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»Sie sind doch kein Reporter, oder?«
Es war Montag früh, sehr früh, und Hoffer war
ziemlich mies drauf. Der Rettungswagen parkte in einer speziellen
Ladebucht direkt vor der Notaufnahme; der Rettungssanitäter befand
sich im hinteren Teil des Fahrzeugs, räumte auf und
überprüfte.
Hoffer stand draußen, eine Hand auf die Hecktür des
Wagens gestützt. Er hatte die plötzliche Vision, dass er den Kopf
des Sanitäters wiederholt dagegen knallte.
»Ich hab’s Ihnen schon gesagt, ich bin
Privatdetektiv.«
»Bloß war’s so: Kaum hatte ich der Polizei alles
erzählt, was ich weiß, haben die Scheißzeitungen angefangen, mich
zu löchern.«
»Hören Sie, Mr. Hughes, ich habe Ihnen meinen
Ausweis gezeigt.«
»Klar, so’n Ausweis kann doch jeder faken.«
Das stimmte schon, aber Hoffer war nicht in der
Stimmung zu diskutieren. Er hatte einen Kopf wie fünfhundert Iren
am St.-Patrick’s Day. Und seine Ohren funktionierten auch noch
nicht wieder richtig. Jedesmal, wenn er durch die Nase einatmete,
fühlte es sich so an, als ob er gleich seine Trommelfelle im Rachen
haben würde.
»Reden Sie mit mir, und ich verschwinde sofort«,
sagte er. Das funktionierte normalerweise. Hughes drehte sich um
und musterte ihn.
»Wie ein Reporter sehen Sie nicht aus.«
Hoffer nickte angesichts solchen
Scharfblicks.
»Sie sehen aus wie ein Herzstillstand in der
Warteschleife.«
Hoffer hörte auf zu nicken und begann dafür,
ernsthaft böse zu gucken.
»Schon gut, sorry. Also, was wollen Sie von mir
hören?«
»Ich hab die Abschrift Ihrer polizeilichen Aussage
gelesen, Mr. Hughes. Ich würde Ihnen eigentlich nur gern ein paar
Zusatzfragen stellen und vielleicht ein paar Fragen, die man Ihnen
schon gestellt hat, ein bisschen anders formulieren.«
»Na, dann beeilen Sie sich, ich bin im
Dienst.«
Hoffer verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass
sie schon vor gut fünf Minuten hätten anfangen können. Stattdessen
erkundigte er sich nach dem Akzent des angeblichen Patienten.
»Sehr gepflegt«, sagte Hughes. »Vornehm, glatt,
kultiviert.«
»Aber mit Sicherheit englisch?«
»O ja.«
»Nicht amerikanisch? Manchmal können die Akzente
ähnlicher klingen, als Sie glauben.«
»Das war britisches Englisch. Aus welchem County
könnte ich Ihnen allerdings nicht sagen. Der war kein Yank, hundert
Pro.«
»Vielleicht Kanadier?« Hughes schüttelte den Kopf.
»Also schön, beschrieben haben Sie ihn ja ziemlich gut - was er
anhatte, Körpergröße, Haarfarbe und so weiter. Glauben Sie, sein
Haar könnte gefärbt gewesen sein?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Manchmal sehen gefärbte Haare nicht ganz echt
aus.«
»Ach ja? Da verkehren wir offenbar mit
unterschiedlichen Typen von Frauen.«
Hoffer versuchte zu lachen. Der Türgriff fühlte
sich unheimlich gut in der Hand an. Er starrte unverwandt auf
Hughes’ Kopf. »Und es könnte auch kein Toupet gewesen sein?«
»Sie meinen, ein Ire?« Hoffer verstand nicht.
»Klar, Sie als Ami kapieren das nicht. Das ist Rhyming slang:
Irish jig gleich wig, Perücke. Nein, ich bin mir
sicher, das Haar war echt.«
»M-hm.« Hoffer hatte sich schon mit einer Schwester
in der Notaufnahme unterhalten - der, die die Personalien des
Mannes aufgenommen und dann den Hämatologen gerufen hatte. Ihre
Aussage war so nützlich wie eine Aspirintablette im Auffangkorb
einer Guillotine. Er rieb sich die Stirn. »Er hat Ihnen erzählt, er
wäre Bluter.«
»Er war Bluter.«
»Ganz sicher?«
»Entweder das, oder er hat einen in der Familie.
Oder vielleicht hat er auch bloß Medizin studiert.«
»So gut kannte er sich aus?«
»Er wusste von den Faktorlevels, er wusste, dass
Bluter immer einen besonderen Ausweis dabeihaben sollten, er
wusste, dass sie bei der geringsten Verletzung den Notruf wählen
und einen Rettungswagen anfordern sollen. Er wusste eine ganze
Menge.«
»Könnte er nicht einfach geraten haben?«
Hughes schüttelte den Kopf. »Ich sag’s Ihnen, der
wusste Bescheid.«
»Wer ist Ihr Hämatologe hier?«
»Keine Ahnung, ich bin hier bloß der
Transporteur.«
»Na, jetzt sind Sie aber zu bescheiden.«
Hughes’ Blick verriet Hoffer, dass er mit der
Schmeicheltour nicht weiterkommen würde. »Was ist mit der
Geschäftskarte - die ist ihm aus der Tasche gefallen?«
»Ja. Er sagte, das wär seine, aber die Polizei
erklärte, das wär sie nicht. Ich sollte mir dann Gerald Flitch
ansehen, den echten Gerald Flitch, meine ich. Das war er
nicht.«
»Hmm, ich werd mich selbst noch mit ihm
unterhalten.«
Die Tür der Notaufnahme flog mit einem Knall auf,
und der Ambulanzfahrer zog einen Rollstuhl heraus und die Rampe
hinunter. Hughes sprang aus dem Rettungswagen. Im Rollstuhl saß
eine Frau, so steinalt und starr, dass sie wie ausgestopft
aussah.
»Und schon geht’s wieder los, Mrs. Bridewell«,
brüllte Hughes ihr zu, während sie sie gemeinsam in den
Rettungswagen hievten. »Gleich sind Sie zu Haus.«
»Lohnt das die Fahrt überhaupt?«, murmelte Hoffer
in sich hinein. Er wandte sich vom Rettungswagen ab, aber Hughes
rief ihm etwas zu. Der Fahrer war schon eingestiegen und ließ den
Motor an. Hughes hielt einen Arm auf der Hecktür, bereit, sie zu
schließen.
»Das mit dem Herzinfarkt war kein Witz. Sie sollten
wirklich abnehmen. Wir würden uns einen Bruch heben, wenn wir Sie
auf die Trage wuchten müssten.«
»Sie sind ein richtiges Herzchen, Kumpel!«, rief
Hoffer, aber er rief es der zugeknallten Hecktür eines
Rettungswagens zu, der schon davonbrauste. Er stapfte wieder die
Rampe hinauf und betrat die Notaufnahme. Die Schwester, mit der er
schon gesprochen hatte, war noch immer da. Sie sah nicht so aus,
als hätte sie sich nach ihm verzehrt.
»Nur noch eins«, sagte Hoffer und winkte sie mit
dem Zeigefinger zu sich. »Mit wem kann ich mich hier über
Hämophilie unterhalten?«
»Wörtlich bedeutet das ›Liebe zum Blut‹.«
Dr. Jacobs war ein schmächtiger Mann mit einer
dieser englischen Schauspielerstimmen, von denen amerikanische
Frauen ein feuchtes Höschen kriegen. Es war so, als ob Jeremy Irons
irgendwo hinter den Kulissen stünde und Jacobs wäre seine
Marionette. Er hatte außerdem die haarigsten Unterarme, die Hoffer
jemals außerhalb eines Zoos gesehen hatte, und er konnte nur zehn
Minuten für ihn erübrigen. Er erklärte gerade, was das Wort
»Hämophilie« bedeutete.
»Das ist äußerst interessant«, sagte Hoffer. »Aber
sehen Sie, der Mann, mit dem wir es hier zu tun haben, ist ein
Berufsmörder, ein Sniper. Er arbeitet auch mit Sprengstoff. Klingt
das nach einer passenden Beschäftigung für einen Bluter?«
»Nein, keineswegs. Oder sagen wir, nicht für einen
schweren Bluter. Sehen Sie, die Krankheit tritt, grob
gesagt, in drei unterschiedlichen Ausprägungen auf: schwer,
mittelschwer und leicht. Die meisten registrierten Bluter in
Großbritannien gehören der ersten Kategorie an - das heißt, sie
zeigen eine weniger als zweiprozentige Faktoraktivität.«
»Was heißt ›Faktoraktivität‹?«
»Bluter, Mr. Hoffer, leiden an einer Störung der
Blutgerinnung. Blutgerinnung ist ein komplexer Vorgang, an dem
insgesamt dreizehn verschiedene Faktoren beteiligt sind. Wenn das
eine passiert, passiert das Nächste, und so bedingt eins das
andere. Wenn alle dreizehn Dinge passiert sind, findet die
Blutgerinnung statt. Aber Blutern fehlt einer der Faktoren, wodurch
die Ereigniskette unterbrochen wird und die Gerinnung nicht
stattfinden kann. Die meisten Bluter leiden an einem Mangel an
Faktor VIII, manche an einem Mangel an Faktor IX. Es gibt ein paar
noch seltenere Störungen, aber diese beiden sind die
hauptsächlichen. Der Mangel an Faktor VIII wird als Hämophilie A
bezeichnet, der an Faktor IX als Hämophilie B. Können Sie mir so
weit folgen?«
»Einwandfrei.«
Dr. Jacobs lehnte sich in seinem schwarzen
Ledersessel zurück. Er hatte ein kleines, enges Arbeitszimmer,
vollgestopft mit Fachbüchern und Untersuchungsergebnissen sowie
Stößen unbeantworteter Post. Sein weißer Kittel hing an einem Haken
hinter der Tür, und an den Wänden prangten jede Menge gerahmte
Diplome. Er hielt die Arme verschränkt, so dass er deren Affenpelz
kraulen konnte. Aus seinem Hemdkragen quollen weitere schwarze
Locken. Nackt, dachte Hoffer, hätte er sich vor einem Kamin prima
gemacht.
»Schwere Bluter«, fuhr der Arzt fort, »machen über
ein Drittel aller Hämophiliefälle aus. Sie können an spontanen
inneren Blutungen leiden, meist in weichem Gewebe, Gelenken und
Muskeln. In der Kindheit wird ihnen empfohlen, jede Art von
Kontaktsport zu meiden. Wir versuchen zu erreichen, dass sie eine
gute Schulbildung bekommen, so dass sie später eher am Schreibtisch
arbeiten können.«
»Dann gehen sie also nicht zum Militär?«
Dr. Jacobs lächelte. »Militär und Polizei nehmen
grundsätzlich keine Bluter auf.«
Hoffer runzelte die Stirn. Wenn er auf etwas hätte
schwören können, dann darauf, dass der D-Man früher entweder Soldat
oder Bulle gewesen war. »Keine Ausnahmen?«
»Keine.«
»Nicht mal, wenn sie die leichte Form haben?«
Jacobs schüttelte den Kopf. »Stimmt was nicht?«,
fragte er.
Hoffer zog sich schon seit einer Weile an den
Ohren. »Vom Fliegen krieg ich immer so ein komisches Gefühl in den
Ohren«, antwortete er. »Sagen Sie, können Sie mir helfen?
Vielleicht einen Blick drauf werfen?«
»Ich bin Hämatologe, Mr. Hoffer, kein
HNO-Arzt.«
»Aber Sie können doch Medikamente verschreiben,
oder? Vielleicht irgendwelche Schmerzmittel?«
»Wenden Sie sich an einen praktischen Arzt, Mr.
Hoffer.«
»Ich kann bezahlen.«
»Das bezweifle ich nicht. Haben Sie sich Ihren
Schnupfen im Flugzeug geholt?«
»Häh?« Hoffer schniefte in letzter Zeit so häufig,
dass ihm das kaum noch auffiel. Er putzte sich die Nase und rief
sich in Erinnerung, dass er wieder Papiertaschentücher kaufen
musste. Die verdammte Nase juckte ihm auch ständig. »Liegt an dem
Scheißwetter«, sagte er.
Der Arzt machte ein überraschtes Gesicht und sah
aus dem Fenster. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein. Er
wandte sich wieder zu Hoffer.
»Die Polizei hat mich schon wegen dieses Killers
befragt. Nach dem, was ich gehört habe, scheint er gewisse
Kenntnisse über die Hämophilie zu besitzen, aber wie ich den
Beamten erklärte, kann ich mir einen schweren Bluter als
Berufsmörder nicht vorstellen. Er sagte dem Rettungssanitäter, er
sei ein Prozent. Ich glaube, das war gelogen. Ich meine … na ja,
das ist jetzt alles Spekulation.«
»Nein, reden Sie weiter.« Hoffer stopfte sich das
zerfledderte Papiertaschentuch wieder in die Tasche.
»Tja, ich könnte mir vorstellen, dass die Waffen,
die er benutzt, einen ziemlichen Rückstoß haben.«
»Das können Sie laut sagen.«
»Na ja, und jeder Rückstoß könnte eine starke
innere Blutung verursachen. Schon bald würde er anfangen, Probleme
mit der Schulter zu haben. Und dann wäre er als Scharfschütze wohl
kaum noch zu gebrauchen.«
»Wie wär’s mit einem mittelschweren Bluter?«
»Selbst für einen mittelschweren Bluter wäre es
riskant. Nein, wenn dieser Mann überhaupt an Hämophilie leidet,
dann ist er ein leichter Fall.«
»Aber mit der Krankheit auskennen würde er sich
trotzdem, oder?«
»Oh, durchaus. Aber er könnte sich auch selbst eine
Verletzung zufügen, ohne anschließend ärztliche Versorgung zu
benötigen. Einfacher Druck auf die Wunde würde ausreichen, um die
Blutung zu stillen.«
Hoffer ließ sich das durch den Kopf gehen. »Wäre er
auch in so einem Fall registriert?«
»Mit fast hundertprozentiger Sicherheit.«
»Und die entsprechenden Listen sind wahrscheinlich
nicht...?«
Jacobs schüttelte schon den Kopf. »Wenn die Polizei
einen Antrag auf Akteneinsicht stellen möchte, besteht natürlich
die Chance - besonders, wenn es um die Festnahme eines Mörders
geht...«
»Ja, natürlich. Dr. Jacobs, wie viele leichte Fälle
gibt es?«
»In Großbritannien?« Hoffer nickte. »Rund
fünfzehnhundert.«
»Von wie vielen insgesamt?«
»Grob gerechnet sechseinhalbtausend.«
»Und wie viele von diesen fünfzehnhundert können
wir ausschließen?«
»Was?«
»Sie wissen schon - wie viele davon sind Kinder,
wie viele Rentner, wie viele Frauen? Das dürfte doch die Gesamtzahl
reduzieren.«
Jacobs lächelte. »Ich habe hier ein paar
Broschüren, die Sie vielleicht lesen sollten, Mr. Hoffer.« Er zog
eine Schreibtischschublade auf und fing an, darin
herumzukramen.
»Was? Hab ich Blödsinn geredet?«
»Nein, es ist bloß so, dass Hämophilie nur bei
Männern auftritt. Von Frauen wird sie weitergegeben, aber erkranken
tun daran nur die Söhne.«
Hoffer las die Broschüren in der Bar des Allington
Hotels durch.
Er fand das alles unglaublich. Wie konnte eine
Mutter das ihrem Sohn antun? Unglaublich. Die Frauen in der Familie
konnten die Krankheit in sich tragen, litten selbst aber fast nie
daran. Und wenn sie sie an ihre Töchter weitergaben, konnten diese
gegen sie ankämpfen. Es hing alles mit den Chromosomen zusammen.
Ein Junge bekam von der Mutter das X und vom Vater das Y, während
ein Mädchen zwei X-Chromosomen erhielt, von jedem Elternteil eins.
Die schadhafte genetische Information steckte ausschließlich im
X-Chromosom. Ein an Hämophilie leidender Mann gab sein schlechtes
X-Chromosom an seine Tochter weiter, aber das gute X, das sie von
ihrer Mutter bekam, hob das wieder auf. Dadurch wurde sie zu einer
Überträgerin, aber nicht zu einer Bluterin. Frauen hatten zwei
X-Chromosomen, Männer hingegen ein X- und ein Y-Chromosom. Deshalb
hatten Jungen eine fünfzigprozentige Chance, von der Mutter das
kranke X-Chromosom zu erben. Und das konnten sie nicht ausschalten,
da sie kein anderes, gesundes X-Chromosom besaßen, sondern nur so
ein beschissenes Y, das ihnen bei dem Kampf kein bisschen
weiterhalf.
Da stand noch mehr drin - über die Königin Viktoria
und die russische Zarenfamilie und Rasputin. Königin Viktoria war
Überträgerin gewesen. Und man brauchte die Hämophilie auch gar
nicht von dem einen oder anderen Elternoder Großelternteil zu
erben: Sie konnte durchaus auch spontan auftreten. Und ein leichter
Bluter hatte unter Umständen keine Ahnung, dass er an der Krankheit
litt, bis er sich irgendwann einen Zahn ziehen lassen oder einem
chirurgischen Eingriff unterziehen musste. Je weiter Hoffer las,
desto mehr fragte er sich, ob er nicht zu einer Blutuntersuchung
gehen solle. Er hatte von jeher sehr leicht blaue Flecken bekommen
und sogar einmal nach einem Zahnarztbesuch tagelang Blut gespuckt.
Vielleicht war er Bluter. Seiner Mutter hätte er absolut alles
zugetraut.
Er wusste selbst nicht genau, was es ihm bringen
sollte zu wissen, dass der D-Man vielleicht Bluter war. Es konnte
genauso gut sein, dass er einen Bluter in der Familie hatte oder er
einfach ein interessierter Beobachter war. Hoffer würde keinen
Einblick in irgendwelche Akten bekommen, und selbst wenn, was hätte
er damit anfangen sollen? Mit jedem einzelnen Kranken sprechen? Sie
alle hierherschleppen und Gerry Flitch gegenüberstellen?
Apropos …
»Mr. Flitch?«
»Ja.«
Hoffer reichte ihm die Hand. »Leo Hoffer, kann ich
Ihnen etwas ausgeben?«
»Danke, ja.«
Hoffer schnippte mit den Fingern, und der Barkeeper
nickte. Als Hoffer das zum ersten Mal probiert hatte, war die
einzige Reaktion ein so eisiger Blick vonseiten des Barkeepers
gewesen, dass er sich damit einen Martini hätte mixen können. Dann
hatte Hoffer ihm aber ein fettes Trinkgeld gegeben, und so war der
Barkeeper jetzt sein Freund. Hoffer saß in einem butterweichen
Sessel in einer dunklen Ecke der Bar. Flitch zog sich einen Stuhl
heran und nahm ihm gegenüber Platz. Er strich sich das Haar wieder
zurecht.
»Das war alles irgendwie... ich weiß nicht«, fing
er ungefragt an zu erzählen. »Kommt nicht alle Tage vor, dass man
erfährt, dass ein internationaler Terrorist einem einen Drink
ausgegeben hat.«
»Kein Terrorist, Gerry, bloß ein Auftragsmörder.
Was dagegen, wenn ich Sie Gerry nenne?«
»Überhaupt nicht... Leo.«
»So ist’s recht. Also, was soll’s sein?« Der
Barkeeper stand schon bereit.
»Whisky, bitte.«
»Mit Eis, Sir?«
»Und bringen Sie mir bitte auch etwas
Wasser.«
»Gewiss, Sir.«
Hoffer reichte dem Barkeeper sein leeres Glas. »Und
für mich noch einmal das Gleiche, Tom.«
»Mit Vergnügen, Mr. Hoffer.«
Gerry Flitch sah gebührend beeindruckt aus, was
auch der Zweck der Übung gewesen war. Hoffer schob seine
Hämophiliebroschüren zusammen und steckte sie zwischen Armlehne und
Sitzpolster seines Sessels - ein toller Sessel, richtig schön
geräumig und verdammt bequem. Er fragte sich, ob er den dem Hotel
abkaufen und vielleicht als Luftfracht aufgeben könne.
»Sie sagten, Sie wären Privatdetektiv, Leo.«
»Stimmt, Gerry.«
»Und die Polizei meinte, Sie wären ganz schön
bekannt.«
»In den Staaten vielleicht.« Gut. Flitch hatte, wie
empfohlen, Bob Broome angerufen, um Hoffers Referenzen zu
überprüfen. »Schön, dann erzählen Sie mir doch von Samstag, Gerry.
In aller Ruhe, ich will Ihnen nur zuhören.«
Barkeeper Tom kam mit ihren Drinks, und Hoffer gab
ihm ein weiteres Trinkgeld. »Bringen Sie uns noch ein bisschen was
zum Knabbern, Tom, ja?«
»Sicher, Mr. Hoffer.«
Glasschälchen mit Erdnüssen und Chips wurden
aufgefahren. Hoffer nahm sich eine Handvoll davon. Er hatte sich
eine halbe Stunde zuvor einen Entspannungsjoint reingezogen, und
jetzt war er hungrig.
»Tja«, sagte Flitch, »was gibt’s da schon groß zu
erzählen? Ich saß mit meinem Glas am Tresen, auf einem dieser
Hocker da. Da kommt dieser Typ rein und setzt sich ein paar Hocker
weiter hin. Er hat irgendwas Alkoholfreies getrunken, Grapefruit
mit Limo, glaube ich.«
»Es war Tonic, keine Limo. Das wissen wir durch den
Kassenbon.«
Flitch nickte. »Ja, Tonic, stimmt. Na, jedenfalls
sind wir ins Gespräch gekommen.«
»Wer hat damit angefangen?«
»Ich glaube, ich.«
»Und hat dieser Typ - schien er irgendwie
widerwillig zu reden?«
»Nein, überhaupt nicht, er war sehr freundlich. Man
wäre nie auf die Idee gekommen, dass er sich mit Mordgedanken
trug.«
»Tat er vielleicht auch gar nicht. Diese Typen
beherrschen die Kunst, das bei Bedarf völlig zu verdrängen. Und,
worüber haben Sie so geredet?«
Flitch zuckte die Achseln. »Nur so allgemein
geplaudert. Er hat mir erzählt, er wäre im Import-Export-Geschäft.
Ich hab ihm gesagt, dass ich Marketingstratege bin. Ich hab ihm
sogar meine Karte gegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Ein
gewaltiger Fehler. Plötzlich standen bewaffnete Polizisten
vor meiner Zimmertür.«
»Sie sind für uns ein Geschenk des Himmels, Gerry.
Einen Fehler hat vielmehr der Demolition Man gemacht, als er
Ihre Karte angenommen hat.«
»Schon, aber jetzt weiß er, wer ich bin, wo ich
arbeite, wo ich wohne. Und jetzt sitze ich auch noch da und rede
mit Ihnen.«
»Aber dass Sie mit uns geredet haben, wird er erst
erfahren, wenn er festgenommen worden ist. Außerdem ist er nicht
dumm. Er wird sich nicht in Ihre Nähe wagen.«
»Das wird aber auch gar nicht nötig sein, oder?
Nach dem, was ich gehört habe, wären ein paar hundert Meter für ihn
schon nah genug.« Flitch leerte sein Glas. Hoffer wusste, dass der
Mann nervös war, aber er hatte den Verdacht, dass Flitch auch unter
normalen Umständen viel trank. Der Typ war jung, Ende zwanzig, aber
er besaß ein Gesicht, das sich schon vorzeitig verhärtete, seinen
Charme verlor und dafür Hängebacken bekam. Nur ein richtiger
gestandener Kerl, einer wie Hoffer, konnte sich Hängebacken
leisten, ohne wie ein Säufer auszusehen. Flitch war ein angehender
Säufer, und er hatte schon fast alle Voraussetzungen dafür.
»Sagen Sie mir eins, Gerry, pudern Sie sich
manchmal die Nase?«
Flitchs Augen weiteten sich. »Ich geh mal davon
aus, dass Sie mich nicht für eine Tunte halten.«
»Da liegen Sie völlig richtig.«
Flitch zuckte die Achseln. »Hab ich vielleicht
gelegentlich auf Partys gemacht.« Seine Augen wurden schmaler.
»Warum?«
Hoffer beugte sich vor. »Wissen Sie, wo ich was
kriegen könnte?«
Flitch lächelte. »In Liverpool könnte ich Ihnen
helfen, aber hier unten muss ich leider passen.«
Hoffer lehnte sich wieder zurück und nickte
langsam, dann reckte er den Hals. »Noch eine Runde, Tom.« Flitch
sagte nicht nein. Hoffer rieb sich mit der Hand über die Nase.
»Gut, und worüber haben Sie sonst noch so geredet? Familie?
Werdegang? Darüber reden Geschäftsleute auf Reisen doch gewöhnlich,
wenn sie in einer Bar miteinander ins Gespräch kommen.«
»Wir nicht, es ist nie persönlich geworden. Es ging
darum, dass Mitte der Achtziger alles so einfach ausgesehen hatte,
dass es dann schwer geworden war und noch immer ist. Er sagte etwas
wie: ›In unserer Branche ist kein Platz für blutende Herzen.‹«
Flitch schauderte bei der Erinnerung.
»Der Junge hat Sinn für Humor«, bemerkte Hoffer.
Tom kam mit den Drinks. »Gerry, ich werde Sie nicht fragen, wie der
Typ aussah. Sie haben den Cops schon eine gute Personenbeschreibung
gegeben, und mittlerweile dürfte er sein Aussehen ohnehin verändert
haben. Ich werde etwas Schwierigeres von Ihnen verlangen.« Hoffer
beugte sich vor. »Ich will hören, was für einen Eindruck er als
Mensch auf Sie gemacht hat. Machen Sie einfach die Augen zu,
versetzen Sie sich wieder in diesen Tag zurück, konzentrieren Sie
sich, und dann erzählen Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt. Sie
brauchen sich nicht zu genieren, außer uns ist kein Mensch in der
Bar. Na los, schließen Sie die Augen.« Flitch gehorchte. »So ist’s
gut. Jetzt werde ich Ihnen zum Aufwärmen ein paar Fragen stellen,
okay?«
»Okay.« Flitchs Augenlider flatterten wie junge
Schmetterlinge.
»Beschreiben Sie mir seine Bewegungen - waren sie
eher steif oder geschmeidig? Wie hat er sein Glas gehoben? Haben
Sie ihn gehen sehen?«
Gerry Flitch dachte einen Augenblick lang nach und
fing dann an zu sprechen.
Hinterher wusch sich Hoffer auf der Herrentoilette
Hände und Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Er war müde.
Später würde er Walkins telefonisch einen vorläufigen Bericht
durchgeben müssen. Er würde einiges zu erzählen haben. Walkins
gierte nach Informationen über den Demolition Man. Man hätte meinen
können, er wolle sich ein möglichst exaktes Bild von ihm machen, um
es anschließend in Fetzen reißen zu können. Hoffer wurde aus
Walkins einfach nicht schlau. In seinem Haus gab es nicht
ein Foto von seiner Tochter, dafür jede Menge von seiner
Frau, die an Krebs gestorben war. Der Mann schwamm in Geld - Geld,
das er in der Politik verdient hatte. Während seiner Zeit als
Senator hatte Walkins das - größtenteils wahrscheinlich saubere -
Geld auf die hohe Kante gelegt. Man brauchte nicht korrupt zu sein,
um in der Politik ein kleines Vermögen zu machen. Aber als er sich
ins Privatleben zurückgezogen hatte, musste er irgendetwas
angestellt haben, wodurch aus seinem kleinen ein großes
Vermögen wurde, groß genug, um Hoffers Obsession zu finanzieren und
trotzdem noch genug übrig zu behalten.
Hoffer spielte mit dem Gedanken, sich ein paar
Lines reinzuziehen. Die würden ihn wach und klar machen. Aber erst
hatte er noch etwas zu erledigen, und außerdem ging sein Vorrat
bedenklich zur Neige. Er verließ die Herrentoilette und beschwatzte
die Frau an der Rezeption, ihm eine kleine Besichtigung von Zimmer
203 zu gestatten. Die Polizei hatte sich da schon gründlich
umgetan. Auf der Kommode, an Kleiderschrank und Fernseher befand
sich noch Puder von der Spurensicherung. Aber offenbar hatte »Mark
Wesley« vor dem Auschecken gründlich sauber gemacht. Er hatte in
seinem Zimmer ein paar trockene Handtücher auf dem Fußboden liegen
lassen, und warum hätte er das tun sollen, wenn er sie nicht zum
Möbelabwischen benutzt hatte? Trotzdem meinte die Polizei, an der
Innenseite der Tür einen halben Handabdruck und am Wasserkocher
einen Zeigefinger gesichert zu haben. Natürlich konnte man nicht
wissen, wessen Abdrücke das waren. Sie konnten ebenso gut von einem
Zimmermädchen wie von einem Besucher oder einem früheren Gast
stammen. Mit Sicherheit würde man das erst wissen, wenn man Mark
Wesley - oder wie immer er sich mittlerweile nennen mochte -
festgenommen haben würde. Die Beamten hatten auch den Rettungswagen
eingepudert, aber Wesley war sowohl hinein- als auch wieder
herausgetragen worden. Er hatte nichts berührt.
Das Zimmer verriet Hoffer nichts. Gerry Flitch
hatte ihm auch nicht viel gesagt. Hoffer setzte sich nach und nach
sein eigenes Bild vom D-Man zusammen, wusste aber nicht, inwieweit
ihm das helfen würde. Er war kein Psychologe, kein ausgebildeter
Profiler. Er hatte einen Freund beim FBI, der mit dem Material
vielleicht mehr hätte anfangen können. Er ging zurück an die
Rezeption und stellte fest, dass die Empfangsdame den Ausdruck und
die Fotokopien schon für ihn bereithielt. Er gab ihr den
versprochenen Zwanziger. Er hatte die Informationen schon von Bob
Broome bekommen, wollte sich aber vergewissern, dass der Polizist
ihn nicht zu linken versuchte. Es war alles da: Für die
Zimmerreservierung hatte er eine Kreditkarte benutzt, beim
Auschecken jedoch bar bezahlt. Die Polizei hatte sämtliche
Geldscheine, die das Hotel am Samstag kassierte, auf etwaige Spuren
untersucht und deren Seriennummern überprüft. Den potenziellen
Durchbruch stellte die Kreditkarte dar. Die Privatadresse, die Mark
Wesley im Hotel angegeben hatte, war falsch, aber die Kreditkarte
hatte sich als echt erwiesen.
Es hatte eine Weile gedauert, der Kreditkartenfirma
die Informationen aus dem Kreuz zu leiern, aber jetzt kannte die
Polizei sämtliche Lügen, die Wesley der Firma aufgetischt hatte:
Beruf, Geburtsdatum, Mädchenname der Mutter... Gut, konnte alles
frei erfunden sein, aber vielleicht steckten hier und da auch ein
paar Halbwahrheiten und kleine Ausrutscher. Man würde alles
überprüfen. Die Kreditkartenfirma schickte die Auszüge an eine
Adresse in St. John’s Wood, und dorthin würde sich Hoffer
aufmachen, sobald sein Chauffeur eingetroffen wäre.
Broome verspätete sich lediglich um fünf Minuten,
also verzieh ihm Hoffer.
»Und, produktiven Vormittag gehabt?«, fragte
Broome, als sein Passagier einstieg.
»Denk schon, wie steht’s mit Ihnen?«
»Halbwegs.«
Auf dem Weg nach St. John’s Wood erzählte Hoffer
Broome einiges von dem, was er inzwischen über die Hämophilie
gelernt hatte.
»Wenn wir die Liste aller eingetragenen Bluter
bekämen, wette ich, dass wir die Suche ziemlich schnell eingrenzen
könnten.«
»Vielleicht. Ich werd sehen, was ich tun kann.
Könnte sich auch als eine Sackgasse erweisen.«
»Hey, das werden wir erst wissen, wenn wir mit der
Nase gegen die Wand knallen, oder?«
»Stimmt wohl. Aber vielleicht können wir eine
Abkürzung nehmen. Wir kommen übrigens grad am Lord’s vorbei.«
»Lord wer?«
»Einfach nur Lord’s. Ist die Heimat des
Krickets.«
»Ein Sportstadion, hm? Und Kricket ist das, was wie
Baseball geht, bloß einfacher?« Broome warf ihm einen bösen Blick
zu. »Nur’n Scherz. Aber haben Sie sich jemals ein Baseballspiel
angeschaut? Tollstes Spiel der Welt.«
»Das muss der Grund sein, warum es in so vielen
Ländern gespielt wird.«
Sie erreichten ein Apartmenthaus und parkten auf
dem Privatparkplatz. Als sie die richtige Tür gefunden hatten,
wollte Broome klingeln, sah aber, wie Hoffer die Smith & Wesson
aus dem Hosenbund zog.
»Herrgott, Leo!«
»Hey, da könnte unser Mann drin sein.«
»Das ist ein Postdienst, mehr nicht. Eine
Briefkastenadresse. Vergessen Sie nicht - die erwarten uns, also
tun Sie die Knarre weg.«
Widerstrebend steckte Hoffer die Pistole wieder in
den Hosenbund und knöpfte sein Jackett zu. Broome klingelte und
wartete. Die Tür öffnete sich.
»Mr. Greene?«
»Chief Inspector Broome?«
»Richtig, Sir.« Broome zeigte seinen Dienstausweis.
»Dürfen wir hereinkommen?«
»Natürlich.«
Der Mann führte sie durch einen kurzen, halbdunklen
Flur in ein Wohnzimmer. Es war eine Parterrewohnung, die kleinste,
in der Hoffer jemals gewesen war. Ein Schlafzimmer und ein Bad,
dafür war die Küche nur eine Ausbuchtung des Wohnzimmers. Gut
eingerichtet war sie allerdings, jedenfalls wenn man auf Wohnungen
stand, die eher nach der neusten Mode als nach dem eigenen
Geschmack möbliert waren. Alles sah wie frisch aus dem
Einrichtungskatalog aus.
Desmond Greene war ein hagerer Mittvierziger mit
schleppender Aussprache, zappelnden Händen und einem ständig
ausweichenden Blick. Wenn er redete, wirkte er so, als hielte er
der blassgelben Tapete einen Vortrag. Hoffer ordnete ihn auf Anhieb
unter »schwul« ein - was natürlich nicht viel besagte. Hoffer
lernte häufig Männer kennen, die er hundertprozentig als schwul
einstufte, bloß um anschließend ihren großbusigen Gemahlinnen
vorgestellt zu werden. Was natürlich erst recht nichts
besagte.
Broome hatte Hoffer bewusst nicht vorgestellt. Es
war nicht gerade üblich für Beamte der Londoner Polizei, bei
Ermittlungen New Yorker Privatschnüffler mitzuschleppen. Vielleicht
hoffte er, dass Hoffer die Klappe halten würde.
»Wie lang haben Sie den Betrieb hier schon, Mr.
Greene?«, fragte Hoffer.
Greene ließ wie in einem Werbespot für Hautcreme
die Finger seine Wange hinabgleiten. »Viereinhalb Jahre, das ist
ziemlich lang in dieser Branche.«
»Und wie finden potenzielle Kunden Sie?«
»Och, durch Anzeigen.«
»In hiesigen Supermärkten?«
Ein schiefes Lächeln. »Nicht ganz so
preisgünstig. Ich inseriere regelmäßig in Zeitschriften.«
»In welchen?«
»Lieber Gott, sind Sie aber
neugierig!«
Hoffer setzte sein schiefes Lächeln auf.
»Nur wenn ich einen kaltblütigen Mörder jage und jemand macht mir
Schwierigkeiten.«
Greene bekam einen bedenklichen Gesichtsausdruck,
und Bob Broome übernahm die Regie. Hoffer war’s egal, er schätzte,
dass er Greene so viel Angst eingejagt hatte, dass er jetzt die
Wahrheit sagen würde. Ihm war’s sogar egal, wie Broome ihn
anschaute - so als hätte Hoffer gerade einen sechsjährigen
Pfadfinder dazu aufgefordert, ihm eine Hand in die Tasche zu
stecken und Onkel Dickie hallo zu sagen.
»Wie lange nehmen Sie schon Post für Mr. Wesley
entgegen?«
»Ihnen ist doch klar, Chief Inspector«, sagte
Greene, jetzt eine kleine Spur selbstsicherer, »dass der Sinn einer
Briefkastenadresse Vertraulichkeit ist?«
»Ja, Sir, das ist mir klar. Aber wie ich Ihnen am
Telefon sagte, geht es hier um mehrfachen Mord. Wenn Sie nicht
kooperieren, wird man Sie wegen Behinderung belangen.«
»Und anschließend nehmen wir Ihre tuntige Wohnung
Stück für Stück auseinander«, fügte Hoffer hinzu.
»Herrje«, sagte Greene, wieder stark verunsichert.
»O jemine.«
»Hoffer«, meinte Broome ruhig, »gehen Sie doch mal
Wasser aufsetzen. Vielleicht hätte Mr. Greene gern einen
Tee.«
Wer bin ich hier, das Zimmermädchen? Hoffer
stand auf und trollte sich in die Kochnische. Jetzt stand er hinter
Greene, und Greene wusste das. Er beugte sich in seinem Sessel vor,
als befürchtete er, jeden Augenblick ein Messer zwischen die
Schulterblätter gerammt zu bekommen. Hoffer lächelte beim Gedanken,
wie Greene auf das Gefühl einer kalten Pistolenmündung in seinem
Genick reagieren würde.
»Also«, fuhr Broome fort, »sind Sie bereit, uns zu
unterstützen, Sir?«
»Na ja, sicher. Es ist nicht meine Aufgabe, Mörder
zu decken.«
»Wenn Sie mir vielleicht etwas über den Service
sagen könnten, den Sie Mr. Wesley bieten?«
»Ist genau derselbe wie bei meinen anderen Kunden.
Ich habe über vierzig davon. Ich empfange Post, und sie können mich
anrufen und fragen, was gekommen ist, oder ich kann die Post einmal
im Monat an sie weiterleiten. Ich biete auch einen Telefondienst
an, aber den brauchte Mr. Wesley nicht.«
»Wie viel Post bekommt er?«
»Fast überhaupt keine. Nur Rechnungen und
Kontoauszüge.«
»Und lässt er sich die Sachen weiterleiten?«
»Nein, die holt er immer persönlich ab.«
»Wie oft?«
»Selten. Wie gesagt, es sind nur Kontoauszüge und
Rechnungen.«
»Was für Rechnungen?«
»Kreditkarten, könnte ich mir vorstellen. Man
braucht ja schließlich keinen Kreditkartenauszug, um sein Konto
auszugleichen, oder? Ein Blanko-Überweisungsträger mit der Nummer
seines Girokontos würde doch völlig ausreichen.«
»Das stimmt. Hat er sich nie eine Sendung
weiterleiten lassen?«
»Doch, einmal, an ein Hotel in Paris.«
»Erinnern Sie sich an den Namen des Hotels?«
Greene schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das ist
über ein Jahr her.«
»Vielleicht zwei Jahre?«, hakte Hoffer nach.
Greene wandte sich halb zu ihm um. »Möglich.«
Hoffer richtete den Blick auf Broome. »Dieser
Holländer, der Heroindealer. Der D-Man hat ihn vor zwei Jahren in
Paris ausgeknipst.«
Broome nickte. Der Wasserkocher fing an zu
blubbern. Hoffer hob ihn hoch, überlegte es sich dann aber
anders.
»Will irgendjemand wirklich Tee trinken?
Also ich könnte was Ernsthaftes vertragen.«
»Ich hätte Gin da«, sagte Greene. »Oder ein paar
Dosen Lager.«
»Das ist Ihre Party, Mann«, sagte Hoffer
grinsend.
Also tranken Broome und Hoffer jeder eine Dose
Lager, und Greene mixte sich einen Gin Tonic. Anschließend wurde er
ein bisschen lockerer. Das Bier war nicht schlecht, wenn auch ein
paar Monate über das Verfallsdatum hinaus.
»Schön«, sagte Broome, »dann kommt also Post
hierher, und Wesley ruft an, und Sie sagen ihm, was für ihn da
ist?«
Greene nickte, während er seinen Drink mit einem
Finger umrührte und ihn sich anschließend ableckte.
»Hat er Sie jemals gebeten, Post zu öffnen und ihm
vorzulesen?«
Greene schmatzte mit den Lippen. »Noch nie.«
»Und er hat nie etwas anderes als Rechnungen
bekommen?«
»Keine dicken braunen Umschläge voller Banknoten?«,
warf Hoffer ein. »Keine großen flachen Päckchen mit Fotos und Infos
zum nächsten Abschuss?«
Greene schauderte.
»Können Sie ihn uns beschreiben?«, fragte Broome,
ohne Hoffer zu beachten. Die Beschreibung, die Greene lieferte,
entsprach derjenigen des Mannes, dem Gerry Flitch seine Karte
gegeben hatte.
»Tja, das wäre es in etwa für heute, Mr. Greene«,
meinte Broome. Er stellte seine leere Bierdose auf den
Teppich.
»Aber etwas ist da noch«, sagte
Greene.
»Und das wäre?«
»Wollen Sie mich nicht fragen, ob nicht
irgendwelche Post auf ihn wartet?«
»Na gut, ist da welche?«
Greenes Gesicht ging in die Breite. »Ja!«,
quietschte er. »Und ob!«
Doch nachdem er die zwei Männer neugierig gemacht
hatte, schien er jetzt den Rückwärtsgang einlegen zu wollen.
Schließlich war es eine Straftat, fremde Post ohne ausdrückliche
Erlaubnis des Empfängers zu öffnen. Also musste ihm Broome
schriftlich bestätigen, dass er den Brief mitnahm und dazu auch
befugt war. Greene las die Erklärung durch.
»Könnten Sie dazuschreiben, dass ich damit von
jeder moralischen oder juristischen Verantwortung entbunden
bin?«
Broome kritzelte ein paar entsprechende Worte
hinzu, setzte dann Datum und Unterschrift darunter. Greene las das
Ganze noch einmal durch. Hoffer stand dicht hinter ihm und atmete
keuchend.
»Gut«, sagte Greene und faltete das Schreiben
zusammen, ließ es dann aber auf dem Frühstückstresen liegen. Er
ging aus dem Zimmer, um den Brief zu holen. Kaum war er draußen,
riss Hoffer ein neues Blatt aus dem Schreibblock, faltete es und
legte es auf den Frühstückstresen, nahm dann Broomes Erklärung,
knüllte sie zusammen und steckte sie sich in die Tasche. Er
zwinkerte Broome zu. Greene kam ins Zimmer zurück. Er schwenkte
einen dünnen Umschlag.
»Sieht wie ein Kontoauszug aus«, sagte er.
Es war ein Kontoauszug.
Als sie eintrafen, hatte die Bank schon zu, aber
die Angestellten waren noch da und machten die Tagesabrechnung. Der
Filialleiter, Mr. Arthur, führte sie in sein zweckmäßig schlichtes
Büro.
»Heute Abend kann ich nichts für Sie tun«, erklärte
er. »Um diese Uhrzeit erreiche ich in der Zentrale niemanden mehr.
Ihnen ist doch sicherlich klar, dass es etwas wie einen Dienstweg
einzuhalten gilt, Genehmigungen einzuholen, und selbst dann könnte
eine wirklich gründliche Überprüfung längere Zeit in Anspruch
nehmen.«
»Das ist mir alles bewusst, Sir«, erwiderte Bob
Broome, »aber je schneller wir den Ball ins Rollen bringen, desto
eher kommen wir in die Nähe des Tors. Dieser Mann hat mehr als ein
halbes Dutzend Menschen ermordet, zwei davon in diesem Land.«
»Ja, ich verstehe. Morgen früh werden wir alles
tun, was wir können, und das so schnell wir können - aber heute
Abend ist es nicht möglich.«
Sie befanden sich in der Piccadilly-Zweigstelle
einer der Clearingbanken. Es war natürlich eine vielbesuchte
Zweigstelle, ideal für jemanden wie den Demolition Man, dem es um
Anonymität ging.
»Wenn wir uns nur ein paar Minuten lang über sein
Konto unterhalten könnten, Sir«, sagte Broome. Der Filialleiter
warf einen Blick auf die Wanduhr und seufzte.
»Also gut«, sagte er.
Broome zog den Kontoauszug hervor. Viel stand da
nicht drin. Er betraf den vergangenen Monat und begann mit einem
Guthaben von fünfzehnhundert Pfund am Ersten, von dem im Laufe des
Monats durch Barauszahlungen und Scheckeinreichungen insgesamt
neunhundert Pfund abgegangen waren, wodurch sich das Guthaben am
Monatsende auf nurmehr sechshundert Pfund belief. Arthur tippte die
Kontonummer in seinen Computer ein.
»Hm«, sagte er, die Augen auf den Bildschirm
gerichtet, »seitdem dieser Auszug ausgedruckt wurde, hat er weitere
fünfhundert Pfund abgehoben.«
»Mit anderen Worten«, sagte Hoffer, »er hat das
Konto so gut wie geleert?«
»Ja, Freitag, Samstag und Sonntag. Er hat an jedem
Tag Geld abgehoben.«
Hoffer wandte sich zu Broome. »Er ist dabei, Mark
Wesley abzustoßen.« Er sah wieder den Filialleiter an. »Mr. Arthur,
Sie können, wie ich vermute, davon ausgehen, dass sich auf diesem
Konto von nun an nichts mehr tun wird.«
»Kann man feststellen, wo er das Geld abgehoben
hat?«
Arthur sah wieder auf den Bildschirm. »London
Innenstadt«, antwortete er.
»Wie steht’s mit alten Schecks?«, fragte Hoffer.
»Bewahren Sie die auf?«
»Ja, zumindest eine Zeit lang.«
»Wir könnten uns also seine an Sie zurückgegangenen
Schecks ansehen?«
Arthur nickte. »Sobald ich die Genehmigung
habe.«
Broome sah Hoffer an. »Woran denken Sie?«
»Er muss Leute bezahlen, Bob. Vielleicht hat er es
nicht immer bar dabei.«
»Sie glauben, er bezahlt seine Waffen und
Sprengstoffe per Scheck?«
Hoffer hob die Hände. »Hey, vielleicht auch nicht,
aber wir müssen das überprüfen. Wär möglich, dass er etwas oder
jemanden bezahlt hat, das oder der uns zu ihm führen könnte.
Inzwischen ist er mit Sicherheit untergetaucht und bastelt an
seiner neuen Identität. Das Einzige, womit wir arbeiten können, ist
die alte. Ich meine, wir sollten so tief graben, wie wir nur
können.« Er wandte sich zu Arthur, der diesem Gespräch mit
verdutzter Miene zugehört hatte. »Wir brauchen alte Schecks, alte
Auszüge, und wir brauchen die Standorte sämtlicher Cash-o-Maten,
die er benutzt hat. Es könnte sich ein Muster ergeben, das uns
seinen Wohnort verrät.«
»Cash-o-Mat?«, sagte Arthur.
»Geldautomat«, erklärte Broome.