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Und es gab noch etliche Entscheidungen zu
treffen.
Sollten wir zum Beispiel in Seattle Zwischenstation
machen, um uns zu vergewissern, dass Provost wirklich zum Lake
Crescent gefahren war?
Sollten wir auf der Halbinsel als Erstes dem Haus
am Hood Canal einen Besuch abstatten? Auf die Art hätten wir eine
mögliche Verstärkung ausschalten können. Wir wollten schließlich
nicht die Hütten belagern, nur damit uns eine Busladung frisch
ausgehobener Truppen in den Rücken fiel.
Sollten wir den Pick-up, den VW-Bus oder beides
nehmen? Sie würden bestimmt nach dem Camper Ausschau halten, aber
andererseits höchstwahrscheinlich auch nach einem ausgeflippten
Pick-up-Fahrer mit eingedelltem Bullenschieber.
Eines jedenfalls wussten wir: Es wäre zu gefährlich
gewesen, mit der Fähre auf die Halbinsel überzusetzen. Sie würden
mit Sicherheit den Hafen von Bremerton überwachen. Tatsächlich
führten für meinen Geschmack nicht annähernd genug Straßen auf die
Olympic-Halbinsel. Ein Gebiet von grob gerechnet hundertfünfzig mal
hundert Kilometern war lediglich über zwei Routen zu erreichen. Es
gab nur die eine Hauptstraße, die 101, die rings um Nationalpark
und Nationalforst führte. Ein knappes halbes Dutzend Wachposten
hätte gereicht, um sie rechtzeitig vorzuwarnen, welche Route wir
nahmen.
Es gab zwar auch andere Möglichkeiten, aber sie
waren zeitraubend. Eine hätte darin bestanden, mit der Fähre nach
Victoria, British Columbia, zu fahren und dann mit einer zweiten
von dort wieder zurück nach Port Angeles. Die zwei Überfahrten
würden insgesamt mehrere Stunden in Anspruch nehmen, und außerdem
dürfte Kline, wie Spike zu bedenken gab, diese Möglichkeit auch
schon in Betracht gezogen haben. Wenn er für die Firma oder die
Regierung arbeitete, hatte er bestimmt schon veranlasst, dass alle
infrage kommenden Fährhäfen unter Beobachtung gestellt
wurden.
»Du willst damit also sagen«, erklärte Bel, »dass
es keine Möglichkeit gibt, dorthin zu kommen, ohne dass die davon
was mitkriegen?«
Spike nickte, aber ich hatte eine Idee. Es war so
ziemlich der verrückteste Einfall, den ich bis dato gehabt hatte,
aber meine Partner stiegen darauf ein. Danach fingen die Dinge
allmählich an, sich zu ordnen.
Da nach Spike nicht gefahndet wurde, mieteten wir
in North Bend ein Auto unter seinem Namen. Es war ein
nichtssagendes Familienmodell, und Spike beklagte den Verlust
seines geliebten Schaltknüppels. Aber wir fühlten uns darin sicher
genug, um uns wieder nach Seattle hineinzuwagen. Wir hielten vor
»Ed’s Guns and Sporting Goods«. Ich fragte Archie, ob sich
irgendjemand nach uns erkundigt hätte. Er schüttelte den
Kopf.
»Was brauchen Sie diesmal, mein Sohn?«
»Balaklavas und Gesichtsfarben für Kriegsbemalung«,
teilte ich ihm mit.
Erst als ich das sagte, wurde mir der Irrsinn des
Ganzen so richtig bewusst. Ich spielte eindeutig nicht in meiner
Liga. Ich spielte sogar ein völlig anderes Spiel. Ich hätte mir von
Rechts wegen vor Angst in die Hosen machen müssen, und tatsächlich
stand ich auch kurz davor. Mir zitterten die Hände - nicht gerade
ein gutes Zeichen bei einem professionellen Scharfschützen. Mein
Herz hämmerte, und ich meinte, mich jeden Augenblick übergeben zu
müssen. Gleichzeitig fühlte sich das Ganze aber auch wie ein
leichter Schwips an, und Bel und Spike empfanden es offenbar
genauso. Wir grinsten uns ständig an und bekamen Anfälle von
nervösem Kichern. Im Laden brach ich sogar regelrecht in Gelächter
aus. Archie sah mich an und lächelte, als ob er den Witz verstanden
hätte.
»Das ist kein Witz«, erklärte ich ihm. Es war auch
keiner. Es war lediglich die Euphorie der Angst. Ich schleppte mich
auf das Showdown zu, als ob ich mit jedem Schritt in tieferen
Schlamm geriete. Das war der langsamste Tag meines Lebens. Trotz
aller Aktivität und Bewegung zog er sich zäher hin als all die
Tage, die ich in Hotelzimmern verbracht und darauf gewartet hatte,
dass meine Zielperson endlich in die Stadt kam, all die Tage, an
denen ich an Fenstern gesessen und Schusswinkel und Entfernungen
abgeschätzt und durchdacht hatte. Archie schien von der
bescheidenen Höhe seines Umsatzes enttäuscht zu sein.
»Wie man hört, wird Ihr Freund wieder
gesund.«
»Was?«
Er lächelte. »Keine Sorge, ich werd niemandem was
sagen. Die haben im Fernsehen ein Foto von ihm gezeigt, ich hab ihn
auf Anhieb erkannt.«
»Wie lauten die neusten Nachrichten?«
»Er ist bei Bewusstsein. Die Polizei befragt ihn.
Bislang läuft das Gespräch so einseitig, als würde man Der Preis
ist heiß in einem Nonnenkloster veranstalten.«
Ich nickte erleichtert. »Archie«, sagte ich,
»könnten Sie ins Krankenhaus fahren und sagen, sie wären ein Freund
von ihm?«
»Sie wollen, dass ich ihn besuche?«
»Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Adresse sagen, wird
er wahrscheinlich bereit sein, sich mit Ihnen zu
unterhalten.«
»Schön, meinetwegen, und was soll ich ihm
sagen?«
»Sagen Sie ihm, dass es uns gutgeht. Sagen Sie ihm,
dass heute der Tag X ist. Das könnte ihn etwas aufmuntern.«
Er kniff ein Auge zu. »Macht mich das zum
Komplizen?«
»Komplizen bei was?«
»Tja...« Er kratzte sich am Kopf. »Vor sechs kann
ich den Laden nicht dichtmachen.«
»Heute Abend wäre okay. Das wäre perfekt.«
Ich versuchte, ihm einen Zwanziger für seine Mühe
aufzudrängen, aber er nahm ihn nicht an.
»Seien Sie vorsichtig da draußen«, sagte er zu
mir.
»Das werd ich, Archie, das werd ich.«
»Ich find dieses Auto zum Kotzen«, sagte Spike.
»Das ist die langweiligste Karre, in der ich je gesessen habe.
Punkt.«
Wir parkten auf dem Hügel, hundert Meter oberhalb
von Provosts Haus. Wir beobachteten es schon seit einer Weile,
während Spike mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte.
»Ich würde sagen, wir gehen zu meinem Plan über.«
Spikes Plan war simpel. Er würde an Provosts Haustür gehen und
klingeln.
»Wie die Avon-Beraterin«, sagte er.
Der Plan ging von zwei Voraussetzungen aus: der
Tatsache, dass Provost, Kline und die anderen Spike nicht kannten,
und der Hoffnung, dass Spike gegebenenfalls imstande sein würde,
eine glaubwürdige Ausrede dafür zu finden, dass er da
klingelte.
Wir stimmten ab: zwei zu eins für ja. Ich war die
einsame Gegenstimme. Also stieg Spike aus dem Auto und trabte die
steile Straße hinunter.
»Was ist los?«, fragte Bel.
»Ich werd einfach das Gefühl nicht los, dass wir
unseren Joker ein bisschen zu früh ausspielen.« Sie verstand nicht,
was ich meinte, also erklärte ich es ihr. »Spike ist unsere
Geheimwaffe. Wenn sie ihn durchschauen, heißt es für uns ›zurück
auf Los‹.«
Sie lächelte. »Kommst du da nicht mit deinen
Kartenund deinen Brettspielen ein bisschen durcheinander?«
Ich warf ihr einen schiefen Blick zu, als hätte ich
auf etwas Hartes gebissen, und tastete mit der Zunge meine
Backenzähne nach etwaigen Schäden ab. Dann schaute ich wieder nach
vorn, ob Spike zurückkam.
Es dauerte nicht lange, bis wir ihn den Hang wieder
heraufjoggen sahen. Er warf einen Blick zurück, um sich zu
vergewissern, dass ihn niemand beobachtete, stieg dann ein und ließ
den Motor an.
»Es ist kein Mensch da«, teilte er uns mit. »Ich
hab mich ein bisschen umgeschaut, nix. Die Vorhänge sind zugezogen,
aber auch so konnte ich erkennen, dass niemand zu Haus ist.«
»Dann ist er auf die Halbinsel gefahren«, sagte
Bel.
»Sieht so aus. Es sei denn, er ist zum Supermarkt,
um seine monatlichen Einkäufe zu erledigen.«
Dann war’s also so weit. Wir brachen auf, zum
Showdown mit Provost und Kline. Ich fühlte mich kraftlos und ließ
den Kopf auf die Rückenlehne sinken, froh, die Fahrerei Spike
überlassen zu können. Er schaltete das Radio ein und fand einen
Rocksender. Springsteen: »Born in the USA«. Spike drehte die
Lautstärke voll auf und grölte zum verzerrten Sound mit.
Es war schon entschieden, dass wir die lange Route
zur Halbinsel nehmen würden, erst nach Süden durch Tacoma und dann
wieder rauf nach Norden.
»Spike«, sagte ich, »wir sind dir für die Hilfe
wirklich dankbar.«
»Mann, ich helf euch nicht, ich mach
Urlaub.«
»Und, wie war er bislang?«
»Besser als Disneyworld, das kann ich dir
versichern.«
»Ich weiß nicht, ob das eine Empfehlung ist.«
Er grinste mit seinen nahezu vollkommenen Zähnen.
»Das ist es, glaub’s mir. Wir sollten alle zusammen dahin, wenn wir
das hier erst mal hinter uns haben.«
»Wer weiß?«, sagte ich leise. Wir erreichten Port
Angeles und verließen es dann wieder in Richtung Pioneer Memorial
Museum.
Wir hielten am südlichen Stadtrand, in der Nähe der
Parkverwaltung. Dann setzten wir meinen Plan in die Tat um.
Bel schaffte es, die Aufmerksamkeit von zwei
Forsthütern zu erregen, die gerade aus dem umzäunten Parkplatz
herausgefahren kamen. Die beiden begleiteten sie zu unserem Auto
zurück, wo Spike und ich sie mit einem Lächeln und einem Nicken
begrüßten.
»Gibt’s ein Problem?«, fragte der eine von beiden
liebenswürdig.
»Ja, das hier«, sagte Spike und richtete die Ingram
auf die Brust des Mannes. Der Mann, das musste man ihm lassen,
erkannte das Problem sofort. Nicht wir hatten ein Problem,
er hatte eins. Wir ließen ihn und seinen Partner in den
Chrysler einsteigen, während Bel sich ans Steuer des Jeeps setzte.
Ein Stück weiter außerhalb der Stadt bogen wir auf einen Waldweg ab
und zogen den Park-Service-Männern die Uniformen aus.
»Herrje, musstest du unbedingt Laurel und Hardy
aussuchen?«, beschwerte sich Spike bei Bel. Er hatte erhebliche
Schwierigkeiten damit, überhaupt in seine Uniform hineinzukommen,
während meine wie Wäsche an einem Kleiderbügel schlackerte. Wir
hatten es schon andersherum probiert, aber es war noch schlimmer
gewesen.
Wir verschnürten die Forsthüter zu ordentlichen
Bündeln und ließen sie im Chrysler liegen - den einen vorn, den
anderen im Fond. Wir schafften unsere Sachen in deren Wagen, und
Bel legte sich, unter einer schottisch karierten Decke versteckt,
auf die Rückbank.
»National Park Service«, sagte Spike, während er
sich ans Steuer setzte. »Freund und Beschützer von Wild und Wald.«
Er lachte. »Wir werden denen schon zeigen, was ›wild‹ wirklich
bedeutet.«
Dann setzte er zurück bis zur Straße. Wir bogen auf
die 101 in westlicher Richtung. Acht Kilometer jenseits der
Stadtgrenze gabelte sich die Straße, aber wir fuhren auf der 112
weiter in westlicher Richtung. Direkt nach der Abzweigung sahen wir
sie.
Am Straßenrand parkte ein Geländewagen, und daneben
standen zwei Männer. Sie waren ein so auffälliger Wachposten, wie
wir ihn uns nur hätten erträumen können. Wir diskutierten, ob wir
halten und sie ansprechen sollten - Spike meinte, das würde, wenn
schon nichts anderes, eine Bewährungsprobe für unsere Verkleidung
werden. Aber ich setzte mich durch, und wir fuhren weiter. Wenn wir
sie ausgeschaltet hätten, wäre ihr Ausfall möglicherweise bemerkt
worden. Und wir brauchten Zeit, um alles vorzubereiten. Also ließen
wir sie da stehen und sagten uns, dass selbst, wenn sie zum
Hauptquartier der Disciples gerufen werden sollten, es eine halbe
Stunde dauern würde, bis sie dort ankämen. Ich nahm nicht an, dass
wir mehr als eine halbe Stunde brauchen würden. Spike meinte
natürlich, dass wir, wenn wir nach seinem Plan vorgegangen
wären, nicht mehr als fünf Minuten gebraucht hätten.
Wenn Sie je den Napalmangriff in Apocalypse
Now gesehen haben, dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung
von dem, was ihm so vorschwebte.
Ich kauerte im Wald und betrachtete die Welt durch
mein Nachtsichtgerät. In der Siedlung der Disciples gingen seltsame
Dinge vor sich.
Oder besser gesagt, es ging gar nichts vor
sich.
Und das fanden wir seltsam.
Es war nicht so, dass alle sich für die Nacht
zurückgezogen hätten. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass die
meisten Hütten leer standen. Spike und Bel hatten einen
Erkundungsrundgang gemacht und nach ihrer Rückkehr berichtet, dass
nirgendwo Fahrzeuge zu sehen seien. Na ja, wenigstens eins konnte
ich schon sehen: Klines Lincoln. Er versuchte, sich zwischen
zwei Hütten zu verstecken. Weitere Autos konnte allerdings auch ich
nicht entdecken.
Dafür gab es nur eine einleuchtende Erklärung:
Jemand hatte die Disciples weggeschickt. Und warum hätte er das tun
sollen? Logischerweise, weil sie dort unerwünscht waren. Und das
konnte in meinen Augen nur eines bedeuten: Die Disciples wussten
überhaupt nicht, was da ablief, und Kline und seine Männer
wollten nicht, dass sie es mitbekamen.
Ich konzentrierte mich nicht auf die alte Hütte,
diejenige, in der mich Nathan überrascht hatte, sondern auf die
kleinere daneben. Dort brannte das einzige Licht. Es sah nach einer
Öl- oder Gaslampe aus, und es verbreitete einen matten gelben
Schein. Der Kriegsrat fand eindeutig in dieser Hütte statt. Ich
wartete darauf, dass die Krieger ins Freie kamen.
Währenddessen suchte ich mit dem Zielfernrohr den
Rest des Geländes ab. Es war stockfinster, aber meinem rechten Auge
erschien die Welt als ein roter Dämmer, der von einem schwarzen
Fadenkreuz gevierteilt wurde. Alles war still. Geräusche trugen
hier draußen weit, und ich hörte tatsächlich ein fernes Knarren,
als die Tür aufging.
Ich richtete das Sichtgerät wieder auf die Hütte
und sah, wie ein Mann in der Tür erschien. Es war einer von Klines
Männern, und er rauchte eine Zigarette. Weitere Männer tröpfelten
nach und nach auf die Veranda heraus und steckten sich ebenfalls
eine an. Provost war offenbar Nichtraucher. Sie hatten mit ihm in
einem Raum gesessen, und jetzt hielten sie es nicht mehr aus. Sie
waren zu sechst. Drei meinte ich, von Oban her wiederzuerkennen,
drei hatte ich noch nie gesehen. Provost und Kline mussten noch
immer in der Hütte sein. Wieder ging die Tür auf, und es trat noch
jemand ins Freie.
Eine Frau.
Ich erkannte sie an ihrer Figur. Es war Alisha,
Provosts Stellvertreterin und Geliebte. Sie griff nach einer ihr
angebotenen Zigarette und unterhielt sich mit den Männern.
Sie sprachen gedämpft, trotzdem konnte ich ihre
Stimmen hören, auch wenn ich die Worte nicht verstand. Die Männer
trugen Anzüge. Unter den Jacketts verbargen sich mit Sicherheit
Pistolen, aber sie waren noch besser gerüstet. Zwei von ihnen
hatten ihre M16 gegen die Hauswand gelehnt, während sie ihre
Zigaretten rauchten. Sie starrten dabei die ganze Zeit in die
Ferne, größtenteils in meine Richtung. Aber ich wusste, dass sie
von da aus, wo sie standen, nichts sehen konnten. Sie konnten
bestenfalls Bewegungen wahrnehmen, und das Einzige, was sich
momentan bewegte, waren die Zweige der Bäume, durch die der Wind
strich.
Ich wartete, aber Kline und Provost kamen nicht
heraus. Ebenso wenig ließen sie sich am Fenster blicken. Ich
stellte das Zielfernrohr eine Spur schärfer und fühlte mich besser.
Das Sichtgerät war an der Varmint befestigt, und die Varmint hatte
ihre fünf Patronen im Magazin. Ich hatte kein Schutzpolster an der
Schulter. Es war mir egal, ob ich blaue Flecken bekam. Blaue
Flecken wären im Moment mein geringstes Problem gewesen.
Ich hörte hinter mir ein Rascheln.
»Und?«, flüsterte Spike.
»Bislang zähle ich sechs Männer. Ich habe weder
Provost noch Kline gesehen, aber da ist noch eine Frau. Das macht
also insgesamt neun.«
»Und sieben davon können wir direkt ausknipsen«,
meinte Spike.
»Kline hätte ich gern lebendig... zumindest, bis er
geplaudert hat.«
»Dann sollten wir uns besser eine Autobatterie und
zwei Elektroden besorgen. Ich meine, bloß aus Spaß an der Freude
wird er kaum plaudern.«
Da war was dran. Bel hatte weniger Lärm gemacht als
Spike. Sie stand mit einem Mal auf meiner anderen Seite. Wir trugen
alle drei Sturmmützen und Kriegsbemalung: grün und schwarz, nur für
den Fall, dass sie irgendwo Scheinwerfer aufgestellt hatten.
Bislang verließen sie sich auf die Dunkelheit. Aber sie konnten
jederzeit ihre Taktik ändern und Festbeleuchtung im Wald
veranstalten. Wenn sie uns ins Rampenlicht stellten, dann waren sie
selbst natürlich genauso gut ausgeleuchtet. Aber anders als sie,
waren wir getarnt. Wir trugen grün-schwarz gefleckte Jacken
und grüne Hosen. Wir sahen hundertprozentig profimäßig aus, auch
wenn wir uns nicht so fühlten. Spike war zwar in seinem Element,
aber die Tarnflecken auf Bels Gesicht tarnten lediglich die
Tatsache, dass sie käsebleich war. Selbst ihre Lippen waren
blutleer.
Ich für meinen Teil hatte zwar keinen Tatterich
mehr, wollte aber nach wie vor auf Nummer sicher gehen. Ich war
kein Söldner, auch wenn ich etliche von der Sorte näher
kennengelernt hatte. Ich war weder Action Man noch GI Joe. Ich war
nicht Spike.
»Was ist mit den ganzen Hippies?«, fragte er.
»Haben sich verzogen.«
»Perfekt. Wunderbar.« Er fixierte mich. »Ich hab
sie dabei, Mann«, flüsterte er. Er hielt vier kurze, dicke Zylinder
in die Höhe.
»Das sagtest du bereits ein paarmal.«
»Wann ziehen wir’s durch?«
Ich sah Bel an, und sie nickte. »Jetzt«, erwiderte
ich.
»Schön, dann los«, sagte Spike und verschwand
wieder in der Dunkelheit.
Bel und ich starrten uns eine Zeit lang an. Ich
wollte sie küssen, und ich glaube, sie wusste das. Aber sie
lächelte nur und nickte noch einmal, drückte mir dann die Schulter
und schlich in die entgegengesetzte Richtung davon.
Jetzt war ich dran. Ich legte mir den Kolben der
Varmint wieder an die Schulter und warf einen Blick durch die
Optik. Ich wusste, dass ich Spike und Bel ein, zwei Minuten
Vorsprung geben musste. Die Wachen hatten ihre Zigaretten
ausgeraucht. Jetzt drehten sie Däumchen. Es gefiel mir, wie sie auf
der Veranda aufgereiht standen - wie Schießbudenfiguren auf der
Kirmes. Ich hörte das plötzliche Knistern eines Funkgeräts und sah,
wie einer von den Männern ein Walkie-Talkie aus der Tasche zog. Ich
war jetzt froh, dass wir die Männer am Checkpoint nicht abgeknallt
hatten. Das hätte uns nur ein Empfangskomitee beschert.
Andererseits hätte ein Empfangskomitee sofortige
Action bedeutet - statt dieses nervenzermürbenden Wartens.
Ich zählte bis dreißig. Dann noch einmal.
Als ich zum zweiten Mal neunundzwanzig erreichte,
begann ich zu feuern. Ich bin zwar kein
Hochgeschwindigkeitsschütze, aber ich wusste, dass ich so viele
Wachen wie möglich ausschalten musste. Ich versuchte keine
Kunststücke, bemühte mich lediglich, meine Ziele zu treffen, egal
an welcher Körperstelle.
Schon nach den ersten zwei Schüssen hatten sie mich
geortet. Das ist der Nachteil, wenn man bei Nacht ohne
Mündungsfeuerdämpfer schießt. Sie sahen den zweiten Blitz aus
meinem Lauf. Nützte ihnen natürlich nicht viel, nicht auf diese
Distanz. Sie feuerten nach wie vor auf bloße Schatten, während ich
sie einen nach dem anderen abknallte. Zwei waren schon umgefallen,
als die erste von Spikes Magnesiumfackeln auf dem Boden landete. Er
musste sich selbstmörderisch nah herangeschlichen haben, um sie so
dicht vor die Hütte platzieren zu können. Er warf zwei weitere. Sie
brannten pink-orange und produzierten jede Menge Rauch. Ich feuerte
die letzten drei Patronen aus meinem Magazin ab, bevor der Rauch zu
dicht wurde. Die Männer hatten zunächst versucht, sich in die Hütte
zurückzuziehen, schienen aber dann den Befehl erhalten zu haben,
sich auf dem Gelände zu verteilen.
Und das war genau das, was wir erwartet hatten.
Deswegen hatte sich Spike weit auf die eine Seite geschlagen und
Bel, mit zwei Pistolen bewaffnet, auf die andere. Die Wachen gaben
jetzt abgehackte Feuerstöße ab. Von irgendwo hörte ich das
unverkennbare Geräusch von Spikes Ingram, die das Feuer erwiderte.
Ich nahm das Nachtsichtgerät ab, legte die Varmint auf den Boden,
griff mir meinen Colt Commando und ging zum Angriff über.
Das Gelände war mittlerweile ganz von Rauch und
farbigem Funkensprühen erfüllt, aber die Brise zerstreute den Rauch
ebenso schnell, wie er sich bildete. Ich beschloss, jedem, der noch
in der Hütte sein mochte, ein bisschen Angst einzujagen, legte an
und schoss ein paarmal. Die Wände bestanden aus dünnen, auf Pfosten
genagelten Holzplanken. In Filmen konnten solche Wände Kugeln
aufhalten, aber nicht im wirklichen Leben. Ich durchsiebte die
Planken, bis ich Licht durch die Löcher dringen sah. Dann löschte
jemand die Lampe. Ich hatte hoch gezielt und angenommen, dass
jemand, dem sein Leben lieb war, sich ducken oder platt auf den
Boden legen würde. Ich hoffte, niemanden getroffen zu haben, den
ich vorläufig unverletzt brauchte. Dann wurde mir etwas klar.
Mir wurde klar, dass ich das einzige Ziel war, das
die Wachen hatten. Eine Pistolenkugel sirrte an meinem Kopf vorbei.
Ich ging in die Hocke und antwortete mit einem Feuerstoß aus dem
Colt. Ich traf den Schützen dreimal in die Brust, so dass er nach
hinten flog und auf dem Rücken landete. Jetzt konnte ich Bel hören,
die in kurzen schnellen Sequenzen schoss, genauso, wie man es ihr
beigebracht hatte. Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, wie
Tanzschritte. Und Spike, Spike war wieder auf dem Schießplatz in
Texas, verballerte sinnlos Patronen, aber machte immerhin viel
Lärm. Sie mussten glauben, dass eine ganze Armee auf sie losging.
Und es funktionierte: Die Wachen schossen zwar, zogen sich aber
gleichzeitig zurück. Und wenn man im Gehen schießt, ist Treffen
reine Glückssache. Ich rührte mich nicht von der Stelle und gab mit
dem Colt einen weiteren Schuss ab. Im Sturmgewehr steckte ein
Dreißig-Schuss-Magazin. In der Tasche hatte ich noch ein paar
Ersatzmagazine.
Dann ging das vordere Fenster der Hütte in
Scherben, und jemand begann, durch die Öffnung zu feuern. Ich hörte
ein dumpfes Wumm! und begriff, dass sie Granaten abschossen.
Ich warf mich blitzschnell zur Seite, landete flach auf der Erde
und begann vorwärtszurobben. Die Granate explodierte weit hinter
mir, aber der Druck hob mich trotzdem in die Luft. Ich spürte, wie
sich der Boden unter meiner Brust aufwölbte, so als ob die Erde
tief einatmete, und die Druckwelle riss mir die Beine hoch.
Ich lag flach da und fing an zu feuern, aber schon
nach wenigen Schüssen war das Magazin leer. Das Nachladen kostete
mich ein paar Sekunden, und in der Zwischenzeit hatte ein weiterer
dumpfer Knall die nächste Granate angekündigt. Ich robbte ein Stück
weiter. Diesmal war die Explosion schon erheblich näher. Sie machte
mich taub und rüttelte mir den Schädel durch. Ich rollte mich
seitwärts ab und immer weiter, während Erdklumpen und Rindenstücke
auf mich herabprasselten. Ich hatte nur noch ein wattiges Summen in
den Ohren, und dahinter war ein fernes Geknalle zu hören.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu
bekommen, und mir wurde bewusst, dass mich etwas getroffen hatte.
Ein Stein oder so. Mein linker Arm war vom Schlag betäubt. Ich biss
mir in die Finger in der Hoffnung, wieder etwas Gefühl
hineinzukriegen. Dann stand ich auf und eröffnete erneut das Feuer.
Vor mir lagen drei Körper. Sie gaben keinerlei Lebenszeichen von
sich. Zwei hatte ich auf der Veranda getroffen; wer den Dritten
erwischt hatte, wusste ich nicht.
Dann entdeckte ich eine weitere Gestalt, die durch
den Schatten huschte. Ich schaute durch das Nachtsichtgerät und
erkannte Spike. Er wusste, dass ich ihn sehen konnte, und gab mir
mit Daumen und Zeigefinger das O.k.-Zeichen. Auch wenn er
mich nicht erkennen konnte, erwiderte ich das Zeichen. Ich feuerte
ein weiteres Mal in Richtung Hütte. Der Granatwerfer schwieg
diesmal, was wohl bedeutete, dass Kline nur über die zwei Geschosse
verfügt hatte. Jetzt hörte ich eine Frau kreischen und zwei Männer
schreien. Ich richtete das Nachtsichtgerät nach rechts, aber von
Bel war nichts zu sehen.
Dann flog die Tür der Hütte auf, und Alisha kam
herausgetaumelt.
»Nicht schießen!«, schrie sie. »Ich bin
unbewaffnet!« Sie stöhnte und hielt sich den Arm fest. Sie schien
einen Streifschuss abbekommen zu haben.
»Alle raus aus der Hütte!«, rief ich. Meine Stimme
klang, soweit ich das beurteilen konnte, durchaus fest. »Alle raus
aus der Hütte, sofort!«
Spike war näher gekommen und rief Bels Namen. Keine
Reaktion.
»Geh sie suchen«, befahl ich, ohne Panik in meiner
Stimme zuzulassen. Ich zog eine langsam brennende Handfackel aus
der Tasche, steckte sie in die Erde, entzündete sie und rückte
sofort von ihr ab. Spike ging um die Ecke der Hütte. Ein Mann
erschien in der Tür. Es war Jeremiah Provost. Er hielt die Hände
hoch. Jetzt, wo die Fackel die Szene erhellte, sah ich, dass er
Blut auf seinem weißen Hemd hatte. Aber es schien lediglich ein
Fleck zu sein, und ich vermutete, dass es nicht sein, sondern
Alishas Blut war.
»Hinlegen, Alisha«, befahl ich. »Und warum legen
Sie sich nicht dazu, Provost?«
»Wer sind Sie?« Er rührte sich nicht von der
Stelle. »Was wollen Sie?«
Plötzlich ertönte ein Pistolenschuss, und Spike,
der inzwischen zurückgekommen war, sackte zu Boden. Ich rannte auf
ihn zu und erkannte dann meinen Fehler. Ich drehte mich halb um,
gerade rechtzeitig, um Alisha eine Pistole, die offenbar unter ihr
gelegen hatte, auf mich richten zu sehen. Ich schoss ihr mit dem
Colt in den Kopf. Mehr als ein Schuss war nicht nötig.
Dann drehte ich mich wieder um und sah, dass Kline
über Spikes reglosen Körper stieg. Er zielte mit einer Pistole auf
meinen Kopf. Ich duckte mich und feuerte gleichzeitig. Er fiel
vornüber und landete auf dem Boden. Hinter ihm trat Bel aus der
Dunkelheit. Aus der Mündung ihrer Pistole stieg dünner Rauch auf.
Klines blutdurchtränkter Hinterkopf zeigte, wo ihre Kugel ihn
getroffen hatte.
Sie fiel auf Hände und Knie und übergab sich.
»Sind noch welche übrig, Bel?«
Sie brachte es fertig, den Kopf zu schütteln. Ich
richtete den Colt auf Provost. Er war die Stufen vor der Hütte
heruntergestiegen und kauerte neben Alisha.
»Warum?«, fragte er und wiederholte das eine Wort
immer wieder. Ich ließ ihn da hocken und sah mich in der Hütte um.
Sie war leer. Das rückwärtige Fenster, durch das Kline
herausgeklettert war, stand weit offen. Es roch nach Wald und
Kordit. Ich ging wieder hinaus und sah Bel neben Spike auf dem
Boden knien. Sie strich ihm über die Stirn.
»Er ist am Leben«, sagte sie. »Sollen wir ihn
wegtragen?«
»Wird vielleicht besser sein.«
Ich sah ihn mir an. Seine ganze Brust war von
warmem, klebrigem Blut bedeckt. Es war ein glatter Durchschuss
gewesen, in die Brust rein und hinten wieder raus. Wenn er ein
wenig weiter weg gestanden hätte, wäre die Kugel vielleicht stecken
geblieben oder in seiner Brust aufgepilzt. Ich wusste nicht, ob er
überleben würde.
»Gibt es hier eine Trage?«, fragte ich Provost. Er
sah mit Tränen in den Augen zu mir auf und formte lautlos das Wort
»Warum?«
»Ich werde Ihnen verraten, warum. Weil sie eine
Pistole hatte. Warum hatte sie eine Pistole? Weil sie kein Disciple
of Love war, sondern für Kline arbeitete, genauso wie Nathan es
getan hatte. Wussten Sie, dass Nathan Klines Bruder war? Wussten
Sie, dass er Nathan Kline hieß? Nein?« Provost schüttelte
den Kopf. »Das steht aber in den Akten in Ihrem eigenen Büro. Wie
kommt’s, dass Ihre geliebte Alisha Ihnen nichts davon gesagt hat?
Machen Sie sich selbst einen Reim darauf, aber zuerst will ich
wissen, ob Sie einen Erste-Hilfe-Kasten und eine Trage
haben!«
Er starrte mich an. »Keine Trage«, sagte er. »Im
Büro gibt’s was für Erste Hilfe.«
Ich wandte mich zu Bel. »Geh und hol’s.« Spike
atmete hastig und gequält, aber er atmete. Ich beugte mich wieder
über ihn. Er hatte die Augen in äußerster Konzentration
geschlossen. Er konzentrierte sich darauf, am Leben zu
bleiben.
»Spike«, sagte ich, »vergiss nicht, du kannst es
dir nicht leisten zu sterben. Ich glaube, ich sollte dir besser die
Wahrheit sagen, Spike. Es gibt gar keine Schießeisen im
Himmel.«
Beinahe hätte er gelächelt, aber er konzentrierte
sich zu sehr auf etwas anderes.
Ich ging zu Provost und sah auf ihn hinunter.
»Zeit zu reden«, sagte ich.
»Wir hätten auch ohne das alles reden
können.«
»Ich hab’s nicht so gewollt, Provost, Kline hat es
so gewollt. Ihr Mann hat es so gewollt.«
»Mein Mann?« Er sprach so, als wäre sein Mund
voller Galle. »Kline war nicht mein Mann.«
»Was war er dann?«
»Er hat früher für den NSC gearbeitet. Von dem
Verein schon mal was gehört?«
»Ein bisschen.«
»Sie haben ihn nach einem Unfall in den Ruhestand
versetzt. Der Unfall war ich.«
»Ich verstehe nicht.«
»Werden Sie schon noch.« Er stand auf. »Glauben Sie
wirklich, dass Alisha für Kline arbeitete?«
»Das heißt aber nicht, dass sie Sie nicht
liebte.«
Er blickte mich wütend an. »Kommen Sie mir bloß
nicht gönnerhaft, Mr. West. Kline hat mir von Ihnen erzählt. Er
sagte, Sie würden mich suchen. Er hat leider nicht näher
spezifiziert, warum.«
»Ein paar Fragen, das ist alles.«
Er wandte sich von mir ab und setzte sich, den Kopf
in die Hände gestützt, auf die Vortreppe der Hütte. »Dann schießen
Sie los«, sagte er, ohne den Kopf zu heben.
Losschießen? Ich wusste kaum, wo ich anfangen
sollte. Bel war mit dem Erste-Hilfe-Kasten zurückgekommen und
versuchte, Spikes Blutung zu stillen. Ich ging zur Treppe und
stellte mich vor Provost. Ich hatte Sam Clancys Minirekorder aus
der Tasche gezogen und schaltete ihn jetzt ein.
»In London wurde eine Frau getötet«, sagte ich.
»Ihr Name war Eleanor Ricks. Sie war Journalistin und stellte
Recherchen über die Disciples of Love an.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie haben nicht ihre Ermordung angeordnet?«
»Nein.«
»Dann hat Kline auf eigene Faust gehandelt.«
Jetzt schaute er zu mir auf. »Sie haben sie
getötet?«
»Ja.«
»Dann beantworten Sie mir eine Frage: Warum sollte
Kline jemanden dafür bezahlen, dass er den Job erledigt, wenn er
seine eigene Söldnertruppe hat?«
Das war eine gute Frage. Ja, so gut, dass ich keine
Antwort darauf hatte …
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Sagen Sie es
mir.«
Provost lächelte. »Ich kann’s Ihnen auch nicht
sagen. Ich kann Ihnen lediglich sagen, was Kline mir sagte:
Er hätte nicht die leiseste Ahnung, warum Sie herumschnüffelten. Er
hätte keinen Mord in Auftrag gegeben, und er fragte sich selbst,
wer das getan haben konnte. Als Sie anfingen, Fragen zu stellen,
wurden Sie zu einer Bedrohung.«
»Er hat Journalisten töten lassen, stimmt’s? Er
wollte Sam Clancy erschießen lassen.«
»Kline hatte kein besonders stark ausgeprägtes
Gewissen, falls Sie das meinen.«
»Aber was versuchte er zu schützen? Warum hat er
Sie so abgeschirmt?«
»Der Grund war Geld, Mr. West, was sonst? Oh, ich
meine damit nicht, dass er in meinem Sold stand. Ich meine,
er bezahlte einmal mich, und seitdem hat er für
diesen einen Fehler bezahlt.« Er warf einen Blick auf Klines
leblosen Körper. »Und die Abschlussrate war heute Nacht
fällig.«
»Ich versteh immer noch nicht.«
»Kline arbeitete für eine Abteilung des NSC, deren
Aufgabe es war, die nicaraguanischen Contras finanziell zu
unterstützen. Das war Mitte der achtziger Jahre. Er schaffte es,
dem... ich weiß auch nicht, dem Sultan von irgendwo, irgendeinem
Land im Mittleren Osten, also dem jedenfalls zehn Millionen
Dollar abzuschwatzen. Damals besaß ich ein bisschen Geld. Alle
nasenlang starben irgendwelche älteren Verwandten. Wurde allmählich
langweilig, ständig auf Beerdigungen gehen zu müssen. Ich fand,
mein Geld sollte meine Angelegenheit bleiben, also legte ich ein
Nummernkonto in der Schweiz an.«
»Reden Sie weiter.«
»Es war für Kline ein ziemlicher Erfolg, so viel
Geld für die Contras an Land gezogen zu haben, aber er wusste nicht
so recht, was er damit anstellen sollte. Jemand vom NSC, und ich
sage nicht, dass es Colonel Oliver North war, schlug vor, es auf
ein Bankkonto einzuzahlen, bis es seiner eigentlichen Bestimmung
zugeführt werden könne.«
»Ein Schweizer Bankkonto?«
»Und so ein Konto hatte der NSC. Nur traten jetzt
die Götter des Schicksals und der Ironie auf den Plan. Kline
verschrieb sich, als er sich die Kennnummer des Kontos notierte.
Ich weiß nicht mehr genau, warum ich beschloss, meinen Kontostand
abzufragen, aber eines Dienstagmorgens Schweizer Zeit rief ich
meine Bank an und erfuhr die exakte Höhe meines Guthabens. Der
Betrag kam mir höher vor, als ich ihn in Erinnerung hatte - so rund
zehn Millionen höher. Ich fragte den für mein Konto zuständigen
Bankmenschen, was die Kündigungsfrist für eine große Abhebung
sei.«
Hier verstummte Provost.
»Sie haben die ganzen zehn Millionen
abgehoben?«
»Nein, am Ende habe ich sie nur auf ein neues Konto
transferiert.«
»Oha.«
»Es war Klines Fehler gewesen. Er bekam den
Auftrag, mich zur Räson zu bringen - wie diskret Schweizer Banken
auch sein mögen, der NSC hat Mittel und Wege, jeden
aufzuspüren. Wir gelangten zu einem Kompromiss. Ich gab die Hälfte
des Geldes zurück. Die andere Hälfte behielt ich.«
»Und er ist darauf eingegangen?«
»Es blieb ihm nicht viel anderes übrig.«
»Er hätte Sie töten können.«
Provost lächelte. »Ich habe den NSC nicht in meinem
Testament bedacht, Mr. West. Er wäre dadurch trotzdem nicht ans
Geld gekommen. Außerdem waren seine Vorgesetzten wütend auf ihn.
Sie hätten eine so schmutzige Lösung unter keinen Umständen
sanktioniert.«
»Also haben sie ihn mit Arschtritt
hinausbefördert?«
»Nein, sie haben ihn mit Arschtritt in den Schatten
verbannt. Sein neuer Auftrag lautete, dafür zu sorgen, dass niemand
je etwas über die Sache erfahren würde.«
»Und das bedeutete, Reporter davon abzuhalten, zu
tief zu buddeln?«
»Exakt.«
»Was auch der Grund ist, warum Eleanor Ricks
aufgehalten werden musste.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s Ihnen schon
gesagt, Kline bestritt das. Und er hat nie aufgehört, es zu
bestreiten.«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Vielleicht hat ja jemand anders Ihre Dienste in
Anspruch genommen.«
»Ja, aber ich bin...«
Er erriet meine Gedanken. »Sie sind um die halbe
Welt gereist und haben all diese Menschen getötet und sind trotzdem
keinen Schritt weiter?«
Ich nickte. Mir drehte sich alles. Meine Ohren
spielten weitgehend wieder mit, aber das nützte mir nichts. Das
Ganze wollte mir einfach nicht in den Kopf.
»Zwei Ziffern«, redete Provost inzwischen weiter,
»mehr hat es nicht gebraucht. Kline war kein begnadeter
Stenotypist. Er hat versehentlich zwei Ziffern der Kontonummer
umgestellt. Und so begab es sich, dass der NSC die Disciples of
Love finanzierte. Das, Mr. West, ist der Grund, warum der
Sicherheitsrat die Sache geheim halten muss. Er hat eine religiöse
Sekte finanziell unterstützt, und die Zinsen seiner Schenkung
finanzieren sie nach wie vor.«
»Wo sind die Beweise?«
»Oh, Beweise habe ich.«
»Wo?« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben
sollte. Das konnte noch nicht alles sein. Er schien Probleme mit
seinem Erinnerungsvermögen zu haben, also kitzelte ich ihm das Kinn
mit dem Colt.
»Vergessen Sie nicht, womit ich mir meine Brötchen
verdiene, Provost.«
»Wie könnte ich das vergessen? Es gibt Dokumente in
meinem Wandsafe, und Kopien davon hat mein Anwalt.«
Vielleicht lag es am Wort »Anwalt«. Ich spürte fast
körperlich, wie es in meinem Kopf klick machte.
»Sie werden Ihren Safe für mich öffnen.«
»Der ist nicht hier, er ist in meinem Haus in
Seattle.«
»Schön, dann fahren wir eben dahin.«
»Ich will hierbleiben. Die Kombination ist leicht
zu finden. Ich kann sie mir nie merken, deswegen habe ich sie auf
einem Notizblock neben dem Telefon stehen. Sie ist als australische
Telefonnummer notiert.«
Ich wollte das mit eigenen Augen sehen, musste
irgendeinen Beweis für die Wahrheit seiner Geschichte in den Händen
halten. Selbst dann würde es nicht genug sein. Ich hatte das alles
durchgemacht und Bel und Spike mit hineingezogen, und trotzdem gab
es noch immer keine Antwort - jedenfalls keine, die mir Provost
hätte liefern können.
Es ertönte ein Schuss. Ich wirbelte mit dem Colt
herum. Der dritte Wachmann hatte sich von dort, wo Spike ihn
vermutlich liegen gelassen hatte, hierhergeschleppt. Seine ganze
Brust war blutig. Dadurch, dass ich das bisschen Leben ausknipste,
das noch in ihm steckte, machte ich die Sache auch nicht viel
schlimmer. Ich raubte ihm lediglich ein paar Minuten, das war
alles.
Doch als ich mich wieder Provost zuwandte, stellte
ich fest, dass er einen Herzschuss abbekommen hatte. Die Wache
hatte auf ihn gezielt, nicht auf mich. Zweifellos ein
Endlösungsbefehl von Kline. Ich fing den Körper auf und ließ ihn
behutsam auf die Erde gleiten. Bel blickte kaum von ihrer Arbeit
auf. Sie hatte Spike so gut es ging verbunden.
»Er verliert noch immer Blut«, erklärte sie.
Nachdem ich nach Provosts Puls gefühlt und keinen gefunden hatte,
ging ich zu ihr. Dann sah ich den Wagen, der zwischen den Hütten
stand. Das Heckfenster war zerschossen, aber die Reifen waren
intakt. Ich tastete Klines Taschen ab und fischte die Autoschlüssel
heraus; dann fuhr ich den Wagen rückwärts auf die Lichtung.
Mit Bels Hilfe hob ich Spike in den Fond. Er
stöhnte und zuckte ein bisschen, also wiederholte ich, was ich ihm
schon über Schießeisen und Himmel gesagt hatte. Dann stiegen wir
ein und fuhren los.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Bel.
»Bringen Spike ins Krankenhaus.«
»Aber danach? Ich hab gehört, was dieser Mann da
gesagt hat. Er meinte, wir seien völlig umsonst hergekommen. Er
sagte, alle diese Menschen... und mein Vater... wären wegen
nichts gestorben!«
Ich sah sie an. Sie weinte. »Vielleicht hat er
gelogen. Vielleicht... Ich weiß auch nicht.«
Unterwegs kam uns ein Auto entgegen, das mit
Vollgas in Richtung Lake Crescent fuhr. Das waren die
Straßenposten. Sie würdigten uns keines Blickes. Ich bog von der
Straße ab und fuhr dorthin zurück, wo wir die Forsthüter
zurückgelassen hatten. Unser Anblick schien ihnen einen
Heidenschrecken einzujagen. Ich zog sie aus dem Chrysler heraus und
setzte sie, Rücken an Rücken, auf den Boden.
»Du fährst Spike ins Krankenhaus«, sagte ich.
»Und du?«
»Ich fahr zu Provosts Haus.«
Sie sah mich an. »Glaubst du, du findest dort,
wonach du suchst?«
»Ich weiß ja nicht mal, wonach ich suche, Bel.
Kümmer dich um Spike, okay?« Dann küsste ich sie und stieg in den
Chrysler.
Während der Rückfahrt nach Seattle schaffte ich es,
Amerika aus meinen Gedanken zu verbannen. Stattdessen dachte ich an
London, bis ganz an den Anfang der Geschichte, und an Scotty
Shattuck. Warum hatte ich nicht auf seine Rückkehr gewartet? Er war
der Schlüssel zu der ganzen Sache. Meine Ungeduld hatte mich in die
falsche Richtung gelenkt. Seit dem Augenblick hatte ich in allem
falsch gelegen.
Vielleicht lag ich immer noch falsch, aber ich fuhr
weiter.