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Und es gab noch etliche Entscheidungen zu treffen.
Sollten wir zum Beispiel in Seattle Zwischenstation machen, um uns zu vergewissern, dass Provost wirklich zum Lake Crescent gefahren war?
Sollten wir auf der Halbinsel als Erstes dem Haus am Hood Canal einen Besuch abstatten? Auf die Art hätten wir eine mögliche Verstärkung ausschalten können. Wir wollten schließlich nicht die Hütten belagern, nur damit uns eine Busladung frisch ausgehobener Truppen in den Rücken fiel.
Sollten wir den Pick-up, den VW-Bus oder beides nehmen? Sie würden bestimmt nach dem Camper Ausschau halten, aber andererseits höchstwahrscheinlich auch nach einem ausgeflippten Pick-up-Fahrer mit eingedelltem Bullenschieber.
Eines jedenfalls wussten wir: Es wäre zu gefährlich gewesen, mit der Fähre auf die Halbinsel überzusetzen. Sie würden mit Sicherheit den Hafen von Bremerton überwachen. Tatsächlich führten für meinen Geschmack nicht annähernd genug Straßen auf die Olympic-Halbinsel. Ein Gebiet von grob gerechnet hundertfünfzig mal hundert Kilometern war lediglich über zwei Routen zu erreichen. Es gab nur die eine Hauptstraße, die 101, die rings um Nationalpark und Nationalforst führte. Ein knappes halbes Dutzend Wachposten hätte gereicht, um sie rechtzeitig vorzuwarnen, welche Route wir nahmen.
Es gab zwar auch andere Möglichkeiten, aber sie waren zeitraubend. Eine hätte darin bestanden, mit der Fähre nach Victoria, British Columbia, zu fahren und dann mit einer zweiten von dort wieder zurück nach Port Angeles. Die zwei Überfahrten würden insgesamt mehrere Stunden in Anspruch nehmen, und außerdem dürfte Kline, wie Spike zu bedenken gab, diese Möglichkeit auch schon in Betracht gezogen haben. Wenn er für die Firma oder die Regierung arbeitete, hatte er bestimmt schon veranlasst, dass alle infrage kommenden Fährhäfen unter Beobachtung gestellt wurden.
»Du willst damit also sagen«, erklärte Bel, »dass es keine Möglichkeit gibt, dorthin zu kommen, ohne dass die davon was mitkriegen?«
Spike nickte, aber ich hatte eine Idee. Es war so ziemlich der verrückteste Einfall, den ich bis dato gehabt hatte, aber meine Partner stiegen darauf ein. Danach fingen die Dinge allmählich an, sich zu ordnen.
 
Da nach Spike nicht gefahndet wurde, mieteten wir in North Bend ein Auto unter seinem Namen. Es war ein nichtssagendes Familienmodell, und Spike beklagte den Verlust seines geliebten Schaltknüppels. Aber wir fühlten uns darin sicher genug, um uns wieder nach Seattle hineinzuwagen. Wir hielten vor »Ed’s Guns and Sporting Goods«. Ich fragte Archie, ob sich irgendjemand nach uns erkundigt hätte. Er schüttelte den Kopf.
»Was brauchen Sie diesmal, mein Sohn?«
»Balaklavas und Gesichtsfarben für Kriegsbemalung«, teilte ich ihm mit.
Erst als ich das sagte, wurde mir der Irrsinn des Ganzen so richtig bewusst. Ich spielte eindeutig nicht in meiner Liga. Ich spielte sogar ein völlig anderes Spiel. Ich hätte mir von Rechts wegen vor Angst in die Hosen machen müssen, und tatsächlich stand ich auch kurz davor. Mir zitterten die Hände - nicht gerade ein gutes Zeichen bei einem professionellen Scharfschützen. Mein Herz hämmerte, und ich meinte, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Gleichzeitig fühlte sich das Ganze aber auch wie ein leichter Schwips an, und Bel und Spike empfanden es offenbar genauso. Wir grinsten uns ständig an und bekamen Anfälle von nervösem Kichern. Im Laden brach ich sogar regelrecht in Gelächter aus. Archie sah mich an und lächelte, als ob er den Witz verstanden hätte.
»Das ist kein Witz«, erklärte ich ihm. Es war auch keiner. Es war lediglich die Euphorie der Angst. Ich schleppte mich auf das Showdown zu, als ob ich mit jedem Schritt in tieferen Schlamm geriete. Das war der langsamste Tag meines Lebens. Trotz aller Aktivität und Bewegung zog er sich zäher hin als all die Tage, die ich in Hotelzimmern verbracht und darauf gewartet hatte, dass meine Zielperson endlich in die Stadt kam, all die Tage, an denen ich an Fenstern gesessen und Schusswinkel und Entfernungen abgeschätzt und durchdacht hatte. Archie schien von der bescheidenen Höhe seines Umsatzes enttäuscht zu sein.
»Wie man hört, wird Ihr Freund wieder gesund.«
»Was?«
Er lächelte. »Keine Sorge, ich werd niemandem was sagen. Die haben im Fernsehen ein Foto von ihm gezeigt, ich hab ihn auf Anhieb erkannt.«
»Wie lauten die neusten Nachrichten?«
»Er ist bei Bewusstsein. Die Polizei befragt ihn. Bislang läuft das Gespräch so einseitig, als würde man Der Preis ist heiß in einem Nonnenkloster veranstalten.«
Ich nickte erleichtert. »Archie«, sagte ich, »könnten Sie ins Krankenhaus fahren und sagen, sie wären ein Freund von ihm?«
»Sie wollen, dass ich ihn besuche?«
»Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Adresse sagen, wird er wahrscheinlich bereit sein, sich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Schön, meinetwegen, und was soll ich ihm sagen?«
»Sagen Sie ihm, dass es uns gutgeht. Sagen Sie ihm, dass heute der Tag X ist. Das könnte ihn etwas aufmuntern.«
Er kniff ein Auge zu. »Macht mich das zum Komplizen?«
»Komplizen bei was?«
»Tja...« Er kratzte sich am Kopf. »Vor sechs kann ich den Laden nicht dichtmachen.«
»Heute Abend wäre okay. Das wäre perfekt.«
Ich versuchte, ihm einen Zwanziger für seine Mühe aufzudrängen, aber er nahm ihn nicht an.
»Seien Sie vorsichtig da draußen«, sagte er zu mir.
»Das werd ich, Archie, das werd ich.«
 
»Ich find dieses Auto zum Kotzen«, sagte Spike. »Das ist die langweiligste Karre, in der ich je gesessen habe. Punkt.«
Wir parkten auf dem Hügel, hundert Meter oberhalb von Provosts Haus. Wir beobachteten es schon seit einer Weile, während Spike mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte.
»Ich würde sagen, wir gehen zu meinem Plan über.« Spikes Plan war simpel. Er würde an Provosts Haustür gehen und klingeln.
»Wie die Avon-Beraterin«, sagte er.
Der Plan ging von zwei Voraussetzungen aus: der Tatsache, dass Provost, Kline und die anderen Spike nicht kannten, und der Hoffnung, dass Spike gegebenenfalls imstande sein würde, eine glaubwürdige Ausrede dafür zu finden, dass er da klingelte.
Wir stimmten ab: zwei zu eins für ja. Ich war die einsame Gegenstimme. Also stieg Spike aus dem Auto und trabte die steile Straße hinunter.
»Was ist los?«, fragte Bel.
»Ich werd einfach das Gefühl nicht los, dass wir unseren Joker ein bisschen zu früh ausspielen.« Sie verstand nicht, was ich meinte, also erklärte ich es ihr. »Spike ist unsere Geheimwaffe. Wenn sie ihn durchschauen, heißt es für uns ›zurück auf Los‹.«
Sie lächelte. »Kommst du da nicht mit deinen Kartenund deinen Brettspielen ein bisschen durcheinander?«
Ich warf ihr einen schiefen Blick zu, als hätte ich auf etwas Hartes gebissen, und tastete mit der Zunge meine Backenzähne nach etwaigen Schäden ab. Dann schaute ich wieder nach vorn, ob Spike zurückkam.
Es dauerte nicht lange, bis wir ihn den Hang wieder heraufjoggen sahen. Er warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete, stieg dann ein und ließ den Motor an.
»Es ist kein Mensch da«, teilte er uns mit. »Ich hab mich ein bisschen umgeschaut, nix. Die Vorhänge sind zugezogen, aber auch so konnte ich erkennen, dass niemand zu Haus ist.«
»Dann ist er auf die Halbinsel gefahren«, sagte Bel.
»Sieht so aus. Es sei denn, er ist zum Supermarkt, um seine monatlichen Einkäufe zu erledigen.«
Dann war’s also so weit. Wir brachen auf, zum Showdown mit Provost und Kline. Ich fühlte mich kraftlos und ließ den Kopf auf die Rückenlehne sinken, froh, die Fahrerei Spike überlassen zu können. Er schaltete das Radio ein und fand einen Rocksender. Springsteen: »Born in the USA«. Spike drehte die Lautstärke voll auf und grölte zum verzerrten Sound mit.
Es war schon entschieden, dass wir die lange Route zur Halbinsel nehmen würden, erst nach Süden durch Tacoma und dann wieder rauf nach Norden.
»Spike«, sagte ich, »wir sind dir für die Hilfe wirklich dankbar.«
»Mann, ich helf euch nicht, ich mach Urlaub
»Und, wie war er bislang?«
»Besser als Disneyworld, das kann ich dir versichern.«
»Ich weiß nicht, ob das eine Empfehlung ist.«
Er grinste mit seinen nahezu vollkommenen Zähnen. »Das ist es, glaub’s mir. Wir sollten alle zusammen dahin, wenn wir das hier erst mal hinter uns haben.«
»Wer weiß?«, sagte ich leise. Wir erreichten Port Angeles und verließen es dann wieder in Richtung Pioneer Memorial Museum.
Wir hielten am südlichen Stadtrand, in der Nähe der Parkverwaltung. Dann setzten wir meinen Plan in die Tat um.
Bel schaffte es, die Aufmerksamkeit von zwei Forsthütern zu erregen, die gerade aus dem umzäunten Parkplatz herausgefahren kamen. Die beiden begleiteten sie zu unserem Auto zurück, wo Spike und ich sie mit einem Lächeln und einem Nicken begrüßten.
»Gibt’s ein Problem?«, fragte der eine von beiden liebenswürdig.
»Ja, das hier«, sagte Spike und richtete die Ingram auf die Brust des Mannes. Der Mann, das musste man ihm lassen, erkannte das Problem sofort. Nicht wir hatten ein Problem, er hatte eins. Wir ließen ihn und seinen Partner in den Chrysler einsteigen, während Bel sich ans Steuer des Jeeps setzte. Ein Stück weiter außerhalb der Stadt bogen wir auf einen Waldweg ab und zogen den Park-Service-Männern die Uniformen aus.
»Herrje, musstest du unbedingt Laurel und Hardy aussuchen?«, beschwerte sich Spike bei Bel. Er hatte erhebliche Schwierigkeiten damit, überhaupt in seine Uniform hineinzukommen, während meine wie Wäsche an einem Kleiderbügel schlackerte. Wir hatten es schon andersherum probiert, aber es war noch schlimmer gewesen.
Wir verschnürten die Forsthüter zu ordentlichen Bündeln und ließen sie im Chrysler liegen - den einen vorn, den anderen im Fond. Wir schafften unsere Sachen in deren Wagen, und Bel legte sich, unter einer schottisch karierten Decke versteckt, auf die Rückbank.
»National Park Service«, sagte Spike, während er sich ans Steuer setzte. »Freund und Beschützer von Wild und Wald.« Er lachte. »Wir werden denen schon zeigen, was ›wild‹ wirklich bedeutet.«
Dann setzte er zurück bis zur Straße. Wir bogen auf die 101 in westlicher Richtung. Acht Kilometer jenseits der Stadtgrenze gabelte sich die Straße, aber wir fuhren auf der 112 weiter in westlicher Richtung. Direkt nach der Abzweigung sahen wir sie.
Am Straßenrand parkte ein Geländewagen, und daneben standen zwei Männer. Sie waren ein so auffälliger Wachposten, wie wir ihn uns nur hätten erträumen können. Wir diskutierten, ob wir halten und sie ansprechen sollten - Spike meinte, das würde, wenn schon nichts anderes, eine Bewährungsprobe für unsere Verkleidung werden. Aber ich setzte mich durch, und wir fuhren weiter. Wenn wir sie ausgeschaltet hätten, wäre ihr Ausfall möglicherweise bemerkt worden. Und wir brauchten Zeit, um alles vorzubereiten. Also ließen wir sie da stehen und sagten uns, dass selbst, wenn sie zum Hauptquartier der Disciples gerufen werden sollten, es eine halbe Stunde dauern würde, bis sie dort ankämen. Ich nahm nicht an, dass wir mehr als eine halbe Stunde brauchen würden. Spike meinte natürlich, dass wir, wenn wir nach seinem Plan vorgegangen wären, nicht mehr als fünf Minuten gebraucht hätten.
Wenn Sie je den Napalmangriff in Apocalypse Now gesehen haben, dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung von dem, was ihm so vorschwebte.
 
Ich kauerte im Wald und betrachtete die Welt durch mein Nachtsichtgerät. In der Siedlung der Disciples gingen seltsame Dinge vor sich.
Oder besser gesagt, es ging gar nichts vor sich.
Und das fanden wir seltsam.
Es war nicht so, dass alle sich für die Nacht zurückgezogen hätten. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass die meisten Hütten leer standen. Spike und Bel hatten einen Erkundungsrundgang gemacht und nach ihrer Rückkehr berichtet, dass nirgendwo Fahrzeuge zu sehen seien. Na ja, wenigstens eins konnte ich schon sehen: Klines Lincoln. Er versuchte, sich zwischen zwei Hütten zu verstecken. Weitere Autos konnte allerdings auch ich nicht entdecken.
Dafür gab es nur eine einleuchtende Erklärung: Jemand hatte die Disciples weggeschickt. Und warum hätte er das tun sollen? Logischerweise, weil sie dort unerwünscht waren. Und das konnte in meinen Augen nur eines bedeuten: Die Disciples wussten überhaupt nicht, was da ablief, und Kline und seine Männer wollten nicht, dass sie es mitbekamen.
Ich konzentrierte mich nicht auf die alte Hütte, diejenige, in der mich Nathan überrascht hatte, sondern auf die kleinere daneben. Dort brannte das einzige Licht. Es sah nach einer Öl- oder Gaslampe aus, und es verbreitete einen matten gelben Schein. Der Kriegsrat fand eindeutig in dieser Hütte statt. Ich wartete darauf, dass die Krieger ins Freie kamen.
Währenddessen suchte ich mit dem Zielfernrohr den Rest des Geländes ab. Es war stockfinster, aber meinem rechten Auge erschien die Welt als ein roter Dämmer, der von einem schwarzen Fadenkreuz gevierteilt wurde. Alles war still. Geräusche trugen hier draußen weit, und ich hörte tatsächlich ein fernes Knarren, als die Tür aufging.
Ich richtete das Sichtgerät wieder auf die Hütte und sah, wie ein Mann in der Tür erschien. Es war einer von Klines Männern, und er rauchte eine Zigarette. Weitere Männer tröpfelten nach und nach auf die Veranda heraus und steckten sich ebenfalls eine an. Provost war offenbar Nichtraucher. Sie hatten mit ihm in einem Raum gesessen, und jetzt hielten sie es nicht mehr aus. Sie waren zu sechst. Drei meinte ich, von Oban her wiederzuerkennen, drei hatte ich noch nie gesehen. Provost und Kline mussten noch immer in der Hütte sein. Wieder ging die Tür auf, und es trat noch jemand ins Freie.
Eine Frau.
Ich erkannte sie an ihrer Figur. Es war Alisha, Provosts Stellvertreterin und Geliebte. Sie griff nach einer ihr angebotenen Zigarette und unterhielt sich mit den Männern.
Sie sprachen gedämpft, trotzdem konnte ich ihre Stimmen hören, auch wenn ich die Worte nicht verstand. Die Männer trugen Anzüge. Unter den Jacketts verbargen sich mit Sicherheit Pistolen, aber sie waren noch besser gerüstet. Zwei von ihnen hatten ihre M16 gegen die Hauswand gelehnt, während sie ihre Zigaretten rauchten. Sie starrten dabei die ganze Zeit in die Ferne, größtenteils in meine Richtung. Aber ich wusste, dass sie von da aus, wo sie standen, nichts sehen konnten. Sie konnten bestenfalls Bewegungen wahrnehmen, und das Einzige, was sich momentan bewegte, waren die Zweige der Bäume, durch die der Wind strich.
Ich wartete, aber Kline und Provost kamen nicht heraus. Ebenso wenig ließen sie sich am Fenster blicken. Ich stellte das Zielfernrohr eine Spur schärfer und fühlte mich besser. Das Sichtgerät war an der Varmint befestigt, und die Varmint hatte ihre fünf Patronen im Magazin. Ich hatte kein Schutzpolster an der Schulter. Es war mir egal, ob ich blaue Flecken bekam. Blaue Flecken wären im Moment mein geringstes Problem gewesen.
Ich hörte hinter mir ein Rascheln.
»Und?«, flüsterte Spike.
»Bislang zähle ich sechs Männer. Ich habe weder Provost noch Kline gesehen, aber da ist noch eine Frau. Das macht also insgesamt neun.«
»Und sieben davon können wir direkt ausknipsen«, meinte Spike.
»Kline hätte ich gern lebendig... zumindest, bis er geplaudert hat.«
»Dann sollten wir uns besser eine Autobatterie und zwei Elektroden besorgen. Ich meine, bloß aus Spaß an der Freude wird er kaum plaudern.«
Da war was dran. Bel hatte weniger Lärm gemacht als Spike. Sie stand mit einem Mal auf meiner anderen Seite. Wir trugen alle drei Sturmmützen und Kriegsbemalung: grün und schwarz, nur für den Fall, dass sie irgendwo Scheinwerfer aufgestellt hatten. Bislang verließen sie sich auf die Dunkelheit. Aber sie konnten jederzeit ihre Taktik ändern und Festbeleuchtung im Wald veranstalten. Wenn sie uns ins Rampenlicht stellten, dann waren sie selbst natürlich genauso gut ausgeleuchtet. Aber anders als sie, waren wir getarnt. Wir trugen grün-schwarz gefleckte Jacken und grüne Hosen. Wir sahen hundertprozentig profimäßig aus, auch wenn wir uns nicht so fühlten. Spike war zwar in seinem Element, aber die Tarnflecken auf Bels Gesicht tarnten lediglich die Tatsache, dass sie käsebleich war. Selbst ihre Lippen waren blutleer.
Ich für meinen Teil hatte zwar keinen Tatterich mehr, wollte aber nach wie vor auf Nummer sicher gehen. Ich war kein Söldner, auch wenn ich etliche von der Sorte näher kennengelernt hatte. Ich war weder Action Man noch GI Joe. Ich war nicht Spike.
»Was ist mit den ganzen Hippies?«, fragte er.
»Haben sich verzogen.«
»Perfekt. Wunderbar.« Er fixierte mich. »Ich hab sie dabei, Mann«, flüsterte er. Er hielt vier kurze, dicke Zylinder in die Höhe.
»Das sagtest du bereits ein paarmal.«
»Wann ziehen wir’s durch?«
Ich sah Bel an, und sie nickte. »Jetzt«, erwiderte ich.
»Schön, dann los«, sagte Spike und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Bel und ich starrten uns eine Zeit lang an. Ich wollte sie küssen, und ich glaube, sie wusste das. Aber sie lächelte nur und nickte noch einmal, drückte mir dann die Schulter und schlich in die entgegengesetzte Richtung davon.
Jetzt war ich dran. Ich legte mir den Kolben der Varmint wieder an die Schulter und warf einen Blick durch die Optik. Ich wusste, dass ich Spike und Bel ein, zwei Minuten Vorsprung geben musste. Die Wachen hatten ihre Zigaretten ausgeraucht. Jetzt drehten sie Däumchen. Es gefiel mir, wie sie auf der Veranda aufgereiht standen - wie Schießbudenfiguren auf der Kirmes. Ich hörte das plötzliche Knistern eines Funkgeräts und sah, wie einer von den Männern ein Walkie-Talkie aus der Tasche zog. Ich war jetzt froh, dass wir die Männer am Checkpoint nicht abgeknallt hatten. Das hätte uns nur ein Empfangskomitee beschert.
Andererseits hätte ein Empfangskomitee sofortige Action bedeutet - statt dieses nervenzermürbenden Wartens.
Ich zählte bis dreißig. Dann noch einmal.
Als ich zum zweiten Mal neunundzwanzig erreichte, begann ich zu feuern. Ich bin zwar kein Hochgeschwindigkeitsschütze, aber ich wusste, dass ich so viele Wachen wie möglich ausschalten musste. Ich versuchte keine Kunststücke, bemühte mich lediglich, meine Ziele zu treffen, egal an welcher Körperstelle.
Schon nach den ersten zwei Schüssen hatten sie mich geortet. Das ist der Nachteil, wenn man bei Nacht ohne Mündungsfeuerdämpfer schießt. Sie sahen den zweiten Blitz aus meinem Lauf. Nützte ihnen natürlich nicht viel, nicht auf diese Distanz. Sie feuerten nach wie vor auf bloße Schatten, während ich sie einen nach dem anderen abknallte. Zwei waren schon umgefallen, als die erste von Spikes Magnesiumfackeln auf dem Boden landete. Er musste sich selbstmörderisch nah herangeschlichen haben, um sie so dicht vor die Hütte platzieren zu können. Er warf zwei weitere. Sie brannten pink-orange und produzierten jede Menge Rauch. Ich feuerte die letzten drei Patronen aus meinem Magazin ab, bevor der Rauch zu dicht wurde. Die Männer hatten zunächst versucht, sich in die Hütte zurückzuziehen, schienen aber dann den Befehl erhalten zu haben, sich auf dem Gelände zu verteilen.
Und das war genau das, was wir erwartet hatten. Deswegen hatte sich Spike weit auf die eine Seite geschlagen und Bel, mit zwei Pistolen bewaffnet, auf die andere. Die Wachen gaben jetzt abgehackte Feuerstöße ab. Von irgendwo hörte ich das unverkennbare Geräusch von Spikes Ingram, die das Feuer erwiderte. Ich nahm das Nachtsichtgerät ab, legte die Varmint auf den Boden, griff mir meinen Colt Commando und ging zum Angriff über.
Das Gelände war mittlerweile ganz von Rauch und farbigem Funkensprühen erfüllt, aber die Brise zerstreute den Rauch ebenso schnell, wie er sich bildete. Ich beschloss, jedem, der noch in der Hütte sein mochte, ein bisschen Angst einzujagen, legte an und schoss ein paarmal. Die Wände bestanden aus dünnen, auf Pfosten genagelten Holzplanken. In Filmen konnten solche Wände Kugeln aufhalten, aber nicht im wirklichen Leben. Ich durchsiebte die Planken, bis ich Licht durch die Löcher dringen sah. Dann löschte jemand die Lampe. Ich hatte hoch gezielt und angenommen, dass jemand, dem sein Leben lieb war, sich ducken oder platt auf den Boden legen würde. Ich hoffte, niemanden getroffen zu haben, den ich vorläufig unverletzt brauchte. Dann wurde mir etwas klar.
Mir wurde klar, dass ich das einzige Ziel war, das die Wachen hatten. Eine Pistolenkugel sirrte an meinem Kopf vorbei. Ich ging in die Hocke und antwortete mit einem Feuerstoß aus dem Colt. Ich traf den Schützen dreimal in die Brust, so dass er nach hinten flog und auf dem Rücken landete. Jetzt konnte ich Bel hören, die in kurzen schnellen Sequenzen schoss, genauso, wie man es ihr beigebracht hatte. Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, wie Tanzschritte. Und Spike, Spike war wieder auf dem Schießplatz in Texas, verballerte sinnlos Patronen, aber machte immerhin viel Lärm. Sie mussten glauben, dass eine ganze Armee auf sie losging. Und es funktionierte: Die Wachen schossen zwar, zogen sich aber gleichzeitig zurück. Und wenn man im Gehen schießt, ist Treffen reine Glückssache. Ich rührte mich nicht von der Stelle und gab mit dem Colt einen weiteren Schuss ab. Im Sturmgewehr steckte ein Dreißig-Schuss-Magazin. In der Tasche hatte ich noch ein paar Ersatzmagazine.
Dann ging das vordere Fenster der Hütte in Scherben, und jemand begann, durch die Öffnung zu feuern. Ich hörte ein dumpfes Wumm! und begriff, dass sie Granaten abschossen. Ich warf mich blitzschnell zur Seite, landete flach auf der Erde und begann vorwärtszurobben. Die Granate explodierte weit hinter mir, aber der Druck hob mich trotzdem in die Luft. Ich spürte, wie sich der Boden unter meiner Brust aufwölbte, so als ob die Erde tief einatmete, und die Druckwelle riss mir die Beine hoch.
Ich lag flach da und fing an zu feuern, aber schon nach wenigen Schüssen war das Magazin leer. Das Nachladen kostete mich ein paar Sekunden, und in der Zwischenzeit hatte ein weiterer dumpfer Knall die nächste Granate angekündigt. Ich robbte ein Stück weiter. Diesmal war die Explosion schon erheblich näher. Sie machte mich taub und rüttelte mir den Schädel durch. Ich rollte mich seitwärts ab und immer weiter, während Erdklumpen und Rindenstücke auf mich herabprasselten. Ich hatte nur noch ein wattiges Summen in den Ohren, und dahinter war ein fernes Geknalle zu hören.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und mir wurde bewusst, dass mich etwas getroffen hatte. Ein Stein oder so. Mein linker Arm war vom Schlag betäubt. Ich biss mir in die Finger in der Hoffnung, wieder etwas Gefühl hineinzukriegen. Dann stand ich auf und eröffnete erneut das Feuer. Vor mir lagen drei Körper. Sie gaben keinerlei Lebenszeichen von sich. Zwei hatte ich auf der Veranda getroffen; wer den Dritten erwischt hatte, wusste ich nicht.
Dann entdeckte ich eine weitere Gestalt, die durch den Schatten huschte. Ich schaute durch das Nachtsichtgerät und erkannte Spike. Er wusste, dass ich ihn sehen konnte, und gab mir mit Daumen und Zeigefinger das O.k.-Zeichen. Auch wenn er mich nicht erkennen konnte, erwiderte ich das Zeichen. Ich feuerte ein weiteres Mal in Richtung Hütte. Der Granatwerfer schwieg diesmal, was wohl bedeutete, dass Kline nur über die zwei Geschosse verfügt hatte. Jetzt hörte ich eine Frau kreischen und zwei Männer schreien. Ich richtete das Nachtsichtgerät nach rechts, aber von Bel war nichts zu sehen.
Dann flog die Tür der Hütte auf, und Alisha kam herausgetaumelt.
»Nicht schießen!«, schrie sie. »Ich bin unbewaffnet!« Sie stöhnte und hielt sich den Arm fest. Sie schien einen Streifschuss abbekommen zu haben.
»Alle raus aus der Hütte!«, rief ich. Meine Stimme klang, soweit ich das beurteilen konnte, durchaus fest. »Alle raus aus der Hütte, sofort!«
Spike war näher gekommen und rief Bels Namen. Keine Reaktion.
»Geh sie suchen«, befahl ich, ohne Panik in meiner Stimme zuzulassen. Ich zog eine langsam brennende Handfackel aus der Tasche, steckte sie in die Erde, entzündete sie und rückte sofort von ihr ab. Spike ging um die Ecke der Hütte. Ein Mann erschien in der Tür. Es war Jeremiah Provost. Er hielt die Hände hoch. Jetzt, wo die Fackel die Szene erhellte, sah ich, dass er Blut auf seinem weißen Hemd hatte. Aber es schien lediglich ein Fleck zu sein, und ich vermutete, dass es nicht sein, sondern Alishas Blut war.
»Hinlegen, Alisha«, befahl ich. »Und warum legen Sie sich nicht dazu, Provost?«
»Wer sind Sie?« Er rührte sich nicht von der Stelle. »Was wollen Sie?«
Plötzlich ertönte ein Pistolenschuss, und Spike, der inzwischen zurückgekommen war, sackte zu Boden. Ich rannte auf ihn zu und erkannte dann meinen Fehler. Ich drehte mich halb um, gerade rechtzeitig, um Alisha eine Pistole, die offenbar unter ihr gelegen hatte, auf mich richten zu sehen. Ich schoss ihr mit dem Colt in den Kopf. Mehr als ein Schuss war nicht nötig.
Dann drehte ich mich wieder um und sah, dass Kline über Spikes reglosen Körper stieg. Er zielte mit einer Pistole auf meinen Kopf. Ich duckte mich und feuerte gleichzeitig. Er fiel vornüber und landete auf dem Boden. Hinter ihm trat Bel aus der Dunkelheit. Aus der Mündung ihrer Pistole stieg dünner Rauch auf. Klines blutdurchtränkter Hinterkopf zeigte, wo ihre Kugel ihn getroffen hatte.
Sie fiel auf Hände und Knie und übergab sich.
»Sind noch welche übrig, Bel?«
Sie brachte es fertig, den Kopf zu schütteln. Ich richtete den Colt auf Provost. Er war die Stufen vor der Hütte heruntergestiegen und kauerte neben Alisha.
»Warum?«, fragte er und wiederholte das eine Wort immer wieder. Ich ließ ihn da hocken und sah mich in der Hütte um. Sie war leer. Das rückwärtige Fenster, durch das Kline herausgeklettert war, stand weit offen. Es roch nach Wald und Kordit. Ich ging wieder hinaus und sah Bel neben Spike auf dem Boden knien. Sie strich ihm über die Stirn.
»Er ist am Leben«, sagte sie. »Sollen wir ihn wegtragen?«
»Wird vielleicht besser sein.«
Ich sah ihn mir an. Seine ganze Brust war von warmem, klebrigem Blut bedeckt. Es war ein glatter Durchschuss gewesen, in die Brust rein und hinten wieder raus. Wenn er ein wenig weiter weg gestanden hätte, wäre die Kugel vielleicht stecken geblieben oder in seiner Brust aufgepilzt. Ich wusste nicht, ob er überleben würde.
»Gibt es hier eine Trage?«, fragte ich Provost. Er sah mit Tränen in den Augen zu mir auf und formte lautlos das Wort »Warum?«
»Ich werde Ihnen verraten, warum. Weil sie eine Pistole hatte. Warum hatte sie eine Pistole? Weil sie kein Disciple of Love war, sondern für Kline arbeitete, genauso wie Nathan es getan hatte. Wussten Sie, dass Nathan Klines Bruder war? Wussten Sie, dass er Nathan Kline hieß? Nein?« Provost schüttelte den Kopf. »Das steht aber in den Akten in Ihrem eigenen Büro. Wie kommt’s, dass Ihre geliebte Alisha Ihnen nichts davon gesagt hat? Machen Sie sich selbst einen Reim darauf, aber zuerst will ich wissen, ob Sie einen Erste-Hilfe-Kasten und eine Trage haben!«
Er starrte mich an. »Keine Trage«, sagte er. »Im Büro gibt’s was für Erste Hilfe.«
Ich wandte mich zu Bel. »Geh und hol’s.« Spike atmete hastig und gequält, aber er atmete. Ich beugte mich wieder über ihn. Er hatte die Augen in äußerster Konzentration geschlossen. Er konzentrierte sich darauf, am Leben zu bleiben.
»Spike«, sagte ich, »vergiss nicht, du kannst es dir nicht leisten zu sterben. Ich glaube, ich sollte dir besser die Wahrheit sagen, Spike. Es gibt gar keine Schießeisen im Himmel.«
Beinahe hätte er gelächelt, aber er konzentrierte sich zu sehr auf etwas anderes.
Ich ging zu Provost und sah auf ihn hinunter.
»Zeit zu reden«, sagte ich.
»Wir hätten auch ohne das alles reden können.«
»Ich hab’s nicht so gewollt, Provost, Kline hat es so gewollt. Ihr Mann hat es so gewollt.«
»Mein Mann?« Er sprach so, als wäre sein Mund voller Galle. »Kline war nicht mein Mann.«
»Was war er dann?«
»Er hat früher für den NSC gearbeitet. Von dem Verein schon mal was gehört?«
»Ein bisschen.«
»Sie haben ihn nach einem Unfall in den Ruhestand versetzt. Der Unfall war ich.«
»Ich verstehe nicht.«
»Werden Sie schon noch.« Er stand auf. »Glauben Sie wirklich, dass Alisha für Kline arbeitete?«
»Das heißt aber nicht, dass sie Sie nicht liebte.«
Er blickte mich wütend an. »Kommen Sie mir bloß nicht gönnerhaft, Mr. West. Kline hat mir von Ihnen erzählt. Er sagte, Sie würden mich suchen. Er hat leider nicht näher spezifiziert, warum.«
»Ein paar Fragen, das ist alles.«
Er wandte sich von mir ab und setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt, auf die Vortreppe der Hütte. »Dann schießen Sie los«, sagte er, ohne den Kopf zu heben.
Losschießen? Ich wusste kaum, wo ich anfangen sollte. Bel war mit dem Erste-Hilfe-Kasten zurückgekommen und versuchte, Spikes Blutung zu stillen. Ich ging zur Treppe und stellte mich vor Provost. Ich hatte Sam Clancys Minirekorder aus der Tasche gezogen und schaltete ihn jetzt ein.
»In London wurde eine Frau getötet«, sagte ich. »Ihr Name war Eleanor Ricks. Sie war Journalistin und stellte Recherchen über die Disciples of Love an.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie haben nicht ihre Ermordung angeordnet?«
»Nein.«
»Dann hat Kline auf eigene Faust gehandelt.«
Jetzt schaute er zu mir auf. »Sie haben sie getötet?«
»Ja.«
»Dann beantworten Sie mir eine Frage: Warum sollte Kline jemanden dafür bezahlen, dass er den Job erledigt, wenn er seine eigene Söldnertruppe hat?«
Das war eine gute Frage. Ja, so gut, dass ich keine Antwort darauf hatte …
 
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Sagen Sie es mir.«
Provost lächelte. »Ich kann’s Ihnen auch nicht sagen. Ich kann Ihnen lediglich sagen, was Kline mir sagte: Er hätte nicht die leiseste Ahnung, warum Sie herumschnüffelten. Er hätte keinen Mord in Auftrag gegeben, und er fragte sich selbst, wer das getan haben konnte. Als Sie anfingen, Fragen zu stellen, wurden Sie zu einer Bedrohung.«
»Er hat Journalisten töten lassen, stimmt’s? Er wollte Sam Clancy erschießen lassen.«
»Kline hatte kein besonders stark ausgeprägtes Gewissen, falls Sie das meinen.«
»Aber was versuchte er zu schützen? Warum hat er Sie so abgeschirmt?«
»Der Grund war Geld, Mr. West, was sonst? Oh, ich meine damit nicht, dass er in meinem Sold stand. Ich meine, er bezahlte einmal mich, und seitdem hat er für diesen einen Fehler bezahlt.« Er warf einen Blick auf Klines leblosen Körper. »Und die Abschlussrate war heute Nacht fällig.«
»Ich versteh immer noch nicht.«
»Kline arbeitete für eine Abteilung des NSC, deren Aufgabe es war, die nicaraguanischen Contras finanziell zu unterstützen. Das war Mitte der achtziger Jahre. Er schaffte es, dem... ich weiß auch nicht, dem Sultan von irgendwo, irgendeinem Land im Mittleren Osten, also dem jedenfalls zehn Millionen Dollar abzuschwatzen. Damals besaß ich ein bisschen Geld. Alle nasenlang starben irgendwelche älteren Verwandten. Wurde allmählich langweilig, ständig auf Beerdigungen gehen zu müssen. Ich fand, mein Geld sollte meine Angelegenheit bleiben, also legte ich ein Nummernkonto in der Schweiz an.«
»Reden Sie weiter.«
»Es war für Kline ein ziemlicher Erfolg, so viel Geld für die Contras an Land gezogen zu haben, aber er wusste nicht so recht, was er damit anstellen sollte. Jemand vom NSC, und ich sage nicht, dass es Colonel Oliver North war, schlug vor, es auf ein Bankkonto einzuzahlen, bis es seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden könne.«
»Ein Schweizer Bankkonto?«
»Und so ein Konto hatte der NSC. Nur traten jetzt die Götter des Schicksals und der Ironie auf den Plan. Kline verschrieb sich, als er sich die Kennnummer des Kontos notierte. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich beschloss, meinen Kontostand abzufragen, aber eines Dienstagmorgens Schweizer Zeit rief ich meine Bank an und erfuhr die exakte Höhe meines Guthabens. Der Betrag kam mir höher vor, als ich ihn in Erinnerung hatte - so rund zehn Millionen höher. Ich fragte den für mein Konto zuständigen Bankmenschen, was die Kündigungsfrist für eine große Abhebung sei.«
Hier verstummte Provost.
»Sie haben die ganzen zehn Millionen abgehoben?«
»Nein, am Ende habe ich sie nur auf ein neues Konto transferiert.«
»Oha.«
»Es war Klines Fehler gewesen. Er bekam den Auftrag, mich zur Räson zu bringen - wie diskret Schweizer Banken auch sein mögen, der NSC hat Mittel und Wege, jeden aufzuspüren. Wir gelangten zu einem Kompromiss. Ich gab die Hälfte des Geldes zurück. Die andere Hälfte behielt ich.«
»Und er ist darauf eingegangen?«
»Es blieb ihm nicht viel anderes übrig.«
»Er hätte Sie töten können.«
Provost lächelte. »Ich habe den NSC nicht in meinem Testament bedacht, Mr. West. Er wäre dadurch trotzdem nicht ans Geld gekommen. Außerdem waren seine Vorgesetzten wütend auf ihn. Sie hätten eine so schmutzige Lösung unter keinen Umständen sanktioniert.«
»Also haben sie ihn mit Arschtritt hinausbefördert?«
»Nein, sie haben ihn mit Arschtritt in den Schatten verbannt. Sein neuer Auftrag lautete, dafür zu sorgen, dass niemand je etwas über die Sache erfahren würde.«
»Und das bedeutete, Reporter davon abzuhalten, zu tief zu buddeln?«
»Exakt.«
»Was auch der Grund ist, warum Eleanor Ricks aufgehalten werden musste.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s Ihnen schon gesagt, Kline bestritt das. Und er hat nie aufgehört, es zu bestreiten.«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Vielleicht hat ja jemand anders Ihre Dienste in Anspruch genommen.«
»Ja, aber ich bin...«
Er erriet meine Gedanken. »Sie sind um die halbe Welt gereist und haben all diese Menschen getötet und sind trotzdem keinen Schritt weiter?«
Ich nickte. Mir drehte sich alles. Meine Ohren spielten weitgehend wieder mit, aber das nützte mir nichts. Das Ganze wollte mir einfach nicht in den Kopf.
»Zwei Ziffern«, redete Provost inzwischen weiter, »mehr hat es nicht gebraucht. Kline war kein begnadeter Stenotypist. Er hat versehentlich zwei Ziffern der Kontonummer umgestellt. Und so begab es sich, dass der NSC die Disciples of Love finanzierte. Das, Mr. West, ist der Grund, warum der Sicherheitsrat die Sache geheim halten muss. Er hat eine religiöse Sekte finanziell unterstützt, und die Zinsen seiner Schenkung finanzieren sie nach wie vor.«
»Wo sind die Beweise?«
»Oh, Beweise habe ich.«
»Wo?« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben sollte. Das konnte noch nicht alles sein. Er schien Probleme mit seinem Erinnerungsvermögen zu haben, also kitzelte ich ihm das Kinn mit dem Colt.
»Vergessen Sie nicht, womit ich mir meine Brötchen verdiene, Provost.«
»Wie könnte ich das vergessen? Es gibt Dokumente in meinem Wandsafe, und Kopien davon hat mein Anwalt.«
Vielleicht lag es am Wort »Anwalt«. Ich spürte fast körperlich, wie es in meinem Kopf klick machte.
»Sie werden Ihren Safe für mich öffnen.«
»Der ist nicht hier, er ist in meinem Haus in Seattle.«
»Schön, dann fahren wir eben dahin.«
»Ich will hierbleiben. Die Kombination ist leicht zu finden. Ich kann sie mir nie merken, deswegen habe ich sie auf einem Notizblock neben dem Telefon stehen. Sie ist als australische Telefonnummer notiert.«
Ich wollte das mit eigenen Augen sehen, musste irgendeinen Beweis für die Wahrheit seiner Geschichte in den Händen halten. Selbst dann würde es nicht genug sein. Ich hatte das alles durchgemacht und Bel und Spike mit hineingezogen, und trotzdem gab es noch immer keine Antwort - jedenfalls keine, die mir Provost hätte liefern können.
Es ertönte ein Schuss. Ich wirbelte mit dem Colt herum. Der dritte Wachmann hatte sich von dort, wo Spike ihn vermutlich liegen gelassen hatte, hierhergeschleppt. Seine ganze Brust war blutig. Dadurch, dass ich das bisschen Leben ausknipste, das noch in ihm steckte, machte ich die Sache auch nicht viel schlimmer. Ich raubte ihm lediglich ein paar Minuten, das war alles.
Doch als ich mich wieder Provost zuwandte, stellte ich fest, dass er einen Herzschuss abbekommen hatte. Die Wache hatte auf ihn gezielt, nicht auf mich. Zweifellos ein Endlösungsbefehl von Kline. Ich fing den Körper auf und ließ ihn behutsam auf die Erde gleiten. Bel blickte kaum von ihrer Arbeit auf. Sie hatte Spike so gut es ging verbunden.
»Er verliert noch immer Blut«, erklärte sie. Nachdem ich nach Provosts Puls gefühlt und keinen gefunden hatte, ging ich zu ihr. Dann sah ich den Wagen, der zwischen den Hütten stand. Das Heckfenster war zerschossen, aber die Reifen waren intakt. Ich tastete Klines Taschen ab und fischte die Autoschlüssel heraus; dann fuhr ich den Wagen rückwärts auf die Lichtung.
Mit Bels Hilfe hob ich Spike in den Fond. Er stöhnte und zuckte ein bisschen, also wiederholte ich, was ich ihm schon über Schießeisen und Himmel gesagt hatte. Dann stiegen wir ein und fuhren los.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Bel.
»Bringen Spike ins Krankenhaus.«
»Aber danach? Ich hab gehört, was dieser Mann da gesagt hat. Er meinte, wir seien völlig umsonst hergekommen. Er sagte, alle diese Menschen... und mein Vater... wären wegen nichts gestorben!«
Ich sah sie an. Sie weinte. »Vielleicht hat er gelogen. Vielleicht... Ich weiß auch nicht.«
Unterwegs kam uns ein Auto entgegen, das mit Vollgas in Richtung Lake Crescent fuhr. Das waren die Straßenposten. Sie würdigten uns keines Blickes. Ich bog von der Straße ab und fuhr dorthin zurück, wo wir die Forsthüter zurückgelassen hatten. Unser Anblick schien ihnen einen Heidenschrecken einzujagen. Ich zog sie aus dem Chrysler heraus und setzte sie, Rücken an Rücken, auf den Boden.
»Du fährst Spike ins Krankenhaus«, sagte ich.
»Und du?«
»Ich fahr zu Provosts Haus.«
Sie sah mich an. »Glaubst du, du findest dort, wonach du suchst?«
»Ich weiß ja nicht mal, wonach ich suche, Bel. Kümmer dich um Spike, okay?« Dann küsste ich sie und stieg in den Chrysler.
Während der Rückfahrt nach Seattle schaffte ich es, Amerika aus meinen Gedanken zu verbannen. Stattdessen dachte ich an London, bis ganz an den Anfang der Geschichte, und an Scotty Shattuck. Warum hatte ich nicht auf seine Rückkehr gewartet? Er war der Schlüssel zu der ganzen Sache. Meine Ungeduld hatte mich in die falsche Richtung gelenkt. Seit dem Augenblick hatte ich in allem falsch gelegen.
Vielleicht lag ich immer noch falsch, aber ich fuhr weiter.
Bis aufs Blut - Thriller
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