Die »ruhigen Jahre«: Illusion und Realität der »Judenpolitik«

Die »Judenfrage« in der Presse 1936/37

Seit Anfang 1936 wurde der Presse – unter Verweis auf die bevorstehenden Olympischen Spiele – Zurückhaltung in der »Judenfrage« empfohlen;1 selbst das Attentat David Frankfurters auf den Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, am 4. Februar 1936 wurde nicht für eine groß angelegte antisemitische Kampagne genutzt.2 Erst als Frankfurter im Dezember 1936 der Prozess gemacht wurde, schlachtete die Propaganda dies mit einer Kampagne gegen die angeblichen »Hintermänner« des Attentats aus.3
Diese Zurückhaltung setzte sich bis weit ins Jahr 1938 fort. Selbst der seit Anfang 1938 wieder zunehmende antijüdische Aktionismus der Partei wurde in der Pressekonferenz zunächst nicht aufgegriffen. Im Juni 1938, als die antijüdischen Ausschreitungen in Berlin und die Massenverhaftungen von Juden im Reichsgebiet starken Widerhall in der internationalen Presse fanden, war das Propagandaministerium schließlich zögerlich dazu bereit, Sprachregelungen herauszugeben, die darauf angelegt waren, diese Vorgänge herunterzuspielen – eine Haltung, die sich erst im November 1938 nach dem Attentat auf den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, ändern sollte.
Die Presse reagierte entsprechend. Der Völkische Beobachter etwa hatte zwischen Oktober 1935 und Januar 1936 durchschnittlich zwei bis drei antijüdische Beiträge pro Woche veröffentlicht. Nach einer kurzen Empörung über das Gustloff-Attentat Anfang Februar sank die Zahl der antisemitischen Beiträge während der kommenden Monate jedoch deutlich und erreichte während des Hochsommers (mit Rücksicht auf die Olympischen Sommerspiele im August) einen absoluten Tiefstand.
Der Parteitag 1936, wie immer im September durchgeführt, wurde allerdings als Gelegenheit genutzt, die »Judenfrage« erstmals wieder groß herauszustellen. Ab November 1936 stieg die Zahl der antisemitischen Beiträge im Völkischen Beobachter wieder auf zwei bis drei Beiträge pro Woche an, erreichte im Dezember 1936 anlässlich des Prozesses gegen Frankfurter einen Höhepunkt, sank dann erneut auf zwei bis drei Beiträge pro Woche ab, um ab dem August 1937, vor allem aber seit November 1937 wiederum anzusteigen. Dieses Verlaufsmuster lässt sich auch bei der übrigen Parteipresse beobachten.4
Eine nähere Auswertung der deutschen Presse in den Jahren 1936 und 1937 zeigt, dass in diesem Zeitraum neben den üblichen antisemitischen Polemiken vor allem die Lage in Palästina stark im Vordergrund der Berichterstattung stand. Insbesondere die Parteipresse ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, die seit dem Frühjahr 1936 immer heftigeren Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern im antisemitischen Sinne zu interpretieren. Artikelüberschriften wie »Wieder jüdische Morde in Palästina« oder »Blut fließt im Judenland« sind dafür typisch.5
An einem Ende der jüdischen Einwanderung nach Palästina war das Regime indes nicht interessiert. Die offizielle, für die Haltung der Parteipresse verbindliche Position lässt sich einem Kommentar Alfred Rosenbergs im Völkischen Beobachter vom 5. Juni 1936 entnehmen: Die britische Regierung wurde zwar kritisiert, weil sie einseitig die zionistische Position unterstütze und legitime arabische Interessen vernachlässige; dennoch stellte sich Rosenberg hinter den in der Balfour-Deklaration von 1917 zum Ausdruck kommenden Gedanken einer »jüdischen Heimstatt« – wobei er betonte, dass dies keinesfalls mit der Errichtung eines exklusiv jüdischen Staates zu verwechseln sei.6 Gegen den im Juli 1937 veröffentlichten Peel-Plan 7 zur Teilung Palästinas ging die Presse denn auch vor: Die geplante Errichtung eines unabhängigen jüdischen Staates, so wurde man nicht müde zu betonen, entspreche in keiner Weise den Interessen NS-Deutschlands. 8 Die britische Palästina-Politik wurde polemisiert, die Unterstützung der jüdischen Seite durch die britische Mandatsmacht scharf kritisiert, und »die Juden« erschienen in wachsendem Maße als die eigentliche Ursache des Konflikts.9
Im Schatten des Olympiajahrs ging das am 4. Februar 1936 von David Frankfurter, einem jüdischen Studenten, verübte Attentat auf den Landesgruppenführer der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, nahezu unter. Zwar holte die Parteipresse anfangs durchaus mit wütenden Ausfällen gegen die angeblichen jüdischen beziehungsweise marxistischen »Hintermänner« zu einer neuen antisemitischen Kampagne aus, angesichts der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen nur zwei Tage nach dem Attentat versagten sich die Blätter jedoch weitere Attacken.10 Diese Zurückhaltung währte gerade bis zum Abschluss der Spiele im August. Auf dem Parteitag vom September 1936 ereiferten sich sowohl Hitler als auch Goebbels und Rosenberg in ihren Reden gegen den »jüdischen Bolschewismus«, und die Parteipresse gab diese Passagen selbstverständlich in vollem Umfang und mit entsprechender Würdigung wieder.11 Eine scharf antisemitische Passage aus Goebbels’ Parteitagsrede vom 10. September 1936 wurde in die Ufa-Wochenschau aufgenommen, und als der Propagandaminister Anfang Dezember aus Anlass der dritten Jahrestagung der Reichskulturkammer den Ausschluss der Juden aus dem Kulturleben pries, griff eine der Wochenschauen dies ebenfalls auf.12
In dieselbe Zeit fiel der Prozess gegen Frankfurter, ein willkommener Anlass für die Parteipresse, erneut in großer Aufmachung über die angeblichen »jüdischen Hintermänner« des Attentats zu berichten und – so eine Schlagzeile des Völkischen Beobachters – »Anklage gegen das Weltjudentum« zu erheben.13
Im März 1937 schoss sich die Parteipresse auf den New Yorker Bürgermeister Fiorello H. LaGuardia ein, der eine kritische Rede gegen das nationalsozialistische Deutschland gehalten hatte. Die Hetze gegen LaGuardia, der schon vorher den Zorn der Parteiblätter erregt hatte, erreichte damit ihren vorläufigen Höhepunkt. Der Völkische Beobachter titelte: »Ein schmutziger Talmudjude wird unverschämt. Der Oberbürgermeister von Neuyork als Hetzredner«, während Der Angriff vom gleichen Tag LaGuardia als »Neuyorks Obergangster« und »Judenlümmel« bezeichnete.14
Die nichtnationalsozialistische Presse zeigte sich im gesamten Zeitraum zwischen den Nürnberger Gesetzen und dem Beginn der erneuten antisemitischen Welle Ende 1937 weitaus zurückhaltender. Die meisten bürgerlichen Zeitungen verzichteten beispielsweise in ihrer Berichterstattung über das Gustloff-Attentat im Februar 1936 auf Spekulationen über »jüdische Hintermänner«.15 Anders gestaltete sich die Situation während des Prozesses gegen Frankfurter im Dezember 1936: In der Berichterstattung der meisten nichtnationalsozialistischen Zeitungen findet sich jetzt das Schlagwort von den jüdischen »Hintermännern« beziehungsweise Auftraggebern,16 nachdem das Propagandaministerium die Presse wiederholt dazu aufgefordert hatte.17
Im Falle der LaGuardia-Rede übernahm die Frankfurter Zeitung eine Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros, das den New Yorker Oberbürgermeister eine »Spitzenleistung auf dem Gebiet verlogenster Hetze« attestierte und ihn als »jüdischen Maulheld« bezeichnete; auf einen Kommentar aus der eigenen Redaktion verzichtete die Zeitung.18 Die Deutsche Allgemeine Zeitung kommentierte die Rede als »dumme Anpöbelei«,19 die Münchner Neuesten Nachrichten witterten »Völkerverhetzung« und eine »Gipfelleistung internationaler Brunnenvergiftung«,20 während der Berliner Lokalanzeiger in seinem Leitkommentar LaGuardia als »Schmutzian« verunglimpfte, der sich durch »geifernde Niedertracht« auszeichne.21

Reaktionen der Bevölkerung

Diese vergleichsweise Zurückhaltung in der antisemitischen Ausrichtung der deutschen Öffentlichkeit spiegelt sich in den Stimmungsberichten: In den Jahren 1936/37 spielte die »Judenfrage« dort nur eine untergeordnete Rolle.22 Dies sagt wenig über das tatsächliche Interesse der Bevölkerung an dieser Thematik aus, aber einiges über die Berichterstattung. Da die Berichte nicht, wie schon betont, eine autonom vor sich gehende Meinungsbildung erfassen, sondern primär Reaktionen auf bestimmte Ereignisse und auf Maßnahmen des Regimes registrieren sollten, war der Zeitraum 1936/37 in dieser Hinsicht unergiebig. Die »Judenpolitik« kam zumindest in der Propaganda und in der von den Nationalsozialisten hergestellten Öffentlichkeit nur am Rande vor. Mehr noch: Das Thema sollte ganz in den Hintergrund treten; entscheidende neue Maßnahmen in der »Judenpolitik« waren nicht zu verzeichnen. Entsprechend erscheint die Bevölkerung in diesem Zeitraum besonders »indifferent« gegenüber der »Judenfrage«. Für die Berichterstatter kam erschwerend hinzu, dass die Menschen sich in der heiklen »Judenfrage« mit öffentlichen Äußerungen immer stärker zurückhielten.23
Ein Thema, das in den Jahren 1936/37 jedoch durchgängig auftaucht, ist der trotz aller Anstrengungen der Parteiorgane anhaltende Kundenbesuch in jüdischen Geschäften beziehungsweise die fortdauernde Geschäftstätigkeit mit jüdischen Händlern auf dem Lande.24 Immer wieder wurde betont, dass dieses Verhalten auf mangelnde Unterrichtung breiter Bevölkerungskreise über die »Judenpolitik« des Regimes zurückzuführen sei, ja dass diese der »Judenfrage« »gleichgültig« gegenüberstünden und ihr keinerlei Verständnis entgegenbrächten.25
Da das Regime angesichts des Olympiajahrs 1936 nicht massiv gegen das Einkaufen bei jüdischen Händlern einschreiten wollte, kann es nicht verwundern, wenn zum Beispiel die Stapostelle Frankfurt/Oder bereits im Februar 1936 berichtete, die »aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten […] gebotene Zurückhaltung in der Durchführung der Judengesetzgebung« habe sich »außerordentlich lähmend« auf die Parteiarbeit ausgewirkt.26
Der Landrat von Diepholz meldete, der Kampf gegen die Juden finde in der Bevölkerung zwar »mehr und mehr Verständnis«, dieser sei aber »um so wirksamer, je weniger Einzelaktionen erfolgen«. In diesen Formulierungen zeigt sich ein typisches Muster der Berichterstattung: Die staatlichen Stellen waren vor allem dann bereit, die Aufnahme der Verfolgungsmaßnahmen in der Bevölkerung positiv zu beurteilen, wenn die schwer kontrollierbaren und ungesetzlichen Aktionen der Partei zurückgefahren wurden.27
Gelegentlich, jedoch mit zunehmender Tendenz, berichteten Behörden und Parteidienststellen auch, dass weniger in jüdischen Geschäften gekauft werde und Handelsbeziehungen aufgegeben würden; aus den Berichten geht indes hervor, dass dieser Rückgang vor allem auf die Maßnahmen zur »Arisierung« und den Ausschluss der Juden aus den verschiedenen Gewerbezweigen, nicht auf eine erfolgreiche »Umerziehung« der Käufer zurückzuführen war.28
Die Exil-SPD berichtete im Juli 1937 aus Württemberg: »Der Antisemitismus, den die Nazis besonders auf dem Land mit aller Gewalt schüren, hat die Bauern längst nicht so erfasst, wie seine Propagandisten es wünschen. Noch heute kommen die jüdischen Hopfenhändler in jedes Dorf, und die Bauern machen gerne mit ihnen Geschäfte.«29 Aus Nordwestdeutschland hieß es um die gleiche Zeit: »Die Bevölkerung ist im Grunde nicht – zumindest nicht aktiv – antisemitisch. Die Schreier bestimmen den Ton. Wenn man mit dem Einzelnen spricht, begegnet man in der Regel Achtung und Sympathie.« 30
Die Stapoleitstelle München beklagte im Sommer 1937, dass gerade die Landbevölkerung weiter Geschäfte mit Juden betreibe. Hierfür seien auf den ersten Blick wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, die »tiefere Ursache liegt jedoch in der Einstellung der Bauern, die jegliches Rassenbewusstsein vermissen lässt«.31 Auch die Reichsfrauenführung monierte, die »Judenfrage« bedürfe dringend »einer weitgehenden Aufklärung«, sowohl auf dem Land, wo die Bauern weiter ihre Viehgeschäfte mit Juden machten, wie in der Stadt, wo man immer wieder von »Beamten- und Professorenfrauen« höre, die bei Juden kauften.32
Ein vom »Frankenführer« Streicher in seinem Gaugebiet Ende des Jahres 1937 ausgerufener Weihnachtsboykott, so der SD-Oberabschnitt Süd in einem Bericht, werde in »der Bevölkerung […] mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Während der nationalsozialistisch eingestellte Teil der Bevölkerung den Boykott begrüßte, wird besonders in Wirtschaftskreisen lebhafte Kritik daran geübt […] Die Durchführung des Boykottes stieß zum Teil auf aktiven Widerstand Einzelner, wobei es verschiedentlich zu Zusammenstößen kam, die zum Teil blutig endeten.«33
Wie soll man diese offensichtlich weit verbreitete Hartnäckigkeit bewerten? David Bankier merkt hierzu an, die Bevölkerung – Arbeiter, Bauern, Angehörige des Bürgertums – habe mit der Aufrechterhaltung von wirtschaftlichen Beziehungen zu Juden hauptsächlich ihre materiellen Eigeninteressen verfolgt; Teile der Arbeiterschaft hätten darüber hinaus ihre allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik des Regimes signalisieren wollen, und die Landbevölkerung habe einfach gewachsene bäuerliche Traditionen nicht aufgeben wollen. Solidarität mit den drangsalierten jüdischen Händlern sei jedenfalls kein wesentliches Motiv gewesen.34 Mir scheint demgegenüber jedoch wichtig zu sein, dass die konsequente Missachtung einer durch die Partei massiv vorangetriebenen Kampagne, die in dem fortgesetzten Einkaufen bei jüdischen Händlern zum Ausdruck kommt, gekoppelt mit dem immer wieder berichteten »Unverständnis« in der »Judenfrage«, deutlich zeigt, dass sich erhebliche Teile der Bevölkerung, offensichtlich aus allen Schichten, der vom Regime betriebenen Ausrichtung ihres Verhaltens an bestimmten Normen widersetzten. Die – nicht verbotene – Aufrechterhaltung von wirtschaftlichen Beziehungen zu Juden war eine relativ risikolose Möglichkeit, diesen Unwillen gegenüber den alltäglichen Zumutungen des Regimes öffentlich zum Ausdruck zu bringen, und die Begründung, die man angab, wenn man zur Rede gestellt wurde – dass man Geld sparen wolle -, war nur allzu plausibel und konnte nicht infrage gestellt werden. Angesichts der großen Bedeutung, die die Partei dem Boykott jüdischer Wirtschaftstätigkeit im Rahmen ihrer antisemitischen Politik beimaß, ist es jedenfalls bemerkenswert, dass große Teile der Bevölkerung ihr Verhalten trotz jahrelanger »Erziehungsarbeit« offenbar kaum änderten.35
Die Judenabteilung des SD-Hauptamtes gab in einem Lagebericht für die erste Septemberhälfte eine andere, alarmierende Beobachtung wieder: Jüdische Familien würden zunehmend ausländische Dienstmädchen einstellen und damit die Bestimmungen der Rassegesetze umgehen; dies rufe – ebenso wie das Fehlen antisemitischer Wirtschaftsgesetze – »naturgemäß in der Bevölkerung große Erregung« hervor.36 Diese angebliche »Erregung« steht jedoch im Gegensatz zur übrigen Berichterstattung der SD-Judenabteilung: Im Lagebericht für November 1937 beschäftigte sie sich mit der »steigenden Interessenlosigkeit der breiten Bevölkerung an der Judenfrage«, die zumindest teilweise »zweifellos in dem Nachlassen der intensiven Propaganda der Parteistellen« begründet sei;37 zwei Wochen später sprach die gleiche Stelle von der »allgemein gezeigten laschen Haltung der Bevölkerung gegenüber der Judenfrage«.38
Eine Reihe von Berichterstattern bemühte sich, die offensichtlich nicht zu leugnende Unterstützung für die jüdische Minderheit ganz auf unbelehrbare konfessionelle Kreise zu begrenzen. Juden, so der Bürgermeister von Fischen im Allgäu, würden »vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt«; Ausnahmen machten nur »die um den Pfarrer versammelten Kreise und die politisch Uninteressierten«.39 Die Juden, so der SD-Oberabschnitt Fulda-Werra, fänden Unterstützung bei den »christlichen Konfessionen« und den »marxistisch eingestellten Kreisen«;40 der SD-Oberabschnitt Südwest wusste Ähnliches zu berichten.41 Der Eindruck, dass die Haltung der beiden christlichen Konfessionen gegenüber dem Judentum »aus weltanschaulichen Gründen freundlich« sei, herrschte auch innerhalb des SD-Hauptamts vor.42
Die Art und Weise, wie die offizielle Berichterstattung den Begriff »Bevölkerung« verwendet, ist dabei außerordentlich erhellend. Ein genaueres Studium des Materials zeigt, dass für viele Berichterstatter die »Bevölkerung« beziehungsweise »das Volk« identisch mit dem nationalsozialistischen Parteianhang war. So heißt es in einem umfangreichen Bericht der Judenabteilung des SD von Anfang 1937, in dem die Optionen der »Judenpolitik« erörtert wurden: »Das wirksamste Mittel, um den Juden das Sicherheitsgefühl zu nehmen, ist der Volkszorn, der sich in Ausschreitungen ergeht.«43 Die Tatsache, dass der »Volkszorn« hier ganz selbstverständlich als probates »Mittel« der »Judenpolitik« angeführt wird, zeigt, wie das »Volk« im internen Sprachgebrauch für Aktionen in Anspruch genommen wurde, die in Wirklichkeit eindeutig von der Partei ausgingen.
Ein anderes Beispiel: Das bayerische Wirtschaftsministerium berichtete, ein Totalausverkauf eines jüdischen Geschäftes in dem Ort Rülzheim (Pfalz) habe einen »großen Zustrom gewissenloser Käufer« verursacht; ungeachtet eines vor dem Geschäft aufgebautem SS-Postens sei zu beobachten gewesen, dass die Käufer »in Scharen das Geschäft betraten und es mit großen Paketen wieder verließen«. Angesichts dieser Missachtung des zur Abschreckung potenzieller Käufer aufgestellten Postens habe sich vor dem Geschäft ein Menschenauflauf gebildet.44 Der Bericht fährt fort: »Die Erregung der Bevölkerung wuchs derart, dass sich die Gendarmerie schließlich am 3. Tag genötigt sah, den Geschäftsführer zur Schließung des Geschäftes zu veranlassen.«45 Für den Berichterstatter war klar, dass nicht die in das Geschäft eindringenden Käufermassen, sondern die sich drohend vor dem Geschäft aufbauenden NS-Anhänger »die Bevölkerung« (das heißt die Träger des wahren »Volkswillens«) repräsentierten.
Der Gendarmerieposten in Haigerloch wiederum berichtete im Oktober 1937 von einer Auseinandersetzung mit einem auswärtigen SA-Führer, der damit drohte, eine Versammlung des jüdischen Kulturbundes »auffliegen« zu lassen, obwohl diese ganz offiziell durch den Sonderbeauftragten des Propagandaministeriums für jüdische Kulturfragen genehmigt worden war. In unserem Zusammenhang von Interesse ist die Wortwahl, deren sich der SA-Führer (laut Bericht des Gendarmeriepostens) bediente: Man werde »diesen Herren da oben heute Nachmittag einmal zeigen […], dass Nationalsozialismus etwas sei, was aus dem Volke komme und mit dem Volksempfinden zusammenhänge«; der Gendarmerieposten solle sich schon überlegen, was er zu tun gedenke, »wenn sich die Bevölkerung gegen diese Veranstaltung stellen würde«.46
Wie weit man jedoch tatsächlich noch davon entfernt war, »die Bevölkerung« zu einer geschlossenen Haltung in der »Judenfrage« zu bewegen, macht der Gesamtbericht der Judenabteilung des SD-Hauptamts für das Jahr 1937 deutlich: Unabdingbare Voraussetzung für die »Lösung der Judenfrage durch die Auswanderung« sei »die einmütige Ablehnung der Juden durch alle Bevölkerungsteile«, die noch nicht in ausreichendem Umfang gegeben sei.47
Bei genauer Lektüre der Berichterstattung zeigt sich also, dass die Auffassung der Bevölkerung zur »Judenfrage« offenbar weitaus weniger einheitlich war, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.48

Die dritte antisemitische Welle 1938

Im Herbst 1937, verstärkt seit Anfang 1938, setzte die dritte antisemitische Welle ein, diesmal in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Übergang des Regimes zur Expansionspolitik, die Hitler der militärischen Führung und dem Außenminister Anfang November erläutert hatte und die durch die umfangreiche personelle Umgestaltung der Reichsregierung und der Reichswehr Ende 1937/Anfang 1938 vorbereitet wurde. Die außenpolitischen Rücksichtnahmen, die bis dahin einer weiteren Radikalisierung der »Judenpolitik« entgegengestanden hatten, entfielen nun; außerdem hatte sich die wirtschaftliche Situation so weit konsolidiert, dass die jetzt avisierte endgültige Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft keine gravierenden ökonomischen Rückwirkungen mehr befürchten ließ. Im Gegenteil: Das Regime benötigte das noch vorhandene jüdische Vermögen dringend, um eklatante Lücken bei der Finanzierung der Aufrüstung zu schließen.
Im Zuge der Umstellung auf den Expansionskurs und der Vorbereitung der Bevölkerung auf einen außenpolitischen Krisenzustand verfolgte das Regime die Politik, die Juden als inneren Feind zu brandmarken – als einen Feind, den es endgültig und vollkommen aus der deutschen Gesellschaft auszuschließen galt. Aggressionen und Ängste, die innerhalb der Bevölkerung durch den riskanten außenpolitischen Kurs und die verstärkte innenpolitische Repression geweckt werden mochten, sollten auf dieses Feindbild umgelenkt werden.49
Eingeleitet wurde der radikale Kurs mit der prononciert antisemitischen Parteitagsrede Hitlers vom 13. September 1937, die ganz im Zeichen der »Abrechnung« mit dem »jüdischen Bolschewismus« stand.50 In der zweiten Oktoberhälfte 1937 folgten antisemitische Ausschreitungen in Danzig.51 In den ersten Monaten des Jahres 1938 erließ das Regime eine ganze Serie von antijüdischen Ausnahmegesetzen: Sie betrafen die Änderung jüdischer Namen, den Status der jüdischen Kultusgemeinden, die ihre öffentlich-rechtliche Stellung verloren, den Ausschluss von Juden aus weiteren Berufen, die Versagung von Steuervorteilen und anderes mehr.52
Die Parteipresse steigerte bereits seit dem August 1937 die Zahl ihrer antisemitischen Beiträge. Diese Kampagne hielt nahezu unvermindert bis zum Frühjahr 1938 an. Der Völkische Beobachter veröffentlichte beispielsweise zwischen Oktober 1937 und Ende Februar 1938 nahezu täglich einen Beitrag mit antisemitischer Tendenz (nur im Dezember gab es einen leichten Rückgang). Schwerpunkte dieser Kampagne waren insbesondere Beiträge zur Frage der »jüdischen Kriminalität«, zahlreiche Artikel über den angeblichen jüdischen Einfluss im Ausland und entsprechende antisemitische »Abwehrmaßnahmen« sowie »kulturpolitische« und »wissenschaftliche« Beiträge zum Thema. Die gleichen Tendenzen lassen sich in der übrigen Parteipresse feststellen.53
Die Berichterstattung über die antisemitischen Erklärungen Hitlers und führender NS-Funktionäre auf dem Parteitag im September 1937 markierte den Auftakt der Kampagne.54 Ende Oktober/Anfang November 1937 folgten ausführliche Berichte über die Revisionsverhandlung im so genannten Berner Judenprozess, die mit einer Zurückweisung der von jüdischer Seite eingereichten Klage endete und entsprechend von der Parteipresse als »Niederlage des Weltjudentums« beziehungsweise als »Vernichtungsurteil über die Hetze des internationalen Weltjudentums« gewertet wurde.55
Das Propagandaministerium nahm das Revisionsurteil zum Anlass, detaillierte Sprachregelungen und Kommentarrichtlinien an die gesamte Presse auszugeben.56 Die Frankfurter Zeitung kommentierte das Urteil gleichwohl zurückhaltend: Politische Prozesse seien nun einmal kein geeigneter Weg, um Streitfragen wie diese zu klären, ob die Protokolle der Weisen von Zion echt seien oder nicht. Das »letzte und entscheidende Wort« habe die »wissenschaftliche Forschung« zu sprechen.57 Ähnlich nüchtern war der Kommentar des Berliner Tageblatts.58
Große Teile der bürgerlichen Presse übernahmen jedoch den triumphierenden Ton der Parteiblätter. So sprach die Deutsche Allgemeine Zeitung in einem Kommentar von einer »schweren Niederlage des internationalen Judentums«,59 für die Schlesische Zeitung war das Urteil ein »wichtiger Erfolg gegen die jüdische Propaganda«,60 die Münchner Neuesten Nachrichten werteten den Richterspruch als »moralische Verurteilung der jüdischen Kläger«.61
Die antijüdischen Ausschreitungen in Danzig spielten demgegenüber in der Presseberichterstattung eine untergeordnete Rolle: Der Völkische Beobachter veröffentlichte sogar eine Erklärung, in der sich die Danziger NSDAP von den Ereignissen distanzierte, während die Redaktion des Westdeutschen Beobachters unter der Schlagzeile »Die Juden provozieren« berichtete.62 Die übrige Presse vermerkte teilweise die Übergriffe, ohne sie jedoch gesondert zu kommentieren.63
Die Eröffnung der Ausstellung »Der ewige Jude« am 8. November 1937 in München, bei der Goebbels und der Nürnberger Gauleiter Julius Streicher sprachen, bot der Parteipresse erneut einen Anlass für antisemitische Ausfälle.64 In der übrigen Presse wurde die Eröffnung ausführlich gewürdigt. Vorberichte unterstrichen mehr oder weniger stark die Intentionen der Schau.65
Zwischen Mitte Dezember 1937 und Mai 1938 widmeten die Parteiblätter außerdem antijüdischen Maßnahmen ausländischer Regierungen viel Aufmerksamkeit: Das, allerdings nur vierzig Tage währende, radikalantisemitische Regime in Rumänien unter Ministerpräsident Octavian Goga wurde als Bestätigung des antisemitischen Kurses des NS-Regimes herausgestellt,66 die antisemitische Politik der ungarischen Regierung unter Ministerpräsident Kálmán Darányi ebenfalls gewürdigt: Die Verabschiedung eines antijüdischen Sondergesetzes, durch das ein Numerus clausus für eine ganze Reihe von Berufen eingeführt und etwa 15 000 jüdische Bürger um ihre professionelle Existenz gebracht wurden, erschien der NS-Presse als wesentlicher Einstieg in eine »Judenpolitik« nach deutschem Vorbild.67 Die nichtnationalsozialistische Presse verfolgte diese Ereignisse zum Teil ausführlich, verzichtete jedoch auf den triumphierenden Ton, der in der Parteipresse vorherrschte, und darauf, sie jeweils im Einzelnen zu kommentieren.68
Mit dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 gerieten etwa 200 000 Juden unter die Herrschaft des NS-Regimes. Im Zuge der Machtübernahme entwickelten die österreichischen Nationalsozialisten einen erheblichen antisemitischen Aktionismus: Es kam zu massiven Misshandlungen von Juden, von der Partei eingesetzte oder selbst ernannte »Kommissare« übernahmen die Geschäftsführung jüdischer Unternehmen. Seit April 1938 brachte der vom Reich eingesetzte Reichsstatthalter in Wien, Josef Bürckel, diese ungesetzliche »Arisierung« unter seine Kontrolle und sorgte dafür, dass die Enteignung jüdischen Eigentums planmäßig, im Rahmen eines Programms zur »Rationalisierung« und »Strukturbereinigung« erfolgte.69
Trotz dieses erheblichen antisemitischen Schubs traten in der Parteipresse nach dem »Anschluss« antisemitische Themen eher in den Hintergrund. Die Gewalttätigkeiten gegen die österreichischen Juden wurden nur indirekt thematisiert: Die Presse und auch die Wochenschau berichteten über die Fluchtbewegung der Wiener Juden.70 Die massive »Arisierung« jüdischen Besitzes wurde dagegen in der Parteipresse nur am Rande erwähnt.71 Es war die bürgerliche Presse, die der Enteignung jüdischen Besitzes in Österreich weit mehr Aufmerksamkeit schenkte.72
Die massiven Gewalttaten gegen Juden in Österreich zogen seit März 1938 vermehrt Übergriffe gegen Juden im Reichsgebiet nach sich. So berichtete der Regierungspräsident von Unterfranken über »Ausschreitungen, die in einer Reihe von Orten anlässlich der Eingliederung Österreichs gegenüber Juden verübt wurden«.73 Andere Dienststellen meldeten, Fensterscheiben seien eingeschlagen, Häuser in anderer Weise beschädigt und Juden körperlich angegriffen worden.74
Auch die Anstrengungen, die seit 1933 weitgehend unkoordiniert erfolgte Verdrängung der deutschen Juden aus der Wirtschaft nun im Rahmen einer umfassenden und systematischen Anstrengung zum Abschluss zu bringen, wurden intensiviert.75 Im April 1938 leitete der Berliner Gauleiter Goebbels eine Kampagne gegen die Berliner Juden ein, deren Ziel darin bestand, durch Ausschreitungen, behördliche Schikanen und groß angelegte polizeiliche Verhaftungsaktionen die Juden vollkommen von der übrigen Bevölkerung zu isolieren und sie aus der Stadt zu vertreiben.
Im Mai begann die Berliner Parteiorganisation, des Nachts Fensterscheiben jüdischer Geschäfte zu beschmieren oder einzuwerfen, und setzte diese Aktivitäten im Juni verstärkt fort: Dabei wurden nicht nur alle jüdischen Geschäfte durch Parolen »gekennzeichnet«, sondern auch Synagogen und Bethäuser demoliert. Mittlerweile hatte die Gestapo am 31. Mai auf diese Äußerungen des »Volkszorns« reagiert und in einer Großrazzia in einem Café am Kurfürstendamm über dreihundert Personen, ganz überwiegend Juden, festgenommen. Goebbels forderte nun die Berliner Polizei massiv zu noch radikalerem Vorgehen auf und erreichte, dass im Rahmen einer am 13. Juni beginnenden reichsweiten Verhaftungsaktion gegen »Asoziale« nun ebenfalls verstärkt Juden festgenommen wurden: Allein in Berlin waren es weit über tausend.
Die Berliner Aktion, aus Goebbels’ Sicht ein Probelauf für den im November 1938 stattfindenden reichsweiten Pogrom, wurde jedoch durch persönliches Eingreifen Hitlers am 22. Juni abgebrochen: Ganz offensichtlich entwickelte sich das negative Auslandsecho zu einer Belastung für das Regime. Auf der Sonnenwendfeier der Berliner Parteiorganisation hielt Goebbels erneut eine antisemitische Brandrede, kündigte aber an, die entsprechenden Maßnahmen würden auf gesetzlichem Wege erfolgen.76
Die Berliner Aktion, die von der internationalen Presse mit großer Aufmerksamkeit verfolgte wurde,77 fiel in einen Zeitraum, in dem die außenpolitischen Spannungen wegen der von NS-Deutschland forciert vorangetriebenen »Lösung« der Sudetenfrage zunahmen und zu einer massiven internationalen Krise um die in ihrer Existenz bedrohte Tschechoslowakei führten.78 Das Propagandaministerium reagierte und erließ seit dem 17. Juni detaillierte Richtlinien für die Presse, mit deren Hilfe die Berichterstattung über die Berliner Krawalle äußerst rigide gesteuert wurde.
Am 17. Juni hieß es auf der Pressekonferenz: »In der ausländischen Presse werde von Verhaftungen von Juden und antijüdischen Demonstrationen in Berlin berichtet. Tatsächlich hätten auch neben Verhaftungen im Rahmen der üblichen Fahndungsaktionen Demonstrationen stattgefunden, die dadurch begründet seien, dass aus allen Teilen des Reichs, besonders aber aus Österreich fortwährend Juden nach Berlin zuwanderten, die hier deutschen Volksgenossen Wohnungen und so weiter wegnehmen. Im Rahmen der Demonstrationen seien auch Inschutzhaftnahmen von Juden vorgenommen worden. Alles dies gebe jedoch der deutschen Presse keine Veranlassung, sich damit zu beschäftigen.«79
Am 18. Juni kündigte der Sprecher des Propagandaministeriums eine Notiz des Deutschen Nachrichtenbüros über die Festnahme von Juden an und gab dazu folgende Anweisung: »Verhaftungen aus politischen Gründen seien in Berlin in keinem Falle erfolgt. Einige Juden hätten zu ihrem persönlichen Schutz in Haft genommen werden müssen, weil die Berliner Bevölkerung über den ständigen Zuzug der Juden erregt sei.«80 Die Presse gab diese Anweisung in ihrer Berichterstattung zum Teil wörtlich wieder.81
Am 20. Juni hieß es auf der Pressekonferenz: »Über die ›Judenverfolgung‹ in Berlin und im Reiche berichtet das Ausland nach wie vor in größter Aufmachung. Die Gründe für diese Ereignisse seien bekannt: Die Bevölkerung sei erregt über die ›Emigration‹ der Juden nach Berlin, wo mehrere Tausend in den letzten Monaten zugezogen seien. Sie hätten geglaubt, in der Großstadt eher untertauchen zu können. Es seien zahlreiche neue jüdische Geschäfte eröffnet worden, vorhandene hätten erweitert werden können. Eine allgemeine Lauheit sei gegenüber der Judenfrage unverkennbar, besonders was den Kauf bei Juden angehe. Dies seien die Gründe, die zu einer spontanen Aktion geführt hätten.«82
Am 22. Juni wurde die Rede, die Goebbels am Vortag auf der Sonnenwendfeier der Berliner Parteiorganisation gehalten hatte, zur »Kommentierung empfohlen«, verbunden mit der »Bitte«, »die Judenfrage aufzugreifen. Dabei ist zu betonen, dass Einzelaktionen jetzt nicht mehr am Platz sind, ohne dass man aber die bisher geschehenen Einzelaktionen verurteilt oder von ihnen abrückt. Jetzt greift der Staat ein: Die jüdischen Geschäfte werden gekennzeichnet.« Lediglich »zur Information« wies der Sprecher des Propagandaministeriums darauf hin, es seien »tatsächlich auch einige Plünderungen vorgekommen, wobei aber schärfstens eingegriffen wird; im Schnellverfahren werden einige Plünderer abgeurteilt werden. Ohne das Eingeständnis der Plünderungen kann man vielleicht jetzt schon in den Kommentaren ganz allgemein von Plünderungen abrücken.«83
Die Parteipresse reduzierte im Juni ihre antisemitische Polemik tatsächlich erheblich84 und verzichtete darauf, die Berliner Ereignisse als Startsignal für eine neue antisemitische Kampagne zu nutzen. Auch die übrige Presse ging nur kurz darauf ein. Die Ausschreitungen der Parteianhänger fanden wenn, nur in Andeutungen statt, über die Polizeirazzien wurde meist recht knapp, teilweise mit deutlicher Verspätung und mit widersprüchlichen Zahlenangaben berichtet.85 Vergleicht man diese Haltung mit der aktiven Rolle, die vor allem die Parteipresse bei der Entfachung und Ausweitung der Krawalle im Jahre 1935 gespielt hatte, ist der Unterschied beträchtlich.
Auf die Berliner Aktion folgten im Juni, Juli und August weitere Ausschreitungen von Parteianhängern in anderen Städten des Reiches, so etwa in Magdeburg, in Stuttgart und in Hannover. In Frankfurt am Main nahm die Polizei im Juni uniformierte Parteifunktionäre fest, die vor jüdischen Geschäften »Posten standen«. In München und Nürnberg ordneten die Kommunalbehörden im Juni beziehungsweise August den Abbruch der Hauptsynagogen an.86 Im Juli 1938 wurden an verschiedenen Orten jüdische Friedhöfe geschändet.87 Im selben Monat intensivierte die Parteipresse erneut ihre antisemitische Propaganda, nahm sie während der Sudetenkrise im September deutlich zurück, um sie im Oktober wiederum zu steigern.88
In diesen Monaten vor dem Novemberpogrom rückte – neben der fortlaufenden Berichterstattung über die diversen antijüdischen Maßnahmen des Regimes89 – die Palästina-Frage wieder ins Zentrum der Berichterstattung. Die Betonung lag dabei auf dem »Blutterror« der Juden.90
Am 8. Juli machte sich Partei-Chefideologe Alfred Rosenberg aus Anlass der internationalen Konferenz in Evian, auf der über das durch die deutsche Politik aufgeworfene jüdische Flüchtlingsproblem beraten wurde, einige »Gedanken«, die er auf der Titelseite des Völkischen Beobachters unter dem Titel »Wohin mit den Juden?« veröffentlichte. Rosenberg beschäftigte sich mit der seiner Ansicht nach überall wachsenden antisemitischen Bewegung und stellte dann fest: »Vor den Augen jener Staaten aber, die so warm den Schutz Israels auf ihr Panier geschrieben haben, erhebt sich das Problem, ob sie mit der Zeit etwa sechs bis acht Millionen aufzunehmen gewillt erscheinen.« Im Folgenden diskutierte Rosenberg mögliche Lösungen für das »Problem« und kam zu folgenden Schlussfolgerungen. Erstens: »Palästina scheidet als großes Auswanderungszentrum aus.« Zweitens: »Die Staaten der Welt sehen sich nicht in der Lage, die Juden Europas aufzunehmen.« Drittens: »Es muss also nach einem geschlossenen, von Europäern noch nicht besiedelten Gebiet Umschau gehalten werden.« Viertens: »Bliebe noch die Möglichkeit: die Sowjetunion.«
Einige Tage später schrieb Rosenberg erneut einen groß aufgemachten Kommentar für die Titelseite des Völkischen Beobachters, in dem er – unter dem Titel »In den Händen von Nichtariern liegt das Leben von Millionen« – die angebliche Behauptung einer jüdischen Zeitschrift aus den USA aufgriff, die jüdischen Politiker Léon Blum (Frankreich), Maxim Maximowitsch Litwinow (UdSSR) und Leslie Hore-Belisha (Großbritannien) hätten sich zur »Vernichtung Deutschlands« zusammengeschlossen. 91
Daneben widmete die Parteipresse den antijüdischen Maßnahmen, die die faschistische Regierung Italiens seit dem Juli 1938 verhängte, viel Aufmerksamkeit. In einem grundsätzlichen Kommentar im Völkischen Beobachter hob der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, die dadurch hergestellte grundsätzliche Übereinstimmung beider Länder in der »Rassenfrage« und insbesondere in der »Judenfrage« hervor. 92 Im Oktober ging es um Maßnahmen, die die Prager Regierung unter deutschem Druck gegen jüdische Emigranten einleitete,93 und um antisemitische Bestrebungen im slowakischen Gebiet der ˇSR.94
Auch in der nichtnationalsozialistischen Presse spielten die Vorgänge im faschistischen Italien eine große Rolle,95 während die antijüdischen Maßnahmen in der tschechoslowakischen Republik weit weniger beachtet wurden96 und die Berichterstattung über Palästina meist wesentlich nüchterner als in der Parteipresse ausfiel.97 Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht jedoch die Deutsche Allgemeine Zeitung dar, die im gleichen Tonfall wie die Parteipresse über den »jüdischen Terror« in Palästina berichtete. 98 Der stark antisemitische Rosenberg-Artikel aus dem Völkischen Beobachter vom 17. Juli – »In den Händen von Nichtariern liegt das Leben von Millionen« – wurde in einer ganzen Reihe nichtnationalsozialistischer Zeitungen nachgedruckt.99
Wie stark sich ein Teil der nichtnationalsozialistischen Presse bereits dem NS-Jargon angenähert hatte, soll anhand einiger Beispiele aus der Zeit unmittelbar vor dem Novemberpogrom verdeutlicht werden. Die Berliner Börsenzeitung etwa behauptete in einer Serie über Südafrika, es »beherrscht heute der Jude das gesamte Wirtschaftsleben Südafrikas«,100 sprach – im Zusammenhang mit der britischen Palästinapolitik – vom »Machtwillen des Weltjudentums«101 und berichtete über die antijüdischen Maßnahmen der slowakischen Regierung unter der Überschrift »Reinigung der Slowakei vom Judentum«.102 Die Deutsche Allgemeine Zeitung übernahm im Juli 1938 einen wüsten antisemitischen Beitrag Alfred Rosenbergs aus dem Völkischen Beobachter, in dem dieser die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung nachzuweisen suchte, und kommentierte ihn zustimmend wie folgt:
»Mit der Geschicklichkeit, die das Judentum befähigt, bei seinen Gastvölkern unmerklich die maßgebenden Positionen des politischen und kulturellen Lebens in die Hand zu bekommen, geht eine merkwürdige, aus Übermut entspringende Torheit des Judentums Hand in Hand, sich seiner Machtstellung zu rühmen und die Exponenten seiner Macht in einem alljüdischen Sinne für sich zu reklamieren.«103
Die gleiche Zeitung gab am 28. Juli 1938 in einem Kommentar ihrer Meinung Ausdruck, die »bewusste Besinnung auf die Rasse und ihren Schutz ist uns Deutschen ein selbstverständliches Gedankengut geworden«. Einen angeblich von Juden verübten Überfall auf eine deutsche Reisegruppe in Antwerpen Ende Oktober, der in den großen Blättern allgemein zur Kenntnis genommen wurde,104 kommentierte die Deutsche Allgemeine Zeitung wie folgt:
»Dieser gemeine Überfall enthüllt eine Seite des jüdischen Charakters, die vielleicht nicht überall bekannt ist. Scheinbare Konzilianz des einzelnen wird in der Zusammenrottung, wie oft beobachtet werden kann, zu unerhörter und unverschämter Frechheit mit lauten und prätentiösen Reden und, wie der Vorfall in Antwerpen zeigt, mit Gewalttätigkeiten durch feige Überfälle aus dem Hinterhalt auf harmlose Reisende. Auch in diesem Falle scheinen sich die jüdischen Rowdies nicht über die Folgen ihres Vorgehens im klaren zu sein.«105

Reaktionen der Bevölkerung

Die Deutschland-Berichte der Sopade, die dem antijüdischen Terror der Nazis in dieser Phase viel Raum widmeten, zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die diesen Terrorakten ganz überwiegend ablehnend gegenüberstand.106 Allerdings vermitteln die Berichte auch eine Vorstellung davon, wie die jahrelange antisemitische Propaganda dennoch allmählich einsickerte. So heißt es etwa in einem Bericht aus Norddeutschland Ende 1937, zwar wolle der »Kern der organisierten Arbeiterschaft« mit der »Judenhetze« nichts zu tun haben, aber in der »breiten Masse der indifferenten Arbeiter« habe »das ständige antisemitische Trommelfeuer« doch »seine Wirkung getan«, denn: »Auch Leute, die früher gar nicht wussten, was ein Jude ist, schieben heute alles Unheil auf die Juden.«
In Berlin, so die Deutschland-Berichte vom Februar 1938, sei »vom Antisemitismus […] nichts zu merken«. Auch in Bayern sei die Bevölkerung keineswegs antisemitisch geworden; man mache »Unterschiede zwischen Juden und Juden«; das Benehmen der Nazis stoße, so ein anderer Bericht, »überall« auf Ablehnung.107
Im Juli hieß es einleitend zu einer Reihe von Berichten, sie machten deutlich, dass »die Bevölkerung zum größten Teil die Judenverfolgung nach wie vor nicht billigt«.108 Zur Stützung dieser Einschätzung wurden Berichte aus Mannheim und Konstanz zitiert;109 die Bevölkerung zeige, so heißt es aus weiteren Berichten aus dem südwestdeutschen Raum und Rheinland-Westfalen, Juden gegenüber Sympathie und (wann immer es mit geringen persönlichen Risiken verbunden sei) »Mitgefühl«.110 Ein Bericht für Berlin verzeichnet gemischte Eindrücke: »Es soll nicht vergessen werden, dass auch nicht wenige Stimmen laut werden, die gegen die Exzesse protestieren. Aber viele Menschen sind infolge der langen antisemitischen Hetze selbst antisemitisch geworden.« In einem anderen Bericht aus der Reichshauptstadt heißt es: »Die meisten Menschen stehen dem Treiben gegen die Juden fremd, desinteressiert, oft auch ablehnend gegenüber. Selbst diejenigen, die für eine Zurückdrängung der Juden aus dem Wirtschafts- und dem öffentlichen Leben sind, lehnen zum größten Teil die grausamen und unmenschlichen Methoden ab, mit denen die Juden gequält werden.111 Gemischte Reaktionen wurden auch aus Schlesien vermeldet; die Bevölkerung sei im Übrigen mit einem drohenden Kriegsausbruch beschäftigt und wende wenig Interesse für die »Judenfrage«auf. 112
Aus der offiziellen Berichterstattung des Regimes wird deutlich, dass die Bevölkerung auch im Jahre 1938 – trotz entsprechender Propaganda und erheblichen Drucks seitens der Partei – nicht bereit war, geschäftliche Kontakte mit Juden vollkommen aufzugeben. Behörden aus allen Teilen des Reiches bemängelten, nach wie vor tätigten jüdische Händler, insbesondere Viehhändler, eifrig Geschäfte mit der ländlichen Bevölkerung;113 jüdische Geschäfte würden nach wie vor frequentiert.114
Der Chef der Sicherheitspolizei zeigte sich im Februar 1938 höchst alarmiert über Erhebungen des Gauwirtschaftsberaters der Berliner NSDAP, wonach »arische« Einzelhändler »heute noch für etwa 400 Millionen Reichsmark Bekleidungswaren vom nichtarischen Konfektionsgewerbe« bezögen, was zur Folge habe, dass »12 bis 15 Millionen deutscher Volksgenossen ahnungslos Mäntel, Anzüge, Kleider usw. tragen, die von Juden geliefert sind«.115 Auch andere Firmen, so geht aus den Berichten hervor, unterhielten weiterhin Geschäftsbeziehungen zu Juden oder ließen sich im Ausland durch jüdische Repräsentanten vertreten.116
Außerdem finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass in Teilen der Bevölkerung das Verständnis für den vom Regime propagierten rassischen Antisemitismus unterentwickelt war.117 Auffällig ist jedoch, dass sich die antisemitischen Ausschreitungen vom Frühjahr und Sommer 1938 in den erhaltenen Berichten praktisch nicht als die Stimmung beeinflussender Faktor niederschlagen: Folgt man den Berichten (oder besser gesagt: ihrem Schweigen in diesem Punkt), so scheint die Bevölkerung den Übergriffen vom Frühjahr und Sommer 1938 – ganz im Gegensatz zu den Unruhen von 1935 und den Exzessen, die während der »Kristallnacht« begangen werden sollten – teilnahmslos gegenübergestanden zu haben, ein Eindruck, der durch den Tenor der Sopade-Berichte bestätigt wird.
Eine Erklärung für diese scheinbare »Indifferenz« könnte darin liegen, dass es den Parteiaktivisten nicht gelang, die Ausschreitungen zu einer groß angelegten, reichsweiten antisemitischen Kampagne zu verdichten, wie dies 1935 geschehen war und nach dem 9. November 1938 erneut geschehen sollte. Ohne massive Unterstützung durch die Parteipresse, die phasenweise zur relativen Zurückhaltung in der »Judenfrage« gezwungen war, ließ sich aus den örtlich auflodernden Unruhen kein Flächenbrand entfachen. Was aber in der nationalsozialistisch kontrollierten Öffentlichkeit keine Beachtung fand, was in der offiziellen Sicht der Dinge gar nicht (oder nur ganz am Rande) stattfand, das griffen die offiziellen Berichte auch nicht als einen die »Stimmung« beeinflussenden Faktor auf.
Hinzu kommt, dass bei den Ausschreitungen im Frühjahr und Frühsommer 1938 die Spannungen zwischen den verschiedenen Akteuren im Rahmen blieben. Das Vorgehen von Polizei und Partei scheint nun – wie das Berliner Beispiel zeigte – enger koordiniert worden zu sein, als dies noch 1935 der Fall gewesen war, und offenbar konnten die Polizeibehörden, insbesondere nach Hitlers Machtwort zur Beendigung der Berliner Aktion vom Juni 1938, die Ausschreitungen relativ leicht beenden, wenn sie es für notwendig hielten. Und im Unterschied zu 1935 musste die Parteiführung den Parteiaktivisten nicht mehr langwierig auseinandersetzen, dass Verbote wirklich Verbote bedeuteten. Mit anderen Worten: Weder staatliche Stellen noch der Parteiapparat hatten diesmal Veranlassung, die negative »Volksstimmung« ins Spiel zu bringen, um unerwünschte antijüdische Ausschreitungen einzudämmen oder illegale Aktionen der Parteiaktivisten zu unterbinden. Was auf den ersten Blick wie »Indifferenz« der Bevölkerung aussieht, könnte demnach vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die antijüdischen Maßnahmen im Frühjahr und Sommer 1938 erstens weitgehend im Konsens der beteiligten Partei- und Staatsstellen und zweitens ohne direkte Appelle der Presse zu antijüdischen Aktionen durchgeführt wurden.

Herbst 1938: Im Übergang zum Pogrom

Die Berichterstattung für den September 1938 steht ganz unter dem Eindruck der verbreiteten Befürchtung, die Sudetenkrise werde in einen Krieg mit den Westmächten münden. Der Monatsbericht der Judenabteilung des SD-Hauptamts für September 1938 spricht offen von einer »Kriegspychose« der Bevölkerung.118 Diese depressive Stimmung, das zeigt eine Reihe von Berichten deutlich, suchte sich ein Ventil: Radikale Parteianhänger wollten »Rache« an den Juden nehmen, die für die drohende Kriegsgefahr verantwortlich gemacht wurden.
Die zahlreichen Berichte über die »Stimmung der Bevölkerung gegen die Judenschaft«, die sich »unter dem Eindruck der außenpolitischen Entwicklung verschärft« habe,119 die Empörung über das angeblich »provozierende« und »freche« jüdische Verhalten120 in diesen Monaten spiegeln in Wirklichkeit diese Frontstellung radikaler Parteianhänger gegenüber dem »inneren Feind« wider. Die feindselige Stimmung führte im September und verstärkt im Oktober – nachdem mit dem Abschluss des Münchner Abkommens die unmittelbare Kriegsgefahr beseitigt war – zu gesteigerter Gewalttätigkeit gegenüber Juden, jüdischen Einrichtungen und jüdischem Besitz: »Vorkommnisse, die spontan aus dem Willen der Gesamtbevölkerung entstehen«, wie der Regierungspräsident der Pfalz glauben machen wollte.121
In mindestens einem Dutzend Orten wurden Synagogen durch Anschläge verwüstet oder erheblich beschädigt,122 Juden wurden geschlagen und gedemütigt, Fensterscheiben in Wohnungen und Geschäften eingeworfen, jüdische Geschäfte mit Parolen beschmiert.123 Aus einigen Orten wurden die ansässigen Juden regelrecht vertrieben, insbesondere im fränkischen Raum, in Württemberg und in der Pfalz.124
In einem Fall lassen sich die Ereignisse genauer rekonstruieren und die Organisatoren der Vertreibung eindeutig zuordnen. Der Regierungspräsident von Ober- und Mittelfranken meldete, es mache sich in Folge der »Mord- und Gräueltaten an Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei […] in der Marktgemeinde Bechhofen, BA125 Feuchtwangen, und in Wilhermsdorf, BA Neustadt a.d.Aisch, eine große Empörung gegen die dort wohnhaften Juden geltend. Die Juden haben daraufhin Bechhofen und Wilhermsdorf verlassen.«126 Ein detaillierter Bericht des SD-Oberabschnitts München über die Ereignisse in Bechhofen macht jedoch deutlich, von wem diese »Empörung« ausging: Danach war die Aktion von »Angehörigen der Gliederungen der Partei […] in Zivil« durchgeführt worden.127 Der gleiche SD-Bericht weist ausdrücklich darauf hin, die »Art und Weise der Durchführung dieser Maßnahme« habe bei der Bevölkerung »ungeheure Empörung« hervorgerufen.
Besonders gravierende Ausmaße erreichten die antisemitischen Ausschreitungen in Wien. Die Wiener Parteiorganisation versuchte seit Oktober, die einheimischen Juden durch systematische Anwendung von Gewalt aus der Stadt zu vertreiben. Der Lageberichterstattung des SD für Oktober 1938 ist zu entnehmen, dass in der Nacht zum 5. Oktober (dem jüdischen Versöhnungsfest) in mehreren Bezirken der Stadt Juden »durch Amtswalter der Partei zur sofortigen Räumung ihrer Wohnungen aufgefordert« wurden. »In fast allen Häusern wurden Plakate angebracht, nach denen die Juden spätestens am 10.10.38 aus den Bezirken zu verschwinden hätten.« Seit Mitte Oktober häuften sich außerdem Anschläge auf Synagogen und jüdische Einrichtungen. Erpressung, Raub und Gewaltanwendung gegen jüdische Bürger waren ein weit verbreitetes Phänomen. Anfang November befand sich Wien bereits in einem gleitenden Übergang zum Pogrom.128
Auch der Lagebericht der Judenabteilung des SD-Hauptamts hielt für Oktober 1938 fest, dass diese »Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung […] im Süden und Südwesten des Reiches teilweise pogromartigen Charakter annahmen«.129 Weiter heißt es: »Dabei wurden in zahlreichen Städten und Ortschaften die Synagogen zerstört oder in Brand gesteckt und die Fenster jüdischer Geschäfte und Wohnungen zerschlagen. Im Gau Franken und in Württemberg wurden die Juden einzelner Ortschaften z.T. durch die Bevölkerung gezwungen, ihren Wohnsitz sofort unter Mitnahme des Nötigsten zu verlassen.« Im folgenden Satz macht der Bericht jedoch deutlich, was man unter »der Bevölkerung« verstand: »Diese von den Ortsgruppen oder Kreisleitern angeregten und von den Gliederungen der Partei durchgeführten Aktionen hatten zumeist rein örtlichen Charakter. Dabei konnte festgestellt werden, dass die katholische Bevölkerung zumeist die Art des Vorgehens missbilligte.«
Der Kommentar der Judenabteilung des SD zu der aufkeimenden Pogromstimmung bei einem Teil der Parteiaktivisten, Ende Oktober 1938 verfasst, wirft bereits ein Schlaglicht auf die Einstellung dieser Kreise im Herbst 1938: »Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung zum Teil auch daraus entstanden sind, dass die Parteiangehörigen den Augenblick zur endgültigen Liquidierung der Judenfrage gekommen glaubten.«130
Nur wenige Tage später sollte das Regime den Parteiaktivisten Gelegenheit geben, ihren Hass und ihre Gewaltbereitschaft gegenüber der jüdischen Minderheit hemmungslos auszuleben.