»Kraft durch Furcht«: Die Drohung mit der
»jüdischen Rache«
Nach Stalingrad: Antibolschewistische und antijüdische Propagandakampagne im Zeichen des Totalen Krieges
Nach der Niederlage von Stalingrad stellte Goebbels
die deutsche Propaganda, und zwar sowohl die Inlands- wie die
Auslandspropaganda, ganz unter die Parole des »Kampfes gegen den
Bolschewismus«. Die ersten, grundlegenden Anordnungen dazu erließ
er am 9. und 12. Februar 1943; in den nächsten Tagen und Wochen
sollte er immer wieder auf dieses Leitmotiv
zurückkommen.1
Die Betonung der »antibolschewistischen« Inhalte
hatte – fast selbstverständlich angesichts der stereotypen
Vorgehensweise der NS-Propaganda – zur Folge, dass nun auch
antisemitische Motive vor allem in der Parteipresse wieder
verstärkt aufgegriffen wurden. Der Völkische
Beobachter und Der Angriff leiteten die
Kampagne am 11. Februar mit entsprechenden Schlagzeilen ein (»Die
neuesten Hassausbrüche unserer Todfeinde« beziehungsweise »Neuer
teuflischer Plan zur Vernichtung unseres Volkes«).2 Der Angriff
veröffentlichte am 23. Februar einen Leitkommentar Robert Leys, in
dem es unter anderem hieß: »Der Jude ist auserwählt, nun endlich
für seine Schandtaten und Verbrechen ausgerottet zu werden. Der
Deutsche ist vom Schicksal ausersehen, dieses Urteil der Vorsehung
zu vollstrecken.«
Kurz nach Beginn der Kampagne, am 18. Februar,
hielt Goebbels im Berliner Sportpalast die berüchtigte Rede, in der
er sein Publikum auf den »Totalen Krieg« einschwor, verbunden mit
massivem antisemitischen Tenor. So warnte der Propagandaminister im
Falle einer militärischen Niederlage vor »bolschewistisch-jüdischer
Sklaverei«, sprach von »jüdischen Liquidationskommandos«, nannte
das »internationale Judentum« das »teuflische Ferment der
Dekomposition« und erhob, einen »Versprecher« korrigierend, die
Forderung nach »vollkommener und radikalster Ausrott-, -schaltung
des Judentums«.3
Seit Ende Januar 1943 trieb Goebbels außerdem
erneut die von ihm seit dem Sommer 1938 verfolgte Idee voran, die
Berliner Juden vollständig aus der Stadt zu deportieren. Am 22.
Januar versicherte er sich noch einmal der Zustimmung Hitlers zu
diesem Projekt,4 und am 7. Februar nahm
er befriedigt eine Ansprache Hitlers vor den Reichs- und Gauleitern
zur Kenntnis, in der dieser noch einmal ankündigte, »dass wir das
Judentum nicht nur aus dem Reichsgebiet, sondern aus ganz Europa
eliminieren müssen«. Goebbels hielt weiter fest: »Auch hier macht
sich der Führer meinen Standpunkt zu eigen, dass zuerst Berlin an
die Reihe kommt und dass in absehbarer Zeit in Berlin kein Jude
mehr sich aufhalten dürfe.«5
Entsprechend dieser Maßgabe wurden in Berlin am 27. Februar während
der so genannten Fabrikaktion Juden in der Reichshauptstadt
verhaftet und anschließend deportiert. Unter den Festgenommenen
befanden sich auch zahlreiche Menschen, die in so genannten
Mischehen lebten, also einem Personenkreis angehörten, der bisher
grundsätzlich von den Deportationen verschont geblieben war. Ihre
Verwandten, die befürchteten, dass diese Ausnahmeregelung nun
aufgehoben werde, harrten so lange in einer Protestaktion vor einem
Gebäude in der Rosenstraße aus, bis die dort Festgehaltenen
freigelassen wurden.6
»Fabrikaktion« und »Rosenstraßenprotest« spiegeln
sich in Goebbels’ Tagebüchern wider; deutlich wird, dass beide
seiner Einschätzung nach die »Stimmung« in der Stadt beeinflussten.
Am 2. März notierte Goebbels in seinem Tagebuch, »dass die besseren
Kreise, insbesondere die Intellektuellen, unsere Judenpolitik nicht
verstehen und sich zum Teil auf die Seite der Juden stellen.
Infolgedessen ist die Aktion vorzeitig verraten worden.« Am 6. März
hielt er fest: »Es haben sich da leider etwas unliebsame Szenen vor
einem jüdischen Altersheim abgespielt, wo die Bevölkerung sich in
größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden etwas
Partei ergriff.« Am 11. März notierte er: »Leider sind dabei auch
die Juden und Jüdinnen aus privilegierten Ehen zuerst mit verhaftet
worden, was zu großer Angst und Verwirrung geführt hat. Dass die
Juden an einem Tag verhaftet werden sollten, hat sich infolge des
kurzsichtigen Verhaltens von Industriellen, die die Juden
rechtzeitig warnten, als Schlag ins Wasser herausgestellt. Im
ganzen sind wir 4000 Juden dabei nicht habhaft geworden. […] Die
Verhaftung von Juden und Jüdinnen aus privilegierten Ehen hat
besonders in Künstlerkreisen stark sensationell gewirkt. Denn
gerade unter Schauspielern sind ja diese privilegierten Ehen noch
in einer gewissen Anzahl vorhanden. Aber darauf kann ich im
Augenblick nicht übermäßig viel Rücksicht nehmen.«
Am 8. März ließ er sich von Hitler noch einmal die
Richtigkeit seiner Politik bestätigen, »so schnell wie möglich die
Juden aus Berlin herauszuschaffen«.7 Am
14. März, bei einer erneuten persönlichen Begegnung mit Hitler,
betonte Goebbels zum wiederholten Male, wie wichtig es sei, »die
Juden so schnell wie möglich aus dem ganzen Reichsgebiet
herauszubringen«. Hitler billigte, so Goebbels, nicht nur dieses
Vorgehen, sondern »gibt mir den Auftrag, nicht zu ruhen und nicht
zu rasten, bis kein Jude sich mehr im deutschen Reichsgebiet
befindet«. Außerdem erhielt Goebbels von Hitler den Auftrag, »in
unserer Propaganda jetzt wieder die Judenfrage stärker
herauszustellen; denn die Juden sind es ja schließlich, die England
in die allmähliche Bolschewisierung hineintreiben«.8
Goebbels machte sich sogleich ans Werk.9 Gleichzeitig setzte er seine Bemühungen um ein
»judenfreies« Berlin fort: »Der Führer ist glücklich darüber, dass,
wie ich ihm berichte, die Juden zum größten Teil aus Berlin
evakuiert sind. Er meint mit Recht, dass der Krieg uns die Lösung
einer ganzen Reihe von Problemen ermöglicht hat, die man in
normalen Zeiten niemals hätte lösen können. Jedenfalls werden die
Juden die Verlierer dieses Krieges sein, so oder so.«10
Einen Tag später hielt er in seinem Tagebuch fest:
»Berlin und das Reich sind jetzt zum großen Teil judenfrei gemacht
worden. Das hat zwar einige Mühe gekostet, aber wir haben es doch
durchgesetzt. Allerdings leben in Berlin noch die Juden aus
Mischehen; diese betragen insgesamt 17 000. Der Führer ist auch
außerordentlich betroffen von der Höhe dieser Zahl, die ich auch
nicht so enorm eingeschätzt hätte. Der Führer gibt
[Reichsinnenminister; P.L.] Frick den Auftrag, die Scheidung
solcher Ehen zu erleichtern und sie schon dann auszusprechen, wenn
nur der Wunsch danach zum Ausdruck kommt. Ich glaube, dass wir
damit eine ganze Reihe dieser Ehen schon beseitigen und die
übrigbleibenden jüdischen Partner aus dem Reich evakuieren
können.«
Bei der »Judenfrage«, das machen die folgenden
Sätze über die Unterredung mit Hitler deutlich, ging es nach
Auffassung beider in Wirklichkeit um nichts anderes als um die
Existenz des deutschen Volkes: »Jedenfalls kommt es nicht in Frage,
dass wir hier irgendwelche Kompromisse schließen; denn sollte das
Unglück eintreten, dass wir den Krieg verlören, so würden wir nicht
nur derohalben, sondern überhaupt absolut vernichtet werden. Mit
einer solchen Möglichkeit darf man deshalb überhaupt nicht rechnen
und muss seine Politik und Kriegführung darauf abstellen, dass sie
niemals eintreten kann. Je konsequenter wir da vorgehen, umso
besser fahren wir.« 11
Am folgenden Tag ging es nach einem weiteren
Gespräch mit Hitler um den gleichen Grundgedanken: »Die meisten
unserer Zeitgenossen machten sich nicht klar, dass die Kriege des
20. Jahrhunderts Rassenkriege seien, und dass es in Rassenkriegen
immer nur Überleben oder Vernichtung gegeben habe, dass wir uns
also klar darüber sein müssten, dass auch dieser Krieg mit diesem
Ergebnis enden werde.«12 Hitler
bekräftigte diese Auffassung im Übrigen am gleichen Tag öffentlich
in einer Rede zum Heldengedenktag im Lichthof des Berliner
Zeughauses: Er erinnerte an seine »einstige Prophezeiung, […] dass
am Ende dieses Krieges nicht Deutschland oder die mit ihm
verbündeten Staaten dem Bolschewismus zum Opfer gefallen sein
werden, sondern jene Länder und Völker, die, indem sie sich immer
mehr in die Hand des Judentums begeben, eines Tages am
bolschewistischen Gift […] den Zusammenbruch und damit das Ende
erleben«. 13
Einige Wochen zuvor hatte Goebbels in einem
Gespräch mit Göring festgestellt, dass auch der Reichsmarschall
diese radikale Ansicht teilte: »Göring ist sich vollkommen im
klaren darüber, was uns allen drohen würde, wenn wir in diesem
Kriege schwach würden. Er macht sich darüber gar keine Illusionen.
Vor allem in der Judenfrage sind wir ja so festgelegt, dass es für
uns gar kein Entrinnen mehr gibt. Und das ist auch gut so. Eine
Bewegung und ein Volk, die die Brücken hinter sich abgebrochen
haben, kämpfen erfahrungsgemäß viel vorbehaltloser als die, die
noch eine Rückzugsmöglichkeit besitzen.«14
Die »Judenfrage« und ihre radikale, mörderische
»Lösung« war demnach in den Augen führender Repräsentanten des
Regimes zum Kernproblem des Krieges geworden. Der Sieg war schon
deswegen unabdingbar, weil ansonsten Vergeltung und Vernichtung
durch den Erzfeind drohten; der Sieg konnte aber nur errungen
werden, wenn es gelang, die Deutschen durch gezielte Hinweise zu
Mitwissern und damit zu Komplizen des ungeheuren Verbrechens zu
machen und ihre Furcht vor Vergeltung so zu schüren, dass sie sich
bedingungslos in den Dienst des Totalen Krieges stellten.
Dieses Kalkül der NS-Führung, die deutsche
Bevölkerung vor die Alternative »Sieg oder Untergang« zu stellen,
lässt sich in der NS-Propaganda, wie wir gesehen haben, seit der
zweiten Jahreshälfte 1942 immer deutlicher nachweisen. In den Akten
des Foreign Office befinden sich Aussagen eines – namentlich nicht
genannten – deutschen Journalisten, der dieses innenpolitische
Kalkül der NS-Führung im März 1943 während einer Schweden-Reise in
einem vertraulichen Gespräch auf den Punkt brachte.
Nach Ansicht des Journalisten war es definitiv die
Politik des Regimes, Verbrechen zu begehen, um das deutsche Volk
als Ganzes schuldig zu machen und alle Energien auf die
Kriegsanstrengungen zu lenken. Die Generallinie laute, man habe
alle Brücken hinter sich abgebrochen, und alle Deutschen säßen im
selben Boot. Es existiere eine große Furcht vor den Briten und
Amerikanern, weil man glaube, sie würden wegen der an den Juden
begangenen Verbrechen Rache üben. Große Teile der deutschen
Bevölkerung wüssten über die Verfolgung der Juden und die Zustände
in den besetzten Gebieten Bescheid. Das Regime versuche, mit Hilfe
des Slogans »Kraft durch Furcht« die deutsche Bevölkerung zur
totalen Mobilisierung aufzustacheln.15
Im April sollte sich dafür eine hervorragende
Gelegenheit bieten.
Katyn
Wiederholt ordnete Goebbels Ende März und Anfang
April an, die antibolschewistische und antisemitische Propaganda zu
verschärfen.16 In dieser Situation
erreichten Goebbels die ersten Meldungen von den Massengräbern
erschossener polnischer Offiziere in Katyn.17 Am 9. April hielt er in seinem Tagebuch fest:
»In der Nähe von Smolensk sind polnische Massengräber gefunden
worden. Die Bolschewisten haben hier etwa 10 000 polnische
Gefangene, unter ihnen auch Zivilgefangene, Bischöfe,
Intellektuelle, Künstler usw., einfach niedergeknallt und in
Massengräber verscharrt. […] Ich veranlasse, dass die polnischen
Massengräber von neutralen Journalisten aus Berlin besucht werden.
Auch lasse ich polnische Intellektuelle hinführen. Sie sollen dort
einmal durch eigenen Augenschein davon überzeugt werden, was ihrer
wartet, wenn ihr vielfach gehegter Wunsch, dass die Deutschen durch
die Bolschewisten geschlagen würden, tatsächlich in Erfüllung
ginge.«
Am 14. April, nachdem er die entsprechende
Erlaubnis Hitlers eingeholt hatte, notierte er, der Leichenfund
werde »nun in größtem Stil in der antibolschewistischen Propaganda
eingesetzt«; die deutsche Presse war bereits in den Tagen zuvor auf
eine weitere Steigerung der antisemitischen Propaganda eingestellt
worden.18 National wie international
sollte das Massaker nun bestmöglich ausgereizt werden. So vertraute
Goebbels am 17. April seinem Tagebuch an: »Wir werden die
antisemitische Propaganda so hochkitzeln, dass wie in der Kampfzeit
das Wort ›Jude‹ wieder mit dem verheerenden Ton ausgesprochen wird,
wie es ihm gebührt.« Und: »Besonderen Wert legt der Führer darauf,
dass wir die Judenfrage in den Mittelpunkt der daran anschließenden
Erörterungen hineinrücken. Das werden wir auch nach besten Kräften
tun.«19
Befriedigt stellte er insbesondere die angebliche
Zunahme von Antisemitismus in Großbritannien fest: »Dass wir, einer
Anordnung des Führers gemäß, das Judenproblem in die Debatte
geworfen haben, wirkt sich außerordentlich gut aus. Der
Antisemitismus ist selbst in den Feindstaaten in rapidem Wachstum
begriffen. Vor allem kommen solche Meldungen aus England. Wenn wir
die antisemitische Frage mit Hochdruck weiter bearbeiten, so werden
die Juden auf die Dauer arg in Misskredit geraten. Man muss hier
nur Zähigkeit und Beständigkeit bewahren; denn das Judenproblem ist
so festgefroren, dass es sehr schwer ist, es wieder in Fluss zu
bringen.«20
Die Tatsache, dass während dieser Kampagne,
präzise am 19. April, der Warschauer Ghetto-Aufstand ausbrach, war
Wasser auf seine Propaganda-Mühlen: »Es wird die höchste Zeit, dass
wir auch aus dem Generalgouvernement die Juden so schnell wie
möglich entfernen.«21
Goebbels’ Tagebücher aus diesen Tagen zeigen
deutlich, wie eng er die Katyn-Kampagne mit Hitler
abstimmte.22 Katyn sollte nicht nur in
Deutschland und im besetzten, neutralen und feindlichen Ausland
antikommunistische und antisemitische Emotionen wecken und schüren;
der Massenmord an den polnischen Offizieren sollte vor allem
benutzt werden, um einen Keil in die Koalition der Kriegsgegner zu
treiben.
Den formellen Bruch der polnischen Exilregierung
mit der Sowjetunion Ende April wertete Goebbels als ersten Erfolg
seiner Kampagne.23 Am 29. April hielt
er fest: »Die Judenfrage ist neben der Frage des Antibolschewismus
das Europa bewegende Problem. Wenn wir hier stur und eigensinnig
beim einmal eingeschlagenen Kurs bleiben, so werden wir zweifellos
den Erfolg auf unserer Seite haben.« Demzufolge hielt die
Katyn-Kampagne auch Anfang Mai unvermindert an.24
Ein Blick in die deutsche Presse jener Wochen
zeigt, dass in allen Blättern unter dem Stichwort Katyn die wohl
schärfste antisemitische Kampagne seit Bestehen des Regimes
stattfand. Zuerst am 14. April brachte die gesamte Presse die
Öffnung der Massengräber von Katyn in teilweise sensationeller
Weise in den Schlagzeilen. Auch an den folgenden Tagen machten die
meisten Zeitungen mit Schlagzeilen zum Thema Katyn auf oder
berichteten an herausragender Stelle über den
Leichenfund.25 Im Allgemeinen benötigte
die Presse jedoch ein oder zwei Tage, bis sie die Entdeckung der
Massengräber in der gewünschten, scharf antisemitischen Weise
kommentierte.26
Nach wenigen Tagen hatte die gesamte Presse das
Leitmotiv vom »jüdischen Massenmord« (Der
Angriff vom 16. April) jedoch aufgenommen. Für etwa sieben
Wochen, bis Anfang Juni sollte Katyn als ein von jüdischen
Kommunisten begangenes Verbrechen die Berichterstattung des
Völkischen Beobachters vollkommen
beherrschen: In diesem Zeitraum enthielt fast jede Ausgabe der
Zeitung einen oder mehrere antisemitische Beiträge. Katyn wurde zum
Schlagwort, um vermeintliche jüdische Grausamkeit und Bestrebungen
nach der Weltherrschaft anzuprangern, mit denen sich auch die
gegnerische Kriegskoalition auseinandersetzen müsse. Das immer
wieder beschworene Bild der im Wald von Katyn ermordeten polnischen
Offiziere sollte zudem deutlich vor Augen führen, was die deutsche
Bevölkerung im Falle einer Niederlage in diesem »jüdischen Krieg«
zu erwarten hatte.
Der Angriff hielt – nach
gewissen Anfangsschwierigkeiten, auf die noch einzugehen sein wird
– die intensive Kampagne sogar bis Mitte Juni 1943 durch, das
heißt, er veröffentlichte in diesem Zeitraum pro Tag
durchschnittlich mehr als einen antisemitischen Beitrag. Besondere
Höhepunkte dieser Kampagne waren die Leitkommentare Robert Leys,
der das Blatt nutzte, um auf drastische Weise antisemitisch
aufgeladene Angstphantasien zu entwerfen. Am 6. Juni 1943 schrieb
er: »Der Jude bedeutet den Tod. Und umgekehrt bedeutet Kampf gegen
den Juden: Jungsein, Stärke, Selbstbewusstsein, Lebenswille und
Lebensbehauptung. Wer sich des Juden entledigt, wird gesund und
geht einem Zeitalter unvorstellbarer Blüte, Größe und Herrlichkeit
entgegen.«27
Leys Rhetorik erreichte in diesen Wochen eine
selbst für den DAF-Führer ungewohnte Vulgarität und Brutalität.
Anfang Mai hatte er in einer in der Presse stark beachteten und im
Rundfunk ausgestrahlten Rede vor Rüstungsarbeitern den Kampf gegen
»Juda« als »Kampf auf Leben und Tod« bezeichnet und daraus die
Konsequenz gezogen: »Wir schwören, wir werden nicht eher den Kampf
aufgeben, bis der letzte Jude in Europa vernichtet ist und
gestorben ist.«28
Am 30. Mai hieß es in seinem Leitkommentar im
Angriff: »Wer den Juden lobt, ist ein
Charakterschwein, wen er beschimpft, ist ein Ehrenmann […] Leg
deine sprichwörtlich gewordene deutsche Gutmütigkeit ab. Mitleid
habe in deinem Herzen keinen Platz mehr, der Jude will dich
zerreißen, und Jehova will dich fressen.«29
Auch die NS-Provinzpresse erging sich in zum Teil
unverhüllten Drohungen gegenüber den für Katyn verantwortlich
gemachten Juden. In der badischen Gauzeitung Der Führer schrieb der bekannte, scharf
antisemitische NS-Publizist Johann von Leers30 am 15. April, dass »in unserer tief vergifteten
Welt, die buchstäblich in Gefahr ist, an Juden und am jüdischen
Marxismus zu sterben, gar keine andere Lösung ist, als den
Giftbrocken auszubrechen, uns des Judentums in Europa zu
entledigen, das uns in diesem seinem Krieg vernichten will – wer
hätte das Recht, uns dies vorzuwerfen?« Am 4. Mai drohte der
Leitkommentar derselben Zeitung den »für den
jüdischen-angloamerikanischen Terror Verantwortlichen […] die
Stunde der Vergeltung« an: »Unter diesen Verantwortlichen aber
nehmen die Juden eine Sonderstellung ein.« Es war wiederum Leers,
der es in der Abendausgabe des Westdeutschen
Beobachters vom 22. April fertig brachte, unter der Überschrift
»Jüdische Mordlust« Katyn als moderne Form des jüdischen
Ritualmords darzustellen: »Eines aber ist klar – die Juden dürsten
nach dem Blut der Nichtjuden.« Der Bolschewismus, so Leers, stelle
einen »riesigen Massenritualmord der Juden an den Nichtjuden« dar,
und daraus zog er die Konsequenz: »Das Judentum in seiner
Gesamtheit muss für diese Verbrechen haftbar gemacht werden.«
Aber auch ehemals bürgerliche Blätter, so
insbesondere die Deutsche Allgemeine
Zeitung, beteiligten sich an der intensiven Propagandakampagne
über Wochen mit antisemitischen Angriffen. Dabei unterschieden sich
diese Zeitungen in ihren Hasstiraden in keiner Weise von den
Parteiblättern, wie noch gezeigt werden wird.
Die nähere Analyse der Katyn-Kampagne zeigt
jedoch, dass die Presse erst ermahnt und belehrt werden musste, bis
sie das antisemitische Leitmotiv in der erwünschten Weise
ausbreitete. Die weitaus meisten Zeitungen hatten nach etwa einer
Woche ihr Arsenal an antisemitischen Injurien verbraucht, das Thema
begann wieder in den Hintergrund zu treten, und es bedurfte
offizieller Ermunterungen, um die antisemitische Kampagne mit der
gleichen Intensität wie in den ersten Tagen nach Katyn
fortzusetzen. Nur der Völkische Beobachter
hielt die Kampagne ohne Unterbrechung aufrecht.31
Angesichts dieser Erlahmungserscheinungen kann es
nicht überraschen, dass sich in den erhaltenen Unterlagen des
Propagandaministeriums deutliche Hinweise auf eine gewisse
Unzufriedenheit mit der deutschen Presse finden. Goebbels zeigte
sich in der internen Propagandakonferenz seines Ministeriums am 30.
April im »Zusammenhang mit dem Kampf gegen das Judentum« darüber
enttäuscht, dass »uns hierfür die notwendigen Schriftleiter fehlen,
um die Aktion auch wirklich erfolgreich in der Presse
durchzuführen«. Zum Teil säßen in den Redaktionen »sehr veraltete
Schriftleiter«, die die antisemitische Propaganda
»vorschriftsmäßig«, aber »ohne innere Anteilnahme« durchführten:
»Sie erzeugen so keine Wut und keinen Hass, weil sie diese Gefühle
selbst nicht besitzen.« Jede Zeitung solle fortan täglich »das
Judenproblem irgendwie aufgreifen, und zwar ganz einfach und
primitiv«.32
Der Sprecher des Propagandaministeriums monierte
entsprechend in diesen Tagen gegenüber den Journalisten: »Die
Presse sei viel zu zurückhaltend in diesen Fragen. Nur wenn sie
einen Auftrag bekomme, sei sie für 24 Stunden bereit, so wenig wie
möglich zu tun, und bemühe sich sofort, schnell wieder von jeder
antisemitischen Linie herunterzukommen. Man habe den Eindruck an
zuständiger Stelle, als wenn die Presse meine, das jüdische Thema
sei unangenehm.«33 Pflichtbewusst
reagierte die Presse Ende April/Anfang Mai und nahm die Kampagne
wieder auf.34
Am 7. Mai konnte Goebbels mit Befriedigung zur
Kenntnis nehmen, dass Hitler anlässlich einer Ansprache vor den
Reichs- und Gauleitern die offene Propagierung des Antisemitismus
ganz offiziell zum »Kernstück der geistigen Auseinandersetzung«
erklärt hatte: »Er hält von der antisemitischen Bewegung in England
viel, wenngleich er sich natürlich klar darüber ist, dass sie keine
organisatorische Form besitzt und deshalb auch machtpolitisch nicht
in Erscheinung treten kann. Trotzdem ist der Antisemitismus
natürlich der Churchill-Regierung außerordentlich unangenehm. Er
ist den antisemitischen Bestrebungen vergleichbar, wie sie früher
in Deutschland in den bürgerlichen Verbänden gepflegt wurden. Auch
die hätten natürlich zu keinem Ziel geführt, wenn nicht die
revolutionäre nationalsozialistische Bewegung sie aufgenommen
hätte[...].«35
Einen ersten Höhepunkt der antisemitischen
Propagandakampagne im Anschluss an Katyn markierte Goebbels’
Artikel »Der Krieg und die Juden« am 9. Mai 1943 im Reich. »Gewisse Kreise in Europa«, so begann
Goebbels, »wollen und wollen nicht einsehen, dass dieser Krieg ein
Krieg der jüdischen Rasse und ihrer Hilfsvölker gegen die arische
Menschheit sowie gegen die abendländische Kultur und Zivilisation
ist, dass deshalb auch in ihm alles, was uns Deutschen und Europäer
als Verfechtern eines Prinzips der gesitteten Weltordnung lieb und
teuer ist, auf dem Spiel steht.« Das »Judentum«, so der Tenor des
Artikels, sei der eigentlich Schuldige an diesem Krieg; die Juden
bildeten ȟberhaupt den Kitt, der die feindliche Koalition
zusammenhält«. Die weiteren Ausführungen lassen wenig Zweifel
daran, welches Schicksal das NS-Regime diesem Feind zugedacht
hatte:
»Es ist deshalb ein Gebot der Staatssicherheit,
dass wir im eigenen Lande die Maßnahmen treffen, die irgendwie
geeignet erscheinen, die kämpfende deutsche Volksgemeinschaft gegen
diese Gefahr abzuschirmen. Das mag hier und da zu schwerwiegenden
Entscheidungen führen, aber das ist alles unerheblich dieser Gefahr
gegenüber. Denn dieser Krieg ist ein Rassenkrieg. Er ist vom
Judentum ausgegangen und verfolgt in seinem Sinne und nach seinem
Plan kein anderes Ziel als die Vernichtung und Ausrottung unseres
Volkes. Wir stehen dem Judentum doch als einziges Hindernis
gegenüber auf seinem Wege zur Weltherrschaft. Würden die
Achsenmächte den Kampf verlieren, dann gäbe es keinen Damm mehr,
der Europa vor der jüdisch bolschewistischen Überflutung retten
könnte.«
Weiter unten heißt es dann: »Kein prophetisches
Wort des Führers bewahrheitet sich mit einer so unheimlichen
Sicherheit und Zwangsläufigkeit wie das, wenn das Judentum es
fertig bringen werde, einen zweiten Weltkrieg zu provozieren,
dieser nicht zur Vernichtung der arischen Menschheit, sondern zur
Auslöschung der jüdischen Rasse führen werde. Dieser Prozess ist
von einer weltgeschichtlichen Bedeutung, und da er vermutlich
unabdingbare Folgen mit sich ziehen wird, hat er auch seine Zeit
nötig. Aber aufzuhalten ist er nicht mehr. […]
Wir sprechen in dieser Frage ohne jedes
Ressentiment. Die Zeit ist zu ernst, um naive Rachpläne zu spinnen.
Es handelt sich hier um ein Weltproblem erster Ordnung, das von der
heute lebenden Generation gelöst werden kann und auch gelöst werden
muss. Hier haben sentimentale Erwägungen keinen Platz. Wir stehen
im Judentum der Verkörperung des allgemeinen Weltverfalls
gegenüber. Entweder brechen wir diese Gefahr, oder die Völker
werden unter ihr zerbrechen. […] Als sie [die Juden] gegen das
deutsche Volk den Plan einer totalen Vernichtung fassten,
unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil. Auch hier wird
die Weltgeschichte ein Weltgericht sein.«
Am 9.Mai traf er wieder mit Hitler zusammen. In
seinem Tagebuch notierte er zufrieden: »Der Fall Katyn hat dem
Führer außerordentlich imponiert. Er hat auch dann wieder erkannt,
welche ungeheuren Möglichkeiten heute noch in der
antibolschewistischen Propaganda liegen. […] Sehr großen Wert legt
der Führer auf eine schlagkräftige antisemitische Propaganda. Er
sieht auch hier den Erfolg in der ewigen Wiederholung gegeben. Er
ist außerordentlich zufrieden mit der Verschärfung unsrer
antisemitischen Propaganda in Presse und Rundfunk.« Laut Goebbels
füllte die antisemitische Propaganda 70 bis 80 Prozent der
deutschen Auslandssendungen aus. »Der Antisemitismus hat nach
Meinung des Führers besondere Chancen in England. Wenn er auch
politisch und machtmäßig nicht ausgenutzt werden kann, so ist er
doch in der Lage, ungeheuer viel Unruhe und Unzufriedenheit zu
stiften und die Kluft zwischen Regierung und Volk zu vertiefen. Wir
müssen hier nach genau denselben Prinzipien handeln, nach denen wir
früher in der Kampfzeit gehandelt haben.« 36
Am nächsten Tag, am 10. Mai 1943, betonte Goebbels
in der Propagandakonferenz prompt, dass Hitler eine »eingehende
Behandlung« der Judenfrage innerhalb der Gesamtpropaganda wünsche;
die im Propagandaministerium einlaufenden Berichte über die
positive Aufnahme der antisemitischen Propaganda in der Bevölkerung
bestätigten ihn in dieser Haltung.37
»Bolschewismus« und »Kampf gegen das Judentum«, so erklärte
Goebbels seinen Mitarbeitern, seien »noch heute die besten
Propagandapferde, die wir im Stall haben. […] Wenn wir immer den
Juden und sein Treiben aufzeigen, so müssten wir in der ganzen Welt
ein Echo dahingehend erreichen, dass alle den Wunsch aussprechen:
›Ach, käme es doch auch bei uns so wie in Deutschland, dass wir
einmal judenfrei sind.‹«
Das deutsche Volk, so Goebbels, sei jedoch über
die »Einzelheiten« der »Judenfrage« keineswegs ausreichend
unterrichtet; die »Zionistischen Protokolle« seien beispielsweise
kaum bekannt. Die Parole »Die Juden sind schuld« müsse um das
Leitmotiv »Die Juden sind der Kitt im Feindlager« ergänzt werden:
»Sie sind es, die den Kapitalismus und Bolschewismus durch ihre
Leitartikler, Rundfunksprecher, Bankiers und GPU-Kommissare
verkörpern.«38 Mit Datum vom 13. Mai
heißt es im Tagebuch: »Ich studiere noch einmal eingehend die
Zionistischen Protokolle. Bisher war mir immer entgegengehalten
worden, sie eigneten sich nicht für die aktuelle Propaganda. Ich
stelle bei meiner Lektüre fest, dass wir sie sehr wohl gebrauchen
können. […] Wenn die Zionistischen Protokolle nicht echt sind, so
sind sie von einem genialen Zeitkritiker erfunden worden.«
Bei seinem mittäglichen Besuch bei Hitler kam er
auf das Thema zurück. In seinem Tagebuch hielt er anschließend
einen der ausführlichsten und bizarrsten Monologe zur »Judenfrage«
fest, die aus des »Führers« Mund überhaupt überliefert sind: für
Goebbels ein weiterer Beweis, wie sehr seine antisemitische
Propagandakampagne von Hitler geschätzt wurde und wie richtig er
mit seiner Auffassung lag, die »Judenfrage« sei der Schlüssel zur
Lösung des gegenwärtigen Weltkonflikts. Allerdings musste er auch
erfahren, dass die leisen Zweifel an der Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion, die er sich in
seinem Tagebuch erlaubt hatte, vom Diktator nicht geteilt
wurden:
»Der Führer vertritt den Standpunkt, dass die
Zionistischen Protokolle absolute Echtheit beanspruchen können. So
genial könne kein Mensch das jüdische Weltherrschaftsstreben
nachzeichnen, wie die Juden es selbst empfinden. Der Führer ist der
Meinung, dass die Juden gar nicht nach einem festgelegten Programm
zu arbeiten brauchen; sie arbeiten nach ihrem Rasseinstinkt […]
Wenn die Juden nach ihrem Rasseinstinkt handeln, so ist damit nicht
gesagt, dass es nicht zivilisierte westeuropäische Juden gäbe, die
sich auch der geheimen Absichten dieses Rasseinstinktes bewusst
würden. Die handeln nicht nur nach Rasse, sondern auch nach
Einsicht. Infolgedessen wird es immer wenige Überläufer aus der
jüdischen Rasse geben, die mit einem verblüffenden Freimut die
jüdischen Ziele vor der Öffentlichkeit entwickeln. Von einer
Verschwörung der jüdischen Rasse gegen die abendländische
Menschheit kann nicht im platten Sinne die Rede sein; diese
Verschwörung ist mehr eine Angelegenheit der Rasse als eine
Angelegenheit der intellektuellen Absichten. […] Die Juden sind
sich in aller Welt gleich; ob sie im östlichen Ghetto wohnen, ob in
den Bankpalästen der City oder Wallstreet, sie werden dieselben
Ziele verfolgen und werden, ohne dass sie sich darüber
verständigen, auch dieselben Mittel dabei gebrauchen.
Man könnte hier die Frage aufwerfen, warum es in
der Weltordnung überhaupt Juden gibt. Es wäre dieselbe Frage, wie
die, warum es Kartoffelkäfer gibt. Die Natur ist vom Gesetz des
Kampfes beherrscht. Immer wieder wird es parasitäre Erscheinungen
geben, die den Kampf beschleunigen und den Ausleseprozess zwischen
den Starken und den Schwachen intensivieren. Das Prinzip des
Kampfes herrscht so auch im menschlichen Nebeneinanderleben. Man
muss die Gesetze dieses Kampfes nur kennen, um sich darauf
einstellen zu können. Der intellektuelle Mensch hat der jüdischen
Gefahr gegenüber nicht die natürlichen Abwehrmittel, weil er
wesentlich in seinem Instinkt gebrochen ist. Infolgedessen sind
Völker mit einem hohen Zivilisationsstand am ehesten und am
stärksten der Gefahr ausgesetzt. In der Natur handelt das Leben
immer gleich gegen den Parasitismus; im Dasein der Völker ist das
nicht ausschließlich der Fall. Daraus resultiert eigentlich die
jüdische Gefahr. Es bleibt also den modernen Völkern nichts anderes
übrig, als die Juden auszurotten. […] Es ist fast unverständlich,
dass die Juden niemals durch Schaden klug werden. Im Mittelalter
haben sie manchmal in den Städten im Verlauf von ein oder zwei
Jahrhunderten fünf, acht oder zehn gewaltsame Austreibungen erlebt
mit einem Aderlass, wie er kaum erträglich erscheint; trotzdem
haben sie in dem Augenblick, in dem sie wieder in die Städte
hineingelassen wurden, wieder mit den alten Methoden angefangen.
Das liegt nicht in ihren Absichten, sondern in ihrer rassischen
Veranlagung. Es besteht deshalb auch nicht die Hoffnung, die Juden
durch eine außerordentliche Strafe wieder in den Kreis der
gesitteten Menschheit zurückzuführen. Sie werden eben ewig Juden
bleiben, so wie wir ewig Mitglieder der arischen Menschheit
sind.
Der Jude hat auch als erster die Lüge als Waffe in
der Politik eingeführt. Der Urmensch hat, wie der Führer meint, die
Lüge nicht gekannt. Der Urmensch hat nur in primitiver Weise seine
Gefühlsregungen durch Urlaute kundgemacht. Von einer Absicht des
Verschleierns konnte dabei überhaupt nicht die Rede sein. Der
Urmensch hatte gar keine Veranlassung, auf einen solchen Gedanken
zu kommen. Er hat, wenn er Schmerz empfand, Laute des Schmerzes,
und wenn er Freude empfand, Laute der Freude von sich gegeben. Je
höher der Mensch sich intellektuell entwickelte, desto mehr gewann
er natürlich auch die Fähigkeit, seine inneren Gedanken zu
verschleiern und anderes zum Ausdruck zu bringen, als was er
empfand. Der Jude als ein absolut intellektuelles Wesen hat am
frühesten diese Kunst beherrschen gelernt. Er kann deshalb nicht
nur als der Träger, sondern auch als der Erfinder der Lüge unter
den Menschen angesehen werden. Die Engländer handeln aufgrund ihrer
durchaus materialistischen Einstellung ähnlich wie die Juden. Sie
sind überhaupt das arische Volk, das die meisten jüdischen
Wesenszüge angenommen hat. Aber trotzdem wird das englische Volk
der Judenfrage gegenüber ein großes Erwachen erleben. Dieses
Erwachen ist durch Propaganda von unserer Seite aus in jeder Weise
zu fördern und zu beschleunigen. Je eher der Tag dieses Erwachens
eintritt, umso besser für die Rettung der abendländischen Kultur
und der abendländischen menschlichen Gesellschaft. […] Unsere und
insbesondere meine Aufgabe besteht also jetzt darin, genauso wie
die Frage des Antibolschewismus nunmehr die Frage des
Antisemitismus zu produzieren.«
Eine Woche nach diesen denkwürdigen Ausführungen
gab Goebbels zu erkennen, dass der Fall Katyn in der innerdeutschen
Propaganda seine Schuldigkeit getan habe: »Im Inland brauche ich
den Fall Katyn nicht weiter auszuschlachten; das bisher
vorgebrachte Material hat für die deutsche Öffentlichkeit durchaus
überzeugend gewirkt.«39
Goebbels suchte nun nach anderen einschlägigen
Themen und Möglichkeiten, 40 um die
antisemitische Kampagne fortzusetzen und zu variieren. Meldungen
aus England, wonach der Plan zur Bombardierung deutscher Talsperren
auf einen jüdischen Erfinder zurückging, kamen da gerade recht, wie
seiner Tagebucheintragung zum 21. Mai 1943 zu entnehmen ist: »Die
Engländer geben sich jetzt auch alle Mühe, ihre etwas unvorsichtige
Meldung, dass ein Jude den Plan zur Zerstörung unserer Talsperren
entworfen habe, zurückzuziehen. Offenbar fürchten sie scharfe
Repressalien im Reichsgebiet an den Juden. Trotzdem ist natürlich
diese Meldung richtig. Sie hat in der deutschen Öffentlichkeit auch
entsprechenden Eindruck gemacht.«
Die Auflösung der Komintern wertete er Ende Mai
als wichtigen Etappenerfolg und als Gelegenheit für eine
»Neuauflage der antibolschewistischen und antijüdischen
Kampagne«.41 Aufmerksam registrierte er
alle Informationen, die für ein Anwachsen des Antisemitismus im
Feindlager sprachen. Sein besonderes Augenmerk galt
Großbritannien,42 vor allem aber den
USA. So nahm er befriedigt Informationen über eine Umfrage einer
amerikanischen Zeitschrift zur Kenntnis, wonach »der Antisemitismus
in den Vereinigten Staaten viel stärker ist, als wir bisher
angenommen haben. […]. Man kann daraus entnehmen, dass die
judenfeindliche Stimmung durch die lange Dauer des Krieges nicht
etwa abnimmt, sondern im Gegenteil nur zunimmt.«43 Am gleichen Tag notierte er: »Die Londoner
›Times‹ wirft mir in schärfsten Ausdrücken vor, dass ich die
Absicht habe, insbesondere auch durch die Aufwerfung der Judenfrage
die Alliierten zu entzweien. Wenn ich diese Absicht verwirklichen
könnte, so würde ich darüber sehr glücklich sein.« Auch die
Tatsache, dass die französischen Behörden in Tunesien die durch die
deutsche Besatzungsmacht eingeführten antijüdischen Bestimmungen
aufhoben, erschien ihm vielversprechend: Das werde die
antisemitischen Emotionen unter der dort lebenden französischen
Bevölkerung auflodern lassen.44 Ebenso
setzte er Hoffnungen auf eine Zunahme des Antisemitismus in der
Schweiz.45
Die deutsche Presse setzte die Vorgaben des
Propagandaministeriums, das sie kontinuierlich mit entsprechendem
Material versorgte,46 im Mai und
teilweise noch im Juni 1941 getreulich um. Von Anfang Mai bis
Anfang Juni erschien in einigen Blättern in fast jeder Ausgabe
mindestens ein antisemitischer Beitrag, in anderen Zeitungen war
die Frequenz etwa halb so stark.47
Zusätzlich zu den bereits erwähnten Themen48 wurden schon Ende April Pläne des
US-Finanzministers Morgenthau zur Reform des Weltwährungssystems
als »jüdischer Versklavungsplan«49
angeprangert, während die amerikanische Absicht zur Errichtung
einer Welternährungsbank im Mai als »Wunschgebilde jüdischer
Weltausbeutung«50 präsentiert wurde.
Triumphierend wurde die Verbannung der Juden aus der bulgarischen
Hauptstadt Sofia registriert,51 ebenso
die Inhaftierung des Sprechers der rumänischen Gemeinschaft in
Rumänien, Filderman.52 Außerdem wurde
das angebliche Anwachsen des Antisemitismus im Feindlager sowie in
neutralen Ländern aufmerksam beobachtet.53
Schließlich griffen die deutschen Zeitungen
Stimmen aus der alliierten Presse auf, die sich mit
Nachkriegsplänen für die Behandlung NS-Deutschlands beschäftigten:
Sie wurden in der deutschen Propaganda als eindeutige Beweise für
die alliierte Absicht zur »Vernichtung« Deutschlands
herausgestellt. Unter Verweis auf Katyn wurden »die Juden« als
Drahtzieher dieser Nachkriegsplanungen dargestellt und die
Vernichtung des jüdischen Erzfeindes – als ein dem Regime
aufgezwungener Akt der Notwehr – offen propagiert.
Diese Linie – Vernichtung der Juden, um nicht
durch die Juden vernichtet zu werden – bildete die Kernaussage der
Katyn-Propaganda, sie findet sich in zahllosen Variationen in der
deutschen Presse. So behauptete Der Angriff
vom 4. Mai in Bezug auf die Juden: »Ihr Ziel ist die Vernichtung
Deutschlands«, und im gleichen Blatt war am 6. Mai zu lesen, »der
Jude« werde den Krieg »mit allen verfügbaren Mitteln so lange
führen, bis entweder Deutschland vernichtet ist oder er selbst
zerschmettert am Boden liegt«. Die Münchner
Neuesten Nachrichten erklärten Ende Mai: »Das Judentum besteht
auf Deutschlands Vernichtung«, und zogen daraus den Schluss: »Wir
wissen, dass es diesem Feind gegenüber nur die Entscheidung der
Waffen gibt.«54
Im Zuge der massiven antijüdischen Kampagne findet
sich eine ganze Anzahl von Stimmen in der Presse, die als Reaktion
auf die in der Bevölkerung verbreiteten Gerüchte und Informationen
über die »Lösung der Judenfrage« gelesen werden können
beziehungsweise solche Gerüchte und Informationen bestätigten. Die
durch zahlreiche allgemein gehaltene Andeutungen der Führungsspitze
und die nicht erfolgte Dementierung von Gerüchten über den
Massenmord zum öffentlichen Geheimnis gewordene »Endlösung« wurde
in solchen Pressebeiträgen thematisiert, ohne dass Einzelheiten des
Verbrechens genannt wurden. Es scheint, dass zwischen Journalisten
und Leserschaft ein unausgesprochener Konsens existierte. Anders
lassen sich die folgenden Beiträge kaum verstehen:
Die Deutsche Allgemeine
Zeitung schilderte in ihrem Leitkommentar vom 22. Mai die
Judengesetzgebung, die der slowakische Staat seit 1939 erlassen
hatte, und zwar »bis zur Massenaussiedlung«; mit der »Abschaffung«
von »vier Fünfteln der Juden«, so der Kommentar weiter, sei die
slowakische »Judenfrage« jedoch noch keineswegs gelöst.55
In einem am 17. Mai in der badischen Gauzeitung
Der Führer erschienenen Kommentar
behandelte der fanatische Antisemit Johann von Leers, Chefredakteur
der NS-Monatsschrift Wille und Weg, unter
der Überschrift »Schuld ist der Jude« die »Judenfrage« in einer Art
und Weise, die eine zumindest ungefähre Vorstellung des Lesers über
die »Endlösung« voraussetzte.
Leers stellte klar, dass die »Judenfrage […] Kern-
und Zentralfrage unseres Volkes geworden« sei. Es gebe »heute
Menschen genug, die sich darüber beklagen, dass wir die Juden aus
Europa ausrotten«; sie sollten sich, so Leers Ratschlag, lieber
»erst einmal darüber beklagen, in welch namenloses Elend die Juden
mit dem Zusammenbruch 1918 […] und mit dem neuen Krieg, den sie
zusammengehetzt haben, unser Volk und ganz Europa hineingetrieben
haben«. Dann ging Leers auf einen weiteren möglichen Einwand gegen
die »Judenpolitik« des Regimes ein: »Ja, aber die Methoden? Wer
Methode sagt, hat immer Unrecht. Es kommt auf das Ergebnis an. Das
Ergebnis für den Arzt muss die restlose Ausschaltung der Cholera
sein, das Ergebnis für unser Volk die restlose Ausschaltung der
Juden sein. Der Kampf steht ›Spitz auf Knopf‹. Es geht zwischen uns
und den Juden darum, wer wen überlebt. Wenn die Juden siegen, wird
unser ganzes Volk so niedergemetzelt wie die polnischen Offiziere
im Walde von Katyn – und wenn wir den Juden die Möglichkeit nehmen
wollen, nach diesem Krieg wieder einen Krieg und noch einen neuen
Krieg und immer neue Kriege und Revolutionen zusammenzubrauen, von
denen sich jeder gegen uns richtet und alle nur den Zweck haben,
die jüdische Rache an uns zu vollziehen – dann dürfen wir das
Judentum zwischen uns nicht existieren lassen.
Mögen diese Dinge schrecklich sein«, fuhr Leers
fort, »sie sind aber unausweichlich. Wir haben uns die Zeit nicht
ausgesucht, in der wir leben, aber wir stehen mit dem Rücken gegen
die Wand. Das Judentum, dem wir bis zum Weltkrieg nichts als Gutes
erwiesen haben, dem wir in Deutschland die größte
Entwicklungsmöglichkeit gegeben hatten, ist uns damals in den
Rücken gefallen wie ein Mörder. Und es ist wieder dabei und möchte
uns ermorden. Die Feindschaft ist von ihm ausgegangen – und es kann
sich nicht wundern, dass für uns seiner Mordlust gegenüber
Notwehrrecht gilt. Es hat es selbst gewollt.«
Leers Kommentar lässt sich als eine Replik auf die
offenbar weit verbreitete Auffassung lesen, die Katyn-Propaganda
sei wegen der nicht verborgen gebliebenen Morde an den Juden wenig
glaubwürdig. Mit seiner Verteidigung der »Methoden« und dem
Eingeständnis, dass »diese Dinge schrecklich […] aber
unausweichlich« seien, bestätigte Leers nicht nur die Gerüchte über
Exekutionen und andere an den Juden verübte Gräueltaten, sondern
rechtfertigte sie ausdrücklich als legitime Vorgehensweise einer
Politik der »Ausrottung«, bei der es um das Prinzip »Wir oder sie«
gehe.
Leers’ Kommentar erschien auch im Dresdner
Freiheitskampf und fand in Victor Klemperer
einen höchst alarmierten Leser. Klemperer zog folgende
Schlussfolgerungen aus dem Artikel, namentlich aus der
Formulierung, »dass wir die Juden aus Europa ausrotten«: »1. Sie
haben angefangen. 2. und hauptsächlich: Unsere Judenvertilgung ist
in Deutschland selber gar nicht populär.«56
Am 5. Juli kam Leers im Führer unter der Überschrift »Der Jude und der
Bombenterror« noch einmal auf das Thema »Wir oder sie« zurück.
Anlass war die Bombardierung des Kölner Doms: »Geloben wir uns in
dieser Stunde, durch Kind und Kindeskinder uns zu erinnern, dass es
die Juden waren, die den Luftgangsterkrieg gegen die
Zivilbevölkerung und ihre Wohnstätten, gegen die hehrsten
Kulturdenkmäler gewollt haben, dass sie für ihn haftbar gemacht
werden müssen und ihre Vernichtung die allein notwendige Sühne für
dieses Verbrechen sein kann.«
Die Mitteldeutsche
Nationalzeitung, ebenfalls ein Parteiblatt, brachte am 3. Juni
einen Artikel unter der Überschrift »Nach dem Judenproblem die
Zigeunerfrage«, in dem es unter anderem hieß: »In dem Augenblick,
wo die Völker Südosteuropas an die Lösung der Judenfrage auf mehr
oder weniger erkannter rassischer Grundlage gehen, ist als zweites
Problem einer gesunden Bevölkerungspolitik im südosteuropäischen
Raum die Zigeunerfrage spruchreif geworden. […] Die ausgesprochen
asoziale Haltung und die außerordentlich starke Vermehrung der
Zigeuner haben zur Folge, dass in den meisten Ländern Südosteuropas
die Stimmen immer lauter werden, auch diese Frage möglichst rasch
und gründlich zu lösen. Die größte Schwierigkeit ist die, dass der
Zigeuner nach seiner rassischen Eigenart die Wohltaten einer
dauerhaften Ansiedlung geradezu verschmäht. Im Gegensatz zu den
Juden will er allerdings nur das Allernotwendigste ›besitzen‹ […]
er behindert das Neuaufbauwerk in Südosteuropa und das ist der
Grund, warum auch die Zigeunerfrage jetzt im europäischen Südosten
nach einer Lösung drängt.«
Der Artikel geht mit keinem Wort darauf ein, wie
denn die Lösungen der »Juden«- und der »Zigeunerfrage« aussehen
sollten; da aber die »dauerhafte Ansiedlung« der Zigeuner
ausgeschlossen und die Lösung der »Judenfrage« als Modell für die
Regelung der »Zigeunerfrage« dargestellt wird, ging der Verfasser
des Artikels offenkundig ebenfalls davon aus, dass beim Leser
gewisse Vorstellungen vorhanden waren, wie die »Judenfrage« denn
bereinigt wurde.
Die Deutsche Allgemeine
Zeitung veröffentlichte in ihrer Abendausgabe vom 2. Juni 1943
einen Artikel, der die Tätigkeit des SD in den besetzten
Ostgebieten würdigte und gleichzeitig eine Begründung dafür
lieferte, warum darüber keine Einzelheiten veröffentlicht wurden.
Der mit »SS-PK« gekennzeichnete Artikel, der den Autor als Mitglied
einer Propagandakompanie der SS auswies, wählte die Form eines
»Zwiegesprächs« zwischen einem Wehrmachtsoffizier und einem
SD-Führer, die in einem Fronturlauberzug ein Abteil teilten. Es
seien ja doch, so der SD-Führer, »die gleichen Gegner – Judentum
und Freimaurerei sowie deren politische Exponenten Bolschewismus
und liberalistische Plutokratie -, denen man gegenübergestanden«
habe. Heute sei jedoch »noch nicht die Zeit«, so der SD-Führer
weiter, »die Berichte aufzuschlagen, die grundlegend über den
Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD sprechen. Vieles würde
sicherlich nie gesagt werden, da es nicht immer ratsam sei, die
Strategie aufzudecken.«57 Und den
Leitkommentar derselben Zeitung vom 29. Mai kann man als Versuch
betrachten, das Vorgehen gegen die Juden vor der Leserschaft zu
rechtfertigen. Dort heißt es, angesichts der »Proklamation des
feindlichen Vernichtungswillens wird auch der Letzte begreifen,
vielleicht auch mancher im Ausland, weshalb wir das Letzte
rücksichtslos aufbieten, um den Sieg zu erringen, weshalb vor allem
auch unsere antisemitische Kampagne so konsequent durchgeführt
wird«.
Offenbar wurde auch der Rundfunk in diese
antisemitische Kampagne eingespannt. Laut den Aufzeichnungen Victor
Klemperers hielt die »Judenhetze« im Radio sogar länger an als in
der Presse, nämlich mindestens bis Ende Juli.58 Auch die Rundfunkberichterstattung des SD
liefert verschiedene Hinweise auf antisemitische Sendungen: So
traten etwa in den »Kurzszenen der Woche« fiktive jüdische
Charaktere auf, und das Format Hörspiel wurde ebenfalls
entsprechend genutzt.59
Am 5. Juni hielt Goebbels als weiteren Höhepunkt
der antisemitischen Propagandakampagne des Jahres 1943 im Berliner
Sportpalast eine in der Presse stark beachtete Rede, in der er noch
einmal unmissverständlich klarstellte, dass die deutsche Politik
auf die »Ausschaltung« und »Beseitigung« des jüdischen Gegners
zielte: »Die gänzliche Ausschaltung des Judentums aus Europa ist
keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Sicherheit der
Staaten. […] Wie der Kartoffelkäfer die Kartoffelfelder zerstört,
ja zerstören muss, so zerstört der Jude die Staaten und Völker.
Dagegen gibt es nur ein Mittel: radikale Beseitigung der Gefahr.
[…] Der internationale Jude ist der Kitt, der die feindliche
Koalition zusammenhält.«60
Reaktionen der Bevölkerung
Mit der Katyn-Kampagne hatte die Politik der
NS-Führung, die deutsche Bevölkerung durch gezielte Hinweise auf
den vor sich gehenden Mord an den Juden zu Mitwissern und Komplizen
des Verbrechens zu machen und ihnen die furchtbaren Konsequenzen
vor Augen zu führen, die sie im Falle einer Niederlage treffen
würden, ihren Höhepunkt erreicht. Die Reaktionen waren, folgt man
den Stimmungsberichten, jedoch ambivalent. Aus Sicht des Regimes
lassen sich aus den Berichten – neben positiven Reaktionen
61 – deutlich zwei negative Tendenzen
ablesen: erstens eine gewisse Verwunderung darüber, dass das
NS-Regime angesichts der von ihm selbst begangenen, weithin
bekannten Gräueltaten nun Massenexekutionen der anderen Seite
anprangerte, und zweitens die Befürchtung, den deutschen
Kriegsgefangenen in der Sowjetunion drohe ein ähnliches Schicksal
beziehungsweise man selbst werde bei einer Niederlage diesen
Methoden zum Opfer fallen.
Am 19. April heißt es beispielsweise in den
Meldungen aus dem Reich, »ein großer Teil der Bevölkerung« erörtere
»die Liquidierung des polnischen Offizierkorps unter humanitären
Gesichtspunkten und gelange deshalb zu der Schlussfolgerung, es sei
›merkwürdig‹ oder gar ›heuchlerisch‹, dass die deutsche Propaganda
nunmehr ›ihr Herz für die Polen entdeckt habe‹. Dabei verweise man
einerseits auf die Tatsache, dass von den Polen 60 000
Volksgenossen in Bromberg und anderen Orten gemordet worden sind,
andererseits erkläre man, ›wir haben kein Recht, uns über die
Maßnahmen der Sowjets aufzuregen, weil deutscherseits in viel
größerem Umfang Polen und Juden beseitigt worden sind‹. Mit der
letzten Argumentation werde besonders in intellektuellen und
konfessionell orientierten Kreisen gegen die ›propagandistische
Ausschlachtung‹ des Fundes im Walde von Katyn geeifert.«62
Zur Wirkung der Presse- und Rundfunkpropaganda
kann man im gleichen Bericht lesen: »Mit einem weiteren
Augenblinzeln wird zugestimmt, dass die deutsche Propaganda sich
›keine Schwachheit anmerken‹ lasse, dass sie die toten Polen gegen
die Sowjets und die Juden benutze, obwohl wir selbst mit Polen,
Juden und Bolschewisten ›nicht gerade wählerisch umgegangen‹
seien.« Zur Illustration dieser Auffassung wird eine Stimme
angeführt: »Wenn ich nicht wüsste, dass im Daseinskampf unseres
Volkes jedes Mittel recht ist, wäre mir diese Heuchelei mit dem
Mitgefühl für die ermordeten polnischen Offiziere unerträglich.«
Hier zeige sich, so der Bericht, dass »mit großer Gedankenlosigkeit
geurteilt werde und selbst von den positiv eingestellten
Volksgenossen einfach äußere Gleichsetzungen vorgenommen werden«,
so dass es die Agitation gegnerisch eingestellter Kreise
verhältnismäßig leicht habe, da selbst den Parteigenossen Argumente
zur Entgegnung fehlten.
Die Meldungen untergeordneter SD-Stellen wurden
konkreter. So berichtete die SD-Außenstelle Bad Brückenau, man höre
vereinzelt »aus bäuerlichen Kreisen […] wir hätten, es mit [den]
›Juden‹ ja auch nicht anders gemacht, sondern auch einen
gefähr[lichen] Gegner gewaltsam beseitigt«. 63 Die SD-Außenstelle im schwäbischen Friedberg
gab nach Berlin weiter: »Vereinzelt wird die Ansicht laut, dass die
Feinde auch in den von uns eroberten Ostgebieten auch Massengräber
finden würden. Es seien zwar keine Polen, sondern Juden, die von
unseren Truppen systematisch hingerichtet wurden.«64 Aus Würzburg hieß es: »In kirchlichen Kreisen
wird die Anschauung vertreten, es könne sich um Massengräber
handeln, die von den Deutschen für die ermordeten polnischen und
russischen Juden angelegt wurden.«65
In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die
im Juni 1943 auf die Massengräber außerhalb der Vernichtungslager
ausgedehnte, streng geheime Aktion 1005 – die systematische
Beseitigung aller sterblichen Überreste der Opfer des Judenmordes –
bereits wenige Monate später bekannt wurde, wie sich einem
SD-Bericht der Außenstelle Bad Neustadt66 vom Oktober 1943 entnehmen lässt: »Einem
Gerücht aus Münnerstadt zufolge hätten die Feindmächte über das
Rote Kreuz an den Führer die Frage gestellt, wo die früher im Reich
ansässigen Juden verblieben seien. Der Führer hätte daraufhin die
Juden wieder ausgraben und verbrennen lassen, damit bei einem
weiteren Rückzug im Osten den Sowjets kein Propagandamaterial wie
das bei Katyn usw. in die Hände fallen würde.«
Doch zurück zu den unmittelbaren Auswirkungen der
Katyn-Kampagne. Der Regierungspräsident von Schwaben notierte im
April, dass laut Meldung eines Landrats die Katyn-Propaganda
»Erörterungen über die Behandlung der Juden in Deutschland und in
den Ostgebieten ausgelöst habe«.67 Der
Linzer SD kolportierte die Bemerkung eines Pfarrers: »Seit sich die
deutsche Propaganda so um Katyn annimmt, höre ich immer mehr
Stimmen, die der Überzeugung sind, dass diese Morde von Deutschen
verübt wurden.« Ein weiterer Geistlicher habe wörtlich erklärt:
»Menschen, die den Mord von hunderttausenden Juden, Polen, Serben,
Russen etc. auf dem Gewissen haben, steht nicht das Recht zu, sich
zu entrüsten, wenn andere nur ein Teilchen von dem taten, was sie
selbst laufend praktizieren.«68
Die SD-Außenstelle Lübbecke meldete Äußerungen aus
»klerikalen Gruppen« im westfälischen Raum: »Die
Nationalsozialisten hätten gar nicht das Recht, sich über die
viehische Abschlachtung aufzuregen. Bei der Bekämpfung der Juden im
Osten habe die SS ähnliche Abschlachtungsmethoden angewandt. Die
scheußliche und unmenschliche Behandlung, wie sie den Juden durch
die SS zuteil geworden wäre, fordert geradezu eine Bestrafung
unseres Volkes durch den Herrgott heraus. Wenn diese Ermordungen
sich nicht bitter an uns rächen würden, dann gäbe es keine
göttliche Gerechtigkeit mehr! Das deutsche Volk habe eine solche
Blutschuld auf sich geladen, dass es auf eine Barmherzigkeit und
Verzeihung nicht rechnen könne. Alles räche sich bitter auf Erden.
Aufgrund dieser barbarischen Methoden sei auch eine humane
Kriegsführung unserer Gegner nicht mehr möglich. Die Wutausbrüche
der jüdischen Presse und ihre Vernichtungstendenzen sei die
natürliche Reaktion.«69
Ebenso deutlich wird in den Berichten die durch
die Katyn-Propaganda geweckte Sorge, deutsche Kriegsgefangene
könnten Opfer ähnlicher Massenexekutionen werden.70 Die Ängste um vermisste Angehörige
beziehungsweise die Furcht um das eigene Leben konnten zu
Verzweiflung und Apathie bis hin zur Entfremdung zwischen dem
Regime und Teilen der Bevölkerung führen. Die NSDAP-Kreisleitung
Neustadt (Franken) gab beispielsweise zu bedenken: »Die Furcht
allein als Ansporn des Kampf- und Durchhaltewillens zu benützen,
ist eine gefährliche Sache. Es kann auch die gegenteilige Wirkung
eintreten, und bei schwachen Gemütern ist dies nach meiner
Feststellung auch geschehen.«71 Daneben
war deutlich herauszuhören, dass Teile der Bevölkerung durch derart
massive Propagandakampagnen eher abgeschreckt wurden. Die
»antijüdische Haltung der Presse hat so plötzlich angesetzt und
wird derartig übertrieben, dass wahrscheinlich die Wirkung
wenigstens auf das deutsche Volk verloren gehen wird«, hieß es in
einem der Partei-Kanzlei vorliegenden Bericht.72
Außerdem wurde in Teilen der Bevölkerung die
Propagandathese von der pauschalen Kriegsverantwortung »der Juden«
offenbar zurückgewiesen. 73 Die
Kreisleitung Weißenburg/Bayern meldete: »Es greift in weiten
Schichten des Volkes in erschreckendem Maße die Ansicht Platz, dass
es völlig gleichgültig sei, ob das deutsche Volk unter die
Herrschaft der Engländer, Amerikaner oder gar der Bolschewisten
komme, wenn nur der entsetzliche Krieg einmal zu Ende gehe. […]
Leider wird der Jude und die damit verbundene Gefahr im Volk nicht
mehr beachtet.«74 Berichte des
SD-Abschnittes Linz vom Juni 1943 deuteten auf massive negative
Auswirkungen der antisemitischen Kampagne hin. Man sei »mit
Abhandlungen über das Judentum in letzter Zeit allzu reichlich
bedacht worden« und »durch das überspielte Instrument der
Juden-Campagne und sonstiger politischer Abhandlungen großer
Aufmachung übermüdet und oft schon angeekelt«.75 In im Propagandaministerium eingehenden Briefen
aus der Bevölkerung scheint die Wiederaufnahme antisemitischer
Tendenzen in der Propaganda ebenfalls auf deutliche Kritik gestoßen
zu sein.76
Auch die Bemühungen der Propaganda, die
Luftangriffe auf deutsche Städte als das Werk jüdischer
Hintermänner darzustellen, erwiesen sich als zumindest teilweise
kontraproduktiv. Wenn, so die vox populi in
den Stimmungsberichten, die Juden so mächtig seien, warum hatte man
sie sich dann unbedingt zum Feind machen müssen? Der SD Halle
meldete: »Die Judenrache, die jetzt käme, sei schrecklich und man
habe dieses nur der Regierung zuzuschreiben. Hätte man
deutscherseits die Juden nicht angegriffen, so wäre es bereits zum
Frieden gekommen.«77 Aus Würzburg hieß
es: »Die Vertreibung der Juden hätte nicht erfolgen sollen, dann
würden diese heute nicht so gegen uns arbeiten.«78 Hätte man, so fragten andere, die Juden nicht
besser als Geiseln im Reich behalten anstatt sie zu
vertreiben?79
Die Bombardierung von Talsperren als Ausgeburt
eines teuflischen und verdammenswerten jüdischen Planes
darzustellen, stieß laut Stimmungsberichten vielfach auf
Unverständnis. »Moralische Auslassungen« seien angesichts so
effizienter Zerstörung kriegswirtschaftlich wichtiger Anlagen fehl
am Platz; warum sei die deutsche Seite nicht in der Lage, dem Feind
ebensolche Schäden zuzufügen?80
Die Anstrengungen der Propaganda, verstärkt »die
Juden« für die Luftangriffe verantwortlich zu machen, führten
insbesondere zu Erörterungen, warum bestimmte Ziele angegriffen
oder nicht angegriffen wurden – was einem gewissen Fatalismus
Vorschub leisten musste. So berichtete der SD aus Köln, es lägen
Stimmen vor, die die Bombardierung des Kölner Doms und anderer
deutscher Kirchen in Zusammenhang mit den seinerzeitigen
Zerstörungen der Synagogen in Deutschland gebracht haben« und daher
argumentierten, dass »jetzt ›die Strafe Gottes‹ wirksam
werde«.81
Im Raum Würzburg wurde spekuliert, die Stadt sei
bisher nicht bombardiert worden, weil dort »keine Synagoge gebrannt
habe«. Allerdings werde erzählt, »dass nunmehr auch die Flieger
nach Würzburg kämen, da vor kurzer Zeit der letzte Jude Würzburg
verlassen habe. Dieser habe vor seinem Abtransport erklärt, dass
nun auch Würzburg Luftangriffe bekommen werde.«82 »Ausgesprochene Judenstädte« wie Fürth und
Frankfurt, so hieß es ebenfalls aus Würzburg, würden
verschont.83 Auch in Heilbronn
verbreitete sich 1944, nach dem Angriff eines einzelnen Bombers,
das Gerücht, ein feindlicher Flieger habe für die Vertreibung der
Juden gezielt Rache nehmen wollen.84
Der Hamburger Kaufmann Lothar de La Camp schrieb
unter dem Eindruck der Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 an
einen Bekannten, dass »das einfache Volk, der Mittelstand und die
übrigen Kreise von sich aus wiederholt Äußerungen unter vier Augen
und selbst auch im größeren Kreise machten, die die Angriffe als
Vergeltung gegen die Behandlung der Juden durch uns
bezeichnen«.85 Ian Kershaw schließlich
hat auf einen vor dem Sondergericht München verhandelten
»Heimtückefall« hingewiesen, in dem ein Hilfsarbeiter aus
Weißenburg Befürchtungen äußerte, seine Stadt werde wegen der
Inhaftierung von Juden in besonderer Weise unter den Bombardements
zu leiden haben.86 Alle diese Berichte
spiegeln die Ohnmacht der Betroffenen wider, nicht die vom Regime
gewünschte Mobilisierung der letzten Widerstandsreserven.
Auffällig an diesen erhaltenen Äußerungen ist,
dass die Judenverfolgung nicht aus moralischen Gründen verurteilt
wird. In der Kritik stehen vielmehr stets die eigenen Interessen,
wie die Furcht vor Luftangriffen oder der Schutz der eigenen
Kriegsgefangenen, im Vordergrund. Daraus weitreichende
Schlussfolgerungen über die angeblich selbstsüchtige und moralisch
indifferente Einstellung der deutschen Bevölkerungsmehrheit zu
ziehen, wie dies etwa Kulka ausgehend von einer recht breiten
Analyse des Materials aus dem Jahre 1943 tut, halte ich gleichwohl
für problematisch: Wiederum muss der quellenkritische Einwand in
Betracht gezogen werden, dass sich Kritiker der Judenverfolgung in
halböffentlichen Situationen bevorzugt in einer Weise äußerten, die
ihnen nicht als Fundamentalopposition ausgelegt werden
konnte.87
Es erscheint auch fraglich, ob der in der
Bevölkerung häufiger hergestellte Zusammenhang zwischen der
Judenverfolgung und der Furcht vor »jüdischer Vergeltung« wirklich
darauf zurückzuführen ist, dass die Propagandathese von der
»jüdischen Weltverschwörung« mittlerweile in der Bevölkerung
allgemein akzeptiert wurde, wie beispielsweise Kershaw
schreibt.88 Man könnte ebenso
argumentieren, dass in solchen Bemerkungen Kritik an der
Judenverfolgung zum Ausdruck gebracht wurde: Die Behauptung der
Propaganda, eine Niederlage hätte die Vernichtung Deutschlands
durch »die Juden« zur Folge, wurde hier in einer Weise
aufgegriffen, die als deutliche Schuldzuweisung in Richtung Regime
verstanden werden konnte. Wer sich so äußerte, bewies damit
(bewusst oder unbewusst), dass das Regime Opfer der von ihm selbst
hergestellten perversen Logik geworden war.
Das von der Propaganda verbreitete Gespenst einer
»jüdischen Vergeltung«, sei es nun in Gestalt von Massenexekutionen
durch bolschewistische Schergen oder durch Luftangriffe, erwies
sich demnach als ein durchaus zweischneidiges Schwert. Statt zu
Durchhaltewillen und Aufbietung der letzten Kräfte führte die
antijüdische Propagandakampagne des Frühjahrs 1943 bei vielen
offenbar zu Resignation, während andere die Judenverfolgung als
verhängnisvollen Irrtum kritisierten und die Propaganda als
unglaubwürdig und verlogen empfanden. Die Stimmungsberichte der
Reichspropagandaämter, musste Goebbels Ende Mai 1943 feststellen,
zeichneten das Bild einer »allgemeinen schweren Depression«; man
könne nicht mehr »nur von einem Stimmungs-, sondern auch von einem
Haltungseinbruch« sprechen.89
Ob die Berichte nun die tatsächliche Stimmungslage
der Bevölkerung wiedergaben und inwieweit sie auch als Kritik
lokaler und regionaler Dienststellen am Kurs des
Propagandaministeriums zu verstehen sind, muss dahingestellt
bleiben. In jedem Fall war aber die hier übereinstimmend zum
Ausdruck kommende Skepsis gegenüber der offiziellen Propaganda so
stark, dass das Propagandaministerium sich Ende Mai/Anfang Juni
gezwungen sah, die Kampagne zurückzunehmen: Entsprechend ebbte die
antisemitische Polemik in der deutschen Presse Anfang Juni
ab.90
Der Versuch des Regimes, die deutsche
»Öffentlichkeit« durch eine antijüdische Angstpropaganda neu
auszurichten und auf die Parole »Sieg oder Tod« festzulegen, war
fehlgeschlagen. Das unter dem Stichwort »Katyn« im April
eingeführte und im Mai mit Hilfe des Themas Luftkrieg variierte
antisemitische Leitmotiv hatte sich nicht als tragfähiges Konzept
erwiesen. Goebbels sah sich sogar gefordert, seine antisemitische
Propagandakampagne gegen Kritik aus der Partei zu verteidigen. In
einem an die Gauleiter gerichteten Rundschreiben vom 12. Juni 1943
schrieb er unter anderem, es hätten nach Beendigung der
»Katyn-Aktion […] verschiedene Gaue auf das Unverständnis
parteifremder Kreise für die Breite und Häufigkeit der Darstellung
in Presse und Rundfunk hingewiesen«. Es sei hingegen »ein schon in
der Kampfzeit erprobter Grundsatz, dass die Wirkung der Propaganda
von der häufigen Wiedergabe des Themas – selbstverständlich in
abgewandelter Form – abhängt«. Nur so sei die »Einprägung bei
weitesten Kreisen gewährleistet«. Und: »Im Vordergrund der
Propaganda steht der Kampf gegen das Judentum und den
Bolschewismus. Er muss auf breiteste Basis gestellt
werden.«91
Es ist kein Zufall, dass auch die Partei-Kanzlei
der NSDAP sich zu diesem Zeitpunkt, im Juli 1943, veranlasst sah,
ein geheimes Rundschreiben an die Gau- und Reichsleiter
herauszugeben, das deutlich das Unbehagen der Parteiführung über
wild wuchernde Gerüchte in der »Judenfrage« zum Ausdruck brachte.
Hier hieß es, und zwar ausdrücklich im »Auftrag des Führers«: »Bei
der öffentlichen Behandlung der Judenfrage muss jede Erörterung
einer künftigen Gesamtlösung unterbleiben. Es kann jedoch davon
gesprochen werden, dass die Juden geschlossen zu
zweckentsprechendem Arbeitseinsatz herangezogen werden.«92
Der defensive Ton dieser Anweisung ist umso
auffallender, wenn man sich Bormanns Schreiben in der gleichen
Angelegenheit vom Oktober 1942 an die Gau- und Kreisleiter in
Erinnerung ruft. Damals war die Partei-Kanzlei auf die Gerüchte
über Massenerschießungen im Osten eingegangen und hatte eine
Sprachregelung herausgegeben, die diese »sehr scharfen Maßnahmen«
nicht geleugnet und offen davon gesprochen hatte, die europäischen
Juden würden in Lager deportiert, dort zur Arbeit eingesetzt oder
»noch weiter nach dem Osten verbracht« werden. Der Passus, es liege
in der »Natur der Sache, dass diese teilweise schwierigen Probleme
im Interesse der endgültigen Sicherung unseres Volkes nur mit
rücksichtloser Härte gelöst werden können«, machte den
Parteifunktionären unmissverständlich deutlich, dass die
umlaufenden Gerüchte über den Massenmord an den Juden keinesfalls
aus der Luft gegriffen waren. 93 Und
nun, im Juni 1943, sollte die künftige »Gesamtlösung« der
»Judenfrage« über den »Arbeitseinsatz« hinaus überhaupt nicht mehr
erörtert werden. Zu diesem Verbot passte, dass die öffentlichen
Erklärungen und Andeutungen führender Nationalsozialisten über die
in Gang gekommene »Vernichtung« oder »Ausrottung« der Juden – im
Gegensatz zum Jahre 1942 – weitgehend verstummt waren: Zum letzten
Mal hatte Hitler im Februar 1943 die schon zum Ritual gewordene
Erinnerung an seine »Prophezeiung« wiederholt.
Goebbels sah sich sogar genötigt, das offizielle
Schweigen über die zur Verwirklichung der »Endlösung« ergriffenen
Maßnahmen zumindest ansatzweise öffentlich zu begründen. So lassen
sich jedenfalls seine richtungweisenden »30 Kriegsartikel für das
deutsche Volk« interpretieren, die er am 26. September 1943 in der
Wochenzeitung Das Reich veröffentlichte.
Plötzlich wurde das »Schweigen« generell zu einer Tugend erklärt.
Liest man diesen Artikel vor dem Hintergrund der wenige Monate
zuvor abgebrochenen antisemitischen Kampagne, wird deutlich, dass
Goebbels’ Mahnung, das offizielle Schweigen nicht durch
Gerüchtebildung zu durchbrechen, sich insbesondere auf die
»Judenfrage« bezog – die indes angesichts des Schweigegebots nicht
beim Namen genannt wurde. »Schweigen ist ein hohes Gebot der
Kriegführung«, heißt es im Artikel. »Nur wenige wissen um die
Geheimnisse des Krieges. Diese stellen Waffen im Lebenskampfe
unseres Volkes dar und dürfen deshalb unter keinen Umständen vor
dem Feinde preisgegeben werden. Es ist also denkbar unfair und
abträglich für das allgemeine Wohl, die Regierung durch Verbreitung
von Gerüchten dazu zwingen zu wollen, über eine kriegswichtige oder
gar kriegsentscheidende Frage öffentliche Erklärungen abzugeben,
die dem Feinde nützen und damit dem eigenen Volke größten Schaden
zufügen.«
»Miesmacher« allenthalben
Seit Mitte April 1943, seit dem Beginn der
Katyn-Kampagne, hatte Goebbels mit dem Gedanken gespielt, der
schlechten »Stimmung« einfach dadurch zu Leibe zu rücken, dass er
die vom SD zusammengestellten und in Partei- und Regierungskreisen
weit verbreiteten Meldungen aus dem Reich, das wichtigste Organ,
das Woche für Woche die unzureichende Wirkung seiner Propaganda
dokumentierte, einstellen ließ. Bereits am 17. April heißt es im
Tagebuch:
»Der SD-Bericht bringt mehr Stänkereien. Er erregt
überhaupt in letzter Zeit mein allgemeines Missfallen. Er ist
gänzlich unpolitisch und wird durchaus ungesiebt an die zuständigen
Stellen herangetragen. Daraus entsteht eine gewisse Gefahr; denn
die meisten Leser dieser SD-Berichte haben nicht das politische
Unterscheidungsvermögen, um eine Nebensächlichkeit von einer
Hauptsache zu unterscheiden. Vor allem bringt dieser Bericht zu
viele Einzelheiten. Die Führung des Reiches braucht es durchaus
nicht zu wissen, wenn irgendwo in einem kleinen Landstädtchen
einmal einer seinem gepressten Herzen Luft gemacht hat. Genauso,
wie der Führer nicht zu wissen braucht, wenn in einer Kompanie
einmal über die Kriegführung geschimpft wird, genauso braucht die
politische Führung nicht darüber orientiert zu werden, wenn hier
und da einer den Krieg verdammt oder verflucht oder darüber die
Schale seines Zornes ausgießt. Das System des SD muss jetzt
schleunigst geändert werden. Ich gebe Berndt94 den Auftrag, eine Zusammenarbeit zwischen SD
und Reichspropagandaministerium organisatorisch vorzubereiten. Wenn
die an sich guten Materialunterlagen des SD politisch gesichtet und
mit den politischen Anschauungen der Gauleiter und
Reichspropagandaamtsleiter in Übereinstimmung gebrachen werden,
dann könnte man daraus eine gute Informationsquelle machen. Ich
will durchaus nicht, dass die politische Führung des Reiches von
solchen Informationsquellen abgeschlossen wird; ich will nur
verhindern, dass aus einem Floh ein Elefant gemacht wird und sich
allmählich ein Bild von der Haltung des deutschen Volkes bei der
Reichsführung ergäbe, das durchaus irreführend ist.«
Die Tagebücher des Propagandaministers zeigen,
dass er spätestens seit Mai 1943 mit Himmler darüber verhandelte,
den SD-Berichten »wegen defätistischer Wirkung« ein Ende zu
machen.95 Im Juni 1943 wurden die
Meldungen aus dem Reich dann tatsächlich durch die SD-Berichte zu
Inlandsfragen ersetzt, die nur für einen wesentlich kleineren Kreis
von Lesern bestimmt waren.96 Pläne des
Propagandaministers, ein besonderes Informationsblatt für das
Reichskabinett zu schaffen, stellten sich als »nichtdurchführbar«
heraus; hier gehe es um »delikate Fragen […] die man schriftlich
überhaupt nicht beantworten kann«.97
Doch noch im Juli fand Goebbels die ihm
vorliegenden SD-Berichte auch in der neuen Form »für die praktische
Arbeit ganz unbrauchbar. Sie werden unkorrigiert vorgelegt und
enthalten alles, was irgendein Anonymus in irgendeiner Stadt oder
in irgendeinem Dorf an Meinung in irgendeinem unbewachten
Augenblick von sich gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass aus der Kenntnis solcher Berichte irgendein Nutzen entspringen
könnte, und lehne deshalb auch ab, sie in Zukunft ad notam zu
nehmen.« 98
Nicht die schlechte Stimmung sollten demnach
beseitigt werden, sondern das Medium, das auf die trübe Stimmung
hinwies. Ursprünglich ein wichtiges Mittel zur Herstellung einer
nationalsozialistisch ausgerichteten »Öffentlichkeit«, drohten die
Berichte nun zum Forum für unerwünschte Meinungsbilder zu werden.
In dem Moment, als dem Propagandaminister allmählich die Kontrolle
über die verbindliche Ausrichtung der Öffentlichkeit aus den Händen
glitt, musste er fürchten, dass die Stimmungsberichte sich von
Propagandaverstärkern in ein Sprachrohr für alternative Ansichten
verwandelten. Sie mussten zum Schweigen gebracht werden.
Doch nicht nur in Kreisen von Regime und
Verwaltung ging Goebbels gegen die schlechte Stimmung vor. Gegen
Kritiker und »Miesmacher« in Kneipen und an anderen
halböffentlichen Orten setzte er eine höchst schlagkräftige Methode
ein, der sich die Berliner Parteiorganisation bediente –
»Brachialgewalt«. Der unmittelbare Zusammenhang von Propaganda und
Gewalt, der für die nationalsozialistische »Stimmungsführung« stets
charakteristisch war, lässt sich anhand dieses Beispiels besonders
plastisch nachzeichnen.
Bereits im März 1943 hatte Walter Tießler, der
Verbindungsmann Bormanns bei Goebbels, den Propagandaminister
darauf aufmerksam gemacht, dass in der »Kampfzeit »eine
Beschimpfung der Partei bei uns ebenfalls nicht mit Gegenwitzen
beantwortet wurde, sondern, indem man dem Betreffenden eine
entsprechende Abreibung gab«. Goebbels habe daraufhin empfohlen, so
Tießler, auf »Gerüchtemacher und Witzeerzähler […] dort, wo sie
auftreten, ob in der Gesellschaft, in der Straßen- oder U-Bahn bzw.
in Geschäften oder in Privatgesprächen, sofort damit [zu]
antworten, dass wir ihnen eine herunterhauen«; es »genügten einige
wenige Beispiele, um sie zum Verstummen zu bringen«.99
Im Laufe des Sommers 1943 fand diese Idee ihren
organisatorischen Niederschlag: Die Berliner Gauleitung rief die so
genannte Organisation B ins Leben. Über deren Aufgabe erfährt man
in Goebbels’ Tagebuch: »Was übrigens die Stimmung anlangt, so kann
man darüber sehr beruhigt sein. Die ›Organisation B‹
(Brachialgewalt) ist am Abend vorher in Dreiergruppen in den
Arbeitervierteln tätig geworden. Sie hat 35 Lokale unauffällig
überprüft, mit dem Entschluss, überall handgreiflich zu werden, wo
etwas gegen den Führer oder gegen die allgemeine Kriegführung
gesagt wurde. Es ist bezeichnend, dass die Organisation B bei
diesem ersten ›Raid‹ nicht ein einziges Mal einzugreifen brauchte.
Obschon überall über Krieg und Politik gesprochen wurde, ist
nirgendwo auch nur ein einziges Wort über den Führer oder die
Kriegführung gesagt worden, das zu einem Einschreiten Anlass
gegeben hätte.«100
Einige Tage später ließ er siebenhundert
Parteigenossen in Lokale des Berliner Westens ausschwärmen und
konnte auch hier konstatieren, dass die Belauschten in keinem
einzigen Fall Anlass zum »Einschreiten« gegeben hatten.101 Dass dafür tatsächlich allgemeine
Zufriedenheit verantwortlich war, darf mit Fug und Recht bezweifelt
werden; gerade für diesen Zeitraum deuten die Goebbels-Tagebücher
und andere Quellen auf ein deutliches Stimmungstief hin. Doch diese
Schlägertrupps sollten ja auch nicht die wirkliche Stimmung der
Bevölkerung ermitteln, sondern jedes halböffentlich geäußerte
kritische Wort bereits im Ansatz verhindern – mit einem Faustschlag
ins Gesicht des »Miesmachers«. Außerdem hatte das Auftreten der
»Organisation B« natürlich eine erheblich abschreckende Wirkung:
Denn das Großaufgebot an schlagfertigen Parteigenossen wird auch
den Kneipengängern nicht verborgen geblieben sein. Einige Tage
später war die »Organisation B« wieder im Einsatz, wobei sie »nur
in einem einzigen Falle handgreiflich werden musste. Nur in diesem
Fall war festzustellen, dass einer öffentlich gegen die Führung
oder gegen den Krieg zu meckern wagte. Der Delinquent ist denn auch
gleich entsprechend behandelt und der Polizei übergeben worden.
Sonst kann man in Berlin von einer sehr aufrechten und festen
Haltung sprechen[...].«102
Im Dezember hatte das massierte Auftauchen
schlagkräftiger Parteigenossen endgültig seinen Zweck erreicht, die
Stimmungserkundung mit dem Schlagring in der Tasche war ein voller
Erfolg: »Von Berlin hört man nur Angenehmes. Haegert hat die
Organisation B zur Erkundung der Stimmung in der Reichshauptstadt
angesetzt. Die Berichte, die mir von den einzelnen Rechercheuren
eingereicht werden, sind mehr als positiv. Der Berliner hat sich
bei den Luftangriffen in einer moralischen Haltung gezeigt, wie sie
besser gar nicht vorstellbar ist.«103
Antijüdische Propaganda in der zweiten Jahreshälfte 1943
In der zweiten Jahreshälfte 1943 sollte die
»Judenfrage« in der deutschen Propaganda keine große Rolle mehr
spielen. In den Anweisungen an die deutsche Presse tauchte sie
erheblich seltener auf als in der ersten Jahreshälfte, 104 und entsprechend ging die Anzahl der
antisemitischen Beiträge in der deutschen Presse wieder
zurück.105
Die Journalisten schenkten der »Judenfrage« so
wenig Beachtung, dass das Propagandaministerium sich am 13. August
1943 zu der Ermahnung veranlasst sah, die vier Tage zuvor ergangene
Tagesparole (»Zwischen den Juden in Washington, London und Moskau
herrscht volle Eintracht«) streng zu beachten: »Obwohl in der
Tagesparole des Reichspressechefs vom 9.8. erneut eindeutig darauf
hingewiesen wurde, dass Bolschewismus und Kapitalismus der gleiche
jüdische Weltbetrug, nur unter verschiedener Formierung sind,
verfallen die Zeitungen bei der Behandlung des bolschewistischen
Themas immer noch der Täuschung, als ob Kapitalismus und
Bolschewismus zwei verschiedene, sich feindlich gegenüberstehende
Anschauungen seien. Insbesondere wird immer wieder den
kommunistischen Agitationen dadurch Vorschub geleistet, dass
bolschewistische Äußerungen ernst genommen werden, als ob der
Bolschewismus den Kapitalismus vernichten wolle, während sich doch
in Wirklichkeit diese beiden jüdischen Systeme einander in die
Hände arbeiten […]. Schriftleiter, die gegen diese Tagesparole
verstoßen, werden persönlich zur Verantwortung gezogen.«
Das wirkte. In der zweiten Jahreshälfte konnte man
in der Parteipresse immer wieder lesen, die USA würden nach dem
Krieg – selbstverständlich im Auftrag »der Juden« – versuchen, die
»Weltregierung« zu übernehmen.106 Sie
würden die britische Machtposition endgültig zerstören,
Großbritannien marginalisieren107 und
im Nahen Osten eigene Kolonien in Besitz nehmen.108 Der amerikanische Finanzminister Morgenthau
halte schon »goldene Handschellen« für die übrigen Völker bereit.
109 Dass die Rechte der
nordafrikanischen Juden wiederhergestellt wurden, galt ebenso als
Beweis für die Existenz der »jüdischen Weltverschwörung«
110 wie der angeblich maßgebliche
Einfluss jüdischer Kräfte im vom Faschismus befreiten
Italien.111
Das Thema jüdisch-amerikanischer Imperialismus
wurde auf unterschiedlichste Weise variiert: Der Angriff vom 18. Januar 1944 griff eine britische
Meldung aus Jerusalem auf, wonach Teams aus jüdischen Fachleuten im
Gefolge anglo-amerikanischer Truppen nach Europa entsandt werden
sollten, und kommentierte: »Worin die Aufgabe dieser jüdischen
Aasgeier bestehen soll, ist nach den Erfahrungen in Süditalien
klar: Die jüdischen ›Sachverständigen‹ würden sich bei einem
Gelingen der plutokratischen Pläne ›liebend‹ gern der europäischen
Kultur- und Vermögenswerte annehmen und sie rücksichtslos
verschieben.«112 Die Ernennung des
Bankiers und früheren Gouverneurs von New York, Herbert H. Lehmann,
zum Direktor der United Nations Relief and Rehabilitation
Administration, der alliierten Hilfsorganisation für
Kriegsflüchtlinge, bedeutete nach Ansicht des Völkischen Beobachters vom 13. November 1943, der
»Bankjude« sei zum«Sklavenhalter für Europa« ausersehen.
Gelegentlich wurde – wie vom Propagandaministerium
im August eingefordert – mit Hilfe des antisemitischen Leitthemas
der Gleichklang der Interessen zwischen der Sowjetunion und den
Westalliierten betont: Sowjetische Forderungen, nach Kriegsende
deutsche Zwangsarbeiter zu rekrutieren, und amerikanische Stimmen,
die eine Schwächung der industriellen Basis Deutschlands
verlangten, deuteten vermeintlich auf eine »einheitliche jüdische
Regie hinter den Vernichtungsplänen«.113 Insgesamt gesehen überwog jedoch in diesem
Zeitraum die Propaganda gegen den von einflussreichen jüdischen
Kreisen »gesteuerten« amerikanischen Imperialismus.
Daneben registrierte die Presse die antijüdischen
Maßnahmen der Verbündeten, etwa die im Juni 1943 von der
bulgarischen Regierung verfügte Ausweisung der Juden aus der
Hauptstadt Sofia,114 die »Arisierung«
in Rumänien,115 die antisemitischen
Maßnahmen der ungarischen Regierung, 116 die Einführung einer Meldepflicht für die
Juden in Griechenland 117 sowie die
Verfügung der faschistischen Regierung Italiens vom Dezember 1943
über die Inhaftierung aller Juden in Konzentrationslagern.
118 Die »Maßnahmen gegen die Juden in
Dänemark«, also die beabsichtigte Deportation, waren laut Anweisung
des Propagandaministeriums vom 2. Oktober indes »vorerst nicht
aufzugreifen«.119
Obwohl sich während der Katyn-Kampagne gezeigt
hatte, dass sich die antisemitische »Kraft durch Furcht«-Propaganda
für das Regime nicht ausgezahlt hatte, finden sich auch weiterhin
in der Propaganda immer wieder Hinweise auf die im Falle einer
deutschen Niederlage drohende »jüdische Vergeltung«. So äußerte
etwa der Oldenburger Gauleiter Paul Wegener in einem
Zeitungsartikel im August 1943 die Überzeugung, es gebe »keinen in
der Partei, der nicht nüchtern erkannt hat, dass bei einem Sieg der
Plutokratie er und seine Kameraden die ersten sein werden, die von
den jüdischen Scharfrichtern liquidiert werden. Als wir den
nationalsozialistischen Eid leisteten, haben wir die Brücke hinter
uns abgebrochen. Die Brücken sind hinter dem ganzen deutschen Volk
abgebrochen.«120
An die deutsche Presse erging zum 1. September
1943 aus Anlass des vierten Jahrestags des Kriegsbeginns folgende
Kommentaranweisung: »In diesem Krieg kämpfen wir um unsere
nationale Existenz. Es ist der größte Schicksalskampf unsrer
Geschichte. Wenn wir diesen Kampf verlören, so würde die deutsche
Nation ausgelöscht werden. Wir tragen somit nicht nur die
Verantwortung für die lebende Generation, sondern auch für die
kommenden wie vor den gewesenen Generationen.«121
Eine so eindeutig auf die Erzeugung von
Existenzangst ausgerichtete Kriegspropaganda stieß jedoch auch auf
Kritik. Die neu geschaffenen SD-Berichte zu Inlandsfragen meldeten
im August 1943, Zeitungsartikel wie der im Völkischen Beobachter erschienene Beitrag »Jüdische
Weltherrschaft auf den Spitzen der USA-Bajonette« seien
kontraproduktiv; solche Stimmen machten »nur die allgemeine
Besorgnis schwerer, dass wir den Krieg verlieren und dass jeder
einzelne, seine Familie und insbesondere die Kinder ein trauriges
und grausames Schicksal erleiden«.122
Zwei Beiträge von September 1943 in der badischen
Gauzeitung Der Führer scheinen direkt
darauf zu antworten. Am 3. September brachte die Zeitung eine
Zusammenstellung von 14 Punkten, die als Sprachregelung für »die
Kleinmütigen und Verzagten« deklariert wurden. So hieß es
beispielsweise in Punkt 2: »Es wird gesagt, wenn das
nationalsozialistische Deutschland nicht die Judenfrage so radikal
gelöst hätte, dann würde uns heute das internationale Weltjudentum
nicht bekämpfen.« »Nur ein seniler Schwachkopf«, konterte das
Blatt, »kann so etwas aussprechen. Es ist richtig, die Juden der
Vereinigten Staaten haben bereits 1934 den Boykott über deutsche
Waren verhängt und uns damit wirtschaftlich den Krieg erklärt. Aber
nicht, weil wir die Judenfrage in Deutschland gelöst haben, sondern
weil sie in Amerika das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
fürchteten […] Das kaiserliche Deutschland Bismarcks hat die Juden
wirklich liebevoll behandelt. Es hat sie noch nicht einmal
angerührt, auch wenn sie offenen Landesverrat betrieben. Und doch
hat uns das internationale Judentum den Krieg bis zur Vernichtung
erklärt. Der zweite Weltkrieg aber ist nur die Fortsetzung des
ersten.« In den Punkten 5 und 6 wurde noch einmal ausdrücklich
klargestellt, dass die Behauptung, im Falle einer Niederlage werde
das deutsche Volk ausgerottet werden, zutreffend sei.
Am 23. September 1943 veröffentlichte der
berüchtigte Johann von Leers einen weiteren Leitkommentar in
derselben Zeitung, in dem er die antisemitische Propaganda
ausdrücklich gegen Kritik in Schutz nahm – und eher nebenher die
Vernichtung der Juden als einen bereits
weitgehend abgeschlossenen Vorgangerwähnte. Leers schrieb:
»Dieser Tage hörte ich die unbegreiflich naive Frage: ›Warum reitet
ihr denn immer noch auf dem Juden herum? Das Judentum in Europa ist
ja zum großen Teil aufgerieben, auch haben wir andere Sorgen heute,
mit denen wir uns beschäftigen müssen, haben die feindlichen
Fliegerangriffe, das schwere Ringen an den Fronten – ist es da
nicht überflüssig, gerade die Judenfrage immer wieder zu
behandeln?‹« Um diesen Vorwurf zu entkräften, verwandte Leers
einige Mühe darauf, dem Leser die Theorie von der jüdischen
Weltverschwörung zu erklären, und fuhr dann fort: »Nur eines kann
den Völkern wirklich Sicherheit und Frieden geben – die völlige
Niederringung und Niederschlagung des Judentums. Darum, weil wir
einen langdauernden Frieden wollen, in dem die ehrlichen Völker
gedeihen, darum sprechen wir immer wieder von der Verwerflichkeit
und der Schuld der Juden.«123
Für diesen Verteidigungsversuch spielte
möglicherweise auch das am 12. September 1943 verlesene Hirtenwort
der katholischen Bischöfe eine Rolle, in dem diese grundsätzlich
die Tötung menschlichen Lebens als verwerflich bezeichnet und mit
der Formulierung, dies betreffe ebenfalls »Menschen fremder Rassen
und Abstammung«, ihrerseits die umlaufenden Gerüchte über den Mord
an den Juden bestätigt hatten. In jedem Fall hatten die Bischöfe
für die Veröffentlichung ihrer Botschaft einen Zeitpunkt gewählt,
zu dem die »Judenpolitik« des Regimes in der öffentlichen
Darstellung in die Defensive geraten war.
Entsprechend galt das »Schweigegebot« Goebbels’
vom 26. September 1943, das gelegentlich jedoch gebrochen wurde.
Ende 1943, als die Ghettos in der Regel aufgelöst, die
Deportationen aus den meisten Ländern unter deutscher Kontrolle zum
größten Teil durchgeführt und die Vernichtungslager der Aktion
Reinhardt demontiert und zerstört waren – sogar die sterblichen
Überreste der Leichen hatte man sorgfältig beseitigt -, erschien
eine Kurzmeldung im Völkischen Beobachter,
die auch dem normalen Leser einen Hinweis darauf gab, wie weit die
»Lösung« der »Judenfrage« mittlerweile gediehen war:
»Nach Schätzung in der jüdischen Presse Palästinas
beträgt die Gesamtzahl der Juden 13,5 Millionen. Davon entfallen
auf die USA 4,8 Millionen, auf England 425 000, auf Kanada 200 000,
auf Südafrika 100 000, auf Australien 35 000, auf Argentinien 300
000 und auf alle anderen Staaten beider Amerika 300 000. Nach den
USA beherbergt heute Palästina mit 550 000 Juden die meisten
Hebräer. Diese Schätzungen beziehen sich selbstverständlich nur auf
Religionsjuden. Von den Sowjetjuden soll sich die Hälfte jetzt
östlich vom Ural befinden.«124
Ein Blick in den Großen
Brockhaus genügte, um festzustellen, dass die Zahl der Juden
Ende der zwanziger Jahre bereits auf 15 bis 16 Millionen geschätzt
wurde; daraus ergab sich in jedem Fall eine ins Auge springende
Differenz, zumal die im Brockhaus
veröffentlichte Statistik für die USA von nur 3,6 Millionen (und
nicht von 4,8 Millionen) Juden ausging. Auffallen musste einem
gründlichen Leser aber vor allem die Tatsache, dass in der kurzen
Meldung Palästina als das Land mit der zweithöchsten jüdischen
Einwohnerzahl genannt wurde; denn dies bedeutete, dass die im
Brockhaus nachgewiesenen Gemeinschaften von
3,5 Millionen polnischen, 2,75 Millionen sowjetischen, 834 000
rumänischen Juden sowie die 564 000 deutschen Juden (zu denen seit
dem »Anschluss« theoretisch noch die 300 000 österreichischen Juden
hinzuzurechnen gewesen wären) zumindest in diesen Größenordnungen
nicht mehr existierten.125