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Obwohl Freddy Ricks und Geoffrey Johns nicht eben viel füreinander übrig hatten, war der Anwalt nicht überrascht, Freddys Stimme am Telefon zu hören.
Freddy war, wie immer, abgefüllt und klang entsprechend benommen.
»Haben Sie davon gehört?«
»Ja«, sagte Geoffrey Johns, »ich habe davon gehört.« Er saß in seinem Wohnzimmer, ein Glas Armagnac neben sich auf der Armlehne des Sofas.
»Heiliger Herrgott«, heulte Freddy Ricks auf, »sie ist erschossen worden!«
»Freddy, ich... es tut mir unendlich leid.« Geoffrey Johns nahm einen Schluck. »Weiß Archie schon Bescheid?«
»Archie?« Freddy brauchte verständlicherweise einen Moment, um den Namen seines Sohnes zu erkennen. »Ich hab ihn nicht gesehen. Ich musste zum... ich sollte sie identifizieren. Dann hatten sie ein paar Fragen an mich.«
»Rufen Sie deswegen an?«
»Was? Nein, nein... oder doch, ja, in gewissem Sinn. Ich meine, ich muss verschiedene Dinge erledigen, und am Gartentor stehen zirka fünfzig Reporter, und... na ja, Geoffrey, ich weiß, dass wir in der Vergangenheit nicht immer einer Meinung waren, aber Sie sind nun mal unser Anwalt.«
»Ich verstehe, Freddy. Ich bin gleich da.«
 
In der Polizeiwache Vine Street überlegte sich Chief Inspector Bob Broome gerade, was er den Journalisten erzählen solle. Sie veranstalteten vor dem Eingang der düsteren Wache einen Heidenspektakel. Selbst an sonnigen Tagen bekam die Vine Street, eine tiefe schmale Verbindungsschlucht zwischen Regent Street und Piccadilly, nur wenig Licht ab - dafür aber sämtliche verfügbaren Abgase und Rußpartikel. Broome vermutete, dass die Wache ihm ihren Stempel aufgedrückt hatte. Er meinte, sich an eine Zeit zu erinnern, da er ein fröhlicher Mensch gewesen war. Zuletzt gelächelt hatte er vor ein paar Tagen, und richtig herzlich gelacht vor mehreren Monaten. Keiner machte sich inzwischen mehr die Mühe, ihm Witze zu erzählen. Da waren die Gefangenen in den Zellen schon dankbarere Objekte.
»Also, Dave, was haben wir?«
Inspector Dave Edmond saß Broome gegenüber. Er war ebenfalls als griesgrämiger Hund bekannt. Wer die beiden zusammen sah, machte normalerweise einen weiten Bogen um sie - wie um ein Pestschiff. Während Broome groß und hager war und den bleichen Teint eines Leichenbestatters hatte, war Edmond rundlich und sonnengebräunt. Er war gerade von einem Urlaub in Spanien zurück, wo er sich an irgendeinem Strand mit Rioja abgefüllt hatte.
»Nun, Sir«, antwortete er, »wir sind noch dabei, Zeugenaussagen aufzunehmen. Die Waffe befindet sich im Labor. Die Spurensicherung ist im Bürogebäude, aber vor morgen werden wir keine Resultate haben.«
Es klopfte an der Tür, und eine Beamtin kam mit ein paar Telefaxen für Broome herein. Er legte sie beiseite und sah der Beamtin nach, bis sie das Zimmer verlassen hatte, dann wandte er sich wieder Edmond zu. Jede seiner Bewegungen wirkte langsam und gemessen, als ob er unter Beruhigungsmitteln stünde, aber wenigstens Edmond wusste, dass der Chef nur vorsichtig war.
»Was ist mit dem Gewehr?«
»Sergeant Wills ist der Bumm-Bumm-Guru«, erwiderte Edmond, »also haben wir ihn hingeschickt, damit er es sich ansieht. Er weiß wahrscheinlich mehr als sämtliche Eierköpfe in der Ballistik zusammengenommen. Als ich ihm die Beschreibung gegeben habe, meinte er, das würde nach einer Militärwaffe klingen.«
»Machen wir hier nicht lange rum, Dave, es ist wieder der Demolition Man. Man erkennt seine Arbeitsweise eine Meile gegen den Wind.«
Edmond nickte. »Es sei denn, es ist ein Nachahmungstäter.«
»Wie stehen die Chancen?«
Edmond zuckte die Achseln. »Hundert zu eins?«
»Und der Rest - was ist mit dem Telefonanruf, haben wir den aufgenommen?«
Edmond schüttelte den Kopf. »Der Officer, der den Anruf entgegengenommen hatte, hat alles aufgeschrieben, woran er sich noch erinnern kann.« Er reichte dem Vorgesetzten ein maschinengeschriebenes Blatt Papier.
Die Tür öffnete sich wieder. Dieses Mal war es ein Detective Constable, der mit einem entschuldigenden Lächeln hereinkam und dem Chief Inspector weitere Blätter Papier brachte. Von draußen konnte man die Geräusche hektischer Aktivität hören. Als der DC wieder gegangen war, stand Broome auf, zog einen Stuhl heran und klemmte die Lehne unter die Türklinke. Dann nahm er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Aber schade, dass wir’s nicht auf Band haben«, sagte er und nahm Edmonds Blatt. »Männlich, Engländer, Alter zwischen zwanzig und fünfundsiebzig. Ja, äußerst nützlich. Klang nicht nach einem Ferngespräch.« Broome sah vom Bericht auf. »Und er hat lediglich gesagt, dass es gleich eine Schießerei vor dem Craigmead Hotel geben würde.«
»Normalerweise hätte man nichts weiter darauf gegeben, aber der Beamte hatte nicht den Eindruck, dass das ein Spinner war. Eine sehr kultivierte Stimme, völlig sachlich, nur gerade eben genügend Emotion. Schneller hätten wir nicht vor Ort sein können.«
»Doch, wenn wir nicht einige der Beamten vorher erst hätten bewaffnen müssen.«
»Was glauben Sie, wer der Anrufer war?«
»Könnte sogar der Demolition Man selbst gewesen sein. Vielleicht hat er nicht mehr alle Tassen im Schrank, möchte, dass wir ihn schnappen oder ein bisschen Katz und Maus mit ihm spielen. Könnte auch jemand gewesen sein, der ihn erkannt hatte - aber warum hat er dann nicht diese Leute auf der Treppe vor dem Hotel gewarnt?« Broome schwieg kurz. Sein Büro war nicht viel größer als ein Vernehmungsraum und in mancherlei Hinsicht sogar noch weniger einladend. Er mochte es, weil sich Besucher darin unwohl fühlten. Aber Dave Edmond schien es ebenfalls zu mögen... »Die Leute auf der Treppe, das ist eine andere Sache. Wir haben eine Journalistin, eine Ministerin und irgendein höheres Tier von einer osteuropäischen Botschaft.«
»Wer von ihnen war also die Zielperson?«, fragte Edmond.
»Exakt. Ich meine - hat er die erwischt, auf die er aus war? Wenn nicht, sollten die anderen beiden besser aufpassen. Vergessen Sie nicht, er hat schon mal die Falsche erschossen.«
Edmond nickte. »Ist sowieso bald nicht mehr unser Problem.«
Er hatte recht: Scotland Yard und die Antiterroreinheit würden die Sache übernehmen. Aber das hier war Bob Broomes Revier, und er hatte nicht vor, einfach den Fall abzugeben und die Hände in den Schoß zu legen.
»Quatsch«, sagte er. »Was ist mit dem anderen Anruf, dem im Craigmead?«
»Wir nehmen uns die Rezeptionistin noch einmal vor. Sie weiß lediglich, dass ein Mann angerufen hat und Eleanor Ricks sprechen wollte. Ricks wurde ausgerufen, aber sie hat nicht darauf reagiert.«
»Sie war noch nicht draußen?«
»Nein, die Frau meint, sie sei gerade an der Rezeption vorbeigegangen, als ihr Name über Lautsprecher durchgegeben wurde.«
»War die Ministerin bei ihr?«
»Ja. Aber sie sagt, sie hätte nichts gehört.«
»Dann hat Eleanor Ricks also vielleicht auch nichts gehört?«
»Vielleicht.«
»Aber wenn sie den Anruf entgegengenommen hätte...«
»Dann wäre Molly Prendergast allein aus dem Hotel gegangen.«
»Und wir hätten eine klarere Vorstellung davon, wer die eigentliche Zielperson war.« Broome seufzte.
»Was tun wir also als Nächstes, Bob?«
Broome sah auf seine Uhr. »Zum einen muss ich ein Transatlantikgespräch führen. Zum anderen müssen wir uns mit den Medien befassen. Und dann möchte ich diese Idioten vom Krankenhaus sprechen.«
»Die werden gerade abgeholt.«
»Gut. War doch nett von ihnen, ihm bei der Flucht zu helfen, nicht?«
»Glauben Sie, er könnte einen Komplizen gehabt haben?«
»Ich glaube«, sagte Bob Broome, »er könnte gerade eins seiner neun Leben verloren haben.«
»Dieser Anruf, Sir.«
»Ach, richtig.« Broome setzte sich wieder hin. Jemand versuchte, die Tür zu öffnen, aber der Stuhl gab nicht nach. Er nahm den Hörer auf. Er kannte einen Mann, den es interessieren würde zu erfahren, dass sich der Demolition Man wieder in London aufhielt. »Ich möchte ein Gespräch in die Vereinigten Staaten anmelden«, sagte er in die Sprechmuschel.
Bis aufs Blut - Thriller
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