Boykott: Die Verfolgung beginnt

Judenverfolgung und Propaganda in der Vorkriegszeit: Einige Vorbemerkungen

Angesichts des zentralen Stellenwerts, den die Judenverfolgung in der Geschichte des Nationalsozialismus zweifelsohne besaß, liegt die Vorstellung nahe, die deutsche Bevölkerung sei von 1933 bis 1945 durch die vom Regime kontrollierten Medien mit einem Dauerfeuer antisemitischer Propaganda belegt worden. Ein genauer Blick auf die Quellen ergibt jedoch ein anderes Bild.
Sicher spielte das Thema Antisemitismus in der NS-Propaganda eine wichtige Rolle; dennoch war es jedoch keineswegs immer und in allen Medien als das alles überstrahlende Thema präsent. Obwohl dem Antisemitismus in der so genannten nationalsozialistischen Weltanschauung eine Schlüsselfunktion zukam und führende Nationalsozialisten sich von einer Lösung der »Judenfrage« geradezu paradiesische Zustände versprachen, kann man nicht behaupten, dass die NS-Propaganda insgesamt einen solchen »Erlösungsantisemitismus« konsequent und kontinuierlich als ihr zentrales Thema behandelt hätte.
Vielmehr zeigt sich, dass Antisemitismus je nach Zeitpunkt in höchst unterschiedlichem Umfang in der nationalsozialistisch dirigierten Öffentlichkeit thematisiert wurde und dass die einzelnen Medien (wie wir vor allem anhand verschiedener Zeitungen sehen werden) dabei höchst unterschiedliche Funktionen erfüllten.
Beginnen wir mit der Presse: In den vom Propagandaministerium herausgegebenen Presseanweisungen, die in einer vielbändigen Edition dokumentiert sind, spielten antisemitische Themen zwischen 1933 und dem Pogrom vom November 1938 insgesamt gesehen eine relativ untergeordnete Rolle. Das mag auf den ersten Blick überraschen.
Insbesondere in den ersten Jahren der NS-Herrschaft – 1933 und 1934 und selbst während der antisemitischen Kampagne, die die NSDAP Anfang 1935 und im Sommer dieses Jahres organisierte – wurde die »Judenfrage« in den Anweisungen des Propagandaministeriums an die Presse so gut wie überhaupt nicht behandelt. Damals wurde die antisemitische Kampagne offensichtlich in erster Linie über die Parteipresse und den Propagandaapparat der Partei, nicht jedoch über die allgemeine Presse geführt.
Eine solche Unterscheidung zwischen Parteiorganen und »allgemeiner«, das heißt nichtnationalsozialistischer Presse ist trotz der Verbotsund Gleichschaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten im Pressebereich vor allem für den Zeitraum vor Beginn des Zweiten Weltkrieges sinnvoll. Denn der Parteipresse und der allgemeinen Presse oblagen im Rahmen der NS-Propagandapolitik je eigene Aufgaben, und sie gingen daher in Inhalt und Aufmachung durchaus getrennte Wege.
Nach dem Verbot der linken und regimegegnerischen Zeitungen im Zuge der »Machtergreifung« bestand die allgemeine Presse ganz überwiegend aus Blättern, die vor der Machtergreifung politisch farblos, deutschnational oder ganz allgemein »rechts« ausgerichtet gewesen waren. Hinzu kamen einige vormals bürgerlich-liberale Zeitungen, deren Existenz durch das Regime geduldet wurde. Eine Sonderrolle spielte die katholische Presse.
Alle diese nichtnationalsozialistischen Zeitungen waren – als das Ergebnis von Zwang und Selbstanpassung – mehr oder weniger »gleichgeschaltet«, das heißt in die Propagandapolitik des Regimes integriert. Dass dies funktionierte, garantierte ein ausgefeiltes System der Presselenkung: Die Zeitungsredaktionen waren verpflichtet, ihre Arbeit an den detaillierten Anweisungen des Propagandaministeriums auszurichten; Journalisten und Verleger waren Disziplinierungsmaßnahmen unterworfen und konnten ihren Beruf ohnehin nur ausüben, wenn sie Mitglied in einem der Berufsverbände der Reichspressekammer waren. Außerdem wurde nach 1933 ein großer Teil der offiziell nichtnationalsozialistischen Presse in Wirklichkeit durch ein System verschachtelter Beteiligungen durch einen von der NSDAP kontrolliertem Pressetrust erworben und auf diese Weise zusätzlich kontrolliert.
Trotzdem bot die deutsche Presse der Jahre 1933 bis 1938 kein vollkommen uniformes Bild. Aus Sicht der »Presseführung« schien es durchaus opportun zu sein, gewisse Konzessionen an das Lesepublikum zu machen, wollte man die sterile Langeweile einer »Einheitszeitung« vermeiden. So gab es in der Presselandschaft Raum für lokale oder regionale Besonderheiten, und auch an die katholische Leserschaft und an ein gebildetes, bürgerliches Publikum wurden Zugeständnisse gemacht; aus außenpolitischen Gründen erwog man zudem, eine gewisse Bandbreite in der Berichterstattung zuzulassen, damit die deutsche Presse außerhalb Deutschlands überhaupt noch als zitierfähig gelten konnte. Auch innenpolitisch sprach einiges dafür, die – allerdings stetig schwindende – Illusion aufrechtzuerhalten, es gebe außerhalb der eigentlichen Parteipresse noch so etwas wie eine zumindest in Ansätzen unabhängige »öffentliche Meinung« in Deutschland.1
Unterschiede in der Berichterstattung lassen sich in den Jahren 1933 bis 1938 vor allem im Hinblick auf die Judenverfolgung und die antisemitische Propaganda ausmachen. Während die Parteipresse in den Jahren 1933, 1935 und 1938 groß angelegte antisemitische Kampagnen durchführte und in den Jahren zwischen diesen Höhepunkten geflissentlich darauf achtete, zumindest eine Art »Grundversorgung« ihrer Leserschaft mit antisemitischer Propaganda sicherzustellen, war die übrige Presse weitaus zurückhaltender: Im Vordergrund stand hier gerade in den Anfangsjahren eine relativ neutrale Berichterstattung über die judenfeindlichen Maßnahmen des Regimes; erst im Laufe der Zeit nahmen die Kommentare und Betrachtungen der Redaktionen eine deutlich antisemitischere Färbung an, nun auch immer häufiger durchsetzt vom judenfeindlichen Jargon der Parteipresse.
Diese Beobachtung gilt auch für andere Medien. Hier ist allerdings die Quellenlage komplizierter. Eine vor einigen Jahren vom Deutschen Rundfunkarchiv zusammengestellte Edition von Sendemanuskripten aus den Jahren 1933 bis 1945, die die Verfolgung der Juden thematisierten oder antisemitisch ausgerichtet waren, versammelt zwar die beachtliche Zahl von 201 Dokumenten, darunter eine ganze Reihe bemerkenswerter Aussagen führender Nationalsozialisten über die künftige »Judenpolitik« des Regimes.2 Doch angesichts der sicher einigen zehntausend Wortsendungen, die zwischen 1933 und 1945 von den deutschen Radiostationen gesendet wurden, lässt diese Sammlung allein noch keine Rückschlüsse darüber zu, welche Rolle das Thema Judenverfolgung im deutschen Radio spielte. Nicht einmal Schätzungen über die Häufigkeit antisemitischer Themen in den NS-Rundfunkprogrammen sind möglich. Aus den erhaltenen Aktensplittern über die täglichen Programme ergibt sich jedoch der begründete Eindruck, dass – ähnlich wie in der Presse – das Thema Antisemitismus in der Vorkriegszeit in den Phasen, in denen relative Ruhe in der »Judenpolitik« herrschte, auch im Rundfunk eine untergeordnete Rolle spielte, während in der Zeit nach der so genannten Kristallnacht – ebenfalls wie in der Presse – eine äußerst intensive antisemitische Propaganda betrieben wurde.3 Ob diese Parallele zwischen Presse und Rundfunk auch für die anderen Phasen verschärfter Verfolgung, insbesondere während der Kriegszeit, gilt, darüber können wir – zumal vor dem Hintergrund, dass das Radio während des Krieges zunehmend zwecks Unterhaltung und Ablenkung eingesetzt wurde – nur spekulieren.4 Der Einsatz des Rundfunks im Rahmen der »Judenpolitik« des Regimes bleibt daher weitgehend im Dunkeln.5
In den vier deutschen Wochenschauen wurde die Judenverfolgung vor Kriegsbeginn nur relativ selten thematisiert: Lediglich zwei Wochenschauen, Fox und Deulig-Tonwoche, berichteten über den so genannten Boykott vom 1. April 1933. Die Ufa-Wochenschau brachte einen Bericht vom Reichsparteitag 1935, ließ jedoch die Verkündung der Nürnberger Gesetze aus. Der Novemberpogrom wurde in den Wochenschauen selbstverständlich nicht behandelt; man begnügte sich mit Berichten über die Trauerfeier für Ernst vom Rath.6 Ähnlich schwach vertreten waren die Themen Antisemitismus und Judenverfolgung in der Serie »Echo der Heimat«, einer etwa halbjährlich erscheinenden Folge von Filmen für Auslandsdeutsche: Hier wurde das Gustloff-Attentat zwei Mal angesprochen, anlässlich der Beisetzung Gustloffs 1936 sowie nach dem Prozess gegen David Frankfurter 1937.7 Auch in den in Deutschland vor Kriegsbeginn produzierten Dokumentar- und Spielfilmen spielte Antisemitismus keine größere Rolle. Dies sollte sich erst während des Krieges ändern.8

Die erste antisemitische Welle

Wenige Tage nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 gingen nationalsozialistische Parteiaktivisten überall im Reichsgebiet dazu über, einen »Boykott« jüdischer Geschäfte zu organisieren, der tatsächlich die Form einer gewaltsamen Blockade annahm: Sie demonstrierten lautstark vor den entsprechenden Läden, beschmierten die Fensterscheiben mit Warnungen, hielten Kunden vom Betreten der Geschäfte ab oder notierten ihre Namen. An vielen Orten hinderten sie ferner jüdische Juristen gewaltsam an der Ausübung ihres Berufes; in einer Reihe von Fällen wurden jüdische Juristen durch den Mob regelrecht aus dem Gerichtsgebäude gejagt.9 Die Führung der NSDAP bremste diese »wilden« antijüdischen Aktionen nach einigen Tagen jedoch wieder ab. Solche massiven Störungen der öffentlichen Ordnung erschienen Mitte März 1933 inopportun, benötigte man doch die Zustimmung der gemäßigten Rechtsparteien für die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes.
Ende März 1933 – das Ermächtigungsgesetz hatte inzwischen den Reichstag passiert – vollzog die nationalsozialistische Führung jedoch eine Kehrtwendung und kündigte nun selbst einen von der Partei zentral gesteuerten »Boykott« jüdischer Geschäfte an. Anlass bot die wachsende Kritik des Auslands an dem Terror während der so genannten Machtergreifung: Sie sollte durch eine gezielte »Aktion« gegen die deutschen Juden zum Schweigen gebracht werden. Um die Situation unter Kontrolle zu behalten, wurde der Boykott jedoch auf einen einzigen Tag, den 1. April 1933, beschränkt. An diesem Tag blockierten SA- und HJ-Angehörige, versehen mit Plakaten und Flugblättern, nach »bewährtem« Muster den Zugang zu den jüdischen Geschäften und hinderten Kunden daran, diese zu betreten. Infolge der fortdauernden Belästigungen sahen sich die Geschäftsinhaber im Laufe des Tages genötigt, ihre Geschäfte zu schließen.
Und wie reagierte die Presse auf die Ereignisse dieses Frühjahrs? Die Parteiblätter der NSDAP, die ihre antisemitische Grundhaltung in der letzten Phase der Weimarer Republik keineswegs aufgegeben hatten, waren bereits um die Jahreswende 1932/33 dazu übergegangen, verstärkt antijüdische Themen aufzugreifen.10 Insbesondere die nationalsozialistische Provinzpresse berichtete im März 1933 intensiv über den nichtautorisierten Boykott der Parteiaktivisten und versuchte, durch entsprechende Berichte den Flächenbrand auszuweiten.11 Dabei waren die Parteizeitungen bestrebt, die Aktionen als spontane Kundgebungen der »Volksmassen« darzustellen, wie etwa die Niedersächsische Tageszeitung ihren Lesern klar zu machen suchte: »Wie wir bereits berichteten, mussten gestern unter dem Druck der Volksmassen die jüdischen Großkaufhäuser in Hannover ihre Pforten schließen. Diese Aktion geschah nicht auf Veranlassung irgendwelcher Parteistellen, sie war vielmehr der spontane Ausdruck des Massenwillens, der die Totengräber des deutschen Mittelstandes und des deutschen Gewerbetreibens beseitigt wissen will.«12 Mitte März veröffentlichten dann jedoch alle Parteiblätter die Aufrufe der Parteileitung, die »Einzelaktionen« einzustellen.13 Lediglich in den NS-Blättern, die direkt an die Parteiführung angebunden waren, fanden die Boykottaktionen der Parteibasis vom März 1933 praktisch keinen Niederschlag: Weder der Völkische Beobachter noch der vom Berliner Gauleiter und Reichspropagandachef der Partei herausgegebene Angriff nahmen von diesen durch die Parteiführung nicht autorisierten, »wilden« Aktionen in größerem Umfang Notiz.14
Ihre antisemitische Propaganda setzten die beiden großen Parteiblätter dennoch auch im Frühjahr 1933 ungemindert fort. So brachte beispielsweise der Völkische Beobachter, nachdem er seine antisemitische Propaganda im Frühjahr 1932 drastisch reduziert hatte, in den folgenden Monaten des Jahres 1932 durchschnittlich etwa zwei bis drei Beiträge pro Woche, in den Sommermonaten sank die Quote sogar weiter ab; seit Dezember 1932 waren es jedoch wieder etwa drei bis vier einschlägige Beiträge pro Woche. Die Bandbreite der Themen ist dabei typisch für die Art und Weise, wie das antisemitische Leitmotiv in der NS-Presse abgehandelt wurde: In Meldungen und Artikeln versuchten die Propagandisten, den angeblich erdrückenden jüdischen Einfluss im In- und Ausland nachzuweisen. Besonderes Gewicht legte man auf »jüdische« Kriminalität und auf Skandale, die Juden zugeschrieben wurden; immer wieder wurde anhand von Beispielen auf die »Verjudung« des deutschen Kulturlebens hingewiesen; hinzu kamen Beiträge über den vermeintlich unheilvollen Einfluss der Juden auf das Wirtschaftsleben, und selbst die Sportseite blieb nicht frei von antisemitischen Injurien.15 Die gegnerische Presse galt der Zeitung routinemäßig als »Judenpresse«, der Weimarer Staat als »Judenrepublik«.
Trotzdem war der Antisemitismus nicht das Hauptthema des Völkischen Beobachters. Es war nicht die Politik des Blattes, die Leserschaft täglich mit antisemitischer Propaganda zu überziehen. Eher hat es den Anschein, dass diese weitgefächerte Propaganda für diejenigen bestimmt war, die die Zeitung gründlich lasen: Bei dieser treuen Leserschicht sollte – nach dem Motto »typisch jüdisch« – ein Wiedererkennungseffekt ausgelöst werden.
Im Angriff, dem als großstädtische Boulevardzeitung aufgezogenen Hauptstadtorgan der NSDAP, nahm der Antisemitismus von je her eine etwas plakativere Rolle ein als im Völkischen Beobachter. Waren 1932 durchschnittlich zwei bis drei antisemitische Beiträge pro Woche erschienen, so intensivierte das Blatt im Januar 1933 seine diesbezüglichen Anstrengungen. Noch stärker als der Völkische Beobachter darauf angelegt, das Verhalten von Juden zu skandalisieren, und überdies vulgärer, brachte Der Angriff nun durchschnittlich etwa einen antisemitischen Beitrag pro Tag (wobei die Zahl der einschlägigen Beiträge im Februar vorübergehend zurückgefahren wurde).16
Eine Woche vor dem offiziellen Boykott vom 1. April ging die gesamte Parteipresse zu einer massiven und konzertierten antijüdischen Kampagne über; alle Aufmacher waren darauf zugeschnitten. Im Vordergrund der Kampagne stand die Behauptung, gegen die neue Regierung ergieße sich eine weltweite »jüdische Gräuelhetze«; angesichts dieser Welle sei der geplante Boykott jüdischer Geschäfte in Deutschland eine legitime Gegenmaßnahme.17
Auch die nichtnationalsozialistische Presse, die im März 1933 die Ausschreitungen der NSDAP-Anhänger beobachtet hatte, übernahm in diesen Tagen die vom Regime in Umlauf gebrachten Schlagworte von der ausländischen »Gräuelpropaganda« und der »deutschfeindlichen Hetze«. Die meisten Zeitungen vermieden es zwar, die »Gräuelpropaganda« mit dem Adjektiv »jüdisch« zu versehen; aus den Kommentaren ergibt sich jedoch recht eindeutig, woher nach Auffassung auch dieser Zeitungsredaktionen die »Gräuel« kamen.
Die Frankfurter Zeitung vom 28. März etwa sprach in einem Kommentar unter dem Titel »Auf falschem Wege« eine deutliche Warnung aus: »Wenn die Juden verschiedener großer Länder […] sich der Hoffnung hingeben sollten, durch die Entfaltung irgendwelcher deutschfeindlicher Propaganda den deutschen Juden zu Hilfe kommen zu können, so müssen wir ihnen sagen, dass sie dabei viel Schaden, aber keinen Nutzen anrichten werden …«
Die kurze Passage zeigt, in welches Dilemma die Frankfurter Zeitung und andere bürgerliche Blätter geraten konnten: In der aufgeheizten Situation vom Frühjahr 1933 das Ausland davor zu warnen, weitere Kritik an Deutschland werde sich auf die deutschen Juden negativ auswirken, hatte – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – genau die Wirkung, die die neue Regierung hervorrufen wollte. Die Kritik aus dem Ausland sollte durch Druck auf die deutschen Juden zum Verstummen gebracht werden. Verschiedene nichtnationalsozialistische Blätter riefen denn auch dazu auf, sich an der »Abwehr« gegen die Gräuelpropaganda zu beteiligen,18 und beeilten sich, deutlich zu machen, dass sie selbst an vorderster Front gegen die »Gräuel« ankämpften.19
Auch wenn die nichtnationalsozialistische Presse sich im Frühjahr 1933 nicht an einer ausgesprochen antijüdischen Hetze beteiligte, so hatte sie sich doch das erste Mal durch das Regime in eine antisemitische Kampagne einspannen lassen. Dem durchschnittlichen Leser einer durchschnittlichen Tageszeitung wurde zu verstehen gegeben, dass es eine ausländische »Gräuelhetze« gebe, dass man sich gegen diese im nationalen Interesse zur Wehr setzen müsse und dass die »Abwehr« der Gräuelhetze dazu beitragen werde, die deutschen Juden zu schonen. Dass man damit der Erwartungshaltung der neuen Regierung entsprach, legte die Deutsche Allgemeine Zeitung ihren Lesern gegenüber offen, als sie am 28. März aus »unterrichteten Kreisen« berichtete, »die Reichsregierung werde bei der ganzen Abwehrbewegung ein besonderes Augenmerk auf die Presse und auf solche Zeitungen richten, die sich dabei etwa passiv verhalten«.
Die Presseberichterstattung über den eigentlichen Boykott vom 1. April vermittelt einheitlich das Bild einer »ruhig« und »diszipliniert« verlaufenden Aktion, wobei Zwischenfälle und Gewalttaten – die es durchaus in größerem Umfang gab – ignoriert oder heruntergespielt wurden. 20 Die Deutsche Allgemeine Zeitung äußerte in einem auf der Titelseite vom 4. April erschienenen Kommentar ihre Befriedigung über den »Erfolg« des Boykotts (so auch der Titel des Beitrags), wandte aber ein, dass »das deutsche Volk im Grunde seines Wesens geringe Sympathie für solche Gewaltmaßregeln empfindet. Sein feiner Sinn für Gerechtigkeit und Geistlichkeit übersieht die unausbleibliche Einseitigkeit nicht, die mit ihnen verbunden ist. Sein Unterscheidungsvermögen wirft den vorgestern aus Galizien Eingewanderten nicht in einen Topf mit dem bodenständigen Judentum, das seinen staatsbürgerlichen Pflichten in Krieg und Frieden entsprochen hat.«
Propagandaminister Goebbels habe, so die Zeitung weiter, in einer am Vorabend des Boykotts gehaltenen Rede »mit Recht an die Schamlosigkeiten der Tucholsky und Toller erinnert, die schmähten und besudelten, was dem Deutschen heilig ist, aber er kennt wie wir anderen auch die großen Leistungen zum Beispiel auf dem Gebiete der Medizin und der Rechtswissenschaft, die deutsche Staatsangehörige jüdischer Religion und Rasse vollbracht haben, Leistungen, die kein geringerer als Bismarck außerordentlich hoch veranschlagt hat.«
Der Kommentator fuhr fort: »Die Reichsregierung hält die gesamte Gewalt in der Hand und kann auf Grund des Ermächtigungsgesetzes alle gesetzlichen Vorkehrungen treffen, die ein weiteres Überwuchern undeutscher Einflüsse und Gesinnungen verhindern sollen. Wir müssen aber unterscheiden lernen und können, gerade aus Selbstbewusstsein und in Wahrung der nationalen Würde, darauf verzichten, auch diejenigen in ein moralisches Ghetto zu stoßen, die das nach Nam’ und Art als bitteres Unrecht empfinden müssen. Unerwünscht ist es auch, wenn sich gelegentlich die berechtigte Abwehr übergroßen jüdischen Einflusses mit dem Wunsche einen durch Leistung überlegenen Konkurrenten zu verdrängen, in nicht ganz sauberer Weise vermählt, wenn man den Stammbaum verdienter Persönlichkeiten um Generationen zurückverfolgt, um vielleicht doch irgendwie einen Tropfen jüdischen Blutes zu entdecken.«
Auch in der Frankfurter Zeitung erschien eine kritische Stimme zum Boykott.21 Der Berliner Korrespondent der Zeitung verteidigte in einer längeren »Betrachtung« den Grundsatz der staatsbürgerlichen Gleichheit der deutschen Juden, indem er unter anderem ausführlich an die Geschichte der Emanzipation in Preußen erinnerte und die Autorität des Reichspräsidenten ins Spiel brachte: »Auch wüssten wir nicht, dass der Generalfeldmarschall jemals einen Soldaten aus der Front zurückgeschickt habe, weil er ein Jude sei.«
Wenige Tage nach dem Ende des Boykotts verabschiedete das Kabinett die ersten gegen Juden gerichteten Ausnahmegesetze: Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sowie das Rechtsanwaltsgesetz. Beide Gesetze sahen vor, jüdische Beamte beziehungsweise Rechtsanwälte aus ihren Positionen zu entlassen und keine Juden mehr zu diesen Berufen zuzulassen. Für jüdische Kriegsteilnehmer waren Sonderbestimmungen vorgesehen.22
Im Bereich der Justiz legalisierten die beiden Gesetze einen faktisch bereits bestehenden Zustand: Seit März 1933 waren Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte an vielen Orten durch NS-Anhänger am Betreten der Gerichtsgebäude gehindert worden; daraufhin hatte die Parteipresse lautstark die Forderung des NS-Juristenbundes nach Ausschluss der Juden aus der Justiz propagiert,23 was wiederum nationalsozialistische Justizminister in den Ländern dazu veranlasste, Hausverbote zu verhängen und Beamte in den Zwangsurlaub zu schicken.
Die nichtnationalsozialistische Presse reagierte durchaus unterschiedlich auf die beiden antijüdischen Gesetze, die einen massiven Eingriff in die seit 1871 im Deutschen Reich geltende staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden bedeuteten. In Rechnung stellen müssen wird man bei der Bewertung die Erleichterung, die angesichts des kontrollierten Abbruchs der Boykottbewegung gerade in bürgerlichen Kreisen vorherrschte: Die Aussicht auf gesetzliche Regelungen der »Judenfrage« schien weitaus besser als eine Fortsetzung der Gewalttätigkeiten.
Bemerkenswerterweise äußerten zahlreiche Kommentatoren (auch wenn sie teilweise Bedenken gegen die pauschale Anwendung der Rassendoktrin anmeldeten) ihre grundsätzliche Zustimmung zu der von den Nationalsozialisten erhobenen Forderung, den angeblich so verhängnisvollen jüdischen Einfluss zurückzudrängen. So attestierte die Deutsche Allgemeine Zeitung dem Beamtengesetz eine – verglichen mit den Übergriffen des Parteimobs – »größere Tendenz zur Gerechtigkeit und Sachlichkeit« und beurteilte das Rechtsanwaltsgesetz als relativ gemäßigt.24 Die Schlesische Zeitung sprach in einem Kommentar aus Anlass der Verabschiedung des Beamtengesetzes davon, Deutschland sei dabei, sich von »einer jahrhundertelang geduldig getragenen Fremdkultur« zu befreien.25
Die katholische Kölnische Volkszeitung nannte in ihrem Kommentar zum Beamten- und Rechtsanwaltsgesetz zwar grundsätzliche Bedenken gegen Regelungen, die auf dem »Rassegedanken« und nicht auf Religionszugehörigkeit beruhten, äußerte jedoch Verständnis für »die psychologischen Reaktionen gegen eine zahlenmäßige Vorherrschaft des Judentums in bestimmten Berufen«. Maßnahmen, die »geeignet sind, hier ein gerechtes Verhältnis herbeizuführen, dürften gerade im Interesse des Judentums liegen, das eine Verstopfung der Quelle des Antisemitismus nur wünschen kann«. In diesem Zusammenhang sei auch der »Einfluss der Juden auf das deutsche Geistesleben« von »besonderer Bedeutung. Dass es nicht immer und unter allen Umständen zerstörend zu sein braucht, dafür ist […] Julius Stahl ein nicht zu übersehendes Beispiel. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass vom jüdischen Intellektualismus insbesondere in der Nachkriegszeit, aber auch schon in der Vorkriegszeit liberalistische Auswirkungen ausgingen, die dem deutschen Volkstum zum mindesten abträglich waren.«26
Der Kommentar der Frankfurter Zeitung setzte sich rundheraus kritisch mit dem Berufsbeamtengesetz auseinander und verwarf jede »rassische Doktrin«, die zu »grotesken Situationen« führen könne. Der Kommentator fuhr fort: »Aber sieht man nicht den wirtschaftlichen Schaden, der angerichtet werden muss, wenn man sich stur auf die Parole versteift: ›Juden heraus?‹ Gewiss, ›Radau-Antisemitismus‹ soll es nicht mehr geben, aber was liegt an einem Wort? Man kann mit sanften Mitteln genau ebensoviel Unheil anrichten, wie mit groben.«27
Auch an anderen Beispielen lässt sich verdeutlichen, dass die bürgerliche Presse zu diesem Zeitpunkt durchaus noch Spielraum bei der Bewertung der antisemitischen Politik besaß. Den Rücktritt Max Reinhardts als Direktor des Deutschen Theaters in Berlin kommentierte im April 1933 der Schriftsteller Max Bronnen im Berliner Lokalanzeiger: »Eine fremde Weltmacht hielt die Bastionen unseres Landes: Was Marx in der Politik, was Einstein in der Physik, was Freud in der Erkenntnis, das war Reinhardt in der Kunst; eine Krebskrankheit, die nur aufblühte, wenn sie die Kräfte des Körpers fraß, dem sie ihr Dasein verdankte.«28 Das war reinster NS-Jargon. Die Deutsche Allgemeine Zeitung hingegen hatte sich wenige Tage zuvor aus Anlass von Reinhardts Rücktritt zwar ebenfalls kritisch über dessen Leistungen geäußert, aber auch hinzugefügt: »Der Name Max Reinhardt wird in dieser Theatergeschichte fortleben, auch wenn er jetzt von den Theaterzetteln der Reichshauptstadt verschwindet.«29
Das Berliner Tageblatt, um ein anderes Beispiel zu nennen, setzte sich in seiner Abendausgabe vom 5. April 1933 unter der Überschrift »So geht es nicht« kritisch mit einer Notiz des Völkischen Beobachters auseinander, wonach der Mosse-Verlag (zu dem das Blatt gehörte) 138 jüdische Angestellte entlassen habe. Die Behauptung sei unwahr; das Blatt verwahre sich gegen den Ton des Völkischen Beobachters, der – auch nach der offiziellen Einstellung des Boykotts – immer noch »Salz in die Wunde« streuen wolle.
Diese differenzierten Reaktionen der nichtnationalsozialistischen Presse auf die »Judenpolitik« des Regimes setzten sich auch in den folgenden Wochen und Monaten fort. Ein Teil der nichtnationalsozialistischen Zeitungen äußerte sich immer wieder zustimmend zur Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden und übernahm nationalsozialistische Propagandaschlagworte. Andere Blätter vermieden, wo immer es ging, Kommentierungen zur NS-Judenverfolgung und machten Injurien gegenüber Juden möglichst als Zitate nationalsozialistischer Provenienz deutlich.
 
Und was wissen wir über die Haltung der Bevölkerung zur »Judenfrage« in dieser ersten Phase der Verfolgung?
Leider liegen zu wenig gesicherte Informationen vor, um allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu können: Während die deutsche Presse nicht mehr unkontrolliert über die Ereignisse berichten konnte, war der Apparat der staatlichen beziehungsweise parteiamtlichen Berichterstattung über die »Stimmung« der Bevölkerung noch nicht aufgebaut.30 Wir sind daher im Wesentlichen auf die Berichterstattung der ausländischen Presse, diplomatischer Vertretungen in Berlin sowie auf Beobachtungen einzelner Zeitgenossen angewiesen.
Dieses Material zeigt im Großen und Ganzen, dass die Masse der Bevölkerung die Blockaden jüdischer Geschäfte – sowohl die »wilden« als auch den offiziellen Boykott – hinnahm. Eine couragierte Minderheit von Bürgern allerdings, das wird gerade in den Erinnerungen jüdischer Zeitgenossen immer wieder betont, kaufte am Tag des offiziellen Boykotts gezielt in jüdischen Geschäften ein und brachte damit ihre Missbilligung zum Ausdruck.31 Die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich jedoch passiv; für die Menschenaufläufe in vielen Stadtzentren war eher Sensationslust als aggressiver Antisemitismus verantwortlich. Die Times berichtete beispielsweise am 3. April 1933, unter der Masse der Bevölkerung seien spontaner und aktiver Antisemitismus nur wenig, Antipathie und Misstrauen gegenüber jüdischen Geschäftsleuten dagegen weit verbreitet. Ähnliches meldeten verschiedene ausländische Missionen über die Verhältnisse in Deutschland.32
Über die Reaktion der Bevölkerung auf die beschriebenen ersten, Anfang April erlassenen antisemitischen Gesetze33 wissen wir noch weniger: Ihre Einführung stand ganz im Schatten der erst allmählich abklingenden Boykottaktionen.34 Allerdings wird man sich vergegenwärtigen müssen, dass die Forderung nach Entlassung von Juden aus dem Staatsdienst beziehungsweise aus staatlich regulierten Berufen wie der Anwaltschaft vor 1933 öffentlich nur von der NSDAP erhoben worden war; die rechtskonservativen Bündnispartner vollzogen diese Richtungsentscheidung im Frühjahr 1933 zwar mit, sie hatten sich jedoch nie entschließen können, diese Forderung in ihre Programme aufzunehmen. Es wäre also verfehlt, in den antisemitischen Gesetzen die Verwirklichung einer Forderung zu sehen, die über die Anhängerschaft der neuen Regierung hinaus weithin populär gewesen wäre. Ähnlich verhielt es sich mit den gewaltsamen Eingriffen in das jüdische Geschäftsleben: Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte hatte die NSDAP schon in der Endphase der Weimarer Republik immer wieder organisiert, ohne dass es ihr gelungen wäre, daraus eine über die eigene Anhängerschaft hinausreichende Massenbewegung in Gang zu bringen.35 Die Mehrheit der Bevölkerung war offensichtlich nicht bereit, ihr Einkaufsverhalten nach »rassepolitischen« Gesichtspunkten auszurichten. Daran sollte sich auch in den kommenden Jahren relativ wenig ändern.

Die Phase scheinbarer Ruhe zwischen Sommer 1933 und Ende 1934

Weitere umfassende antisemitische Gesetzgebungsprojekte stellte die NS-Regierung im Sommer 1933 erst einmal zurück. Konkrete Pläne, Juden die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen und gegen die »Rassenmischung« mit der deutschen Bevölkerung vorzugehen, lagen zwar bereits vor, wurden aber erst 1935 beim Erlass der so genannten Nürnberger Gesetze verwirklicht. Die außenpolitische Isolierung des Regimes, Bedenken der konservativen Koalitionspartner und die prekäre wirtschaftliche Situation ließen eine solche Zurückhaltung opportun erscheinen. Doch trotz der »relativen Ruhe« in der Judenverfolgung während der zweiten Jahreshälfte 1933 und im Jahr 1934 wurden Juden auf Reichs- und auf Länderebene mit Hilfe neuer gesetzlicher Bestimmungen und administrativer Maßnahmen weiterhin diskriminiert und ausgeschlossen, während Teile der Parteibasis, vor allem in der Provinz, den so genannten Boykott jüdischer Geschäfte durch Drohungen gegen die Kundschaft, Verdrängung jüdischer Händler von Märkten et cetera weitertrieben. Gegen solche illegalen »Einzelaktionen« wandten sich jedoch immer wieder staatliche Stellen, so dass insbesondere bei den betroffenen jüdischen Geschäftsleuten der Eindruck entstand, es existiere zumindest noch ein Restbestand an Rechtssicherheit.36
Entsprechend verhielt sich die Parteipresse: Nach dem Boykott hatte sie ihre antisemitische Kampagne den gesamten April hindurch noch fortgesetzt, sie dann jedoch deutlich zurückgefahren. Im Juli 1933 begann sich die Berichterstattung auf ein »Normalmaß« an antisemitischer Propaganda einzupendeln: Das Thema stand nicht im Vordergrund, wurde aber ausreichend behandelt, damit ein Wiedererkennungseffekt für die Stammleserschaft gegeben war. 1934 ging der Anteil antisemitischer Beiträge noch weiter zurück. Zwar wurde weiterhin in bekannter Manier über Skandale und Kriminalfälle berichtet, in die Juden verwickelt waren, auch über den angeblich großen Einfluss der Juden im Ausland, vor allem die von ihnen ausgehende »Hetze« gegen Deutschland, oder über antisemitische Bestrebungen in anderen Ländern. Die angebliche Dominanz der Juden in Deutschland aber trat in den nationalsozialistischen Blättern als Topos in den Hintergrund. Offensichtlich wollte man den Aktionsdrang der Parteibasis nicht allzu deutlich anheizen.37
Die Steuerung der Parteipresse war jedoch keineswegs perfekt: Als Goebbels etwa in einer Rede im Sportpalast am 11. Mai 1934 den Propagandafeldzug der Partei gegen »Miesmacher« eröffnete und in einer längeren Passage auch gegen »die Juden« zu Felde zog, verstanden einige Parteiblätter dies als Startsignal für eine erneute antisemitische Kampagne,38 während sich andere darauf beschränkten, die Rede ausführlich wiederzugeben.39
Der Westdeutsche Bobachter, der Goebbels’ antisemitische Drohung zitiert hatte, benutzte die Rede als Auftakt, um gegen den angeblich immer noch vorhandenen jüdischen Einfluss im Kulturleben vorzugehen.40 Am 10. Juni 1934 bekannte sich der Chefredakteur des Blattes, Martin Schwaebe, in einem Leitartikel offensiv zum Antisemitismus der NSDAP und rief dazu auf, den Kampf gegen die Juden fortzusetzen.41 Auch die in Breslau erscheinende Nationalsozialistische Schlesische Tageszeitung intensivierte ihre antisemitische Propaganda: Sie forderte ausdrücklich zum Boykott jüdischer Geschäfte auf und griff am 23. Mai in einem Leitkommentar noch einmal die antisemitische Passage der Goebbels-Rede auf, um die prinzipielle Unvereinbarkeit von »deutsch« und »jüdisch« zu erklären. 42 Noch heftiger reagierte Goebbels’ Berliner Hausblatt Der Angriff. Am 11. Mai, dem Tag der Goebbels-Rede, veröffentlichte Der Angriff unter der Überschrift »Was dürfen sich Juden schon wieder erlauben?« einen Aufruf an die Leser, der Zeitung »jeden Fall von jüdischer Unverschämtheit mitzuteilen«. Das Blatt habe sich die Aufgabe gestellt, zu »zeigen, wie der Jude sich heute schon wieder benimmt und wie er sich zu benehmen hat«. Es handele sich also »um einen Anstandsunterricht für die geschonten und geduldeten Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Am nächsten Tag veröffentlichte Der Angriff einen Kommentar des bekannten NS-Journalisten Schwarz van Berk, in dem dieser Goebbels’ Sportpalast-Rede als vorbildlich für den Umgang mit Juden herausstellte. »Wir wollen«, so empfahl Schwarz van Berk, »mit den Juden so verkehren, dass wir unsere Freude daran haben. Das lässt sich machen. Wir haben Humor genug. Wir müssen nur den Ton bestimmen. Der Jude passt sich immer an.«43
In den folgenden Tagen kam das Blatt immer wieder auf den Aufruf »Was dürfen sich Juden schon wieder erlauben?« zurück, berichtete über dessen Wirkung im In- und Ausland und brachte Beispiele für den angeblich wieder zunehmenden jüdischen Einfluss.44 Am 1. Juni verschärfte Schwarz van Berk in einem Leitartikel unter der Schlagzeile »Was dürfen Juden sich erlauben?« die Kampagne weiter und breitete das Thema der vermeintlich wieder wachsenden Selbstsicherheit der deutschen Juden vor seinen Lesern aus. An die Adresse »des Juden« gerichtet, schrieb Schwarz van Berk: »Er muss endgültig mit seinem Verhalten von früher brechen, d.h. er muss die deutsche Öffentlichkeit den Deutschen überlassen.« In den folgenden Tagen setzte Der Angriff seine antisemitische Kampagne fort;45 erst mit dem 30. Juni 1934, als das NS-Regime die Ausschaltung der SA-Führung benutzte, um eine blutige Generalabrechnung mit einer Vielzahl von innenpolitischen Gegnern vorzunehmen, rückten andere Themen wieder in den Vordergrund. Das galt auch für andere NS-Blätter.
In der nichtnationalsozialistischen Presse wurde demgegenüber in eher neutraler und zurückhaltender Form über antijüdische Maßnahmen berichtet; man reagierte auf Maßnahmen des Regimes und versuchte im Allgemeinen nicht, von sich aus die »Judenfrage« aufzuwerfen. Insbesondere die Frankfurter Zeitung registrierte auf geradezu akribische Weise die antisemitischen Maßnahmen: Zu diesem Zweck griff sie Verlautbarungen von Fachverbänden, Gemeinderatsbeschlüsse, Gerichtsurteile und andere Erklärungen aus dem gesamten Reichsgebiet auf.46 Dafür musste sich das Blatt massive, öffentlich geäußerte Kritik seitens der Parteipresse gefallen lassen, da es eine zu »judenfreundliche« Tendenz verfolge.47 Wiederholt nahm die Frankfurter Zeitung gegen die Absicht Stellung, Juden aus der Wirtschaft zu verdrängen, und verwies auf die dem entgegenstehende rechtliche Lage.48 In einem Kommentar vom 13. Dezember 1934 wandte sich die Frankfurter Zeitung gegen die öffentliche Anprangerung von Kunden jüdischer Geschäfte:
»Das meiste jedoch, was sich auf diesem Gebiet vollzieht, geht stiller vor sich. Manchmal erscheint es so verborgen, dass man den Eindruck gewinnt, als seien die Urheber selbst über die Zulässigkeit ihrer Handlungsweise im Zweifel gewesen. Naturgemäß liegen die Dinge keineswegs so, dass der Einkauf und die Beziehung zu nichtarischen Firmen irgendwie empfohlen werden sollten oder könnten; wer nichtarische Firmen zu meiden wünscht, kann das aus eigenem Entschlusse so weit tun, wie ihm beliebt. Gerade dann aber muss die entscheidende Grenze im Auge behalten werden, nämlich die, dass die scharfe Agitation gegen die Geschäftsbeziehungen mit Nichtariern […] und dass der Druck, wie er durch Anprangerung, persönliche Kontrollen oder Drohungen ausgeübt wird, sich mit den Grundsätzen der Reichsregierung für das Gebiet der Wirtschaft schlechterdings nicht mehr vereinbaren lassen.«
Da, hieß es im Kommentar weiter, »viele Hunderttausende von Nichtariern in Deutschland leben (ihre genaue Zahl ist ja noch nicht festgestellt), da die ganz überwiegende Mehrzahl von ihnen Deutschland nicht verlassen will (obgleich vieles für sie schwer zu ertragen ist), da überdies nur eine kleine Minderheit Deutschland überhaupt verlassen könnte, selbst wenn sie es wollte, – so lässt sich die Judenfrage in Deutschland, was man auch im einzelnen wünschen mag, zwangsläufig nur so lösen, dass man den Nichtariern in Deutschland ihren Lebensraum sichert und sie an bestimmten Aufgaben teilnehmen lässt, und zwar so eindeutig, dass auch in der Bevölkerung nicht mehr Unklarheiten darüber entstehen können.« Der »Antisemitismus der Tat«, wie er etwa von radikal-antisemitischen Parteiaktivisten in Franken betrieben werde, so die Frankfurter Zeitung, mache »eine Lösung des Problems nur immer schwieriger. Und doch wird diese Lösung sich nicht vermeiden lassen!«49
Dieser kritische Kommentar sollte nicht unbeantwortet bleiben. Am 18. Dezember 1934 bekam Schwarz van Berk im Angriff unter der Schlagzeile »Unverschämte Querfunkerei gegen die Hoheit der NSDAP. Unerbetene Ratschläge und Sorgen um das Weihnachtsgeschäft« die Gelegenheit, sich in einer Polemik gegen die »voreilige Unverschämtheit« des Artikels in der Frankfurter Zeitung zu verwahren.
Eine Reihe anderer nichtnationalsozialistischer Blätter, vor allem solche deutschnationaler Couleur, ging allmählich dazu über, den Jargon der Parteipresse in ihre Berichterstattung einfließen zu lassen. So machte etwa die Schlesische Zeitung vom 17. Februar 1934 eine »Blühende Emigranten-Hetze in Prag« aus und leistete sich eine Beilage »Volk und Rasse«.50 Die Deutsche Allgemeine Zeitung bezeichnete eine in London geplante Kundgebung mit dem aus Deutschland emigrierten Albert Einstein als »Einstein-Rummel«, 51 während der deutschnationale Berliner Lokalanzeiger das Schlagwort vom »Weltjudentum«52 übernahm und wie die Parteizeitungen vom »jüdischen Boykott« und der »jüdischen Boykotthetze« gegen Deutschland schrieb.53
In das Jahr 1934 fiel außerdem der Beginn zweier spektakulärer, außerhalb Deutschlands ausgetragener juristischer Auseinandersetzungen, die von der NS-Presse als »Judenprozesse« bezeichnet wurden: Der Berner Prozess, in dem über die Authentizität der antisemitischen Propagandaschrift Die Protokolle der Weisen von Zion gestritten wurde, und die in Ägypten stattfindende gerichtliche Auseinandersetzung um die Verbreitung einer antisemitischen Broschüre durch dort ansässige deutsche Staatsbürger.
In beiden Fällen waren die Klagen von jüdischer Seite angestrengt worden, um die Verbreitung von nationalsozialistischen Hetzschriften antisemitischen Inhalts zu stoppen und vor allem die Unhaltbarkeit der darin aufgestellten Behauptungen durch unabhängige Gerichte festzustellen – vor den Augen der Weltöffentlichkeit. In beiden Verfahren waren regimetreue deutsche Gutachter beziehungsweise Prozessvertreter präsent.
Beide Prozesse wurden von der Parteipresse groß herausgestellt.54 Der Angriff witterte den Anfang einer Prozesslawine, hinter der eine klare Strategie internationaler jüdischer Interessen stehe: »Man will die Behandlung der Judenfrage als Kernproblem ausschalten. Man will durch unzählige Beleidigungsklagen einzelner Juden, durch die Anzettelung zahlreicher Prozesse, die sich auf irgendwelche lokalen Vorschriften oder Gesetze stützen, das Diskussionsthema verschieben und so die Behandlung des ganzen Problems unmöglich machen.«55
Der Prozess vor dem Berner Gericht begann im Oktober 1934, wurde nach wenigen Verhandlungstagen unterbrochen und im Mai 1935 zum Abschluss gebracht. Das Urteil war aus nationalsozialistischer Sicht eine eklatante Niederlage: Der Klage wurde stattgegeben, das Gericht bezeichnete die Protokolle als propagandistisches Machwerk und verbot ihre Verbreitung im Kanton Bern.56
Da die Urteilsverkündung im Mai 1935 ohnehin in einen Zeitraum fiel, in dem die antijüdische Propaganda aus außenpolitischen Gründen vorübergehend erneut zurückgefahren wurde – worauf noch eingegangen wird -, beließ die Parteipresse es dabei, das negative Ergebnis eher kühl zu vermerken und nicht zum Gegenangriff überzugehen. Der Angriff etwa stellte fest: »Die Echtheit dieser Protokolle ist eine Angelegenheit der historischen Forschung: das Urteil eines Schweizer Kantonsgerichts berührt sie nicht.«57 Der Westdeutsche Beobachter schrieb über das »merkwürdige Urteil von Bern«: »Das Judentum bekommt sein Urteil gegen die Protokolle, verliert aber nach Punkten.«58 Der Völkische Beobachter hielt den Prozess für einen »Propagandatrick«, der allerdings misslungen sei, und gab seiner Meinung Ausdruck, dass »der Kampf um die Protokolle jetzt erst recht beginnen dürfte«.59 Die Revision des Urteils im Jahre 1937 sollte der NS-Presse in der Tat Gelegenheit bieten, das Thema wieder aufzugreifen. 60
Die nichtnationalsozialistische Presse berichtete ebenfalls in erheblichem Umfang über die beiden Prozesse. Das Urteil, so die Anweisung des Propagandaministeriums an die Presse,61 solle in entsprechenden Kommentaren zurückgewiesen werden; dies geschah zwar, doch gingen einige Zeitungen ausführlich auf die Urteilspassage ein, in denen die Protokolle als »Fälschung und Plagiat« bezeichnet wurden.62 Die Frankfurter Zeitung etwa vermerkte das Urteil lakonisch unter der Überschrift »Die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ fallen unter das Kantonsgesetz gegen Schundliteratur«.63
Die juristische Auseinandersetzung in Ägypten begann Ende Januar 1934 mit einem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Kairo (in Ägypten existierte eine so genannte Konsulargerichtsbarkeit für Streitigkeiten, in die Ausländer involviert waren).64 Der Gerichtshof, der unter dem Vorsitz eines italienischen Richters tagte, entschied, die Klage sei unzulässig, da der in Ägypten lebende Kläger von den in der Propagandabroschüre erhobenen Vorwürfen nicht betroffen sei. Dieser Erfolg wurde von der NS-Presse als »Der Deutsche Sieg über das Weltjudentum« (Völkischer Beobachter) beziehungsweise als »Riesenblamage des Weltjudentums« (Westdeutscher Beobachter) gefeiert.65
Die Berufungsverhandlung, die im April 1935, also unmittelbar vor der Fortsetzung des Berner Prozesses, in Alexandrien stattfand und wiederum mit der Abweisung der Klage endete, gab der NS-Presse erneut Anlass zu antisemitischen Ausfällen: Während etwa der Westdeutsche Beobachter am 13. April klagte, »Juda missbraucht die Justiz«, sprach Der Angriff vom 20. April 1935 von der »Judenabfuhr in Kairo«.66
Zahlreiche nichtnationalsozialistische Blätter berichteten ebenfalls ausführlich über den Prozess, zum Teil in überwiegend sachlicher Form,67 zum Teil feierte man aber auch in ähnlichem Ton wie die NS-Presse die Niederlage des »Weltjudentums«.68

Reaktionen der Bevölkerung

Für die zweite Jahreshälfte 1933 und insbesondere für das Jahr 1934 liegen mehr und mehr Berichte offizieller Stellen über die Reaktion der Bevölkerung auf die antijüdischen Maßnahmen vor. Diese zeigen nicht nur, dass Aktivisten der Partei immer wieder Boykottaktionen durchführten und dass diese Aktionen unter den Anhängern der Partei viel Zustimmung fanden;69 die Berichte enthalten auch eine ganze Reihe von Hinweisen darauf, dass die übrige Bevölkerung weiterhin in jüdischen Geschäften einkaufte,70 die »Aktionen« missbilligte und wenig Verständnis für die »Judenpolitik« des Regimes aufbrachte.
So hielt etwa die Gendarmerie im unterfränkischen Steinach an der Saale in ihrem Monatsbericht für August 1934 folgende bündige Einschätzung fest: »Das Judenproblem wird von der einheimischen Bevölkerung nach wie vor nicht erfasst.«71 Die Stapostelle Potsdam äußerte in ihrem September-Bericht die Überzeugung: »Ohne Zweifel ist das Judenproblem nicht das Hauptproblem des deutschen Menschen.« Da jedoch »gegenwärtig im Auslande das Judentum einen Kampf auf Leben und Tod mit dem Deutschen Volke« führe und »der Jude in dem Augenblick, wo er die Grenze überschreitet, sich zum offenen Feinde Deutschlands« erkläre, sei »das Judenproblem tatsächlich zur Zeit mindestens ein Hauptproblem«. Immer wieder, so fährt der Bericht fort, »hört man hier im Lande dann die Phrase, dass der Jude doch auch ein Mensch sei, dass es auch gute Juden gäbe und der Jude vielfach sogar besser sei als der Deutsche, und was dergleichen Geschwätz mehr ist. Äußerungen über die Gefahr des Judentums werden abgemildert und die Leute, die sich mit Aufklärung befassen, gewissermaßen als Narren hingestellt.«72 Der Leiter der Stapostelle Aachen äußerte in seinem Bericht für November 1934 die »Überzeugung, dass weiteste Kreise der Bevölkerung über die Grundideen des Nationalsozialismus völlig im Unklaren sind und es oft nicht verstehen, dass z.B. die Judenfrage in Deutschland geregelt werden muss«.73 Und der Landrat in Brilon hielt im November 1934 fest, dass »in der Stadt Brilon das Vorgehen gegen jüdische Einwohner, denen man von Zeit zu Zeit die Fensterscheiben einwirft, von einem großen Teil der Bevölkerung missbilligt« werde.74
Dass die antijüdischen Maßnahmen keineswegs populär waren, sollte sich einige Monate später, als die Partei ihre Angriffe gegen Juden weiter intensivierte, umso deutlicher zeigen.