9
Die schwierigste Aufgabe, die Hoffer bis dahin in London zu bewältigen gehabt hatte, war, einen Dealer zu finden, der ihn nicht für einen Undercoverbullen oder den schießfreudigen Vater eines minderjährigen Junkies hielt.
Crack gab es durchaus auf dem Markt, aber nicht viel richtiges Kokain. Das Zeug, das er zu guter Letzt kaufte, war alles andere als erstklassige Ware - wahrscheinlich fünf Teile Lidocain und drei Teile Backpulver -, aber mit Crack oder Kokainbase würde er unter keinen Umständen anfangen, er hatte schon zu oft gesehen, wohin diese speziellen Nebenwege führten. Als Crack Einzug in die Stadt gehalten hatte, war er ein New Yorker Straßenbulle gewesen. Binnen weniger Monate hatte die Droge die Slums überschwemmt. Anfang der Achtziger war er mit einem Bullen befreundet gewesen, der mit freebasing angefangen hatte. Er war wie ein Frachtkahn ohne Boden abgesackt.
Zu den Drogen war Hoffer auf die gleiche Weise wie dieser Freund gekommen. Er verbrachte seine Tage damit, Pusher und User hochzunehmen, lebte so sehr mitten unter Drogen, dass es ihm so vorkam, als würden die kleinen Mistkerle ständig auf ihn einflüstern - selbst noch im Schlaf. Eines Tages hatte er ein paar Fläschchen Crack konfisziert, allerdings eins zu wenig abgeliefert. Er fand bald heraus, dass es eine ganze Menge von Officers gab, die jede Menge Drogen konsumierten. Manche von ihnen nahmen dem einen Dealer Drogen ab und verkauften sie, nachdem sie einen kleinen Teil für sich abgezweigt hatten, an einen anderen weiter. Andere hatten ein ernstes Problem und Pupillen wie Stecknadelköpfe, hingen voll an der Nadel. Als Bulle war man in einer privilegierten Position. Man musste nie weit laufen oder lang betteln, um ein Tütchen weißes Puder an Land zu ziehen, und man brauchte so gut wie nie zu bezahlen. Aber freebasing, das war der Horror. Jemand hatte mal versucht, ihn auf den Geschmack zu bringen: hatte den Rauch in einen Luftballon geblasen und ihm den benutzten Rauch zum Recycling angeboten. Die zwischenmenschlichen Aspekte des Drogenkonsums hatten Hoffer ohnehin nie zugesagt, aber sich jemand anderes Atem reinzuziehen, das ging ihm entschieden zu weit.
Jetzt war er also in London und tat, was er tat.
Er legte noch ein paar hundert Milligramm Speed in seinen Einkaufskorb und verlangte als Gegengewicht zum Speed noch ein paar Quaaludes, begnügte sich aber am Ende mit Librium und noch ein bisschen Extrakoks.
»Jetzt noch einen wegstecken«, sagte er anschließend zu sich. In Soho hatte er nichts für die Nacht gefunden, also war er durchs West End gestreift, hatte eine Viertelstunde in einer Tuntenbar verplempert, bevor er seinen Fehler bemerkt hatte, und schließlich eine Nutte aufgetan, die nicht mit in sein Hotel wollte, aber bereit gewesen wäre, ihm auf ihrer Bude Erleichterung zu verschaffen. Da musste wiederum Hoffer dankend ablehnen; er hatte schon mal eine Nutte in ihr dreckiges Schlafzimmer begleitet und wäre um ein Haar von ihrem Zuhälter ausgeplündert worden. Also begnügten sie sich mit einem Blowjob in einer dunklen Gasse, für den sie einen Zwanziger verlangte. Das ergab einen Stundenlohn von zweihundertvierzig Pfund, was wahrlich nicht wenig war. Sogar mehr, als Walkins ihm zahlte.
Am nächsten Morgen duschte er, da er in die Wanne nie im Leben ganz reingepasst hätte, zog einen seriösen blauen Anzug an und stattete seinem Banker einen Besuch ab.
Mr. Arthur sah so aus, als sei er derjenige, der um ein Darlehen für eine lebensrettende Operation für seine Tochter bettelte.
»Es läuft schon alles seinen Gang, Mr. Hopper.«
»Ich heiße Hoffer.«
»Natürlich, Hoffer.« Arthur lächelte wie eine Kröte zur Paarungszeit. »Aber es ist noch zu früh für irgendwelche Resultate - ich sagte es ja bereits.«
»Sag, was du willst, du Flachwichser, aber jetzt hörst du mir gut zu.« Hoffer lehnte sich in seinem knackengen Sessel vor. »Ich brauch mich an keinerlei Spielregeln zu halten, wenn du also Wert darauf legst, künftig in der Lunchpause und nach Feierabend aus deiner Bank spazieren zu können, ohne dich erst links und rechts nach etwaigen Baseballschlägern umzusehen, dann würde ich dir sehr empfehlen, dem Gang der Ereignisse ein bisschen Feuer unterm Hintern zu machen.«
»Also jetzt hören Sie mal -«
»Was ich schon förmlich höre, ist, wie deine Zähne aufs Pflaster prasseln, Arschgesicht. Jetzt mach der Zentrale Dampf, aber ziemlich zügig, und in der Zwischenzeit lass sehen, was ihr hier so an Unterlagen habt.«
Arthurs Oberlippe glänzte plötzlich von Schweiß. Er sah so aus, als hätte er an die zwanzig Pfund Statur verloren.
»Ich habe um elf einen Termin.«
»Streichen.«
»Hören Sie, Sie können nicht einfach -«
»Ich dachte, das hätte ich bereits.« Hoffer stand auf und steckte die Hände in die Taschen. Er wusste, dass er mit den seitlich hervorstehenden Ellbogen wie ein sehr schlecht gelaunter Berggorilla aussah. Wenn Arthur noch die geringste Kontrolle über seine Gliedmaßen gehabt hätte, hätte er sich auf der Monstera in der Ecke in Sicherheit gebracht. »Jetzt geh die Unterlagen holen.«
Er setzte sich wieder hin und versuchte, so auszusehen, als säße er bequem. Der Filialleiter blieb noch ein paar Augenblicke sitzen, bloß um zu zeigen, dass er nicht eingeschüchtert war. Hoffer gönnte ihm mit einem Achselzucken die kleine Genugtuung. Sie kannten beide die Wahrheit. Mr. Arthur stand langsam auf und hielt sich dabei an der Schreibtischkante fest. Dann verließ er den Raum.
Er kehrte mit zwei, drei Aktenordnern und ein paar Fotokopien zurück. »Das ist alles, was ich im Moment finden kann. Die meisten unserer Unterlagen werden nach einer gewissen Zeit an die Zentrale geschickt.«
»Sag den Typen, dass du sie sofort zurückhaben willst. Was ist mit der Überprüfung von Wesleys Kontobewegungen?«
»Wird gerade durchgeführt. Wir müssen uns alle alten Schecks einzeln ansehen. Wir bewahren sie ja nicht nach Ausstellern sortiert auf.«
Hoffer griff nach den Ordnern. Da klopfte es an der Tür.
»Ignorieren«, sagte Hoffer.
»Das werde ich mit Sicherheit nicht tun.« Arthur ging mit forschem Schritt zur Tür und öffnete sie. »Das ist der Mann, Officers.«
Hoffer drehte sich träge um. An der Tür standen zwei uniformierte Polizisten. Dann hatte Arthur also nicht nur die Akten herausgesucht. Hoffer warf trotzdem einen Blick hinein. Sie enthielten lediglich weißes Schreibpapier.
»Du Hurensohn«, sagte er. Dann forderten ihn die Polizisten auf, sie hinauszubegleiten, und er stand auf. »Gern«, sagte er. »Gar kein Problem«, versicherte er ihnen.
Aber währenddessen hatte er nur Augen für Mr. Arthur.
»Nie wieder! Hören Sie?«
Hoffer hörte. Es hing ihm schon zu den Ohren raus. Bob Broomes Wortschatz schien nur aus diesen paar Wörtern zu bestehen.
»Könnten wir die Platte umdrehen, Bob?«
Broome knallte mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Das ist nicht zum Lachen, Hoffer. Sie können nicht einfach so durch die Gegend ziehen und Banker bedrohen. Herrjesus, sie sind diejenigen, die in diesem Land das Sagen haben!«
»Das ist ja dann Ihr Problem. Trotzdem, es könnte schlimmer sein.« Broome wartete auf eine Erklärung. »Zumindest sah Arthur nicht wie ein Jud aus.«
Broome ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Hoffer, Sie sind Abschaum.«
Das brauchte sich Hoffer nicht bieten zu lassen. »Ja, ich bin Abschaum, aber Abschaum, der zahlt. Was sind dann Sie?«
»Moment mal, ja?«
»Nein, Schnauze und zuhören. Vergessen Sie nicht, ich war selbst früher Bulle, ich weiß, wie das ist. Man versucht, wahnsinnig beschäftigt auszusehen, aber die meiste Zeit über tut man nichts anderes als Däumchen drehen und darauf warten, dass jemand kommt und einem verrät, wie der Täter heißt. Ich kann das nicht mehr machen. Den Luxus kann ich mir nicht leisten. Ich habe lediglich einen Kopf und zwei Fäuste, und wenn Ihnen das nicht passt, dann gehen Sie mir einfach aus dem Weg.«
»Ich habe Sie gerade vor einer Karrenladung Mist bewahrt.«
»Und dafür bin ich Ihnen dankbar, aber ich hab mich schon früher selbst aus der Scheiße gezogen, ohne eine Mistgabel im Arsch dazu zu benötigen.«
Broome schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann Sie hier nicht gebrauchen, Hoffer.«
»So’n Pech aber auch.«
»Das ist mein Ernst. Ich will Sie hier nicht mehr sehen.«
»Damit komm ich klar, Chief Inspector.« Hoffer stand auf. »Aber vergessen Sie nicht, Sie sind derjenige, der mich gerufen hat, Sie sind derjenige, der Geld von mir genommen hat.« Hoffer verließ das Büro. Er sparte es sich, die Tür hinter sich zu schließen.
Als er die Vine Street entlangging, sah er DI Dave Edmond um die Ecke kommen. Sie kannten sich durch Broome.
»Hey... Dave, stimmt’s?«, sagte Hoffer, ganz der joviale, lächelnde Amerikaner.
»Stimmt«, sagte Edmond.
»Hätten Sie einen Moment Zeit?«
»Na ja, ich war gerade...«
»Ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht einen Drink spendieren.«
Edmond leckte sich die Lippen. Es war geschlagene elf Stunden her, dass er zuletzt einen Tropfen angerührt hatte. »Tja also, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Hoffer legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nicht ohne Hintergedanken, Dave. Ich hab ein paar Fragen, und Bob meinte, Sie hätten vielleicht nichts dagegen...«
»Was für Fragen?« Edmond war schon umdirigiert worden und ging zusammen mit Hoffer denselben Weg zurück, den er gerade gekommen war.
»Ach, nur so’n paar Hintergrundinfos. Sie wissen schon, Ballistisches, Tatort, so was halt. Und dann noch alles, was Sie über das Opfer wissen.«
Edmond hatte gesagt, wenn sie über Schießeisen reden wollten, dann sollte er vielleicht Barney hinzuziehen. Sergeant Barney Wills war der Waffenfan des Reviers. Also nahmen sie Barney mit ins Pub.
Es war eins von diesen auf alt gemachten Lokalen, bei denen Hoffer unmittelbar nach Betreten vor Langeweile ins Koma fiel. In Amerika sah eine Bar wie eine Bar aus: ein Ort, den man zum Trinken aufsuchte. Was da Zaumzeugbeschläge, gerahmte Drucke von irgendwelchen Teeclippern und Regale voller Bücher zu suchen haben sollten, war ihm ein Rätsel. Ja, Bücher, als ob die Leute plötzlich glauben sollten, sie wären in einer Bibliothek, und beschließen könnten, sich trotzdem, wenn sie schon mal da waren, einen Drink zu genehmigen.
Es war außerdem alles Talmi, kaum was davon echt. Die Drucke waren neu und in Plastik gerahmt, die Bücher kiloweise gekauft. Manchmal konnte er an den Engländern verzweifeln. Sie fielen einfach auf jeden Schwindel rein. Edmond und Barney wären die perfekten Opfer für einen echten Trickbetrüger gewesen - perfekt deswegen, weil sie sich einbildeten, ihn um den Finger wickeln zu können. Er war bloß so’n protziger Yank mit zu viel Geld und einer Menge schwachsinniger Ideen im Kopf. Sie würden mitspielen, auf seine Kosten lachen, auf seine Kosten trinken und ihm ein paar Storys erzählen.
Hoffer hatte nichts dagegen. Er wusste, wer in Wirklichkeit wen fickte. Wenn das ein Pornofilm gewesen wäre, hätten die zwei Bullen den nackten Arsch in die Luft gereckt.
Barney erzählte ihm, was das Labor über das SniperGewehr herausgefunden hatte. Nämlich dass der tödliche Schuss tatsächlich aus ihm abgefeuert worden und es eine Präzisionswaffe für Spezialeinsätze war, die zwar beim Militär verwendet wurde, aber nicht auf dem freien Markt erhältlich war. In Großbritannien hatte man ohnehin Mühe, sich Waffen zu beschaffen - wenngleich es für Crackdealer in letzter Zeit keinerlei Probleme zu geben schien. Das Heer und die Royal Marines benutzten das L96A1, aber Sportschützen und sonstige Zivilisten nicht.
»Es war ein Super Magnum«, sagte Barney zwischen dem einen und dem anderen Schluck Scotch. »Mit.338 Lapua-Magnum-Munition. Weiß der Henker, wo er die Sachen herhatte.«
»Ein paar unsaubere Waffenhändler muss es doch wohl geben«, gab Hoffer zu bedenken.
»Ja, aber selbst die würden nicht mit dem L96 handeln. Ich meine, fünfzig Prozent von ihnen würden nicht mal wissen, wie die an so was überhaupt rankommen. Das Ding hat eine effektive Reichweite von tausend Metern, wer braucht schon so was? Und das Zielfernrohr, das darauf montiert war - Spitzenqualität, muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Jemand muss ein Vermögen bezahlt haben«, fügte Edmond hinzu.
»Die Frage ist bloß: wer?« Hoffer holte eine weitere Runde vom Tresen. »Ich kenn mich mit Killern aus, Jungs, ich meine, mit der ganzen Spezies. Sieht man von den normalen Amokschützen ab, die mal eben mit einer Uzi in ihren Stamm-Hamburgerladen gehen und alles umnieten, was ihnen in den Weg kommt, haben die meisten von ihnen einen militärischen Background. Was ja irgendwie ins Bild passt. Ich meine, bei der Army lernen sie das Handwerk, bei der Army kriegen sie einen ersten Eindruck davon, was man mit einer Schusswaffe so alles anstellen kann.«
Beide Männer nickten, zu sehr mit Trinken beschäftigt, um auch nur ein Wort sagen zu können.
»Aber unser Mann ist Bluter, oder zumindest vermuten wir das, und die Ärzte haben mir versichert, das Militär würde keine Bluter annehmen.« Plötzlich erinnerte sich Hoffer an seine eigenen Worte: militärischer Background. Vielleicht war er auf der richtigen Fährte. Er dachte eine Minute lang darüber nach. Edmond und Barney schienen nichts davon mitzubekommen. Sie fingen an, sich über irgendein Kricketspiel zu unterhalten. Zu guter Letzt kam Hoffer in das Hier und Jetzt zurück. Was ihn dazu veranlasste, war das Geräusch von leeren Gläsern auf Holz. Möglicherweise ein zarter Wink vonseiten seiner Tischgenossen …
»Das wird aber, so leid’s mir tut, die letzte Runde, Jungs. Wir haben alle viel zu tun.« Also holte er wieder Nachschub und gelangte zu dem Schluss, dass die Bilanz irgendwie nicht stimmte. Er blechte wie ein Blöder und kriegte dafür so gut wie nichts zurück.
»Also, Barney, wie steht’s mit diesen Waffenhändlern? Den unsauberen, meine ich. Haben Sie da so was wie’ne Liste? Wär nett, wenn ich da mal einen Blick reinwerfen könnte.« Was blieb Barney anderes übrig, als zu nicken und zu sagen, dass er sehen würde, was sich machen ließ? Hoffer wandte sich zu Edmond.
»Und Dave, Sie wollten mir doch von Eleanor Ricks erzählen...«
 
Das Army-Lager war dann doch nicht so schwer zu finden.
Hoffer hatte ein Höllenloch mitten in der Pampa erwartet, aber tatsächlich lag es unmittelbar nördlich von London, am Rand einer Satellitenstadt und direkt neben einer Wohnsiedlung. Als er dort anrief, hatte man ihm gesagt, er könne mit dem Schnellzug kommen, das würde nur eine halbe Stunde dauern. Also tat er das. Die Leute machten sich was vor, wenn sie meinten, »auf dem Land« zu leben. Wenn sie auf irgendetwas lebten, dann auf Abruf. London schnappte nach ihren Waden. Sie arbeiteten dort, verdienten sich dort ihren Lebensunterhalt, und London verlangte etwas als Gegenleistung. Es wollte sie.
Sie versuchten, wohlhabend auszusehen und anders als die anderen zu reden, aber sie waren blass, sahen fast kränklich aus, und ihre Autos erzeugten bloß Verkehrsstaus. Hoffer, der zunächst mit dem Gedanken gespielt hatte, die ganze Strecke mit dem Taxi zu fahren, war froh, dann doch die Bahn genommen zu haben. Die Straßen, die er vom Zug aus sah, waren heillos verstopft. Jemand sprach von einem dreißig Kilometer langen Stau auf der M 25. Die Londoner Ringautobahn hieß »Orbital«. Man schaffte den Orbit um die Erde in weniger Zeit. Die perfekte Lösung stellte der Zug allerdings auch nicht dar. Er war in London mit Verspätung abgefahren und nach Entladung seiner Pendlerfracht weder gereinigt noch gelüftet worden. Es stank darin, und der Boden war mit Müll übersät.
Im Taxi, das Hoffer am Bahnhof nahm, roch es auch nicht viel besser, und der Fond war nur geringfügig geräumiger als ein Sitz der British Rail. Er brachte seine Beine irgendwie diagonal unter und fand sich mit den Gegebenheiten ab. Er ließ sich vor dem Eingang des Camps absetzen und stellte überrascht fest, dass das Tor von bewaffneten Soldaten bewacht wurde. Einer von ihnen dirigierte ihn mit einer Kopfbewegung zum Torhäuschen.
»Was ist los, Chef?«, fragte Hoffer, als die Wache im Torhaus ihn telefonisch anmeldete.
»Terroristen«, erklärte die Wache. »Wir stehen in ständiger Alarmbereitschaft.«
»Ich dachte, die hätten aufgehört, euch Ärger zu machen, und sich stattdessen auf uns eingeschossen?«
»Man kann nie wissen.«
Mit dieser philosophischen Wegzehrung ausgestattet, wurde Hoffer in Richtung des Büros, in das er wollte, in Marsch gesetzt.
Auf halbem Weg kam ihm ein junger Soldat entgegen, dessen Gesicht so aussah, als wäre es gleichzeitig mit seinem Hemd und seiner Hose gebügelt worden.
»Mr. Hoffer? Der Major erwartet Sie.«
»Es ist sehr freundlich von ihm, mich so kurzfristig zu empfangen.« Hoffer musste fast traben, um mit dem Mann Schritt zu halten. Irgendwann während des Gewaltmarsches erwartete der Soldat von ihm, dass er seinen Namen mitbekam, aber Hoffer war schon froh, wenn er auch nur Luft bekam. Er wurde in ein Gebäude geführt und aufgefordert, Platz zu nehmen. Was er nur zu gern tat. Er versuchte, die Augen auf die Rekrutierungsplakate und die Hochglanzbroschüren scharf zu stellen. Sie vermittelten eher den Eindruck, man wäre hier, um einen Urlaub zu buchen, als um sich auf eine lebensgefährliche Laufbahn einzulassen. Die Soldaten in den Broschüren sahen zäh und aufrecht und christlich aus. Man wusste einfach, dass Demokratie und freie Welt in ihren Händen sicher aufgehoben sein würden - selbst, wenn man sie in einem Land absetzte, dessen Sprache sie nicht beherrschten und dessen Berge voll von Mörsern und Mullahs waren.
Hoffer ertappte sich dabei, wie er »God bless America« pfeifen wollte, und verkniff es sich gerade noch rechtzeitig.
Weiter hinten im Korridor öffnete sich eine Tür. »Mr. Hoffer?«
Hoffer stand auf und ging auf den Mann zu. Sein Name war Major Drysdale, und er hatte einen kühlen trockenen Händedruck, ein bisschen wie ein Baptistenprediger. »Kommen Sie bitte herein.«
»Ich hatte gerade Ihrem... äh, also ich meinte, dass ich es sehr freundlich von Ihnen finde, dass Sie einfach so Zeit für mich erübrigen konnten.«
»Na ja, Ihr Anruf hat mich neugierig gemacht. Ich habe nicht jeden Tag Gelegenheit, einen New Yorker Detective kennenzulernen. Apropos... Können Sie sich ausweisen?«
Hoffer griff in die Tasche und zog seinen Dienstausweis heraus - den Ausweis, der zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus der Truppe leider unauffindbar gewesen war. Gelegentlich erwies er sich als ganz nützlich. Leute in verantwortlichen Positionen zogen es häufig vor, mit einem echten Polizisten als mit einem Privatschnüffler zu reden. Hoffer schätzte, dass das hier auch so ein Fall war. Drysdale notierte sich ein paar Daten, bevor er den Ausweis zurückgab. Das beunruhigte Hoffer, aber nicht sehr. Vielleicht würde er in einer Militärakte landen, aber er bezweifelte, dass die so weit gehen würden, seine angeblichen Arbeitgeber in den Staaten anzurufen. Man las doch ständig von Kürzungen beim Militäretat, und Ferngespräche kosteten Geld.
»Also«, sagte Major Drysdale, »was kann ich für Sie tun, Detective Hoffer?«
Es war ein kleines, schlichtes Büro ohne jede persönliche Note. Vielleicht war Drysdale da gerade erst eingezogen, was die Sache erklärt hätte. Aber Hoffer fand, dass sich der Mann da so wohl zu fühlen schien, als säße er schon seit Jahren in dem Büro. Er war nicht viel mehr als ein PR-Mann, ein öffentliches Gesicht für die Army. Die eigentliche Macht lag hier woanders. Aber Hoffer brauchte keine Machthaber, er brauchte lediglich Antworten auf ein paar Fragen. Er brauchte ein freundlich geneigtes Ohr. Er trug sein bestes Benehmen zur Schau sowie seinen besten Anzug, aber Drysdale behandelte ihn trotzdem mit einem kaum merklichen Anflug von Belustigung, als wäre ihm so ein Exemplar noch niemals untergekommen.
Der Major war groß und mager und besaß Arme, die man mit einem Scheibchen Krupuk hätte durchknacken können. Er hatte die kurzen blonden Haare und blauen Augen eines Hitlerjungen und einen Schnurrbart, der wie mit Kuli aufgezeichnet aussah. Er war nicht mehr jung, hatte aber noch immer Akne am Hals. Vielleicht war er allergisch gegen die Stärke im Kragen.
»Nun, Major«, erwiderte Hoffer, »wie ich schon am Telefon sagte, geht’s um eine medizinische Frage, und dazu noch um eine recht vage, aber sie steht im Zusammenhang mit einer Serie von Morden, Auftragsmorden, genauer gesagt, weswegen wir für jede Hilfestellung vonseiten der Army dankbar wären.«
»Und Sie arbeiten mit Scotland Yard zusammen?«
»Oh, absolut. Ich habe dessen volle Unterstützung.«
»Könnten Sie mir eine Kontaktperson nennen?« Drysdale hielt den Stift über seinen Notizblock.
»Sicher. Äh, Chief Inspector Broome. Schreibt sich B-r-o-o-m-e. Er ist der Ansprechpartner. Sein Büro befindet sich in der Vine Street, London Innenstadt.«
»Nicht Scotland Yard?«
»Na ja, wir arbeiten gemeinsam an diesem Fall.«
»Orange, nicht?«
»Bitte?«
»Die Vine Street.« Hoffer kapierte es immer noch nicht. »Auf dem Monopoly-Brett ist die orange.«
Hoffer grinste, gluckste sogar in sich hinein und schüttelte bewundernd den Kopf über die Brillanz des Witzes.
»Hätten Sie vielleicht die Telefonnummer des Chief Inspectors?«
»O ja, Sir, sicher.« Gottverdammte Army. Hoffer gab Major Drysdale die Nummer. Ihm kribbelte der ganze Körper, und er musste sich zusammennehmen, um sich nicht überall zu kratzen. Er wünschte, er hätte vor der Abfahrt kein Speed geschluckt.
»Bevor wir anfangen«, sagte Drysdale jetzt, ohne direkt zu mauern, lediglich streng nach Dienstvorschrift, »könnten Sie mir vielleicht ein bisschen über die bisherigen Ermittlungen erzählen. Ach, übrigens - Tee?«
»Gern.«
Drysdale nahm den Telefonhörer ab und bestellte Tee und »etwas Knabberzeug«. Dann lehnte er sich zurück und wartete darauf, dass Hoffer ihm alles über den D-Man erzählte.
Es dauerte eine Weile, aber schließlich, zwei Tassen starken schwarzen Tees später, erreichte Hoffer den Punkt, an dem er eigentlich hatte anfangen wollen. Drysdale hatte zu so ziemlich jedem Thema nachgefragt - angefangen beim ersten Fehler des Auftragsmörders bis hin zum Präzisionsgewehr, das er in London benutzte. Und er hatte nicht aufgehört, sich Notizen zu machen, bis Hoffer ihm am liebsten gesagt hätte, dass ihn das alles einen Scheißdreck anging, ihm den Notizblock aus den Händen gerissen und mit den Zähnen zerfetzt hätte. Er schwitzte mittlerweile und machte dafür eine Gerbsäurevergiftung verantwortlich. Sein Schlund war wie mit Filz ausgekleidet.
»Sie verstehen also«, sagte er, »wenn der Mann, nach dem wir suchen, auch nicht direkt in der Army war, könnte er doch vielleicht in irgendeiner Verbindung zu ihr gestanden haben oder sogar noch stehen. Die naheliegendste Verbindung, die mir einfällt, ist eine verwandtschaftliche.«
»Sie meinen, über einen Bruder oder eine Schwester?«
»Nein, Sir, ich meine über seinen Vater. Ich glaube, es müsste schon sein Vater gewesen sein - jemand, der ihm eine... besondere Beziehung zu Waffen vermittelt haben könnte.«
»Wir gestatten Kindern normalerweise nicht, mit scharfer Munition zu üben, Detective Hoffer.«
»Das wollte ich damit auch nicht sagen, Sir. Ich meine, ich bin sicher, dass die Integrität der Army über jeden Zweifel... äh, was auch immer ist. Aber angenommen, dieser Mann war ein guter Schütze, würde es da nicht naheliegen, dass er sein Können und sein Fachwissen an den Sohn weiterzugeben wünschte?«
»Selbst wenn der Sohn nie würde zur Army gehen können?«
»Der Junge könnte ohne weiteres schon ein Teenager gewesen sein, bevor festgestellt wurde, dass er Bluter war. Leichte Fälle werden manchmal erst im Erwachsenenalter erkannt. Es gehört schon eine Operation oder was in der Art dazu, damit ein Arzt merkt, dass ihr Blut nicht richtig gerinnt.«
»Das ist alles sehr interessant«, meinte Drysdale und blätterte seine ausführlichen Notizen durch, »aber ich begreife nicht recht, wohin uns das bringt.«
»Ich werd’s Ihnen sagen, Sir. Es bringt uns zu einem Jungen, bei dem ein Militärarzt Hämophilie diagnostiziert hat - irgendwann, vielleicht vor zwanzig oder dreißig Jahren. Sie müssen doch entsprechende Unterlagen haben.«
Drysdale lachte. »Mag sein, dass wir Unterlagen haben, aber haben Sie eine Ahnung, was Sie da verlangen? Wir müssten bei jedem Armeestützpunkt nachfragen, im Inund Ausland, bei jedem Militärkrankenhaus. Immer vorausgesetzt, dass die ihre Unterlagen so lange aufbewahren. Immer vorausgesetzt, dass der Junge überhaupt von einem Militärarzt behandelt wurde. Ich meine, er könnte ja ohne weiteres zu einem Zivilarzt gegangen sein. Und selbst von alldem abgesehen, dürfte er die Unterlagen ja mitgenommen haben.«
»Was?«
»Wenn man den Arzt wechselt, fordert der neue Arzt vom bisherigen Arzt alle Krankenakten an. Die bewahrt nicht der Patient, sondern der Arzt auf. Der jeweils aktuelle Arzt.«
»Sind Sie sicher? Vielleicht könnte ich mit jemandem von Ihrem militärärztlichen -«
»Ich halte das wirklich nicht für nötig.«
Hoffer überdachte seine Optionen. Er konnte den Typen zusammenschlagen. Er konnte mit Engelszungen auf ihn einreden. Er konnte ihm Geld anbieten. Da, wie er vermutete, nichts davon Wirkung gezeigt hätte, beschloss er, einen auf enttäuscht zu machen.
»Es tut mir wirklich leid, dass Sie sich außerstande sehen, uns zu helfen, Major. Wissen Sie, wie viele unschuldige Menschen dieser Mann ermordet hat? Wissen Sie, dass er so weitermachen wird, bis er gefasst wird? Ich meine, er wird bestimmt nicht umsatteln und sich einen neuen Job suchen. Ich kann ihn mir als Hamburgerwender bei McDonald’s irgendwie nicht vorstellen.«
Wieder lächelte Drysdale. »Hören Sie, Detective, ich weiß, was Sie meinen. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Sie -«
Hoffer stand auf. »Nein, Sir, bei allem gebührenden Respekt, aber ich glaube nicht, dass Sie es wissen. Ich werde Ihnen nicht weiter Ihre kostbare Zeit stehlen.« Er wandte sich zur Tür.
»Warten Sie.« Hoffer wartete. Er sah halb über die Schulter zurück. Drysdale war jetzt ebenfalls aufgestanden. »Hören Sie, vielleicht kann ich ein paar allgemeine Nachforschungen einleiten.«
Hoffer drehte sich wieder um. »Das wäre großartig, Sir.«
»Versprechen kann ich natürlich nichts.«
»Vollkommen klar. Wir versuchen alle lediglich zu tun, was wir können.«
Drysdale nickte. »Ich werde also sehen, was ich tun kann.«
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Sir.« Hoffer drückte Drysdale die Hand. »Ich bin sicher, ich spreche in unser aller Namen.«
Drysdale lächelte leicht verlegen. Dann sagte er, er wolle jemanden anfordern, der den Detective zurück zum Tor eskortieren würde.
»Sie hören von mir«, sagte Hoffer.
Während er im Empfangsbereich auf seinen »Escort-Service« wartete, sah er einen Trinkwasserspender und stürzte sofort los, füllte sich den Mund mit Wasser, gurgelte, spuckte es wieder aus und schluckte schließlich ein paar Mundvoll.
»Wie können die bloß dieses Zeug trinken?«, fragte er sich halblaut, während er sich den Mund abwischte.
»Es ist doch nur Wasser«, antwortete seine inzwischen eingetroffene Eskorte.
»Ich meinte den gottverdammten Tee«, sagte Hoffer.
Bis aufs Blut - Thriller
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