7
»Sie sind doch kein Reporter, oder?«
Es war Montag früh, sehr früh, und Hoffer war ziemlich mies drauf. Der Rettungswagen parkte in einer speziellen Ladebucht direkt vor der Notaufnahme; der Rettungssanitäter befand sich im hinteren Teil des Fahrzeugs, räumte auf und überprüfte.
Hoffer stand draußen, eine Hand auf die Hecktür des Wagens gestützt. Er hatte die plötzliche Vision, dass er den Kopf des Sanitäters wiederholt dagegen knallte.
»Ich hab’s Ihnen schon gesagt, ich bin Privatdetektiv.«
»Bloß war’s so: Kaum hatte ich der Polizei alles erzählt, was ich weiß, haben die Scheißzeitungen angefangen, mich zu löchern.«
»Hören Sie, Mr. Hughes, ich habe Ihnen meinen Ausweis gezeigt.«
»Klar, so’n Ausweis kann doch jeder faken.«
Das stimmte schon, aber Hoffer war nicht in der Stimmung zu diskutieren. Er hatte einen Kopf wie fünfhundert Iren am St.-Patrick’s Day. Und seine Ohren funktionierten auch noch nicht wieder richtig. Jedesmal, wenn er durch die Nase einatmete, fühlte es sich so an, als ob er gleich seine Trommelfelle im Rachen haben würde.
»Reden Sie mit mir, und ich verschwinde sofort«, sagte er. Das funktionierte normalerweise. Hughes drehte sich um und musterte ihn.
»Wie ein Reporter sehen Sie nicht aus.«
Hoffer nickte angesichts solchen Scharfblicks.
»Sie sehen aus wie ein Herzstillstand in der Warteschleife.«
Hoffer hörte auf zu nicken und begann dafür, ernsthaft böse zu gucken.
»Schon gut, sorry. Also, was wollen Sie von mir hören?«
»Ich hab die Abschrift Ihrer polizeilichen Aussage gelesen, Mr. Hughes. Ich würde Ihnen eigentlich nur gern ein paar Zusatzfragen stellen und vielleicht ein paar Fragen, die man Ihnen schon gestellt hat, ein bisschen anders formulieren.«
»Na, dann beeilen Sie sich, ich bin im Dienst.«
Hoffer verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass sie schon vor gut fünf Minuten hätten anfangen können. Stattdessen erkundigte er sich nach dem Akzent des angeblichen Patienten.
»Sehr gepflegt«, sagte Hughes. »Vornehm, glatt, kultiviert.«
»Aber mit Sicherheit englisch?«
»O ja.«
»Nicht amerikanisch? Manchmal können die Akzente ähnlicher klingen, als Sie glauben.«
»Das war britisches Englisch. Aus welchem County könnte ich Ihnen allerdings nicht sagen. Der war kein Yank, hundert Pro.«
»Vielleicht Kanadier?« Hughes schüttelte den Kopf. »Also schön, beschrieben haben Sie ihn ja ziemlich gut - was er anhatte, Körpergröße, Haarfarbe und so weiter. Glauben Sie, sein Haar könnte gefärbt gewesen sein?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Manchmal sehen gefärbte Haare nicht ganz echt aus.«
»Ach ja? Da verkehren wir offenbar mit unterschiedlichen Typen von Frauen.«
Hoffer versuchte zu lachen. Der Türgriff fühlte sich unheimlich gut in der Hand an. Er starrte unverwandt auf Hughes’ Kopf. »Und es könnte auch kein Toupet gewesen sein?«
»Sie meinen, ein Ire?« Hoffer verstand nicht. »Klar, Sie als Ami kapieren das nicht. Das ist Rhyming slang: Irish jig gleich wig, Perücke. Nein, ich bin mir sicher, das Haar war echt.«
»M-hm.« Hoffer hatte sich schon mit einer Schwester in der Notaufnahme unterhalten - der, die die Personalien des Mannes aufgenommen und dann den Hämatologen gerufen hatte. Ihre Aussage war so nützlich wie eine Aspirintablette im Auffangkorb einer Guillotine. Er rieb sich die Stirn. »Er hat Ihnen erzählt, er wäre Bluter.«
»Er war Bluter.«
»Ganz sicher?«
»Entweder das, oder er hat einen in der Familie. Oder vielleicht hat er auch bloß Medizin studiert.«
»So gut kannte er sich aus?«
»Er wusste von den Faktorlevels, er wusste, dass Bluter immer einen besonderen Ausweis dabeihaben sollten, er wusste, dass sie bei der geringsten Verletzung den Notruf wählen und einen Rettungswagen anfordern sollen. Er wusste eine ganze Menge.«
»Könnte er nicht einfach geraten haben?«
Hughes schüttelte den Kopf. »Ich sag’s Ihnen, der wusste Bescheid.«
»Wer ist Ihr Hämatologe hier?«
»Keine Ahnung, ich bin hier bloß der Transporteur.«
»Na, jetzt sind Sie aber zu bescheiden.«
Hughes’ Blick verriet Hoffer, dass er mit der Schmeicheltour nicht weiterkommen würde. »Was ist mit der Geschäftskarte - die ist ihm aus der Tasche gefallen?«
»Ja. Er sagte, das wär seine, aber die Polizei erklärte, das wär sie nicht. Ich sollte mir dann Gerald Flitch ansehen, den echten Gerald Flitch, meine ich. Das war er nicht.«
»Hmm, ich werd mich selbst noch mit ihm unterhalten.«
Die Tür der Notaufnahme flog mit einem Knall auf, und der Ambulanzfahrer zog einen Rollstuhl heraus und die Rampe hinunter. Hughes sprang aus dem Rettungswagen. Im Rollstuhl saß eine Frau, so steinalt und starr, dass sie wie ausgestopft aussah.
»Und schon geht’s wieder los, Mrs. Bridewell«, brüllte Hughes ihr zu, während sie sie gemeinsam in den Rettungswagen hievten. »Gleich sind Sie zu Haus.«
»Lohnt das die Fahrt überhaupt?«, murmelte Hoffer in sich hinein. Er wandte sich vom Rettungswagen ab, aber Hughes rief ihm etwas zu. Der Fahrer war schon eingestiegen und ließ den Motor an. Hughes hielt einen Arm auf der Hecktür, bereit, sie zu schließen.
»Das mit dem Herzinfarkt war kein Witz. Sie sollten wirklich abnehmen. Wir würden uns einen Bruch heben, wenn wir Sie auf die Trage wuchten müssten.«
»Sie sind ein richtiges Herzchen, Kumpel!«, rief Hoffer, aber er rief es der zugeknallten Hecktür eines Rettungswagens zu, der schon davonbrauste. Er stapfte wieder die Rampe hinauf und betrat die Notaufnahme. Die Schwester, mit der er schon gesprochen hatte, war noch immer da. Sie sah nicht so aus, als hätte sie sich nach ihm verzehrt.
»Nur noch eins«, sagte Hoffer und winkte sie mit dem Zeigefinger zu sich. »Mit wem kann ich mich hier über Hämophilie unterhalten?«
 
»Wörtlich bedeutet das ›Liebe zum Blut‹.«
Dr. Jacobs war ein schmächtiger Mann mit einer dieser englischen Schauspielerstimmen, von denen amerikanische Frauen ein feuchtes Höschen kriegen. Es war so, als ob Jeremy Irons irgendwo hinter den Kulissen stünde und Jacobs wäre seine Marionette. Er hatte außerdem die haarigsten Unterarme, die Hoffer jemals außerhalb eines Zoos gesehen hatte, und er konnte nur zehn Minuten für ihn erübrigen. Er erklärte gerade, was das Wort »Hämophilie« bedeutete.
»Das ist äußerst interessant«, sagte Hoffer. »Aber sehen Sie, der Mann, mit dem wir es hier zu tun haben, ist ein Berufsmörder, ein Sniper. Er arbeitet auch mit Sprengstoff. Klingt das nach einer passenden Beschäftigung für einen Bluter?«
»Nein, keineswegs. Oder sagen wir, nicht für einen schweren Bluter. Sehen Sie, die Krankheit tritt, grob gesagt, in drei unterschiedlichen Ausprägungen auf: schwer, mittelschwer und leicht. Die meisten registrierten Bluter in Großbritannien gehören der ersten Kategorie an - das heißt, sie zeigen eine weniger als zweiprozentige Faktoraktivität.«
»Was heißt ›Faktoraktivität‹?«
»Bluter, Mr. Hoffer, leiden an einer Störung der Blutgerinnung. Blutgerinnung ist ein komplexer Vorgang, an dem insgesamt dreizehn verschiedene Faktoren beteiligt sind. Wenn das eine passiert, passiert das Nächste, und so bedingt eins das andere. Wenn alle dreizehn Dinge passiert sind, findet die Blutgerinnung statt. Aber Blutern fehlt einer der Faktoren, wodurch die Ereigniskette unterbrochen wird und die Gerinnung nicht stattfinden kann. Die meisten Bluter leiden an einem Mangel an Faktor VIII, manche an einem Mangel an Faktor IX. Es gibt ein paar noch seltenere Störungen, aber diese beiden sind die hauptsächlichen. Der Mangel an Faktor VIII wird als Hämophilie A bezeichnet, der an Faktor IX als Hämophilie B. Können Sie mir so weit folgen?«
»Einwandfrei.«
Dr. Jacobs lehnte sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück. Er hatte ein kleines, enges Arbeitszimmer, vollgestopft mit Fachbüchern und Untersuchungsergebnissen sowie Stößen unbeantworteter Post. Sein weißer Kittel hing an einem Haken hinter der Tür, und an den Wänden prangten jede Menge gerahmte Diplome. Er hielt die Arme verschränkt, so dass er deren Affenpelz kraulen konnte. Aus seinem Hemdkragen quollen weitere schwarze Locken. Nackt, dachte Hoffer, hätte er sich vor einem Kamin prima gemacht.
»Schwere Bluter«, fuhr der Arzt fort, »machen über ein Drittel aller Hämophiliefälle aus. Sie können an spontanen inneren Blutungen leiden, meist in weichem Gewebe, Gelenken und Muskeln. In der Kindheit wird ihnen empfohlen, jede Art von Kontaktsport zu meiden. Wir versuchen zu erreichen, dass sie eine gute Schulbildung bekommen, so dass sie später eher am Schreibtisch arbeiten können.«
»Dann gehen sie also nicht zum Militär?«
Dr. Jacobs lächelte. »Militär und Polizei nehmen grundsätzlich keine Bluter auf.«
Hoffer runzelte die Stirn. Wenn er auf etwas hätte schwören können, dann darauf, dass der D-Man früher entweder Soldat oder Bulle gewesen war. »Keine Ausnahmen?«
»Keine.«
»Nicht mal, wenn sie die leichte Form haben?«
Jacobs schüttelte den Kopf. »Stimmt was nicht?«, fragte er.
Hoffer zog sich schon seit einer Weile an den Ohren. »Vom Fliegen krieg ich immer so ein komisches Gefühl in den Ohren«, antwortete er. »Sagen Sie, können Sie mir helfen? Vielleicht einen Blick drauf werfen?«
»Ich bin Hämatologe, Mr. Hoffer, kein HNO-Arzt.«
»Aber Sie können doch Medikamente verschreiben, oder? Vielleicht irgendwelche Schmerzmittel?«
»Wenden Sie sich an einen praktischen Arzt, Mr. Hoffer.«
»Ich kann bezahlen.«
»Das bezweifle ich nicht. Haben Sie sich Ihren Schnupfen im Flugzeug geholt?«
»Häh?« Hoffer schniefte in letzter Zeit so häufig, dass ihm das kaum noch auffiel. Er putzte sich die Nase und rief sich in Erinnerung, dass er wieder Papiertaschentücher kaufen musste. Die verdammte Nase juckte ihm auch ständig. »Liegt an dem Scheißwetter«, sagte er.
Der Arzt machte ein überraschtes Gesicht und sah aus dem Fenster. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein. Er wandte sich wieder zu Hoffer.
»Die Polizei hat mich schon wegen dieses Killers befragt. Nach dem, was ich gehört habe, scheint er gewisse Kenntnisse über die Hämophilie zu besitzen, aber wie ich den Beamten erklärte, kann ich mir einen schweren Bluter als Berufsmörder nicht vorstellen. Er sagte dem Rettungssanitäter, er sei ein Prozent. Ich glaube, das war gelogen. Ich meine … na ja, das ist jetzt alles Spekulation.«
»Nein, reden Sie weiter.« Hoffer stopfte sich das zerfledderte Papiertaschentuch wieder in die Tasche.
»Tja, ich könnte mir vorstellen, dass die Waffen, die er benutzt, einen ziemlichen Rückstoß haben.«
»Das können Sie laut sagen.«
»Na ja, und jeder Rückstoß könnte eine starke innere Blutung verursachen. Schon bald würde er anfangen, Probleme mit der Schulter zu haben. Und dann wäre er als Scharfschütze wohl kaum noch zu gebrauchen.«
»Wie wär’s mit einem mittelschweren Bluter?«
»Selbst für einen mittelschweren Bluter wäre es riskant. Nein, wenn dieser Mann überhaupt an Hämophilie leidet, dann ist er ein leichter Fall.«
»Aber mit der Krankheit auskennen würde er sich trotzdem, oder?«
»Oh, durchaus. Aber er könnte sich auch selbst eine Verletzung zufügen, ohne anschließend ärztliche Versorgung zu benötigen. Einfacher Druck auf die Wunde würde ausreichen, um die Blutung zu stillen.«
Hoffer ließ sich das durch den Kopf gehen. »Wäre er auch in so einem Fall registriert?«
»Mit fast hundertprozentiger Sicherheit.«
»Und die entsprechenden Listen sind wahrscheinlich nicht...?«
Jacobs schüttelte schon den Kopf. »Wenn die Polizei einen Antrag auf Akteneinsicht stellen möchte, besteht natürlich die Chance - besonders, wenn es um die Festnahme eines Mörders geht...«
»Ja, natürlich. Dr. Jacobs, wie viele leichte Fälle gibt es?«
»In Großbritannien?« Hoffer nickte. »Rund fünfzehnhundert.«
»Von wie vielen insgesamt?«
»Grob gerechnet sechseinhalbtausend.«
»Und wie viele von diesen fünfzehnhundert können wir ausschließen?«
»Was?«
»Sie wissen schon - wie viele davon sind Kinder, wie viele Rentner, wie viele Frauen? Das dürfte doch die Gesamtzahl reduzieren.«
Jacobs lächelte. »Ich habe hier ein paar Broschüren, die Sie vielleicht lesen sollten, Mr. Hoffer.« Er zog eine Schreibtischschublade auf und fing an, darin herumzukramen.
»Was? Hab ich Blödsinn geredet?«
»Nein, es ist bloß so, dass Hämophilie nur bei Männern auftritt. Von Frauen wird sie weitergegeben, aber erkranken tun daran nur die Söhne.«
 
Hoffer las die Broschüren in der Bar des Allington Hotels durch.
Er fand das alles unglaublich. Wie konnte eine Mutter das ihrem Sohn antun? Unglaublich. Die Frauen in der Familie konnten die Krankheit in sich tragen, litten selbst aber fast nie daran. Und wenn sie sie an ihre Töchter weitergaben, konnten diese gegen sie ankämpfen. Es hing alles mit den Chromosomen zusammen. Ein Junge bekam von der Mutter das X und vom Vater das Y, während ein Mädchen zwei X-Chromosomen erhielt, von jedem Elternteil eins. Die schadhafte genetische Information steckte ausschließlich im X-Chromosom. Ein an Hämophilie leidender Mann gab sein schlechtes X-Chromosom an seine Tochter weiter, aber das gute X, das sie von ihrer Mutter bekam, hob das wieder auf. Dadurch wurde sie zu einer Überträgerin, aber nicht zu einer Bluterin. Frauen hatten zwei X-Chromosomen, Männer hingegen ein X- und ein Y-Chromosom. Deshalb hatten Jungen eine fünfzigprozentige Chance, von der Mutter das kranke X-Chromosom zu erben. Und das konnten sie nicht ausschalten, da sie kein anderes, gesundes X-Chromosom besaßen, sondern nur so ein beschissenes Y, das ihnen bei dem Kampf kein bisschen weiterhalf.
Da stand noch mehr drin - über die Königin Viktoria und die russische Zarenfamilie und Rasputin. Königin Viktoria war Überträgerin gewesen. Und man brauchte die Hämophilie auch gar nicht von dem einen oder anderen Elternoder Großelternteil zu erben: Sie konnte durchaus auch spontan auftreten. Und ein leichter Bluter hatte unter Umständen keine Ahnung, dass er an der Krankheit litt, bis er sich irgendwann einen Zahn ziehen lassen oder einem chirurgischen Eingriff unterziehen musste. Je weiter Hoffer las, desto mehr fragte er sich, ob er nicht zu einer Blutuntersuchung gehen solle. Er hatte von jeher sehr leicht blaue Flecken bekommen und sogar einmal nach einem Zahnarztbesuch tagelang Blut gespuckt. Vielleicht war er Bluter. Seiner Mutter hätte er absolut alles zugetraut.
Er wusste selbst nicht genau, was es ihm bringen sollte zu wissen, dass der D-Man vielleicht Bluter war. Es konnte genauso gut sein, dass er einen Bluter in der Familie hatte oder er einfach ein interessierter Beobachter war. Hoffer würde keinen Einblick in irgendwelche Akten bekommen, und selbst wenn, was hätte er damit anfangen sollen? Mit jedem einzelnen Kranken sprechen? Sie alle hierherschleppen und Gerry Flitch gegenüberstellen?
Apropos …
»Mr. Flitch?«
»Ja.«
Hoffer reichte ihm die Hand. »Leo Hoffer, kann ich Ihnen etwas ausgeben?«
»Danke, ja.«
Hoffer schnippte mit den Fingern, und der Barkeeper nickte. Als Hoffer das zum ersten Mal probiert hatte, war die einzige Reaktion ein so eisiger Blick vonseiten des Barkeepers gewesen, dass er sich damit einen Martini hätte mixen können. Dann hatte Hoffer ihm aber ein fettes Trinkgeld gegeben, und so war der Barkeeper jetzt sein Freund. Hoffer saß in einem butterweichen Sessel in einer dunklen Ecke der Bar. Flitch zog sich einen Stuhl heran und nahm ihm gegenüber Platz. Er strich sich das Haar wieder zurecht.
»Das war alles irgendwie... ich weiß nicht«, fing er ungefragt an zu erzählen. »Kommt nicht alle Tage vor, dass man erfährt, dass ein internationaler Terrorist einem einen Drink ausgegeben hat.«
»Kein Terrorist, Gerry, bloß ein Auftragsmörder. Was dagegen, wenn ich Sie Gerry nenne?«
»Überhaupt nicht... Leo.«
»So ist’s recht. Also, was soll’s sein?« Der Barkeeper stand schon bereit.
»Whisky, bitte.«
»Mit Eis, Sir?«
»Und bringen Sie mir bitte auch etwas Wasser.«
»Gewiss, Sir.«
Hoffer reichte dem Barkeeper sein leeres Glas. »Und für mich noch einmal das Gleiche, Tom.«
»Mit Vergnügen, Mr. Hoffer.«
Gerry Flitch sah gebührend beeindruckt aus, was auch der Zweck der Übung gewesen war. Hoffer schob seine Hämophiliebroschüren zusammen und steckte sie zwischen Armlehne und Sitzpolster seines Sessels - ein toller Sessel, richtig schön geräumig und verdammt bequem. Er fragte sich, ob er den dem Hotel abkaufen und vielleicht als Luftfracht aufgeben könne.
»Sie sagten, Sie wären Privatdetektiv, Leo.«
»Stimmt, Gerry.«
»Und die Polizei meinte, Sie wären ganz schön bekannt.«
»In den Staaten vielleicht.« Gut. Flitch hatte, wie empfohlen, Bob Broome angerufen, um Hoffers Referenzen zu überprüfen. »Schön, dann erzählen Sie mir doch von Samstag, Gerry. In aller Ruhe, ich will Ihnen nur zuhören.«
Barkeeper Tom kam mit ihren Drinks, und Hoffer gab ihm ein weiteres Trinkgeld. »Bringen Sie uns noch ein bisschen was zum Knabbern, Tom, ja?«
»Sicher, Mr. Hoffer.«
Glasschälchen mit Erdnüssen und Chips wurden aufgefahren. Hoffer nahm sich eine Handvoll davon. Er hatte sich eine halbe Stunde zuvor einen Entspannungsjoint reingezogen, und jetzt war er hungrig.
»Tja«, sagte Flitch, »was gibt’s da schon groß zu erzählen? Ich saß mit meinem Glas am Tresen, auf einem dieser Hocker da. Da kommt dieser Typ rein und setzt sich ein paar Hocker weiter hin. Er hat irgendwas Alkoholfreies getrunken, Grapefruit mit Limo, glaube ich.«
»Es war Tonic, keine Limo. Das wissen wir durch den Kassenbon.«
Flitch nickte. »Ja, Tonic, stimmt. Na, jedenfalls sind wir ins Gespräch gekommen.«
»Wer hat damit angefangen?«
»Ich glaube, ich.«
»Und hat dieser Typ - schien er irgendwie widerwillig zu reden?«
»Nein, überhaupt nicht, er war sehr freundlich. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass er sich mit Mordgedanken trug.«
»Tat er vielleicht auch gar nicht. Diese Typen beherrschen die Kunst, das bei Bedarf völlig zu verdrängen. Und, worüber haben Sie so geredet?«
Flitch zuckte die Achseln. »Nur so allgemein geplaudert. Er hat mir erzählt, er wäre im Import-Export-Geschäft. Ich hab ihm gesagt, dass ich Marketingstratege bin. Ich hab ihm sogar meine Karte gegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Ein gewaltiger Fehler. Plötzlich standen bewaffnete Polizisten vor meiner Zimmertür.«
»Sie sind für uns ein Geschenk des Himmels, Gerry. Einen Fehler hat vielmehr der Demolition Man gemacht, als er Ihre Karte angenommen hat.«
»Schon, aber jetzt weiß er, wer ich bin, wo ich arbeite, wo ich wohne. Und jetzt sitze ich auch noch da und rede mit Ihnen.«
»Aber dass Sie mit uns geredet haben, wird er erst erfahren, wenn er festgenommen worden ist. Außerdem ist er nicht dumm. Er wird sich nicht in Ihre Nähe wagen.«
»Das wird aber auch gar nicht nötig sein, oder? Nach dem, was ich gehört habe, wären ein paar hundert Meter für ihn schon nah genug.« Flitch leerte sein Glas. Hoffer wusste, dass der Mann nervös war, aber er hatte den Verdacht, dass Flitch auch unter normalen Umständen viel trank. Der Typ war jung, Ende zwanzig, aber er besaß ein Gesicht, das sich schon vorzeitig verhärtete, seinen Charme verlor und dafür Hängebacken bekam. Nur ein richtiger gestandener Kerl, einer wie Hoffer, konnte sich Hängebacken leisten, ohne wie ein Säufer auszusehen. Flitch war ein angehender Säufer, und er hatte schon fast alle Voraussetzungen dafür.
»Sagen Sie mir eins, Gerry, pudern Sie sich manchmal die Nase?«
Flitchs Augen weiteten sich. »Ich geh mal davon aus, dass Sie mich nicht für eine Tunte halten.«
»Da liegen Sie völlig richtig.«
Flitch zuckte die Achseln. »Hab ich vielleicht gelegentlich auf Partys gemacht.« Seine Augen wurden schmaler. »Warum?«
Hoffer beugte sich vor. »Wissen Sie, wo ich was kriegen könnte?«
Flitch lächelte. »In Liverpool könnte ich Ihnen helfen, aber hier unten muss ich leider passen.«
Hoffer lehnte sich wieder zurück und nickte langsam, dann reckte er den Hals. »Noch eine Runde, Tom.« Flitch sagte nicht nein. Hoffer rieb sich mit der Hand über die Nase. »Gut, und worüber haben Sie sonst noch so geredet? Familie? Werdegang? Darüber reden Geschäftsleute auf Reisen doch gewöhnlich, wenn sie in einer Bar miteinander ins Gespräch kommen.«
»Wir nicht, es ist nie persönlich geworden. Es ging darum, dass Mitte der Achtziger alles so einfach ausgesehen hatte, dass es dann schwer geworden war und noch immer ist. Er sagte etwas wie: ›In unserer Branche ist kein Platz für blutende Herzen.‹« Flitch schauderte bei der Erinnerung.
»Der Junge hat Sinn für Humor«, bemerkte Hoffer. Tom kam mit den Drinks. »Gerry, ich werde Sie nicht fragen, wie der Typ aussah. Sie haben den Cops schon eine gute Personenbeschreibung gegeben, und mittlerweile dürfte er sein Aussehen ohnehin verändert haben. Ich werde etwas Schwierigeres von Ihnen verlangen.« Hoffer beugte sich vor. »Ich will hören, was für einen Eindruck er als Mensch auf Sie gemacht hat. Machen Sie einfach die Augen zu, versetzen Sie sich wieder in diesen Tag zurück, konzentrieren Sie sich, und dann erzählen Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt. Sie brauchen sich nicht zu genieren, außer uns ist kein Mensch in der Bar. Na los, schließen Sie die Augen.« Flitch gehorchte. »So ist’s gut. Jetzt werde ich Ihnen zum Aufwärmen ein paar Fragen stellen, okay?«
»Okay.« Flitchs Augenlider flatterten wie junge Schmetterlinge.
»Beschreiben Sie mir seine Bewegungen - waren sie eher steif oder geschmeidig? Wie hat er sein Glas gehoben? Haben Sie ihn gehen sehen?«
Gerry Flitch dachte einen Augenblick lang nach und fing dann an zu sprechen.
Hinterher wusch sich Hoffer auf der Herrentoilette Hände und Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Er war müde. Später würde er Walkins telefonisch einen vorläufigen Bericht durchgeben müssen. Er würde einiges zu erzählen haben. Walkins gierte nach Informationen über den Demolition Man. Man hätte meinen können, er wolle sich ein möglichst exaktes Bild von ihm machen, um es anschließend in Fetzen reißen zu können. Hoffer wurde aus Walkins einfach nicht schlau. In seinem Haus gab es nicht ein Foto von seiner Tochter, dafür jede Menge von seiner Frau, die an Krebs gestorben war. Der Mann schwamm in Geld - Geld, das er in der Politik verdient hatte. Während seiner Zeit als Senator hatte Walkins das - größtenteils wahrscheinlich saubere - Geld auf die hohe Kante gelegt. Man brauchte nicht korrupt zu sein, um in der Politik ein kleines Vermögen zu machen. Aber als er sich ins Privatleben zurückgezogen hatte, musste er irgendetwas angestellt haben, wodurch aus seinem kleinen ein großes Vermögen wurde, groß genug, um Hoffers Obsession zu finanzieren und trotzdem noch genug übrig zu behalten.
Hoffer spielte mit dem Gedanken, sich ein paar Lines reinzuziehen. Die würden ihn wach und klar machen. Aber erst hatte er noch etwas zu erledigen, und außerdem ging sein Vorrat bedenklich zur Neige. Er verließ die Herrentoilette und beschwatzte die Frau an der Rezeption, ihm eine kleine Besichtigung von Zimmer 203 zu gestatten. Die Polizei hatte sich da schon gründlich umgetan. Auf der Kommode, an Kleiderschrank und Fernseher befand sich noch Puder von der Spurensicherung. Aber offenbar hatte »Mark Wesley« vor dem Auschecken gründlich sauber gemacht. Er hatte in seinem Zimmer ein paar trockene Handtücher auf dem Fußboden liegen lassen, und warum hätte er das tun sollen, wenn er sie nicht zum Möbelabwischen benutzt hatte? Trotzdem meinte die Polizei, an der Innenseite der Tür einen halben Handabdruck und am Wasserkocher einen Zeigefinger gesichert zu haben. Natürlich konnte man nicht wissen, wessen Abdrücke das waren. Sie konnten ebenso gut von einem Zimmermädchen wie von einem Besucher oder einem früheren Gast stammen. Mit Sicherheit würde man das erst wissen, wenn man Mark Wesley - oder wie immer er sich mittlerweile nennen mochte - festgenommen haben würde. Die Beamten hatten auch den Rettungswagen eingepudert, aber Wesley war sowohl hinein- als auch wieder herausgetragen worden. Er hatte nichts berührt.
Das Zimmer verriet Hoffer nichts. Gerry Flitch hatte ihm auch nicht viel gesagt. Hoffer setzte sich nach und nach sein eigenes Bild vom D-Man zusammen, wusste aber nicht, inwieweit ihm das helfen würde. Er war kein Psychologe, kein ausgebildeter Profiler. Er hatte einen Freund beim FBI, der mit dem Material vielleicht mehr hätte anfangen können. Er ging zurück an die Rezeption und stellte fest, dass die Empfangsdame den Ausdruck und die Fotokopien schon für ihn bereithielt. Er gab ihr den versprochenen Zwanziger. Er hatte die Informationen schon von Bob Broome bekommen, wollte sich aber vergewissern, dass der Polizist ihn nicht zu linken versuchte. Es war alles da: Für die Zimmerreservierung hatte er eine Kreditkarte benutzt, beim Auschecken jedoch bar bezahlt. Die Polizei hatte sämtliche Geldscheine, die das Hotel am Samstag kassierte, auf etwaige Spuren untersucht und deren Seriennummern überprüft. Den potenziellen Durchbruch stellte die Kreditkarte dar. Die Privatadresse, die Mark Wesley im Hotel angegeben hatte, war falsch, aber die Kreditkarte hatte sich als echt erwiesen.
Es hatte eine Weile gedauert, der Kreditkartenfirma die Informationen aus dem Kreuz zu leiern, aber jetzt kannte die Polizei sämtliche Lügen, die Wesley der Firma aufgetischt hatte: Beruf, Geburtsdatum, Mädchenname der Mutter... Gut, konnte alles frei erfunden sein, aber vielleicht steckten hier und da auch ein paar Halbwahrheiten und kleine Ausrutscher. Man würde alles überprüfen. Die Kreditkartenfirma schickte die Auszüge an eine Adresse in St. John’s Wood, und dorthin würde sich Hoffer aufmachen, sobald sein Chauffeur eingetroffen wäre.
Broome verspätete sich lediglich um fünf Minuten, also verzieh ihm Hoffer.
»Und, produktiven Vormittag gehabt?«, fragte Broome, als sein Passagier einstieg.
»Denk schon, wie steht’s mit Ihnen?«
»Halbwegs.«
Auf dem Weg nach St. John’s Wood erzählte Hoffer Broome einiges von dem, was er inzwischen über die Hämophilie gelernt hatte.
»Wenn wir die Liste aller eingetragenen Bluter bekämen, wette ich, dass wir die Suche ziemlich schnell eingrenzen könnten.«
»Vielleicht. Ich werd sehen, was ich tun kann. Könnte sich auch als eine Sackgasse erweisen.«
»Hey, das werden wir erst wissen, wenn wir mit der Nase gegen die Wand knallen, oder?«
»Stimmt wohl. Aber vielleicht können wir eine Abkürzung nehmen. Wir kommen übrigens grad am Lord’s vorbei.«
»Lord wer?«
»Einfach nur Lord’s. Ist die Heimat des Krickets.«
»Ein Sportstadion, hm? Und Kricket ist das, was wie Baseball geht, bloß einfacher?« Broome warf ihm einen bösen Blick zu. »Nur’n Scherz. Aber haben Sie sich jemals ein Baseballspiel angeschaut? Tollstes Spiel der Welt.«
»Das muss der Grund sein, warum es in so vielen Ländern gespielt wird.«
Sie erreichten ein Apartmenthaus und parkten auf dem Privatparkplatz. Als sie die richtige Tür gefunden hatten, wollte Broome klingeln, sah aber, wie Hoffer die Smith & Wesson aus dem Hosenbund zog.
»Herrgott, Leo!«
»Hey, da könnte unser Mann drin sein.«
»Das ist ein Postdienst, mehr nicht. Eine Briefkastenadresse. Vergessen Sie nicht - die erwarten uns, also tun Sie die Knarre weg.«
Widerstrebend steckte Hoffer die Pistole wieder in den Hosenbund und knöpfte sein Jackett zu. Broome klingelte und wartete. Die Tür öffnete sich.
»Mr. Greene?«
»Chief Inspector Broome?«
»Richtig, Sir.« Broome zeigte seinen Dienstausweis. »Dürfen wir hereinkommen?«
»Natürlich.«
Der Mann führte sie durch einen kurzen, halbdunklen Flur in ein Wohnzimmer. Es war eine Parterrewohnung, die kleinste, in der Hoffer jemals gewesen war. Ein Schlafzimmer und ein Bad, dafür war die Küche nur eine Ausbuchtung des Wohnzimmers. Gut eingerichtet war sie allerdings, jedenfalls wenn man auf Wohnungen stand, die eher nach der neusten Mode als nach dem eigenen Geschmack möbliert waren. Alles sah wie frisch aus dem Einrichtungskatalog aus.
Desmond Greene war ein hagerer Mittvierziger mit schleppender Aussprache, zappelnden Händen und einem ständig ausweichenden Blick. Wenn er redete, wirkte er so, als hielte er der blassgelben Tapete einen Vortrag. Hoffer ordnete ihn auf Anhieb unter »schwul« ein - was natürlich nicht viel besagte. Hoffer lernte häufig Männer kennen, die er hundertprozentig als schwul einstufte, bloß um anschließend ihren großbusigen Gemahlinnen vorgestellt zu werden. Was natürlich erst recht nichts besagte.
Broome hatte Hoffer bewusst nicht vorgestellt. Es war nicht gerade üblich für Beamte der Londoner Polizei, bei Ermittlungen New Yorker Privatschnüffler mitzuschleppen. Vielleicht hoffte er, dass Hoffer die Klappe halten würde.
»Wie lang haben Sie den Betrieb hier schon, Mr. Greene?«, fragte Hoffer.
Greene ließ wie in einem Werbespot für Hautcreme die Finger seine Wange hinabgleiten. »Viereinhalb Jahre, das ist ziemlich lang in dieser Branche.«
»Und wie finden potenzielle Kunden Sie?«
»Och, durch Anzeigen.«
»In hiesigen Supermärkten?«
Ein schiefes Lächeln. »Nicht ganz so preisgünstig. Ich inseriere regelmäßig in Zeitschriften.«
»In welchen?«
»Lieber Gott, sind Sie aber neugierig!«
Hoffer setzte sein schiefes Lächeln auf. »Nur wenn ich einen kaltblütigen Mörder jage und jemand macht mir Schwierigkeiten.«
Greene bekam einen bedenklichen Gesichtsausdruck, und Bob Broome übernahm die Regie. Hoffer war’s egal, er schätzte, dass er Greene so viel Angst eingejagt hatte, dass er jetzt die Wahrheit sagen würde. Ihm war’s sogar egal, wie Broome ihn anschaute - so als hätte Hoffer gerade einen sechsjährigen Pfadfinder dazu aufgefordert, ihm eine Hand in die Tasche zu stecken und Onkel Dickie hallo zu sagen.
»Wie lange nehmen Sie schon Post für Mr. Wesley entgegen?«
»Ihnen ist doch klar, Chief Inspector«, sagte Greene, jetzt eine kleine Spur selbstsicherer, »dass der Sinn einer Briefkastenadresse Vertraulichkeit ist?«
»Ja, Sir, das ist mir klar. Aber wie ich Ihnen am Telefon sagte, geht es hier um mehrfachen Mord. Wenn Sie nicht kooperieren, wird man Sie wegen Behinderung belangen.«
»Und anschließend nehmen wir Ihre tuntige Wohnung Stück für Stück auseinander«, fügte Hoffer hinzu.
»Herrje«, sagte Greene, wieder stark verunsichert. »O jemine.«
»Hoffer«, meinte Broome ruhig, »gehen Sie doch mal Wasser aufsetzen. Vielleicht hätte Mr. Greene gern einen Tee.«
Wer bin ich hier, das Zimmermädchen? Hoffer stand auf und trollte sich in die Kochnische. Jetzt stand er hinter Greene, und Greene wusste das. Er beugte sich in seinem Sessel vor, als befürchtete er, jeden Augenblick ein Messer zwischen die Schulterblätter gerammt zu bekommen. Hoffer lächelte beim Gedanken, wie Greene auf das Gefühl einer kalten Pistolenmündung in seinem Genick reagieren würde.
»Also«, fuhr Broome fort, »sind Sie bereit, uns zu unterstützen, Sir?«
»Na ja, sicher. Es ist nicht meine Aufgabe, Mörder zu decken.«
»Wenn Sie mir vielleicht etwas über den Service sagen könnten, den Sie Mr. Wesley bieten?«
»Ist genau derselbe wie bei meinen anderen Kunden. Ich habe über vierzig davon. Ich empfange Post, und sie können mich anrufen und fragen, was gekommen ist, oder ich kann die Post einmal im Monat an sie weiterleiten. Ich biete auch einen Telefondienst an, aber den brauchte Mr. Wesley nicht.«
»Wie viel Post bekommt er?«
»Fast überhaupt keine. Nur Rechnungen und Kontoauszüge.«
»Und lässt er sich die Sachen weiterleiten?«
»Nein, die holt er immer persönlich ab.«
»Wie oft?«
»Selten. Wie gesagt, es sind nur Kontoauszüge und Rechnungen.«
»Was für Rechnungen?«
»Kreditkarten, könnte ich mir vorstellen. Man braucht ja schließlich keinen Kreditkartenauszug, um sein Konto auszugleichen, oder? Ein Blanko-Überweisungsträger mit der Nummer seines Girokontos würde doch völlig ausreichen.«
»Das stimmt. Hat er sich nie eine Sendung weiterleiten lassen?«
»Doch, einmal, an ein Hotel in Paris.«
»Erinnern Sie sich an den Namen des Hotels?«
Greene schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das ist über ein Jahr her.«
»Vielleicht zwei Jahre?«, hakte Hoffer nach.
Greene wandte sich halb zu ihm um. »Möglich.«
Hoffer richtete den Blick auf Broome. »Dieser Holländer, der Heroindealer. Der D-Man hat ihn vor zwei Jahren in Paris ausgeknipst.«
Broome nickte. Der Wasserkocher fing an zu blubbern. Hoffer hob ihn hoch, überlegte es sich dann aber anders.
»Will irgendjemand wirklich Tee trinken? Also ich könnte was Ernsthaftes vertragen.«
»Ich hätte Gin da«, sagte Greene. »Oder ein paar Dosen Lager.«
»Das ist Ihre Party, Mann«, sagte Hoffer grinsend.
Also tranken Broome und Hoffer jeder eine Dose Lager, und Greene mixte sich einen Gin Tonic. Anschließend wurde er ein bisschen lockerer. Das Bier war nicht schlecht, wenn auch ein paar Monate über das Verfallsdatum hinaus.
»Schön«, sagte Broome, »dann kommt also Post hierher, und Wesley ruft an, und Sie sagen ihm, was für ihn da ist?«
Greene nickte, während er seinen Drink mit einem Finger umrührte und ihn sich anschließend ableckte.
»Hat er Sie jemals gebeten, Post zu öffnen und ihm vorzulesen?«
Greene schmatzte mit den Lippen. »Noch nie.«
»Und er hat nie etwas anderes als Rechnungen bekommen?«
»Keine dicken braunen Umschläge voller Banknoten?«, warf Hoffer ein. »Keine großen flachen Päckchen mit Fotos und Infos zum nächsten Abschuss?«
Greene schauderte.
»Können Sie ihn uns beschreiben?«, fragte Broome, ohne Hoffer zu beachten. Die Beschreibung, die Greene lieferte, entsprach derjenigen des Mannes, dem Gerry Flitch seine Karte gegeben hatte.
»Tja, das wäre es in etwa für heute, Mr. Greene«, meinte Broome. Er stellte seine leere Bierdose auf den Teppich.
»Aber etwas ist da noch«, sagte Greene.
»Und das wäre?«
»Wollen Sie mich nicht fragen, ob nicht irgendwelche Post auf ihn wartet?«
»Na gut, ist da welche?«
Greenes Gesicht ging in die Breite. »Ja!«, quietschte er. »Und ob!«
Doch nachdem er die zwei Männer neugierig gemacht hatte, schien er jetzt den Rückwärtsgang einlegen zu wollen. Schließlich war es eine Straftat, fremde Post ohne ausdrückliche Erlaubnis des Empfängers zu öffnen. Also musste ihm Broome schriftlich bestätigen, dass er den Brief mitnahm und dazu auch befugt war. Greene las die Erklärung durch.
»Könnten Sie dazuschreiben, dass ich damit von jeder moralischen oder juristischen Verantwortung entbunden bin?«
Broome kritzelte ein paar entsprechende Worte hinzu, setzte dann Datum und Unterschrift darunter. Greene las das Ganze noch einmal durch. Hoffer stand dicht hinter ihm und atmete keuchend.
»Gut«, sagte Greene und faltete das Schreiben zusammen, ließ es dann aber auf dem Frühstückstresen liegen. Er ging aus dem Zimmer, um den Brief zu holen. Kaum war er draußen, riss Hoffer ein neues Blatt aus dem Schreibblock, faltete es und legte es auf den Frühstückstresen, nahm dann Broomes Erklärung, knüllte sie zusammen und steckte sie sich in die Tasche. Er zwinkerte Broome zu. Greene kam ins Zimmer zurück. Er schwenkte einen dünnen Umschlag.
»Sieht wie ein Kontoauszug aus«, sagte er.
Es war ein Kontoauszug.
 
Als sie eintrafen, hatte die Bank schon zu, aber die Angestellten waren noch da und machten die Tagesabrechnung. Der Filialleiter, Mr. Arthur, führte sie in sein zweckmäßig schlichtes Büro.
»Heute Abend kann ich nichts für Sie tun«, erklärte er. »Um diese Uhrzeit erreiche ich in der Zentrale niemanden mehr. Ihnen ist doch sicherlich klar, dass es etwas wie einen Dienstweg einzuhalten gilt, Genehmigungen einzuholen, und selbst dann könnte eine wirklich gründliche Überprüfung längere Zeit in Anspruch nehmen.«
»Das ist mir alles bewusst, Sir«, erwiderte Bob Broome, »aber je schneller wir den Ball ins Rollen bringen, desto eher kommen wir in die Nähe des Tors. Dieser Mann hat mehr als ein halbes Dutzend Menschen ermordet, zwei davon in diesem Land.«
»Ja, ich verstehe. Morgen früh werden wir alles tun, was wir können, und das so schnell wir können - aber heute Abend ist es nicht möglich.«
Sie befanden sich in der Piccadilly-Zweigstelle einer der Clearingbanken. Es war natürlich eine vielbesuchte Zweigstelle, ideal für jemanden wie den Demolition Man, dem es um Anonymität ging.
»Wenn wir uns nur ein paar Minuten lang über sein Konto unterhalten könnten, Sir«, sagte Broome. Der Filialleiter warf einen Blick auf die Wanduhr und seufzte.
»Also gut«, sagte er.
Broome zog den Kontoauszug hervor. Viel stand da nicht drin. Er betraf den vergangenen Monat und begann mit einem Guthaben von fünfzehnhundert Pfund am Ersten, von dem im Laufe des Monats durch Barauszahlungen und Scheckeinreichungen insgesamt neunhundert Pfund abgegangen waren, wodurch sich das Guthaben am Monatsende auf nurmehr sechshundert Pfund belief. Arthur tippte die Kontonummer in seinen Computer ein.
»Hm«, sagte er, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, »seitdem dieser Auszug ausgedruckt wurde, hat er weitere fünfhundert Pfund abgehoben.«
»Mit anderen Worten«, sagte Hoffer, »er hat das Konto so gut wie geleert?«
»Ja, Freitag, Samstag und Sonntag. Er hat an jedem Tag Geld abgehoben.«
Hoffer wandte sich zu Broome. »Er ist dabei, Mark Wesley abzustoßen.« Er sah wieder den Filialleiter an. »Mr. Arthur, Sie können, wie ich vermute, davon ausgehen, dass sich auf diesem Konto von nun an nichts mehr tun wird.«
»Kann man feststellen, wo er das Geld abgehoben hat?«
Arthur sah wieder auf den Bildschirm. »London Innenstadt«, antwortete er.
»Wie steht’s mit alten Schecks?«, fragte Hoffer. »Bewahren Sie die auf?«
»Ja, zumindest eine Zeit lang.«
»Wir könnten uns also seine an Sie zurückgegangenen Schecks ansehen?«
Arthur nickte. »Sobald ich die Genehmigung habe.«
Broome sah Hoffer an. »Woran denken Sie?«
»Er muss Leute bezahlen, Bob. Vielleicht hat er es nicht immer bar dabei.«
»Sie glauben, er bezahlt seine Waffen und Sprengstoffe per Scheck?«
Hoffer hob die Hände. »Hey, vielleicht auch nicht, aber wir müssen das überprüfen. Wär möglich, dass er etwas oder jemanden bezahlt hat, das oder der uns zu ihm führen könnte. Inzwischen ist er mit Sicherheit untergetaucht und bastelt an seiner neuen Identität. Das Einzige, womit wir arbeiten können, ist die alte. Ich meine, wir sollten so tief graben, wie wir nur können.« Er wandte sich zu Arthur, der diesem Gespräch mit verdutzter Miene zugehört hatte. »Wir brauchen alte Schecks, alte Auszüge, und wir brauchen die Standorte sämtlicher Cash-o-Maten, die er benutzt hat. Es könnte sich ein Muster ergeben, das uns seinen Wohnort verrät.«
»Cash-o-Mat?«, sagte Arthur.
»Geldautomat«, erklärte Broome.
Bis aufs Blut - Thriller
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