kreisen«
zugeschrieben wurden, was man dem Mindener Bericht nicht entnehmen
konnte. Die Tendenz der regionalen Berichtsebene, das relativ
brisante Informationsmaterial der lokalen Ebene zu entschärfen, ist
unübersehbar.
Neben diesen offiziellen Berichten verfügen wir
auch über andere Quellen, die deutlich machen, dass die
Deportationen keineswegs geheim vor sich gingen – nicht in den
Großstädten, wo die meisten Juden wohnten, nicht in den zahlreichen
Kleinstädten und auch nicht auf dem Land, wo es meist ältere,
alteingesessene jüdische Bürger traf.149
Verschiedene Augenzeugenberichte, die David
Bankier zusammengetragen hat, bestätigen, dass die Deportationen
tatsächlich »vor aller Augen« vor sich gingen.150 Hilde Miekley hat die Deportation von
jüdischen Freunden aus Berlin im Sommer 1942151 geschildert, die in Marburg lebende
Schriftstellerin Lisa de Boor hielt im Dezember 1941 in ihrem
Tagebuch fest: »In ganz Deutschland werden jetzt Juden nach Polen
abtransportiert. Wir wissen von furchtbaren Einzelschicksalen
innerhalb dieses schauerlichen Karmas eines Volkes, dessen Los seit
Jahrtausenden Verfolgung heißt. Die späteren Auswirkungen dieser
Verfolgung sind gar nicht auszudenken.«152
Freiherr von Hoverbeck, der nach der Beendigung
seiner Offizierskarriere im Jahre 1920 zum engagierten Pazifisten
geworden war, notierte im Juli 1942 in einem Brief: »Ich habe aus
verschiedenen zuverlässigen Quellen gehört, dass dieser Tage alle
nicht mehr arbeitsfähigen alten Juden aus Hamburg und, soweit es
noch nicht geschehen ist, aus ganz Deutschland nach Polen
abtransportiert werden.« Die Transporte gingen in Viehwagen vor
sich.153 Der ehemalige
Deutschland-Korrespondent Howard K. Smith schilderte in seinem 1942
in den USA veröffentlichten Buch ebenfalls die ersten Deportationen
aus Deutschland; die Menschen würden nach Polen und in die
besetzten sowjetischen Gebiete verschleppt, um dort an Hunger und
Entbehrung umzukommen.154
Ein anderes Beispiel, diesmal von einem Anhänger
des Regimes, verdeutlicht, dass auch die späteren Deportationen
keineswegs insgeheim abliefen: Der für das SS-Organ Das Schwarze Korps arbeitende Redakteur von
Alvensleben wandte sich im März 1943 an den Leiter des Persönlichen
Stabes beim Reichsführer SS, Rudolf Brandt, um ihm eine wichtige
Beobachtung mitzuteilen, die er für »entwürdigend und beschämend
zugleich« hielt. Die Sammelstelle für diejenigen Juden, die aus
Berlin deportiert werden sollten, befinde sich in direkter
Nachbarschaft zu den Gebäuden des parteieigenen Eher-Verlages,
mitten im Berliner Zeitungsviertel. Beim Besteigen der Lastwagen,
so von Alvensleben, würden die Juden auf brutalste Weise von
Angehörigen der Gestapo und SS geschlagen; dies geschehe unter den
Augen der Angestellten des Eher-Verlages, die diese Vorgänge von
allen Fenstern und Türen der umliegenden Gebäude aus
beobachteten.155
Ferner existieren aus zahlreichen Orten Fotos, die
den Abtransport der Juden – am hellichten Tag im Beisein der
Bevölkerung – dokumentieren. 156 Auch
die zahlreichen, lebhaft besuchten Auktionen in vielen Städten und
Gemeinden, in denen das Mobiliar und der persönliche Besitz der
Deportierten versteigert wurde, zeigen, dass große Teile der
Bevölkerung über das »Verschwinden« der Juden informiert
waren.157 Frank Bajohr geht
beispielsweise in seiner Studie über Hamburg von rund 100 000
Nutznießern jüdischen Eigentums in Hamburg und der unmittelbaren
Umgebung aus.158
Hinzu kam das große Interesse an den verlassenen
Wohnungen der Deportierten. Die NSDAP-Kreisleitung Göttingen etwa
berichtete im Dezember 1941, die »Absicht, die Juden in nächster
Zeit von Göttingen abzutransportieren«, sei »in der Bevölkerung
bereits bekannt« geworden; als Folge werde die Kreisleitung wegen
Anträgen auf Zuweisung der verlassenen Wohnungen regelrecht
»überlaufen«.159 Das Motiv, materielle
Vorteile aus den Deportationen ziehen zu können, müssen wir
ebenfalls als einen Faktor in Rechnung stellen, der gegen die These
von der »Indifferenz« der Bevölkerung angesichts der Deportationen
spricht.
Die Deportationen waren so offensichtlich, dass
auch ausländische Besucher keine große Mühe hatten, in den Besitz
von Informationen über die Verschleppungen zu gelangen. Der
britische Botschafter in Stockholm berichtete zum Beispiel im
November 1941 über ein Gespräch mit dem gerade von einer Reise nach
Deutschland zurückgekehrtem Jacob Wallenberg. Dieser habe den
Eindruck gewonnen, dass viele Deutsche »angewidert seien über die
Art und Weise, in der Juden von deutschen Städten in Ghettos in
Polen deportiert werden würden«.160
Der ehemalige Sekretär der US-Handelskammer in
Frankfurt, van d’Elden, der seit 1925 in Deutschland gelebt hatte,
dort Ende 1941 interniert, aus Krankheitsgründen im Februar 1942
aber wieder entlassen worden war und sich bis zu seiner Abschiebung
im Mai 1942 weitgehend ungehindert in Frankfurt bewegen konnte,
berichtete nach seiner Rückkehr aus Deutschland, die Behörden
hätten im Oktober 1941 ein »systematisches Programm der Deportation
von Juden aus Frankfurt nach Lodz« begonnen.161
Die weiteren Ausführungen des Amerikaners
offenbaren, in welchem Umfang er weitgehend zutreffende
Einzelheiten über die Transporte in Erfahrung gebracht
hatte.162 Insgesamt seien bisher fünf
Deportationszüge in polnische Ghettos abgefahren. Nur ein Zug habe
sein Bestimmungsziel – Lodz – erreicht; die Insassen dreier
weiterer Züge seien gezwungen worden, die Züge auf freier Strecke,
irgendwo in Polen, zu verlassen, und seien an Ort und Stelle
erschossen worden. Diese Information sei von aus Polen
zurückkehrenden deutschen Soldaten, die selbst an den Exekutionen
teilgenommen hätten, bestätigt worden. Über den fünften Transport
könne er, so van d’Elden weiter, wegen seiner Abreise aus Frankfurt
nichts sagen.
Das Un-Thema Deportationen, das machen all diese
Berichte deutlich, wurde also durchaus wahrgenommen und in der
Bevölkerung diskutiert. Über die Reaktionen lässt sich kein
einheitliches Bild gewinnen, doch haben wir genügend Anhaltspunkte
dafür, dass die Deportationen in der Bevölkerung kontrovers
erörtert wurden. Gleichwohl zeigte das im Oktober verfügte absolute
Kontaktverbot zu Juden, gekoppelt mit der erneuten antisemitischen
Propagandakampagne, Wirkung. Waren ostentative Gesten der
Hilfsbereitschaft gegenüber den gekennzeichneten Juden im September
noch möglich gewesen, so war das Regime im Herbst 1941 dazu
übergegangen, solche Gesten massiv zu unterdrücken. Und das
öffentliche Verhalten der Menschen scheint sich tatsächlich
geändert und entsprechend den Vorgaben des Regimes ausgerichtet zu
haben.