»Kraft durch Furcht«: Die Drohung mit der »jüdischen Rache«

Nach Stalingrad: Antibolschewistische und antijüdische Propagandakampagne im Zeichen des Totalen Krieges

Nach der Niederlage von Stalingrad stellte Goebbels die deutsche Propaganda, und zwar sowohl die Inlands- wie die Auslandspropaganda, ganz unter die Parole des »Kampfes gegen den Bolschewismus«. Die ersten, grundlegenden Anordnungen dazu erließ er am 9. und 12. Februar 1943; in den nächsten Tagen und Wochen sollte er immer wieder auf dieses Leitmotiv zurückkommen.1
Die Betonung der »antibolschewistischen« Inhalte hatte – fast selbstverständlich angesichts der stereotypen Vorgehensweise der NS-Propaganda – zur Folge, dass nun auch antisemitische Motive vor allem in der Parteipresse wieder verstärkt aufgegriffen wurden. Der Völkische Beobachter und Der Angriff leiteten die Kampagne am 11. Februar mit entsprechenden Schlagzeilen ein (»Die neuesten Hassausbrüche unserer Todfeinde« beziehungsweise »Neuer teuflischer Plan zur Vernichtung unseres Volkes«).2 Der Angriff veröffentlichte am 23. Februar einen Leitkommentar Robert Leys, in dem es unter anderem hieß: »Der Jude ist auserwählt, nun endlich für seine Schandtaten und Verbrechen ausgerottet zu werden. Der Deutsche ist vom Schicksal ausersehen, dieses Urteil der Vorsehung zu vollstrecken.«
Kurz nach Beginn der Kampagne, am 18. Februar, hielt Goebbels im Berliner Sportpalast die berüchtigte Rede, in der er sein Publikum auf den »Totalen Krieg« einschwor, verbunden mit massivem antisemitischen Tenor. So warnte der Propagandaminister im Falle einer militärischen Niederlage vor »bolschewistisch-jüdischer Sklaverei«, sprach von »jüdischen Liquidationskommandos«, nannte das »internationale Judentum« das »teuflische Ferment der Dekomposition« und erhob, einen »Versprecher« korrigierend, die Forderung nach »vollkommener und radikalster Ausrott-, -schaltung des Judentums«.3
Seit Ende Januar 1943 trieb Goebbels außerdem erneut die von ihm seit dem Sommer 1938 verfolgte Idee voran, die Berliner Juden vollständig aus der Stadt zu deportieren. Am 22. Januar versicherte er sich noch einmal der Zustimmung Hitlers zu diesem Projekt,4 und am 7. Februar nahm er befriedigt eine Ansprache Hitlers vor den Reichs- und Gauleitern zur Kenntnis, in der dieser noch einmal ankündigte, »dass wir das Judentum nicht nur aus dem Reichsgebiet, sondern aus ganz Europa eliminieren müssen«. Goebbels hielt weiter fest: »Auch hier macht sich der Führer meinen Standpunkt zu eigen, dass zuerst Berlin an die Reihe kommt und dass in absehbarer Zeit in Berlin kein Jude mehr sich aufhalten dürfe.«5 Entsprechend dieser Maßgabe wurden in Berlin am 27. Februar während der so genannten Fabrikaktion Juden in der Reichshauptstadt verhaftet und anschließend deportiert. Unter den Festgenommenen befanden sich auch zahlreiche Menschen, die in so genannten Mischehen lebten, also einem Personenkreis angehörten, der bisher grundsätzlich von den Deportationen verschont geblieben war. Ihre Verwandten, die befürchteten, dass diese Ausnahmeregelung nun aufgehoben werde, harrten so lange in einer Protestaktion vor einem Gebäude in der Rosenstraße aus, bis die dort Festgehaltenen freigelassen wurden.6
»Fabrikaktion« und »Rosenstraßenprotest« spiegeln sich in Goebbels’ Tagebüchern wider; deutlich wird, dass beide seiner Einschätzung nach die »Stimmung« in der Stadt beeinflussten. Am 2. März notierte Goebbels in seinem Tagebuch, »dass die besseren Kreise, insbesondere die Intellektuellen, unsere Judenpolitik nicht verstehen und sich zum Teil auf die Seite der Juden stellen. Infolgedessen ist die Aktion vorzeitig verraten worden.« Am 6. März hielt er fest: »Es haben sich da leider etwas unliebsame Szenen vor einem jüdischen Altersheim abgespielt, wo die Bevölkerung sich in größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden etwas Partei ergriff.« Am 11. März notierte er: »Leider sind dabei auch die Juden und Jüdinnen aus privilegierten Ehen zuerst mit verhaftet worden, was zu großer Angst und Verwirrung geführt hat. Dass die Juden an einem Tag verhaftet werden sollten, hat sich infolge des kurzsichtigen Verhaltens von Industriellen, die die Juden rechtzeitig warnten, als Schlag ins Wasser herausgestellt. Im ganzen sind wir 4000 Juden dabei nicht habhaft geworden. […] Die Verhaftung von Juden und Jüdinnen aus privilegierten Ehen hat besonders in Künstlerkreisen stark sensationell gewirkt. Denn gerade unter Schauspielern sind ja diese privilegierten Ehen noch in einer gewissen Anzahl vorhanden. Aber darauf kann ich im Augenblick nicht übermäßig viel Rücksicht nehmen.«
Am 8. März ließ er sich von Hitler noch einmal die Richtigkeit seiner Politik bestätigen, »so schnell wie möglich die Juden aus Berlin herauszuschaffen«.7 Am 14. März, bei einer erneuten persönlichen Begegnung mit Hitler, betonte Goebbels zum wiederholten Male, wie wichtig es sei, »die Juden so schnell wie möglich aus dem ganzen Reichsgebiet herauszubringen«. Hitler billigte, so Goebbels, nicht nur dieses Vorgehen, sondern »gibt mir den Auftrag, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis kein Jude sich mehr im deutschen Reichsgebiet befindet«. Außerdem erhielt Goebbels von Hitler den Auftrag, »in unserer Propaganda jetzt wieder die Judenfrage stärker herauszustellen; denn die Juden sind es ja schließlich, die England in die allmähliche Bolschewisierung hineintreiben«.8
Goebbels machte sich sogleich ans Werk.9 Gleichzeitig setzte er seine Bemühungen um ein »judenfreies« Berlin fort: »Der Führer ist glücklich darüber, dass, wie ich ihm berichte, die Juden zum größten Teil aus Berlin evakuiert sind. Er meint mit Recht, dass der Krieg uns die Lösung einer ganzen Reihe von Problemen ermöglicht hat, die man in normalen Zeiten niemals hätte lösen können. Jedenfalls werden die Juden die Verlierer dieses Krieges sein, so oder so.«10
Einen Tag später hielt er in seinem Tagebuch fest: »Berlin und das Reich sind jetzt zum großen Teil judenfrei gemacht worden. Das hat zwar einige Mühe gekostet, aber wir haben es doch durchgesetzt. Allerdings leben in Berlin noch die Juden aus Mischehen; diese betragen insgesamt 17 000. Der Führer ist auch außerordentlich betroffen von der Höhe dieser Zahl, die ich auch nicht so enorm eingeschätzt hätte. Der Führer gibt [Reichsinnenminister; P.L.] Frick den Auftrag, die Scheidung solcher Ehen zu erleichtern und sie schon dann auszusprechen, wenn nur der Wunsch danach zum Ausdruck kommt. Ich glaube, dass wir damit eine ganze Reihe dieser Ehen schon beseitigen und die übrigbleibenden jüdischen Partner aus dem Reich evakuieren können.«
Bei der »Judenfrage«, das machen die folgenden Sätze über die Unterredung mit Hitler deutlich, ging es nach Auffassung beider in Wirklichkeit um nichts anderes als um die Existenz des deutschen Volkes: »Jedenfalls kommt es nicht in Frage, dass wir hier irgendwelche Kompromisse schließen; denn sollte das Unglück eintreten, dass wir den Krieg verlören, so würden wir nicht nur derohalben, sondern überhaupt absolut vernichtet werden. Mit einer solchen Möglichkeit darf man deshalb überhaupt nicht rechnen und muss seine Politik und Kriegführung darauf abstellen, dass sie niemals eintreten kann. Je konsequenter wir da vorgehen, umso besser fahren wir.« 11
Am folgenden Tag ging es nach einem weiteren Gespräch mit Hitler um den gleichen Grundgedanken: »Die meisten unserer Zeitgenossen machten sich nicht klar, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts Rassenkriege seien, und dass es in Rassenkriegen immer nur Überleben oder Vernichtung gegeben habe, dass wir uns also klar darüber sein müssten, dass auch dieser Krieg mit diesem Ergebnis enden werde.«12 Hitler bekräftigte diese Auffassung im Übrigen am gleichen Tag öffentlich in einer Rede zum Heldengedenktag im Lichthof des Berliner Zeughauses: Er erinnerte an seine »einstige Prophezeiung, […] dass am Ende dieses Krieges nicht Deutschland oder die mit ihm verbündeten Staaten dem Bolschewismus zum Opfer gefallen sein werden, sondern jene Länder und Völker, die, indem sie sich immer mehr in die Hand des Judentums begeben, eines Tages am bolschewistischen Gift […] den Zusammenbruch und damit das Ende erleben«. 13
Einige Wochen zuvor hatte Goebbels in einem Gespräch mit Göring festgestellt, dass auch der Reichsmarschall diese radikale Ansicht teilte: »Göring ist sich vollkommen im klaren darüber, was uns allen drohen würde, wenn wir in diesem Kriege schwach würden. Er macht sich darüber gar keine Illusionen. Vor allem in der Judenfrage sind wir ja so festgelegt, dass es für uns gar kein Entrinnen mehr gibt. Und das ist auch gut so. Eine Bewegung und ein Volk, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben, kämpfen erfahrungsgemäß viel vorbehaltloser als die, die noch eine Rückzugsmöglichkeit besitzen.«14
Die »Judenfrage« und ihre radikale, mörderische »Lösung« war demnach in den Augen führender Repräsentanten des Regimes zum Kernproblem des Krieges geworden. Der Sieg war schon deswegen unabdingbar, weil ansonsten Vergeltung und Vernichtung durch den Erzfeind drohten; der Sieg konnte aber nur errungen werden, wenn es gelang, die Deutschen durch gezielte Hinweise zu Mitwissern und damit zu Komplizen des ungeheuren Verbrechens zu machen und ihre Furcht vor Vergeltung so zu schüren, dass sie sich bedingungslos in den Dienst des Totalen Krieges stellten.
Dieses Kalkül der NS-Führung, die deutsche Bevölkerung vor die Alternative »Sieg oder Untergang« zu stellen, lässt sich in der NS-Propaganda, wie wir gesehen haben, seit der zweiten Jahreshälfte 1942 immer deutlicher nachweisen. In den Akten des Foreign Office befinden sich Aussagen eines – namentlich nicht genannten – deutschen Journalisten, der dieses innenpolitische Kalkül der NS-Führung im März 1943 während einer Schweden-Reise in einem vertraulichen Gespräch auf den Punkt brachte.
Nach Ansicht des Journalisten war es definitiv die Politik des Regimes, Verbrechen zu begehen, um das deutsche Volk als Ganzes schuldig zu machen und alle Energien auf die Kriegsanstrengungen zu lenken. Die Generallinie laute, man habe alle Brücken hinter sich abgebrochen, und alle Deutschen säßen im selben Boot. Es existiere eine große Furcht vor den Briten und Amerikanern, weil man glaube, sie würden wegen der an den Juden begangenen Verbrechen Rache üben. Große Teile der deutschen Bevölkerung wüssten über die Verfolgung der Juden und die Zustände in den besetzten Gebieten Bescheid. Das Regime versuche, mit Hilfe des Slogans »Kraft durch Furcht« die deutsche Bevölkerung zur totalen Mobilisierung aufzustacheln.15
Im April sollte sich dafür eine hervorragende Gelegenheit bieten.

Katyn

Wiederholt ordnete Goebbels Ende März und Anfang April an, die antibolschewistische und antisemitische Propaganda zu verschärfen.16 In dieser Situation erreichten Goebbels die ersten Meldungen von den Massengräbern erschossener polnischer Offiziere in Katyn.17 Am 9. April hielt er in seinem Tagebuch fest: »In der Nähe von Smolensk sind polnische Massengräber gefunden worden. Die Bolschewisten haben hier etwa 10 000 polnische Gefangene, unter ihnen auch Zivilgefangene, Bischöfe, Intellektuelle, Künstler usw., einfach niedergeknallt und in Massengräber verscharrt. […] Ich veranlasse, dass die polnischen Massengräber von neutralen Journalisten aus Berlin besucht werden. Auch lasse ich polnische Intellektuelle hinführen. Sie sollen dort einmal durch eigenen Augenschein davon überzeugt werden, was ihrer wartet, wenn ihr vielfach gehegter Wunsch, dass die Deutschen durch die Bolschewisten geschlagen würden, tatsächlich in Erfüllung ginge.«
Am 14. April, nachdem er die entsprechende Erlaubnis Hitlers eingeholt hatte, notierte er, der Leichenfund werde »nun in größtem Stil in der antibolschewistischen Propaganda eingesetzt«; die deutsche Presse war bereits in den Tagen zuvor auf eine weitere Steigerung der antisemitischen Propaganda eingestellt worden.18 National wie international sollte das Massaker nun bestmöglich ausgereizt werden. So vertraute Goebbels am 17. April seinem Tagebuch an: »Wir werden die antisemitische Propaganda so hochkitzeln, dass wie in der Kampfzeit das Wort ›Jude‹ wieder mit dem verheerenden Ton ausgesprochen wird, wie es ihm gebührt.« Und: »Besonderen Wert legt der Führer darauf, dass wir die Judenfrage in den Mittelpunkt der daran anschließenden Erörterungen hineinrücken. Das werden wir auch nach besten Kräften tun.«19
Befriedigt stellte er insbesondere die angebliche Zunahme von Antisemitismus in Großbritannien fest: »Dass wir, einer Anordnung des Führers gemäß, das Judenproblem in die Debatte geworfen haben, wirkt sich außerordentlich gut aus. Der Antisemitismus ist selbst in den Feindstaaten in rapidem Wachstum begriffen. Vor allem kommen solche Meldungen aus England. Wenn wir die antisemitische Frage mit Hochdruck weiter bearbeiten, so werden die Juden auf die Dauer arg in Misskredit geraten. Man muss hier nur Zähigkeit und Beständigkeit bewahren; denn das Judenproblem ist so festgefroren, dass es sehr schwer ist, es wieder in Fluss zu bringen.«20
Die Tatsache, dass während dieser Kampagne, präzise am 19. April, der Warschauer Ghetto-Aufstand ausbrach, war Wasser auf seine Propaganda-Mühlen: »Es wird die höchste Zeit, dass wir auch aus dem Generalgouvernement die Juden so schnell wie möglich entfernen.«21
Goebbels’ Tagebücher aus diesen Tagen zeigen deutlich, wie eng er die Katyn-Kampagne mit Hitler abstimmte.22 Katyn sollte nicht nur in Deutschland und im besetzten, neutralen und feindlichen Ausland antikommunistische und antisemitische Emotionen wecken und schüren; der Massenmord an den polnischen Offizieren sollte vor allem benutzt werden, um einen Keil in die Koalition der Kriegsgegner zu treiben.
Den formellen Bruch der polnischen Exilregierung mit der Sowjetunion Ende April wertete Goebbels als ersten Erfolg seiner Kampagne.23 Am 29. April hielt er fest: »Die Judenfrage ist neben der Frage des Antibolschewismus das Europa bewegende Problem. Wenn wir hier stur und eigensinnig beim einmal eingeschlagenen Kurs bleiben, so werden wir zweifellos den Erfolg auf unserer Seite haben.« Demzufolge hielt die Katyn-Kampagne auch Anfang Mai unvermindert an.24
Ein Blick in die deutsche Presse jener Wochen zeigt, dass in allen Blättern unter dem Stichwort Katyn die wohl schärfste antisemitische Kampagne seit Bestehen des Regimes stattfand. Zuerst am 14. April brachte die gesamte Presse die Öffnung der Massengräber von Katyn in teilweise sensationeller Weise in den Schlagzeilen. Auch an den folgenden Tagen machten die meisten Zeitungen mit Schlagzeilen zum Thema Katyn auf oder berichteten an herausragender Stelle über den Leichenfund.25 Im Allgemeinen benötigte die Presse jedoch ein oder zwei Tage, bis sie die Entdeckung der Massengräber in der gewünschten, scharf antisemitischen Weise kommentierte.26
Nach wenigen Tagen hatte die gesamte Presse das Leitmotiv vom »jüdischen Massenmord« (Der Angriff vom 16. April) jedoch aufgenommen. Für etwa sieben Wochen, bis Anfang Juni sollte Katyn als ein von jüdischen Kommunisten begangenes Verbrechen die Berichterstattung des Völkischen Beobachters vollkommen beherrschen: In diesem Zeitraum enthielt fast jede Ausgabe der Zeitung einen oder mehrere antisemitische Beiträge. Katyn wurde zum Schlagwort, um vermeintliche jüdische Grausamkeit und Bestrebungen nach der Weltherrschaft anzuprangern, mit denen sich auch die gegnerische Kriegskoalition auseinandersetzen müsse. Das immer wieder beschworene Bild der im Wald von Katyn ermordeten polnischen Offiziere sollte zudem deutlich vor Augen führen, was die deutsche Bevölkerung im Falle einer Niederlage in diesem »jüdischen Krieg« zu erwarten hatte.
Der Angriff hielt – nach gewissen Anfangsschwierigkeiten, auf die noch einzugehen sein wird – die intensive Kampagne sogar bis Mitte Juni 1943 durch, das heißt, er veröffentlichte in diesem Zeitraum pro Tag durchschnittlich mehr als einen antisemitischen Beitrag. Besondere Höhepunkte dieser Kampagne waren die Leitkommentare Robert Leys, der das Blatt nutzte, um auf drastische Weise antisemitisch aufgeladene Angstphantasien zu entwerfen. Am 6. Juni 1943 schrieb er: »Der Jude bedeutet den Tod. Und umgekehrt bedeutet Kampf gegen den Juden: Jungsein, Stärke, Selbstbewusstsein, Lebenswille und Lebensbehauptung. Wer sich des Juden entledigt, wird gesund und geht einem Zeitalter unvorstellbarer Blüte, Größe und Herrlichkeit entgegen.«27
Leys Rhetorik erreichte in diesen Wochen eine selbst für den DAF-Führer ungewohnte Vulgarität und Brutalität. Anfang Mai hatte er in einer in der Presse stark beachteten und im Rundfunk ausgestrahlten Rede vor Rüstungsarbeitern den Kampf gegen »Juda« als »Kampf auf Leben und Tod« bezeichnet und daraus die Konsequenz gezogen: »Wir schwören, wir werden nicht eher den Kampf aufgeben, bis der letzte Jude in Europa vernichtet ist und gestorben ist.«28
Am 30. Mai hieß es in seinem Leitkommentar im Angriff: »Wer den Juden lobt, ist ein Charakterschwein, wen er beschimpft, ist ein Ehrenmann […] Leg deine sprichwörtlich gewordene deutsche Gutmütigkeit ab. Mitleid habe in deinem Herzen keinen Platz mehr, der Jude will dich zerreißen, und Jehova will dich fressen.«29
Auch die NS-Provinzpresse erging sich in zum Teil unverhüllten Drohungen gegenüber den für Katyn verantwortlich gemachten Juden. In der badischen Gauzeitung Der Führer schrieb der bekannte, scharf antisemitische NS-Publizist Johann von Leers30 am 15. April, dass »in unserer tief vergifteten Welt, die buchstäblich in Gefahr ist, an Juden und am jüdischen Marxismus zu sterben, gar keine andere Lösung ist, als den Giftbrocken auszubrechen, uns des Judentums in Europa zu entledigen, das uns in diesem seinem Krieg vernichten will – wer hätte das Recht, uns dies vorzuwerfen?« Am 4. Mai drohte der Leitkommentar derselben Zeitung den »für den jüdischen-angloamerikanischen Terror Verantwortlichen […] die Stunde der Vergeltung« an: »Unter diesen Verantwortlichen aber nehmen die Juden eine Sonderstellung ein.« Es war wiederum Leers, der es in der Abendausgabe des Westdeutschen Beobachters vom 22. April fertig brachte, unter der Überschrift »Jüdische Mordlust« Katyn als moderne Form des jüdischen Ritualmords darzustellen: »Eines aber ist klar – die Juden dürsten nach dem Blut der Nichtjuden.« Der Bolschewismus, so Leers, stelle einen »riesigen Massenritualmord der Juden an den Nichtjuden« dar, und daraus zog er die Konsequenz: »Das Judentum in seiner Gesamtheit muss für diese Verbrechen haftbar gemacht werden.«
Aber auch ehemals bürgerliche Blätter, so insbesondere die Deutsche Allgemeine Zeitung, beteiligten sich an der intensiven Propagandakampagne über Wochen mit antisemitischen Angriffen. Dabei unterschieden sich diese Zeitungen in ihren Hasstiraden in keiner Weise von den Parteiblättern, wie noch gezeigt werden wird.
Die nähere Analyse der Katyn-Kampagne zeigt jedoch, dass die Presse erst ermahnt und belehrt werden musste, bis sie das antisemitische Leitmotiv in der erwünschten Weise ausbreitete. Die weitaus meisten Zeitungen hatten nach etwa einer Woche ihr Arsenal an antisemitischen Injurien verbraucht, das Thema begann wieder in den Hintergrund zu treten, und es bedurfte offizieller Ermunterungen, um die antisemitische Kampagne mit der gleichen Intensität wie in den ersten Tagen nach Katyn fortzusetzen. Nur der Völkische Beobachter hielt die Kampagne ohne Unterbrechung aufrecht.31
Angesichts dieser Erlahmungserscheinungen kann es nicht überraschen, dass sich in den erhaltenen Unterlagen des Propagandaministeriums deutliche Hinweise auf eine gewisse Unzufriedenheit mit der deutschen Presse finden. Goebbels zeigte sich in der internen Propagandakonferenz seines Ministeriums am 30. April im »Zusammenhang mit dem Kampf gegen das Judentum« darüber enttäuscht, dass »uns hierfür die notwendigen Schriftleiter fehlen, um die Aktion auch wirklich erfolgreich in der Presse durchzuführen«. Zum Teil säßen in den Redaktionen »sehr veraltete Schriftleiter«, die die antisemitische Propaganda »vorschriftsmäßig«, aber »ohne innere Anteilnahme« durchführten: »Sie erzeugen so keine Wut und keinen Hass, weil sie diese Gefühle selbst nicht besitzen.« Jede Zeitung solle fortan täglich »das Judenproblem irgendwie aufgreifen, und zwar ganz einfach und primitiv«.32
Der Sprecher des Propagandaministeriums monierte entsprechend in diesen Tagen gegenüber den Journalisten: »Die Presse sei viel zu zurückhaltend in diesen Fragen. Nur wenn sie einen Auftrag bekomme, sei sie für 24 Stunden bereit, so wenig wie möglich zu tun, und bemühe sich sofort, schnell wieder von jeder antisemitischen Linie herunterzukommen. Man habe den Eindruck an zuständiger Stelle, als wenn die Presse meine, das jüdische Thema sei unangenehm.«33 Pflichtbewusst reagierte die Presse Ende April/Anfang Mai und nahm die Kampagne wieder auf.34
Am 7. Mai konnte Goebbels mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, dass Hitler anlässlich einer Ansprache vor den Reichs- und Gauleitern die offene Propagierung des Antisemitismus ganz offiziell zum »Kernstück der geistigen Auseinandersetzung« erklärt hatte: »Er hält von der antisemitischen Bewegung in England viel, wenngleich er sich natürlich klar darüber ist, dass sie keine organisatorische Form besitzt und deshalb auch machtpolitisch nicht in Erscheinung treten kann. Trotzdem ist der Antisemitismus natürlich der Churchill-Regierung außerordentlich unangenehm. Er ist den antisemitischen Bestrebungen vergleichbar, wie sie früher in Deutschland in den bürgerlichen Verbänden gepflegt wurden. Auch die hätten natürlich zu keinem Ziel geführt, wenn nicht die revolutionäre nationalsozialistische Bewegung sie aufgenommen hätte[...].«35
Einen ersten Höhepunkt der antisemitischen Propagandakampagne im Anschluss an Katyn markierte Goebbels’ Artikel »Der Krieg und die Juden« am 9. Mai 1943 im Reich. »Gewisse Kreise in Europa«, so begann Goebbels, »wollen und wollen nicht einsehen, dass dieser Krieg ein Krieg der jüdischen Rasse und ihrer Hilfsvölker gegen die arische Menschheit sowie gegen die abendländische Kultur und Zivilisation ist, dass deshalb auch in ihm alles, was uns Deutschen und Europäer als Verfechtern eines Prinzips der gesitteten Weltordnung lieb und teuer ist, auf dem Spiel steht.« Das »Judentum«, so der Tenor des Artikels, sei der eigentlich Schuldige an diesem Krieg; die Juden bildeten »überhaupt den Kitt, der die feindliche Koalition zusammenhält«. Die weiteren Ausführungen lassen wenig Zweifel daran, welches Schicksal das NS-Regime diesem Feind zugedacht hatte:
»Es ist deshalb ein Gebot der Staatssicherheit, dass wir im eigenen Lande die Maßnahmen treffen, die irgendwie geeignet erscheinen, die kämpfende deutsche Volksgemeinschaft gegen diese Gefahr abzuschirmen. Das mag hier und da zu schwerwiegenden Entscheidungen führen, aber das ist alles unerheblich dieser Gefahr gegenüber. Denn dieser Krieg ist ein Rassenkrieg. Er ist vom Judentum ausgegangen und verfolgt in seinem Sinne und nach seinem Plan kein anderes Ziel als die Vernichtung und Ausrottung unseres Volkes. Wir stehen dem Judentum doch als einziges Hindernis gegenüber auf seinem Wege zur Weltherrschaft. Würden die Achsenmächte den Kampf verlieren, dann gäbe es keinen Damm mehr, der Europa vor der jüdisch bolschewistischen Überflutung retten könnte.«
Weiter unten heißt es dann: »Kein prophetisches Wort des Führers bewahrheitet sich mit einer so unheimlichen Sicherheit und Zwangsläufigkeit wie das, wenn das Judentum es fertig bringen werde, einen zweiten Weltkrieg zu provozieren, dieser nicht zur Vernichtung der arischen Menschheit, sondern zur Auslöschung der jüdischen Rasse führen werde. Dieser Prozess ist von einer weltgeschichtlichen Bedeutung, und da er vermutlich unabdingbare Folgen mit sich ziehen wird, hat er auch seine Zeit nötig. Aber aufzuhalten ist er nicht mehr. […]
Wir sprechen in dieser Frage ohne jedes Ressentiment. Die Zeit ist zu ernst, um naive Rachpläne zu spinnen. Es handelt sich hier um ein Weltproblem erster Ordnung, das von der heute lebenden Generation gelöst werden kann und auch gelöst werden muss. Hier haben sentimentale Erwägungen keinen Platz. Wir stehen im Judentum der Verkörperung des allgemeinen Weltverfalls gegenüber. Entweder brechen wir diese Gefahr, oder die Völker werden unter ihr zerbrechen. […] Als sie [die Juden] gegen das deutsche Volk den Plan einer totalen Vernichtung fassten, unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil. Auch hier wird die Weltgeschichte ein Weltgericht sein.«
Am 9.Mai traf er wieder mit Hitler zusammen. In seinem Tagebuch notierte er zufrieden: »Der Fall Katyn hat dem Führer außerordentlich imponiert. Er hat auch dann wieder erkannt, welche ungeheuren Möglichkeiten heute noch in der antibolschewistischen Propaganda liegen. […] Sehr großen Wert legt der Führer auf eine schlagkräftige antisemitische Propaganda. Er sieht auch hier den Erfolg in der ewigen Wiederholung gegeben. Er ist außerordentlich zufrieden mit der Verschärfung unsrer antisemitischen Propaganda in Presse und Rundfunk.« Laut Goebbels füllte die antisemitische Propaganda 70 bis 80 Prozent der deutschen Auslandssendungen aus. »Der Antisemitismus hat nach Meinung des Führers besondere Chancen in England. Wenn er auch politisch und machtmäßig nicht ausgenutzt werden kann, so ist er doch in der Lage, ungeheuer viel Unruhe und Unzufriedenheit zu stiften und die Kluft zwischen Regierung und Volk zu vertiefen. Wir müssen hier nach genau denselben Prinzipien handeln, nach denen wir früher in der Kampfzeit gehandelt haben.« 36
Am nächsten Tag, am 10. Mai 1943, betonte Goebbels in der Propagandakonferenz prompt, dass Hitler eine »eingehende Behandlung« der Judenfrage innerhalb der Gesamtpropaganda wünsche; die im Propagandaministerium einlaufenden Berichte über die positive Aufnahme der antisemitischen Propaganda in der Bevölkerung bestätigten ihn in dieser Haltung.37 »Bolschewismus« und »Kampf gegen das Judentum«, so erklärte Goebbels seinen Mitarbeitern, seien »noch heute die besten Propagandapferde, die wir im Stall haben. […] Wenn wir immer den Juden und sein Treiben aufzeigen, so müssten wir in der ganzen Welt ein Echo dahingehend erreichen, dass alle den Wunsch aussprechen: ›Ach, käme es doch auch bei uns so wie in Deutschland, dass wir einmal judenfrei sind.‹«
Das deutsche Volk, so Goebbels, sei jedoch über die »Einzelheiten« der »Judenfrage« keineswegs ausreichend unterrichtet; die »Zionistischen Protokolle« seien beispielsweise kaum bekannt. Die Parole »Die Juden sind schuld« müsse um das Leitmotiv »Die Juden sind der Kitt im Feindlager« ergänzt werden: »Sie sind es, die den Kapitalismus und Bolschewismus durch ihre Leitartikler, Rundfunksprecher, Bankiers und GPU-Kommissare verkörpern.«38 Mit Datum vom 13. Mai heißt es im Tagebuch: »Ich studiere noch einmal eingehend die Zionistischen Protokolle. Bisher war mir immer entgegengehalten worden, sie eigneten sich nicht für die aktuelle Propaganda. Ich stelle bei meiner Lektüre fest, dass wir sie sehr wohl gebrauchen können. […] Wenn die Zionistischen Protokolle nicht echt sind, so sind sie von einem genialen Zeitkritiker erfunden worden.«
Bei seinem mittäglichen Besuch bei Hitler kam er auf das Thema zurück. In seinem Tagebuch hielt er anschließend einen der ausführlichsten und bizarrsten Monologe zur »Judenfrage« fest, die aus des »Führers« Mund überhaupt überliefert sind: für Goebbels ein weiterer Beweis, wie sehr seine antisemitische Propagandakampagne von Hitler geschätzt wurde und wie richtig er mit seiner Auffassung lag, die »Judenfrage« sei der Schlüssel zur Lösung des gegenwärtigen Weltkonflikts. Allerdings musste er auch erfahren, dass die leisen Zweifel an der Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion, die er sich in seinem Tagebuch erlaubt hatte, vom Diktator nicht geteilt wurden:
»Der Führer vertritt den Standpunkt, dass die Zionistischen Protokolle absolute Echtheit beanspruchen können. So genial könne kein Mensch das jüdische Weltherrschaftsstreben nachzeichnen, wie die Juden es selbst empfinden. Der Führer ist der Meinung, dass die Juden gar nicht nach einem festgelegten Programm zu arbeiten brauchen; sie arbeiten nach ihrem Rasseinstinkt […] Wenn die Juden nach ihrem Rasseinstinkt handeln, so ist damit nicht gesagt, dass es nicht zivilisierte westeuropäische Juden gäbe, die sich auch der geheimen Absichten dieses Rasseinstinktes bewusst würden. Die handeln nicht nur nach Rasse, sondern auch nach Einsicht. Infolgedessen wird es immer wenige Überläufer aus der jüdischen Rasse geben, die mit einem verblüffenden Freimut die jüdischen Ziele vor der Öffentlichkeit entwickeln. Von einer Verschwörung der jüdischen Rasse gegen die abendländische Menschheit kann nicht im platten Sinne die Rede sein; diese Verschwörung ist mehr eine Angelegenheit der Rasse als eine Angelegenheit der intellektuellen Absichten. […] Die Juden sind sich in aller Welt gleich; ob sie im östlichen Ghetto wohnen, ob in den Bankpalästen der City oder Wallstreet, sie werden dieselben Ziele verfolgen und werden, ohne dass sie sich darüber verständigen, auch dieselben Mittel dabei gebrauchen.
Man könnte hier die Frage aufwerfen, warum es in der Weltordnung überhaupt Juden gibt. Es wäre dieselbe Frage, wie die, warum es Kartoffelkäfer gibt. Die Natur ist vom Gesetz des Kampfes beherrscht. Immer wieder wird es parasitäre Erscheinungen geben, die den Kampf beschleunigen und den Ausleseprozess zwischen den Starken und den Schwachen intensivieren. Das Prinzip des Kampfes herrscht so auch im menschlichen Nebeneinanderleben. Man muss die Gesetze dieses Kampfes nur kennen, um sich darauf einstellen zu können. Der intellektuelle Mensch hat der jüdischen Gefahr gegenüber nicht die natürlichen Abwehrmittel, weil er wesentlich in seinem Instinkt gebrochen ist. Infolgedessen sind Völker mit einem hohen Zivilisationsstand am ehesten und am stärksten der Gefahr ausgesetzt. In der Natur handelt das Leben immer gleich gegen den Parasitismus; im Dasein der Völker ist das nicht ausschließlich der Fall. Daraus resultiert eigentlich die jüdische Gefahr. Es bleibt also den modernen Völkern nichts anderes übrig, als die Juden auszurotten. […] Es ist fast unverständlich, dass die Juden niemals durch Schaden klug werden. Im Mittelalter haben sie manchmal in den Städten im Verlauf von ein oder zwei Jahrhunderten fünf, acht oder zehn gewaltsame Austreibungen erlebt mit einem Aderlass, wie er kaum erträglich erscheint; trotzdem haben sie in dem Augenblick, in dem sie wieder in die Städte hineingelassen wurden, wieder mit den alten Methoden angefangen. Das liegt nicht in ihren Absichten, sondern in ihrer rassischen Veranlagung. Es besteht deshalb auch nicht die Hoffnung, die Juden durch eine außerordentliche Strafe wieder in den Kreis der gesitteten Menschheit zurückzuführen. Sie werden eben ewig Juden bleiben, so wie wir ewig Mitglieder der arischen Menschheit sind.
Der Jude hat auch als erster die Lüge als Waffe in der Politik eingeführt. Der Urmensch hat, wie der Führer meint, die Lüge nicht gekannt. Der Urmensch hat nur in primitiver Weise seine Gefühlsregungen durch Urlaute kundgemacht. Von einer Absicht des Verschleierns konnte dabei überhaupt nicht die Rede sein. Der Urmensch hatte gar keine Veranlassung, auf einen solchen Gedanken zu kommen. Er hat, wenn er Schmerz empfand, Laute des Schmerzes, und wenn er Freude empfand, Laute der Freude von sich gegeben. Je höher der Mensch sich intellektuell entwickelte, desto mehr gewann er natürlich auch die Fähigkeit, seine inneren Gedanken zu verschleiern und anderes zum Ausdruck zu bringen, als was er empfand. Der Jude als ein absolut intellektuelles Wesen hat am frühesten diese Kunst beherrschen gelernt. Er kann deshalb nicht nur als der Träger, sondern auch als der Erfinder der Lüge unter den Menschen angesehen werden. Die Engländer handeln aufgrund ihrer durchaus materialistischen Einstellung ähnlich wie die Juden. Sie sind überhaupt das arische Volk, das die meisten jüdischen Wesenszüge angenommen hat. Aber trotzdem wird das englische Volk der Judenfrage gegenüber ein großes Erwachen erleben. Dieses Erwachen ist durch Propaganda von unserer Seite aus in jeder Weise zu fördern und zu beschleunigen. Je eher der Tag dieses Erwachens eintritt, umso besser für die Rettung der abendländischen Kultur und der abendländischen menschlichen Gesellschaft. […] Unsere und insbesondere meine Aufgabe besteht also jetzt darin, genauso wie die Frage des Antibolschewismus nunmehr die Frage des Antisemitismus zu produzieren.«
Eine Woche nach diesen denkwürdigen Ausführungen gab Goebbels zu erkennen, dass der Fall Katyn in der innerdeutschen Propaganda seine Schuldigkeit getan habe: »Im Inland brauche ich den Fall Katyn nicht weiter auszuschlachten; das bisher vorgebrachte Material hat für die deutsche Öffentlichkeit durchaus überzeugend gewirkt.«39
Goebbels suchte nun nach anderen einschlägigen Themen und Möglichkeiten, 40 um die antisemitische Kampagne fortzusetzen und zu variieren. Meldungen aus England, wonach der Plan zur Bombardierung deutscher Talsperren auf einen jüdischen Erfinder zurückging, kamen da gerade recht, wie seiner Tagebucheintragung zum 21. Mai 1943 zu entnehmen ist: »Die Engländer geben sich jetzt auch alle Mühe, ihre etwas unvorsichtige Meldung, dass ein Jude den Plan zur Zerstörung unserer Talsperren entworfen habe, zurückzuziehen. Offenbar fürchten sie scharfe Repressalien im Reichsgebiet an den Juden. Trotzdem ist natürlich diese Meldung richtig. Sie hat in der deutschen Öffentlichkeit auch entsprechenden Eindruck gemacht.«
Die Auflösung der Komintern wertete er Ende Mai als wichtigen Etappenerfolg und als Gelegenheit für eine »Neuauflage der antibolschewistischen und antijüdischen Kampagne«.41 Aufmerksam registrierte er alle Informationen, die für ein Anwachsen des Antisemitismus im Feindlager sprachen. Sein besonderes Augenmerk galt Großbritannien,42 vor allem aber den USA. So nahm er befriedigt Informationen über eine Umfrage einer amerikanischen Zeitschrift zur Kenntnis, wonach »der Antisemitismus in den Vereinigten Staaten viel stärker ist, als wir bisher angenommen haben. […]. Man kann daraus entnehmen, dass die judenfeindliche Stimmung durch die lange Dauer des Krieges nicht etwa abnimmt, sondern im Gegenteil nur zunimmt.«43 Am gleichen Tag notierte er: »Die Londoner ›Times‹ wirft mir in schärfsten Ausdrücken vor, dass ich die Absicht habe, insbesondere auch durch die Aufwerfung der Judenfrage die Alliierten zu entzweien. Wenn ich diese Absicht verwirklichen könnte, so würde ich darüber sehr glücklich sein.« Auch die Tatsache, dass die französischen Behörden in Tunesien die durch die deutsche Besatzungsmacht eingeführten antijüdischen Bestimmungen aufhoben, erschien ihm vielversprechend: Das werde die antisemitischen Emotionen unter der dort lebenden französischen Bevölkerung auflodern lassen.44 Ebenso setzte er Hoffnungen auf eine Zunahme des Antisemitismus in der Schweiz.45
Die deutsche Presse setzte die Vorgaben des Propagandaministeriums, das sie kontinuierlich mit entsprechendem Material versorgte,46 im Mai und teilweise noch im Juni 1941 getreulich um. Von Anfang Mai bis Anfang Juni erschien in einigen Blättern in fast jeder Ausgabe mindestens ein antisemitischer Beitrag, in anderen Zeitungen war die Frequenz etwa halb so stark.47 Zusätzlich zu den bereits erwähnten Themen48 wurden schon Ende April Pläne des US-Finanzministers Morgenthau zur Reform des Weltwährungssystems als »jüdischer Versklavungsplan«49 angeprangert, während die amerikanische Absicht zur Errichtung einer Welternährungsbank im Mai als »Wunschgebilde jüdischer Weltausbeutung«50 präsentiert wurde. Triumphierend wurde die Verbannung der Juden aus der bulgarischen Hauptstadt Sofia registriert,51 ebenso die Inhaftierung des Sprechers der rumänischen Gemeinschaft in Rumänien, Filderman.52 Außerdem wurde das angebliche Anwachsen des Antisemitismus im Feindlager sowie in neutralen Ländern aufmerksam beobachtet.53
Schließlich griffen die deutschen Zeitungen Stimmen aus der alliierten Presse auf, die sich mit Nachkriegsplänen für die Behandlung NS-Deutschlands beschäftigten: Sie wurden in der deutschen Propaganda als eindeutige Beweise für die alliierte Absicht zur »Vernichtung« Deutschlands herausgestellt. Unter Verweis auf Katyn wurden »die Juden« als Drahtzieher dieser Nachkriegsplanungen dargestellt und die Vernichtung des jüdischen Erzfeindes – als ein dem Regime aufgezwungener Akt der Notwehr – offen propagiert.
Diese Linie – Vernichtung der Juden, um nicht durch die Juden vernichtet zu werden – bildete die Kernaussage der Katyn-Propaganda, sie findet sich in zahllosen Variationen in der deutschen Presse. So behauptete Der Angriff vom 4. Mai in Bezug auf die Juden: »Ihr Ziel ist die Vernichtung Deutschlands«, und im gleichen Blatt war am 6. Mai zu lesen, »der Jude« werde den Krieg »mit allen verfügbaren Mitteln so lange führen, bis entweder Deutschland vernichtet ist oder er selbst zerschmettert am Boden liegt«. Die Münchner Neuesten Nachrichten erklärten Ende Mai: »Das Judentum besteht auf Deutschlands Vernichtung«, und zogen daraus den Schluss: »Wir wissen, dass es diesem Feind gegenüber nur die Entscheidung der Waffen gibt.«54
Im Zuge der massiven antijüdischen Kampagne findet sich eine ganze Anzahl von Stimmen in der Presse, die als Reaktion auf die in der Bevölkerung verbreiteten Gerüchte und Informationen über die »Lösung der Judenfrage« gelesen werden können beziehungsweise solche Gerüchte und Informationen bestätigten. Die durch zahlreiche allgemein gehaltene Andeutungen der Führungsspitze und die nicht erfolgte Dementierung von Gerüchten über den Massenmord zum öffentlichen Geheimnis gewordene »Endlösung« wurde in solchen Pressebeiträgen thematisiert, ohne dass Einzelheiten des Verbrechens genannt wurden. Es scheint, dass zwischen Journalisten und Leserschaft ein unausgesprochener Konsens existierte. Anders lassen sich die folgenden Beiträge kaum verstehen:
Die Deutsche Allgemeine Zeitung schilderte in ihrem Leitkommentar vom 22. Mai die Judengesetzgebung, die der slowakische Staat seit 1939 erlassen hatte, und zwar »bis zur Massenaussiedlung«; mit der »Abschaffung« von »vier Fünfteln der Juden«, so der Kommentar weiter, sei die slowakische »Judenfrage« jedoch noch keineswegs gelöst.55
In einem am 17. Mai in der badischen Gauzeitung Der Führer erschienenen Kommentar behandelte der fanatische Antisemit Johann von Leers, Chefredakteur der NS-Monatsschrift Wille und Weg, unter der Überschrift »Schuld ist der Jude« die »Judenfrage« in einer Art und Weise, die eine zumindest ungefähre Vorstellung des Lesers über die »Endlösung« voraussetzte.
Leers stellte klar, dass die »Judenfrage […] Kern- und Zentralfrage unseres Volkes geworden« sei. Es gebe »heute Menschen genug, die sich darüber beklagen, dass wir die Juden aus Europa ausrotten«; sie sollten sich, so Leers Ratschlag, lieber »erst einmal darüber beklagen, in welch namenloses Elend die Juden mit dem Zusammenbruch 1918 […] und mit dem neuen Krieg, den sie zusammengehetzt haben, unser Volk und ganz Europa hineingetrieben haben«. Dann ging Leers auf einen weiteren möglichen Einwand gegen die »Judenpolitik« des Regimes ein: »Ja, aber die Methoden? Wer Methode sagt, hat immer Unrecht. Es kommt auf das Ergebnis an. Das Ergebnis für den Arzt muss die restlose Ausschaltung der Cholera sein, das Ergebnis für unser Volk die restlose Ausschaltung der Juden sein. Der Kampf steht ›Spitz auf Knopf‹. Es geht zwischen uns und den Juden darum, wer wen überlebt. Wenn die Juden siegen, wird unser ganzes Volk so niedergemetzelt wie die polnischen Offiziere im Walde von Katyn – und wenn wir den Juden die Möglichkeit nehmen wollen, nach diesem Krieg wieder einen Krieg und noch einen neuen Krieg und immer neue Kriege und Revolutionen zusammenzubrauen, von denen sich jeder gegen uns richtet und alle nur den Zweck haben, die jüdische Rache an uns zu vollziehen – dann dürfen wir das Judentum zwischen uns nicht existieren lassen.
Mögen diese Dinge schrecklich sein«, fuhr Leers fort, »sie sind aber unausweichlich. Wir haben uns die Zeit nicht ausgesucht, in der wir leben, aber wir stehen mit dem Rücken gegen die Wand. Das Judentum, dem wir bis zum Weltkrieg nichts als Gutes erwiesen haben, dem wir in Deutschland die größte Entwicklungsmöglichkeit gegeben hatten, ist uns damals in den Rücken gefallen wie ein Mörder. Und es ist wieder dabei und möchte uns ermorden. Die Feindschaft ist von ihm ausgegangen – und es kann sich nicht wundern, dass für uns seiner Mordlust gegenüber Notwehrrecht gilt. Es hat es selbst gewollt.«
Leers Kommentar lässt sich als eine Replik auf die offenbar weit verbreitete Auffassung lesen, die Katyn-Propaganda sei wegen der nicht verborgen gebliebenen Morde an den Juden wenig glaubwürdig. Mit seiner Verteidigung der »Methoden« und dem Eingeständnis, dass »diese Dinge schrecklich […] aber unausweichlich« seien, bestätigte Leers nicht nur die Gerüchte über Exekutionen und andere an den Juden verübte Gräueltaten, sondern rechtfertigte sie ausdrücklich als legitime Vorgehensweise einer Politik der »Ausrottung«, bei der es um das Prinzip »Wir oder sie« gehe.
Leers’ Kommentar erschien auch im Dresdner Freiheitskampf und fand in Victor Klemperer einen höchst alarmierten Leser. Klemperer zog folgende Schlussfolgerungen aus dem Artikel, namentlich aus der Formulierung, »dass wir die Juden aus Europa ausrotten«: »1. Sie haben angefangen. 2. und hauptsächlich: Unsere Judenvertilgung ist in Deutschland selber gar nicht populär.«56
Am 5. Juli kam Leers im Führer unter der Überschrift »Der Jude und der Bombenterror« noch einmal auf das Thema »Wir oder sie« zurück. Anlass war die Bombardierung des Kölner Doms: »Geloben wir uns in dieser Stunde, durch Kind und Kindeskinder uns zu erinnern, dass es die Juden waren, die den Luftgangsterkrieg gegen die Zivilbevölkerung und ihre Wohnstätten, gegen die hehrsten Kulturdenkmäler gewollt haben, dass sie für ihn haftbar gemacht werden müssen und ihre Vernichtung die allein notwendige Sühne für dieses Verbrechen sein kann.«
Die Mitteldeutsche Nationalzeitung, ebenfalls ein Parteiblatt, brachte am 3. Juni einen Artikel unter der Überschrift »Nach dem Judenproblem die Zigeunerfrage«, in dem es unter anderem hieß: »In dem Augenblick, wo die Völker Südosteuropas an die Lösung der Judenfrage auf mehr oder weniger erkannter rassischer Grundlage gehen, ist als zweites Problem einer gesunden Bevölkerungspolitik im südosteuropäischen Raum die Zigeunerfrage spruchreif geworden. […] Die ausgesprochen asoziale Haltung und die außerordentlich starke Vermehrung der Zigeuner haben zur Folge, dass in den meisten Ländern Südosteuropas die Stimmen immer lauter werden, auch diese Frage möglichst rasch und gründlich zu lösen. Die größte Schwierigkeit ist die, dass der Zigeuner nach seiner rassischen Eigenart die Wohltaten einer dauerhaften Ansiedlung geradezu verschmäht. Im Gegensatz zu den Juden will er allerdings nur das Allernotwendigste ›besitzen‹ […] er behindert das Neuaufbauwerk in Südosteuropa und das ist der Grund, warum auch die Zigeunerfrage jetzt im europäischen Südosten nach einer Lösung drängt.«
Der Artikel geht mit keinem Wort darauf ein, wie denn die Lösungen der »Juden«- und der »Zigeunerfrage« aussehen sollten; da aber die »dauerhafte Ansiedlung« der Zigeuner ausgeschlossen und die Lösung der »Judenfrage« als Modell für die Regelung der »Zigeunerfrage« dargestellt wird, ging der Verfasser des Artikels offenkundig ebenfalls davon aus, dass beim Leser gewisse Vorstellungen vorhanden waren, wie die »Judenfrage« denn bereinigt wurde.
Die Deutsche Allgemeine Zeitung veröffentlichte in ihrer Abendausgabe vom 2. Juni 1943 einen Artikel, der die Tätigkeit des SD in den besetzten Ostgebieten würdigte und gleichzeitig eine Begründung dafür lieferte, warum darüber keine Einzelheiten veröffentlicht wurden. Der mit »SS-PK« gekennzeichnete Artikel, der den Autor als Mitglied einer Propagandakompanie der SS auswies, wählte die Form eines »Zwiegesprächs« zwischen einem Wehrmachtsoffizier und einem SD-Führer, die in einem Fronturlauberzug ein Abteil teilten. Es seien ja doch, so der SD-Führer, »die gleichen Gegner – Judentum und Freimaurerei sowie deren politische Exponenten Bolschewismus und liberalistische Plutokratie -, denen man gegenübergestanden« habe. Heute sei jedoch »noch nicht die Zeit«, so der SD-Führer weiter, »die Berichte aufzuschlagen, die grundlegend über den Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD sprechen. Vieles würde sicherlich nie gesagt werden, da es nicht immer ratsam sei, die Strategie aufzudecken.«57 Und den Leitkommentar derselben Zeitung vom 29. Mai kann man als Versuch betrachten, das Vorgehen gegen die Juden vor der Leserschaft zu rechtfertigen. Dort heißt es, angesichts der »Proklamation des feindlichen Vernichtungswillens wird auch der Letzte begreifen, vielleicht auch mancher im Ausland, weshalb wir das Letzte rücksichtslos aufbieten, um den Sieg zu erringen, weshalb vor allem auch unsere antisemitische Kampagne so konsequent durchgeführt wird«.
Offenbar wurde auch der Rundfunk in diese antisemitische Kampagne eingespannt. Laut den Aufzeichnungen Victor Klemperers hielt die »Judenhetze« im Radio sogar länger an als in der Presse, nämlich mindestens bis Ende Juli.58 Auch die Rundfunkberichterstattung des SD liefert verschiedene Hinweise auf antisemitische Sendungen: So traten etwa in den »Kurzszenen der Woche« fiktive jüdische Charaktere auf, und das Format Hörspiel wurde ebenfalls entsprechend genutzt.59
Am 5. Juni hielt Goebbels als weiteren Höhepunkt der antisemitischen Propagandakampagne des Jahres 1943 im Berliner Sportpalast eine in der Presse stark beachtete Rede, in der er noch einmal unmissverständlich klarstellte, dass die deutsche Politik auf die »Ausschaltung« und »Beseitigung« des jüdischen Gegners zielte: »Die gänzliche Ausschaltung des Judentums aus Europa ist keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Sicherheit der Staaten. […] Wie der Kartoffelkäfer die Kartoffelfelder zerstört, ja zerstören muss, so zerstört der Jude die Staaten und Völker. Dagegen gibt es nur ein Mittel: radikale Beseitigung der Gefahr. […] Der internationale Jude ist der Kitt, der die feindliche Koalition zusammenhält.«60

Reaktionen der Bevölkerung

Mit der Katyn-Kampagne hatte die Politik der NS-Führung, die deutsche Bevölkerung durch gezielte Hinweise auf den vor sich gehenden Mord an den Juden zu Mitwissern und Komplizen des Verbrechens zu machen und ihnen die furchtbaren Konsequenzen vor Augen zu führen, die sie im Falle einer Niederlage treffen würden, ihren Höhepunkt erreicht. Die Reaktionen waren, folgt man den Stimmungsberichten, jedoch ambivalent. Aus Sicht des Regimes lassen sich aus den Berichten – neben positiven Reaktionen 61 – deutlich zwei negative Tendenzen ablesen: erstens eine gewisse Verwunderung darüber, dass das NS-Regime angesichts der von ihm selbst begangenen, weithin bekannten Gräueltaten nun Massenexekutionen der anderen Seite anprangerte, und zweitens die Befürchtung, den deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion drohe ein ähnliches Schicksal beziehungsweise man selbst werde bei einer Niederlage diesen Methoden zum Opfer fallen.
Am 19. April heißt es beispielsweise in den Meldungen aus dem Reich, »ein großer Teil der Bevölkerung« erörtere »die Liquidierung des polnischen Offizierkorps unter humanitären Gesichtspunkten und gelange deshalb zu der Schlussfolgerung, es sei ›merkwürdig‹ oder gar ›heuchlerisch‹, dass die deutsche Propaganda nunmehr ›ihr Herz für die Polen entdeckt habe‹. Dabei verweise man einerseits auf die Tatsache, dass von den Polen 60 000 Volksgenossen in Bromberg und anderen Orten gemordet worden sind, andererseits erkläre man, ›wir haben kein Recht, uns über die Maßnahmen der Sowjets aufzuregen, weil deutscherseits in viel größerem Umfang Polen und Juden beseitigt worden sind‹. Mit der letzten Argumentation werde besonders in intellektuellen und konfessionell orientierten Kreisen gegen die ›propagandistische Ausschlachtung‹ des Fundes im Walde von Katyn geeifert.«62
Zur Wirkung der Presse- und Rundfunkpropaganda kann man im gleichen Bericht lesen: »Mit einem weiteren Augenblinzeln wird zugestimmt, dass die deutsche Propaganda sich ›keine Schwachheit anmerken‹ lasse, dass sie die toten Polen gegen die Sowjets und die Juden benutze, obwohl wir selbst mit Polen, Juden und Bolschewisten ›nicht gerade wählerisch umgegangen‹ seien.« Zur Illustration dieser Auffassung wird eine Stimme angeführt: »Wenn ich nicht wüsste, dass im Daseinskampf unseres Volkes jedes Mittel recht ist, wäre mir diese Heuchelei mit dem Mitgefühl für die ermordeten polnischen Offiziere unerträglich.« Hier zeige sich, so der Bericht, dass »mit großer Gedankenlosigkeit geurteilt werde und selbst von den positiv eingestellten Volksgenossen einfach äußere Gleichsetzungen vorgenommen werden«, so dass es die Agitation gegnerisch eingestellter Kreise verhältnismäßig leicht habe, da selbst den Parteigenossen Argumente zur Entgegnung fehlten.
Die Meldungen untergeordneter SD-Stellen wurden konkreter. So berichtete die SD-Außenstelle Bad Brückenau, man höre vereinzelt »aus bäuerlichen Kreisen […] wir hätten, es mit [den] ›Juden‹ ja auch nicht anders gemacht, sondern auch einen gefähr[lichen] Gegner gewaltsam beseitigt«. 63 Die SD-Außenstelle im schwäbischen Friedberg gab nach Berlin weiter: »Vereinzelt wird die Ansicht laut, dass die Feinde auch in den von uns eroberten Ostgebieten auch Massengräber finden würden. Es seien zwar keine Polen, sondern Juden, die von unseren Truppen systematisch hingerichtet wurden.«64 Aus Würzburg hieß es: »In kirchlichen Kreisen wird die Anschauung vertreten, es könne sich um Massengräber handeln, die von den Deutschen für die ermordeten polnischen und russischen Juden angelegt wurden.«65
In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die im Juni 1943 auf die Massengräber außerhalb der Vernichtungslager ausgedehnte, streng geheime Aktion 1005 – die systematische Beseitigung aller sterblichen Überreste der Opfer des Judenmordes – bereits wenige Monate später bekannt wurde, wie sich einem SD-Bericht der Außenstelle Bad Neustadt66 vom Oktober 1943 entnehmen lässt: »Einem Gerücht aus Münnerstadt zufolge hätten die Feindmächte über das Rote Kreuz an den Führer die Frage gestellt, wo die früher im Reich ansässigen Juden verblieben seien. Der Führer hätte daraufhin die Juden wieder ausgraben und verbrennen lassen, damit bei einem weiteren Rückzug im Osten den Sowjets kein Propagandamaterial wie das bei Katyn usw. in die Hände fallen würde.«
Doch zurück zu den unmittelbaren Auswirkungen der Katyn-Kampagne. Der Regierungspräsident von Schwaben notierte im April, dass laut Meldung eines Landrats die Katyn-Propaganda »Erörterungen über die Behandlung der Juden in Deutschland und in den Ostgebieten ausgelöst habe«.67 Der Linzer SD kolportierte die Bemerkung eines Pfarrers: »Seit sich die deutsche Propaganda so um Katyn annimmt, höre ich immer mehr Stimmen, die der Überzeugung sind, dass diese Morde von Deutschen verübt wurden.« Ein weiterer Geistlicher habe wörtlich erklärt: »Menschen, die den Mord von hunderttausenden Juden, Polen, Serben, Russen etc. auf dem Gewissen haben, steht nicht das Recht zu, sich zu entrüsten, wenn andere nur ein Teilchen von dem taten, was sie selbst laufend praktizieren.«68
Die SD-Außenstelle Lübbecke meldete Äußerungen aus »klerikalen Gruppen« im westfälischen Raum: »Die Nationalsozialisten hätten gar nicht das Recht, sich über die viehische Abschlachtung aufzuregen. Bei der Bekämpfung der Juden im Osten habe die SS ähnliche Abschlachtungsmethoden angewandt. Die scheußliche und unmenschliche Behandlung, wie sie den Juden durch die SS zuteil geworden wäre, fordert geradezu eine Bestrafung unseres Volkes durch den Herrgott heraus. Wenn diese Ermordungen sich nicht bitter an uns rächen würden, dann gäbe es keine göttliche Gerechtigkeit mehr! Das deutsche Volk habe eine solche Blutschuld auf sich geladen, dass es auf eine Barmherzigkeit und Verzeihung nicht rechnen könne. Alles räche sich bitter auf Erden. Aufgrund dieser barbarischen Methoden sei auch eine humane Kriegsführung unserer Gegner nicht mehr möglich. Die Wutausbrüche der jüdischen Presse und ihre Vernichtungstendenzen sei die natürliche Reaktion.«69
Ebenso deutlich wird in den Berichten die durch die Katyn-Propaganda geweckte Sorge, deutsche Kriegsgefangene könnten Opfer ähnlicher Massenexekutionen werden.70 Die Ängste um vermisste Angehörige beziehungsweise die Furcht um das eigene Leben konnten zu Verzweiflung und Apathie bis hin zur Entfremdung zwischen dem Regime und Teilen der Bevölkerung führen. Die NSDAP-Kreisleitung Neustadt (Franken) gab beispielsweise zu bedenken: »Die Furcht allein als Ansporn des Kampf- und Durchhaltewillens zu benützen, ist eine gefährliche Sache. Es kann auch die gegenteilige Wirkung eintreten, und bei schwachen Gemütern ist dies nach meiner Feststellung auch geschehen.«71 Daneben war deutlich herauszuhören, dass Teile der Bevölkerung durch derart massive Propagandakampagnen eher abgeschreckt wurden. Die »antijüdische Haltung der Presse hat so plötzlich angesetzt und wird derartig übertrieben, dass wahrscheinlich die Wirkung wenigstens auf das deutsche Volk verloren gehen wird«, hieß es in einem der Partei-Kanzlei vorliegenden Bericht.72
Außerdem wurde in Teilen der Bevölkerung die Propagandathese von der pauschalen Kriegsverantwortung »der Juden« offenbar zurückgewiesen. 73 Die Kreisleitung Weißenburg/Bayern meldete: »Es greift in weiten Schichten des Volkes in erschreckendem Maße die Ansicht Platz, dass es völlig gleichgültig sei, ob das deutsche Volk unter die Herrschaft der Engländer, Amerikaner oder gar der Bolschewisten komme, wenn nur der entsetzliche Krieg einmal zu Ende gehe. […] Leider wird der Jude und die damit verbundene Gefahr im Volk nicht mehr beachtet.«74 Berichte des SD-Abschnittes Linz vom Juni 1943 deuteten auf massive negative Auswirkungen der antisemitischen Kampagne hin. Man sei »mit Abhandlungen über das Judentum in letzter Zeit allzu reichlich bedacht worden« und »durch das überspielte Instrument der Juden-Campagne und sonstiger politischer Abhandlungen großer Aufmachung übermüdet und oft schon angeekelt«.75 In im Propagandaministerium eingehenden Briefen aus der Bevölkerung scheint die Wiederaufnahme antisemitischer Tendenzen in der Propaganda ebenfalls auf deutliche Kritik gestoßen zu sein.76
Auch die Bemühungen der Propaganda, die Luftangriffe auf deutsche Städte als das Werk jüdischer Hintermänner darzustellen, erwiesen sich als zumindest teilweise kontraproduktiv. Wenn, so die vox populi in den Stimmungsberichten, die Juden so mächtig seien, warum hatte man sie sich dann unbedingt zum Feind machen müssen? Der SD Halle meldete: »Die Judenrache, die jetzt käme, sei schrecklich und man habe dieses nur der Regierung zuzuschreiben. Hätte man deutscherseits die Juden nicht angegriffen, so wäre es bereits zum Frieden gekommen.«77 Aus Würzburg hieß es: »Die Vertreibung der Juden hätte nicht erfolgen sollen, dann würden diese heute nicht so gegen uns arbeiten.«78 Hätte man, so fragten andere, die Juden nicht besser als Geiseln im Reich behalten anstatt sie zu vertreiben?79
Die Bombardierung von Talsperren als Ausgeburt eines teuflischen und verdammenswerten jüdischen Planes darzustellen, stieß laut Stimmungsberichten vielfach auf Unverständnis. »Moralische Auslassungen« seien angesichts so effizienter Zerstörung kriegswirtschaftlich wichtiger Anlagen fehl am Platz; warum sei die deutsche Seite nicht in der Lage, dem Feind ebensolche Schäden zuzufügen?80
Die Anstrengungen der Propaganda, verstärkt »die Juden« für die Luftangriffe verantwortlich zu machen, führten insbesondere zu Erörterungen, warum bestimmte Ziele angegriffen oder nicht angegriffen wurden – was einem gewissen Fatalismus Vorschub leisten musste. So berichtete der SD aus Köln, es lägen Stimmen vor, die die Bombardierung des Kölner Doms und anderer deutscher Kirchen in Zusammenhang mit den seinerzeitigen Zerstörungen der Synagogen in Deutschland gebracht haben« und daher argumentierten, dass »jetzt ›die Strafe Gottes‹ wirksam werde«.81
Im Raum Würzburg wurde spekuliert, die Stadt sei bisher nicht bombardiert worden, weil dort »keine Synagoge gebrannt habe«. Allerdings werde erzählt, »dass nunmehr auch die Flieger nach Würzburg kämen, da vor kurzer Zeit der letzte Jude Würzburg verlassen habe. Dieser habe vor seinem Abtransport erklärt, dass nun auch Würzburg Luftangriffe bekommen werde.«82 »Ausgesprochene Judenstädte« wie Fürth und Frankfurt, so hieß es ebenfalls aus Würzburg, würden verschont.83 Auch in Heilbronn verbreitete sich 1944, nach dem Angriff eines einzelnen Bombers, das Gerücht, ein feindlicher Flieger habe für die Vertreibung der Juden gezielt Rache nehmen wollen.84
Der Hamburger Kaufmann Lothar de La Camp schrieb unter dem Eindruck der Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 an einen Bekannten, dass »das einfache Volk, der Mittelstand und die übrigen Kreise von sich aus wiederholt Äußerungen unter vier Augen und selbst auch im größeren Kreise machten, die die Angriffe als Vergeltung gegen die Behandlung der Juden durch uns bezeichnen«.85 Ian Kershaw schließlich hat auf einen vor dem Sondergericht München verhandelten »Heimtückefall« hingewiesen, in dem ein Hilfsarbeiter aus Weißenburg Befürchtungen äußerte, seine Stadt werde wegen der Inhaftierung von Juden in besonderer Weise unter den Bombardements zu leiden haben.86 Alle diese Berichte spiegeln die Ohnmacht der Betroffenen wider, nicht die vom Regime gewünschte Mobilisierung der letzten Widerstandsreserven.
Auffällig an diesen erhaltenen Äußerungen ist, dass die Judenverfolgung nicht aus moralischen Gründen verurteilt wird. In der Kritik stehen vielmehr stets die eigenen Interessen, wie die Furcht vor Luftangriffen oder der Schutz der eigenen Kriegsgefangenen, im Vordergrund. Daraus weitreichende Schlussfolgerungen über die angeblich selbstsüchtige und moralisch indifferente Einstellung der deutschen Bevölkerungsmehrheit zu ziehen, wie dies etwa Kulka ausgehend von einer recht breiten Analyse des Materials aus dem Jahre 1943 tut, halte ich gleichwohl für problematisch: Wiederum muss der quellenkritische Einwand in Betracht gezogen werden, dass sich Kritiker der Judenverfolgung in halböffentlichen Situationen bevorzugt in einer Weise äußerten, die ihnen nicht als Fundamentalopposition ausgelegt werden konnte.87
Es erscheint auch fraglich, ob der in der Bevölkerung häufiger hergestellte Zusammenhang zwischen der Judenverfolgung und der Furcht vor »jüdischer Vergeltung« wirklich darauf zurückzuführen ist, dass die Propagandathese von der »jüdischen Weltverschwörung« mittlerweile in der Bevölkerung allgemein akzeptiert wurde, wie beispielsweise Kershaw schreibt.88 Man könnte ebenso argumentieren, dass in solchen Bemerkungen Kritik an der Judenverfolgung zum Ausdruck gebracht wurde: Die Behauptung der Propaganda, eine Niederlage hätte die Vernichtung Deutschlands durch »die Juden« zur Folge, wurde hier in einer Weise aufgegriffen, die als deutliche Schuldzuweisung in Richtung Regime verstanden werden konnte. Wer sich so äußerte, bewies damit (bewusst oder unbewusst), dass das Regime Opfer der von ihm selbst hergestellten perversen Logik geworden war.
Das von der Propaganda verbreitete Gespenst einer »jüdischen Vergeltung«, sei es nun in Gestalt von Massenexekutionen durch bolschewistische Schergen oder durch Luftangriffe, erwies sich demnach als ein durchaus zweischneidiges Schwert. Statt zu Durchhaltewillen und Aufbietung der letzten Kräfte führte die antijüdische Propagandakampagne des Frühjahrs 1943 bei vielen offenbar zu Resignation, während andere die Judenverfolgung als verhängnisvollen Irrtum kritisierten und die Propaganda als unglaubwürdig und verlogen empfanden. Die Stimmungsberichte der Reichspropagandaämter, musste Goebbels Ende Mai 1943 feststellen, zeichneten das Bild einer »allgemeinen schweren Depression«; man könne nicht mehr »nur von einem Stimmungs-, sondern auch von einem Haltungseinbruch« sprechen.89
Ob die Berichte nun die tatsächliche Stimmungslage der Bevölkerung wiedergaben und inwieweit sie auch als Kritik lokaler und regionaler Dienststellen am Kurs des Propagandaministeriums zu verstehen sind, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall war aber die hier übereinstimmend zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber der offiziellen Propaganda so stark, dass das Propagandaministerium sich Ende Mai/Anfang Juni gezwungen sah, die Kampagne zurückzunehmen: Entsprechend ebbte die antisemitische Polemik in der deutschen Presse Anfang Juni ab.90
Der Versuch des Regimes, die deutsche »Öffentlichkeit« durch eine antijüdische Angstpropaganda neu auszurichten und auf die Parole »Sieg oder Tod« festzulegen, war fehlgeschlagen. Das unter dem Stichwort »Katyn« im April eingeführte und im Mai mit Hilfe des Themas Luftkrieg variierte antisemitische Leitmotiv hatte sich nicht als tragfähiges Konzept erwiesen. Goebbels sah sich sogar gefordert, seine antisemitische Propagandakampagne gegen Kritik aus der Partei zu verteidigen. In einem an die Gauleiter gerichteten Rundschreiben vom 12. Juni 1943 schrieb er unter anderem, es hätten nach Beendigung der »Katyn-Aktion […] verschiedene Gaue auf das Unverständnis parteifremder Kreise für die Breite und Häufigkeit der Darstellung in Presse und Rundfunk hingewiesen«. Es sei hingegen »ein schon in der Kampfzeit erprobter Grundsatz, dass die Wirkung der Propaganda von der häufigen Wiedergabe des Themas – selbstverständlich in abgewandelter Form – abhängt«. Nur so sei die »Einprägung bei weitesten Kreisen gewährleistet«. Und: »Im Vordergrund der Propaganda steht der Kampf gegen das Judentum und den Bolschewismus. Er muss auf breiteste Basis gestellt werden.«91
Es ist kein Zufall, dass auch die Partei-Kanzlei der NSDAP sich zu diesem Zeitpunkt, im Juli 1943, veranlasst sah, ein geheimes Rundschreiben an die Gau- und Reichsleiter herauszugeben, das deutlich das Unbehagen der Parteiführung über wild wuchernde Gerüchte in der »Judenfrage« zum Ausdruck brachte. Hier hieß es, und zwar ausdrücklich im »Auftrag des Führers«: »Bei der öffentlichen Behandlung der Judenfrage muss jede Erörterung einer künftigen Gesamtlösung unterbleiben. Es kann jedoch davon gesprochen werden, dass die Juden geschlossen zu zweckentsprechendem Arbeitseinsatz herangezogen werden.«92
Der defensive Ton dieser Anweisung ist umso auffallender, wenn man sich Bormanns Schreiben in der gleichen Angelegenheit vom Oktober 1942 an die Gau- und Kreisleiter in Erinnerung ruft. Damals war die Partei-Kanzlei auf die Gerüchte über Massenerschießungen im Osten eingegangen und hatte eine Sprachregelung herausgegeben, die diese »sehr scharfen Maßnahmen« nicht geleugnet und offen davon gesprochen hatte, die europäischen Juden würden in Lager deportiert, dort zur Arbeit eingesetzt oder »noch weiter nach dem Osten verbracht« werden. Der Passus, es liege in der »Natur der Sache, dass diese teilweise schwierigen Probleme im Interesse der endgültigen Sicherung unseres Volkes nur mit rücksichtloser Härte gelöst werden können«, machte den Parteifunktionären unmissverständlich deutlich, dass die umlaufenden Gerüchte über den Massenmord an den Juden keinesfalls aus der Luft gegriffen waren. 93 Und nun, im Juni 1943, sollte die künftige »Gesamtlösung« der »Judenfrage« über den »Arbeitseinsatz« hinaus überhaupt nicht mehr erörtert werden. Zu diesem Verbot passte, dass die öffentlichen Erklärungen und Andeutungen führender Nationalsozialisten über die in Gang gekommene »Vernichtung« oder »Ausrottung« der Juden – im Gegensatz zum Jahre 1942 – weitgehend verstummt waren: Zum letzten Mal hatte Hitler im Februar 1943 die schon zum Ritual gewordene Erinnerung an seine »Prophezeiung« wiederholt.
Goebbels sah sich sogar genötigt, das offizielle Schweigen über die zur Verwirklichung der »Endlösung« ergriffenen Maßnahmen zumindest ansatzweise öffentlich zu begründen. So lassen sich jedenfalls seine richtungweisenden »30 Kriegsartikel für das deutsche Volk« interpretieren, die er am 26. September 1943 in der Wochenzeitung Das Reich veröffentlichte. Plötzlich wurde das »Schweigen« generell zu einer Tugend erklärt. Liest man diesen Artikel vor dem Hintergrund der wenige Monate zuvor abgebrochenen antisemitischen Kampagne, wird deutlich, dass Goebbels’ Mahnung, das offizielle Schweigen nicht durch Gerüchtebildung zu durchbrechen, sich insbesondere auf die »Judenfrage« bezog – die indes angesichts des Schweigegebots nicht beim Namen genannt wurde. »Schweigen ist ein hohes Gebot der Kriegführung«, heißt es im Artikel. »Nur wenige wissen um die Geheimnisse des Krieges. Diese stellen Waffen im Lebenskampfe unseres Volkes dar und dürfen deshalb unter keinen Umständen vor dem Feinde preisgegeben werden. Es ist also denkbar unfair und abträglich für das allgemeine Wohl, die Regierung durch Verbreitung von Gerüchten dazu zwingen zu wollen, über eine kriegswichtige oder gar kriegsentscheidende Frage öffentliche Erklärungen abzugeben, die dem Feinde nützen und damit dem eigenen Volke größten Schaden zufügen.«

»Miesmacher« allenthalben

Seit Mitte April 1943, seit dem Beginn der Katyn-Kampagne, hatte Goebbels mit dem Gedanken gespielt, der schlechten »Stimmung« einfach dadurch zu Leibe zu rücken, dass er die vom SD zusammengestellten und in Partei- und Regierungskreisen weit verbreiteten Meldungen aus dem Reich, das wichtigste Organ, das Woche für Woche die unzureichende Wirkung seiner Propaganda dokumentierte, einstellen ließ. Bereits am 17. April heißt es im Tagebuch:
»Der SD-Bericht bringt mehr Stänkereien. Er erregt überhaupt in letzter Zeit mein allgemeines Missfallen. Er ist gänzlich unpolitisch und wird durchaus ungesiebt an die zuständigen Stellen herangetragen. Daraus entsteht eine gewisse Gefahr; denn die meisten Leser dieser SD-Berichte haben nicht das politische Unterscheidungsvermögen, um eine Nebensächlichkeit von einer Hauptsache zu unterscheiden. Vor allem bringt dieser Bericht zu viele Einzelheiten. Die Führung des Reiches braucht es durchaus nicht zu wissen, wenn irgendwo in einem kleinen Landstädtchen einmal einer seinem gepressten Herzen Luft gemacht hat. Genauso, wie der Führer nicht zu wissen braucht, wenn in einer Kompanie einmal über die Kriegführung geschimpft wird, genauso braucht die politische Führung nicht darüber orientiert zu werden, wenn hier und da einer den Krieg verdammt oder verflucht oder darüber die Schale seines Zornes ausgießt. Das System des SD muss jetzt schleunigst geändert werden. Ich gebe Berndt94 den Auftrag, eine Zusammenarbeit zwischen SD und Reichspropagandaministerium organisatorisch vorzubereiten. Wenn die an sich guten Materialunterlagen des SD politisch gesichtet und mit den politischen Anschauungen der Gauleiter und Reichspropagandaamtsleiter in Übereinstimmung gebrachen werden, dann könnte man daraus eine gute Informationsquelle machen. Ich will durchaus nicht, dass die politische Führung des Reiches von solchen Informationsquellen abgeschlossen wird; ich will nur verhindern, dass aus einem Floh ein Elefant gemacht wird und sich allmählich ein Bild von der Haltung des deutschen Volkes bei der Reichsführung ergäbe, das durchaus irreführend ist.«
Die Tagebücher des Propagandaministers zeigen, dass er spätestens seit Mai 1943 mit Himmler darüber verhandelte, den SD-Berichten »wegen defätistischer Wirkung« ein Ende zu machen.95 Im Juni 1943 wurden die Meldungen aus dem Reich dann tatsächlich durch die SD-Berichte zu Inlandsfragen ersetzt, die nur für einen wesentlich kleineren Kreis von Lesern bestimmt waren.96 Pläne des Propagandaministers, ein besonderes Informationsblatt für das Reichskabinett zu schaffen, stellten sich als »nichtdurchführbar« heraus; hier gehe es um »delikate Fragen […] die man schriftlich überhaupt nicht beantworten kann«.97
Doch noch im Juli fand Goebbels die ihm vorliegenden SD-Berichte auch in der neuen Form »für die praktische Arbeit ganz unbrauchbar. Sie werden unkorrigiert vorgelegt und enthalten alles, was irgendein Anonymus in irgendeiner Stadt oder in irgendeinem Dorf an Meinung in irgendeinem unbewachten Augenblick von sich gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass aus der Kenntnis solcher Berichte irgendein Nutzen entspringen könnte, und lehne deshalb auch ab, sie in Zukunft ad notam zu nehmen.« 98
Nicht die schlechte Stimmung sollten demnach beseitigt werden, sondern das Medium, das auf die trübe Stimmung hinwies. Ursprünglich ein wichtiges Mittel zur Herstellung einer nationalsozialistisch ausgerichteten »Öffentlichkeit«, drohten die Berichte nun zum Forum für unerwünschte Meinungsbilder zu werden. In dem Moment, als dem Propagandaminister allmählich die Kontrolle über die verbindliche Ausrichtung der Öffentlichkeit aus den Händen glitt, musste er fürchten, dass die Stimmungsberichte sich von Propagandaverstärkern in ein Sprachrohr für alternative Ansichten verwandelten. Sie mussten zum Schweigen gebracht werden.
Doch nicht nur in Kreisen von Regime und Verwaltung ging Goebbels gegen die schlechte Stimmung vor. Gegen Kritiker und »Miesmacher« in Kneipen und an anderen halböffentlichen Orten setzte er eine höchst schlagkräftige Methode ein, der sich die Berliner Parteiorganisation bediente – »Brachialgewalt«. Der unmittelbare Zusammenhang von Propaganda und Gewalt, der für die nationalsozialistische »Stimmungsführung« stets charakteristisch war, lässt sich anhand dieses Beispiels besonders plastisch nachzeichnen.
Bereits im März 1943 hatte Walter Tießler, der Verbindungsmann Bormanns bei Goebbels, den Propagandaminister darauf aufmerksam gemacht, dass in der »Kampfzeit »eine Beschimpfung der Partei bei uns ebenfalls nicht mit Gegenwitzen beantwortet wurde, sondern, indem man dem Betreffenden eine entsprechende Abreibung gab«. Goebbels habe daraufhin empfohlen, so Tießler, auf »Gerüchtemacher und Witzeerzähler […] dort, wo sie auftreten, ob in der Gesellschaft, in der Straßen- oder U-Bahn bzw. in Geschäften oder in Privatgesprächen, sofort damit [zu] antworten, dass wir ihnen eine herunterhauen«; es »genügten einige wenige Beispiele, um sie zum Verstummen zu bringen«.99
Im Laufe des Sommers 1943 fand diese Idee ihren organisatorischen Niederschlag: Die Berliner Gauleitung rief die so genannte Organisation B ins Leben. Über deren Aufgabe erfährt man in Goebbels’ Tagebuch: »Was übrigens die Stimmung anlangt, so kann man darüber sehr beruhigt sein. Die ›Organisation B‹ (Brachialgewalt) ist am Abend vorher in Dreiergruppen in den Arbeitervierteln tätig geworden. Sie hat 35 Lokale unauffällig überprüft, mit dem Entschluss, überall handgreiflich zu werden, wo etwas gegen den Führer oder gegen die allgemeine Kriegführung gesagt wurde. Es ist bezeichnend, dass die Organisation B bei diesem ersten ›Raid‹ nicht ein einziges Mal einzugreifen brauchte. Obschon überall über Krieg und Politik gesprochen wurde, ist nirgendwo auch nur ein einziges Wort über den Führer oder die Kriegführung gesagt worden, das zu einem Einschreiten Anlass gegeben hätte.«100
Einige Tage später ließ er siebenhundert Parteigenossen in Lokale des Berliner Westens ausschwärmen und konnte auch hier konstatieren, dass die Belauschten in keinem einzigen Fall Anlass zum »Einschreiten« gegeben hatten.101 Dass dafür tatsächlich allgemeine Zufriedenheit verantwortlich war, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden; gerade für diesen Zeitraum deuten die Goebbels-Tagebücher und andere Quellen auf ein deutliches Stimmungstief hin. Doch diese Schlägertrupps sollten ja auch nicht die wirkliche Stimmung der Bevölkerung ermitteln, sondern jedes halböffentlich geäußerte kritische Wort bereits im Ansatz verhindern – mit einem Faustschlag ins Gesicht des »Miesmachers«. Außerdem hatte das Auftreten der »Organisation B« natürlich eine erheblich abschreckende Wirkung: Denn das Großaufgebot an schlagfertigen Parteigenossen wird auch den Kneipengängern nicht verborgen geblieben sein. Einige Tage später war die »Organisation B« wieder im Einsatz, wobei sie »nur in einem einzigen Falle handgreiflich werden musste. Nur in diesem Fall war festzustellen, dass einer öffentlich gegen die Führung oder gegen den Krieg zu meckern wagte. Der Delinquent ist denn auch gleich entsprechend behandelt und der Polizei übergeben worden. Sonst kann man in Berlin von einer sehr aufrechten und festen Haltung sprechen[...].«102
Im Dezember hatte das massierte Auftauchen schlagkräftiger Parteigenossen endgültig seinen Zweck erreicht, die Stimmungserkundung mit dem Schlagring in der Tasche war ein voller Erfolg: »Von Berlin hört man nur Angenehmes. Haegert hat die Organisation B zur Erkundung der Stimmung in der Reichshauptstadt angesetzt. Die Berichte, die mir von den einzelnen Rechercheuren eingereicht werden, sind mehr als positiv. Der Berliner hat sich bei den Luftangriffen in einer moralischen Haltung gezeigt, wie sie besser gar nicht vorstellbar ist.«103

Antijüdische Propaganda in der zweiten Jahreshälfte 1943

In der zweiten Jahreshälfte 1943 sollte die »Judenfrage« in der deutschen Propaganda keine große Rolle mehr spielen. In den Anweisungen an die deutsche Presse tauchte sie erheblich seltener auf als in der ersten Jahreshälfte, 104 und entsprechend ging die Anzahl der antisemitischen Beiträge in der deutschen Presse wieder zurück.105
Die Journalisten schenkten der »Judenfrage« so wenig Beachtung, dass das Propagandaministerium sich am 13. August 1943 zu der Ermahnung veranlasst sah, die vier Tage zuvor ergangene Tagesparole (»Zwischen den Juden in Washington, London und Moskau herrscht volle Eintracht«) streng zu beachten: »Obwohl in der Tagesparole des Reichspressechefs vom 9.8. erneut eindeutig darauf hingewiesen wurde, dass Bolschewismus und Kapitalismus der gleiche jüdische Weltbetrug, nur unter verschiedener Formierung sind, verfallen die Zeitungen bei der Behandlung des bolschewistischen Themas immer noch der Täuschung, als ob Kapitalismus und Bolschewismus zwei verschiedene, sich feindlich gegenüberstehende Anschauungen seien. Insbesondere wird immer wieder den kommunistischen Agitationen dadurch Vorschub geleistet, dass bolschewistische Äußerungen ernst genommen werden, als ob der Bolschewismus den Kapitalismus vernichten wolle, während sich doch in Wirklichkeit diese beiden jüdischen Systeme einander in die Hände arbeiten […]. Schriftleiter, die gegen diese Tagesparole verstoßen, werden persönlich zur Verantwortung gezogen.«
Das wirkte. In der zweiten Jahreshälfte konnte man in der Parteipresse immer wieder lesen, die USA würden nach dem Krieg – selbstverständlich im Auftrag »der Juden« – versuchen, die »Weltregierung« zu übernehmen.106 Sie würden die britische Machtposition endgültig zerstören, Großbritannien marginalisieren107 und im Nahen Osten eigene Kolonien in Besitz nehmen.108 Der amerikanische Finanzminister Morgenthau halte schon »goldene Handschellen« für die übrigen Völker bereit. 109 Dass die Rechte der nordafrikanischen Juden wiederhergestellt wurden, galt ebenso als Beweis für die Existenz der »jüdischen Weltverschwörung« 110 wie der angeblich maßgebliche Einfluss jüdischer Kräfte im vom Faschismus befreiten Italien.111
Das Thema jüdisch-amerikanischer Imperialismus wurde auf unterschiedlichste Weise variiert: Der Angriff vom 18. Januar 1944 griff eine britische Meldung aus Jerusalem auf, wonach Teams aus jüdischen Fachleuten im Gefolge anglo-amerikanischer Truppen nach Europa entsandt werden sollten, und kommentierte: »Worin die Aufgabe dieser jüdischen Aasgeier bestehen soll, ist nach den Erfahrungen in Süditalien klar: Die jüdischen ›Sachverständigen‹ würden sich bei einem Gelingen der plutokratischen Pläne ›liebend‹ gern der europäischen Kultur- und Vermögenswerte annehmen und sie rücksichtslos verschieben.«112 Die Ernennung des Bankiers und früheren Gouverneurs von New York, Herbert H. Lehmann, zum Direktor der United Nations Relief and Rehabilitation Administration, der alliierten Hilfsorganisation für Kriegsflüchtlinge, bedeutete nach Ansicht des Völkischen Beobachters vom 13. November 1943, der »Bankjude« sei zum«Sklavenhalter für Europa« ausersehen.
Gelegentlich wurde – wie vom Propagandaministerium im August eingefordert – mit Hilfe des antisemitischen Leitthemas der Gleichklang der Interessen zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten betont: Sowjetische Forderungen, nach Kriegsende deutsche Zwangsarbeiter zu rekrutieren, und amerikanische Stimmen, die eine Schwächung der industriellen Basis Deutschlands verlangten, deuteten vermeintlich auf eine »einheitliche jüdische Regie hinter den Vernichtungsplänen«.113 Insgesamt gesehen überwog jedoch in diesem Zeitraum die Propaganda gegen den von einflussreichen jüdischen Kreisen »gesteuerten« amerikanischen Imperialismus.
Daneben registrierte die Presse die antijüdischen Maßnahmen der Verbündeten, etwa die im Juni 1943 von der bulgarischen Regierung verfügte Ausweisung der Juden aus der Hauptstadt Sofia,114 die »Arisierung« in Rumänien,115 die antisemitischen Maßnahmen der ungarischen Regierung, 116 die Einführung einer Meldepflicht für die Juden in Griechenland 117 sowie die Verfügung der faschistischen Regierung Italiens vom Dezember 1943 über die Inhaftierung aller Juden in Konzentrationslagern. 118 Die »Maßnahmen gegen die Juden in Dänemark«, also die beabsichtigte Deportation, waren laut Anweisung des Propagandaministeriums vom 2. Oktober indes »vorerst nicht aufzugreifen«.119
Obwohl sich während der Katyn-Kampagne gezeigt hatte, dass sich die antisemitische »Kraft durch Furcht«-Propaganda für das Regime nicht ausgezahlt hatte, finden sich auch weiterhin in der Propaganda immer wieder Hinweise auf die im Falle einer deutschen Niederlage drohende »jüdische Vergeltung«. So äußerte etwa der Oldenburger Gauleiter Paul Wegener in einem Zeitungsartikel im August 1943 die Überzeugung, es gebe »keinen in der Partei, der nicht nüchtern erkannt hat, dass bei einem Sieg der Plutokratie er und seine Kameraden die ersten sein werden, die von den jüdischen Scharfrichtern liquidiert werden. Als wir den nationalsozialistischen Eid leisteten, haben wir die Brücke hinter uns abgebrochen. Die Brücken sind hinter dem ganzen deutschen Volk abgebrochen.«120
An die deutsche Presse erging zum 1. September 1943 aus Anlass des vierten Jahrestags des Kriegsbeginns folgende Kommentaranweisung: »In diesem Krieg kämpfen wir um unsere nationale Existenz. Es ist der größte Schicksalskampf unsrer Geschichte. Wenn wir diesen Kampf verlören, so würde die deutsche Nation ausgelöscht werden. Wir tragen somit nicht nur die Verantwortung für die lebende Generation, sondern auch für die kommenden wie vor den gewesenen Generationen.«121
Eine so eindeutig auf die Erzeugung von Existenzangst ausgerichtete Kriegspropaganda stieß jedoch auch auf Kritik. Die neu geschaffenen SD-Berichte zu Inlandsfragen meldeten im August 1943, Zeitungsartikel wie der im Völkischen Beobachter erschienene Beitrag »Jüdische Weltherrschaft auf den Spitzen der USA-Bajonette« seien kontraproduktiv; solche Stimmen machten »nur die allgemeine Besorgnis schwerer, dass wir den Krieg verlieren und dass jeder einzelne, seine Familie und insbesondere die Kinder ein trauriges und grausames Schicksal erleiden«.122
Zwei Beiträge von September 1943 in der badischen Gauzeitung Der Führer scheinen direkt darauf zu antworten. Am 3. September brachte die Zeitung eine Zusammenstellung von 14 Punkten, die als Sprachregelung für »die Kleinmütigen und Verzagten« deklariert wurden. So hieß es beispielsweise in Punkt 2: »Es wird gesagt, wenn das nationalsozialistische Deutschland nicht die Judenfrage so radikal gelöst hätte, dann würde uns heute das internationale Weltjudentum nicht bekämpfen.« »Nur ein seniler Schwachkopf«, konterte das Blatt, »kann so etwas aussprechen. Es ist richtig, die Juden der Vereinigten Staaten haben bereits 1934 den Boykott über deutsche Waren verhängt und uns damit wirtschaftlich den Krieg erklärt. Aber nicht, weil wir die Judenfrage in Deutschland gelöst haben, sondern weil sie in Amerika das nationalsozialistische Wirtschaftssystem fürchteten […] Das kaiserliche Deutschland Bismarcks hat die Juden wirklich liebevoll behandelt. Es hat sie noch nicht einmal angerührt, auch wenn sie offenen Landesverrat betrieben. Und doch hat uns das internationale Judentum den Krieg bis zur Vernichtung erklärt. Der zweite Weltkrieg aber ist nur die Fortsetzung des ersten.« In den Punkten 5 und 6 wurde noch einmal ausdrücklich klargestellt, dass die Behauptung, im Falle einer Niederlage werde das deutsche Volk ausgerottet werden, zutreffend sei.
Am 23. September 1943 veröffentlichte der berüchtigte Johann von Leers einen weiteren Leitkommentar in derselben Zeitung, in dem er die antisemitische Propaganda ausdrücklich gegen Kritik in Schutz nahm – und eher nebenher die Vernichtung der Juden als einen bereits weitgehend abgeschlossenen Vorgangerwähnte. Leers schrieb: »Dieser Tage hörte ich die unbegreiflich naive Frage: ›Warum reitet ihr denn immer noch auf dem Juden herum? Das Judentum in Europa ist ja zum großen Teil aufgerieben, auch haben wir andere Sorgen heute, mit denen wir uns beschäftigen müssen, haben die feindlichen Fliegerangriffe, das schwere Ringen an den Fronten – ist es da nicht überflüssig, gerade die Judenfrage immer wieder zu behandeln?‹« Um diesen Vorwurf zu entkräften, verwandte Leers einige Mühe darauf, dem Leser die Theorie von der jüdischen Weltverschwörung zu erklären, und fuhr dann fort: »Nur eines kann den Völkern wirklich Sicherheit und Frieden geben – die völlige Niederringung und Niederschlagung des Judentums. Darum, weil wir einen langdauernden Frieden wollen, in dem die ehrlichen Völker gedeihen, darum sprechen wir immer wieder von der Verwerflichkeit und der Schuld der Juden.«123
Für diesen Verteidigungsversuch spielte möglicherweise auch das am 12. September 1943 verlesene Hirtenwort der katholischen Bischöfe eine Rolle, in dem diese grundsätzlich die Tötung menschlichen Lebens als verwerflich bezeichnet und mit der Formulierung, dies betreffe ebenfalls »Menschen fremder Rassen und Abstammung«, ihrerseits die umlaufenden Gerüchte über den Mord an den Juden bestätigt hatten. In jedem Fall hatten die Bischöfe für die Veröffentlichung ihrer Botschaft einen Zeitpunkt gewählt, zu dem die »Judenpolitik« des Regimes in der öffentlichen Darstellung in die Defensive geraten war.
Entsprechend galt das »Schweigegebot« Goebbels’ vom 26. September 1943, das gelegentlich jedoch gebrochen wurde. Ende 1943, als die Ghettos in der Regel aufgelöst, die Deportationen aus den meisten Ländern unter deutscher Kontrolle zum größten Teil durchgeführt und die Vernichtungslager der Aktion Reinhardt demontiert und zerstört waren – sogar die sterblichen Überreste der Leichen hatte man sorgfältig beseitigt -, erschien eine Kurzmeldung im Völkischen Beobachter, die auch dem normalen Leser einen Hinweis darauf gab, wie weit die »Lösung« der »Judenfrage« mittlerweile gediehen war:
»Nach Schätzung in der jüdischen Presse Palästinas beträgt die Gesamtzahl der Juden 13,5 Millionen. Davon entfallen auf die USA 4,8 Millionen, auf England 425 000, auf Kanada 200 000, auf Südafrika 100 000, auf Australien 35 000, auf Argentinien 300 000 und auf alle anderen Staaten beider Amerika 300 000. Nach den USA beherbergt heute Palästina mit 550 000 Juden die meisten Hebräer. Diese Schätzungen beziehen sich selbstverständlich nur auf Religionsjuden. Von den Sowjetjuden soll sich die Hälfte jetzt östlich vom Ural befinden.«124
Ein Blick in den Großen Brockhaus genügte, um festzustellen, dass die Zahl der Juden Ende der zwanziger Jahre bereits auf 15 bis 16 Millionen geschätzt wurde; daraus ergab sich in jedem Fall eine ins Auge springende Differenz, zumal die im Brockhaus veröffentlichte Statistik für die USA von nur 3,6 Millionen (und nicht von 4,8 Millionen) Juden ausging. Auffallen musste einem gründlichen Leser aber vor allem die Tatsache, dass in der kurzen Meldung Palästina als das Land mit der zweithöchsten jüdischen Einwohnerzahl genannt wurde; denn dies bedeutete, dass die im Brockhaus nachgewiesenen Gemeinschaften von 3,5 Millionen polnischen, 2,75 Millionen sowjetischen, 834 000 rumänischen Juden sowie die 564 000 deutschen Juden (zu denen seit dem »Anschluss« theoretisch noch die 300 000 österreichischen Juden hinzuzurechnen gewesen wären) zumindest in diesen Größenordnungen nicht mehr existierten.125