26
Der Pick-up schien zu wissen, wo er hinwollte.
Wir folgten ihm in östlicher Richtung bis zur I-5 und dann südwärts durch die Stadt, bis wir auf die I-90 kamen und Seattle hinter uns ließen.
Wir fuhren ostwärts, ins Landesinnere.
»Warum hält er nicht?«, fragte Bel.
»Ich weiß nicht.« Ich hatte ihn ein paarmal angeblinkt, aber keine weitere Reaktion erhalten als ein Winken aus dem Fenster. Wir durchquerten Mercer Island auf derselben Route, die wir auf dem Hinweg nach Seattle genommen hatten. Bald befanden wir uns auf einer breiten Straße, die auf beiden Seiten von Wildnis gesäumt war. Das schien wirklich wilder Westen zu sein. Nur wenige Touristen oder Urlauber wagten sich ins Landesinnere. Es war heiß und trocken, und wenn man nicht gerade auf Berge und Bäume stand, wurde in Sachen Landschaft nicht viel geboten. Dass dies Holzfällerland war, ging unmissverständlich aus primitiven selbstgemachten Schildern am Straßenrand hervor, die die Regierung, ausländische Holzimporte, Eulen und Umweltschützer verfluchten. Nicht immer in dieser Reihenfolge.
Bei Snoqualmie fuhren wir von der Interstate runter. Was die Touristen anging, hatte ich mich geirrt. Jede Menge davon waren hier, um sich die Snoqualmie Falls anzusehen. Der Pick-up bog auf den Parkplatz ein, und wir folgten ihm. Die einzige noch freie Parklücke war ein Dutzend Autos vom Pick-up entfernt. Ich riss den Schlüssel förmlich aus dem Zündschloss und sprintete zurück zum Pick-up. In der Fahrerkabine saß niemand. Dann sah ich Spike. Er kauerte vor dem Truck und begutachtete den Schaden an seinem Bullenschieber. Er stand auf und grinste mich mit prachtvollen weißen Zähnen an.
»Du siehst beschissen aus«, sagte ich.
»Ich bin die ganze Nacht durchgefahren; was ist deine Entschuldigung?«
Wir umarmten uns, und diesmal war ich es, der ihn vom Boden hochhob.
»Verdammt, Spike, ich weiß nicht, wo du herkommst, aber du bist ein Engel des Himmels!«
»Mann, du weißt, wo ich herkomme: aus Lubbock, Texas. Und die einzige Sorte Engel, die ich jemals war, ist ein Hell’s Angel. Eijeijei!« Er berührte den Bluterguss auf meiner Wange. Dann kam Bel angerannt, und sie kriegte zur Umarmung auch noch einen Kuss.
»Warum hast du nicht früher gehalten?«, fragte sie.
»Ich wollte erst sicher sein, dass diese Halbaffen uns nicht auf den Fersen waren.«
»Machst du Witze? Hast du gesehen, was du aus ihrem Auto gemacht hast?«
»Oh, aber die haben Freunde. Und ihr Leute, ihr scheint Feinde zu haben.«
»Und nicht viele Freunde«, gab ich zu.
»Aber einer hat gereicht.« Und Bel gab Spike ein Küsschen auf die Wange und drückte seinen Arm. Er wurde rot, überspielte das aber dadurch, dass er sich mit seinem roten Halstuch das Gesicht abwischte. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, fettige Haare und einen Dreitagebart.
»Mann«, sagte er, »ich bin seit Tagen nicht aus diesen Klamotten gekommen!«
»Ja, das riecht man.«
Er boxte mich in die Brust. Es war ein scherzhafter Schlag gewesen, aber er traf eine wunde Stelle. Ich verzog das Gesicht und krümmte mich vor Schmerz.
»Jesus, Wild West, das tut mir leid!«
Bel half mir, mich wieder aufzurichten, und erklärte: »Michael hat sich mit einem der Bösen geprügelt.«
»Ich seh schon, ihr habt mir einiges zu erzählen.«
»Haben wir«, sagte ich, sobald ich wieder zu Atem gekommen war. »Und wir hätten außerdem ein paar Fragen an dich.«
Spike zuckte die Achseln. »Dann suchen wir uns eine Bar, was Ruhiges, wo wir relaxen können.« Dann fiel ihm noch was ein. »Du hast doch wohl nicht meinen Trans-Am gegen diese Nazischeiße eingetauscht, oder? Das Ding sieht ja aus wie ein Sieb!«
Mir fiel auf Anhieb keine Antwort ein. »Besorgen wir uns erst mal ein Bier.«
»Dann mir nach.«
 
Wie sich herausstellte, kannte sich Spike in Snoqualmie, North Bend und Umgebung ziemlich gut aus.
Er war hier auf die Jagd gegangen, besaß alte Freunde hier und hatte einmal einen Wagen zu Schrott gefahren, woraufhin er anschließend einen Monat lang auf Krücken gehen musste.
»Nette Leute hier«, sagte er, als wir in der Bar saßen, »aber ein paar von denen können gelegentlich schon ein bisschen merkwürdig sein. Ich weiß nicht, Inzucht oder was. Wusstet ihr, dass Twin Peaks hier gedreht wurde?« Ich sah ihn verständnislos an, aber Bel machte ein interessiertes Gesicht.
»Also, warum bist du uns hinterhergefahren?«
Spike nahm einen Schluck Rainier. »Kannst du dir doch denken. Ich wusste, dass ihr in Schwierigkeiten steckt, Wild West. Jazz hat mir einiges von dem erzählt, was Bel ihr erzählt hatte. Ich hab dem Mädchen gesagt, sie soll noch mal ihren Computer anwerfen und mir dasselbe Zeug ausdrucken, das sie für euch ausgedruckt hatte. Und da wusste ich, warum ihr nach Seattle wolltet, und ich wusste, dass es ernst werden konnte. Mit diesen Sekten ist nicht zu spaßen. Ein Freund von mir ist mal in eine reingeraten und immer noch in Therapie. Und vergiss nicht, es geht bei der ganzen Sache auch um meinen Trans-Am. Also hab ich mir gedacht, ich sollte mich vielleicht besser an euch dranhängen.
Aber eins muss ich gestehen - dass ich heute Vormittag im richtigen Moment da war, hatte nix mit Inspiration oder sonst was zu tun, das war purer Zufall. Ich war heute früh angekommen, und ich fuhr die Aurora rauf und runter auf der Suche nach einem Motel, das mir zusagte. Ich bin zweimal an deinem vorbeigefahren und hab’s nicht mal entfernt in Betracht gezogen. Was ist los, Mann, ist deine Knete in dieser Stadt nix wert oder was?« Er schniefte und lehnte sich zurück. Er hatte einen Fuß über den anderen Oberschenkel geschlagen, was seine zerschrammten Cowboystiefel mit Silberkappe schön zur Geltung brachte. Es war offensichtlich, dass er an seiner Erzählung großen Spaß hatte. »Wie auch immer, ich fahr da also rauf und runter, und da seh ich diesen Schlitten mit Anzugtypen drin. Die sahen nicht entfernt nach Aurora aus, sondern wie Normalos von der allerübelsten Sorte. Die checkten alle Motels der Reihe nach ab, die suchten keine Zimmer, so viel war klar. Die erkundigten sich nach jemandem. Ich bin einem von denen in ein Motel nachgegangen und hab die Beschreibung mitgekriegt, die er gerade dem Mann an der Rezeption gab: Mann und Frau, Engländer, in einem VW. Tja, abgesehen von der Karre, klang das nach euch. Also hab ich aufgehört, nach einem Zimmer zu suchen, und bin nur noch denen nachgefahren. Als ich deine Karre gesehen hab, Mann, da hab ich gewusst, dass ich irgendwas richtig gemacht hatte.«
»Das kannst du laut sagen«, meinte Bel.
»Der Trans-Am ist zusammengeschossen worden«, erklärte ich. »Deswegen fahren wir jetzt den Camper.«
»Was ist dem Schätzchen passiert?«
»Ein gewisser Kline hat es von seinen Männern mit Blei besprühen lassen. Als das passierte, saß ein Journalist, der uns geholfen hatte, am Steuer.«
»Ist er...?«
»Wir nehmen an, dass er durchkommen wird. Er liegt im Krankenhaus.«
»Dann haben diese Arschficker also meine Karre zerschossen, ja?« Spike machte ein entschlossenes Gesicht. Das war der Ausdruck, den er jedes Mal kriegte, sobald er ein Sturmgewehr in der Hand hielt. »Die machen wir platt, Mann.«
»Nicht so hastig«, sagte ich. »Du hast unsere Geschichte noch nicht gehört. Wenn du sie erst mal kennst, bist du vielleicht nicht mehr ganz so unternehmungslustig.«
»Dann lassen wir noch ein paar Bier auffahren, und du erzählst mir alles.«
Und wir ließen noch ein paar Bier auffahren.
 
»Dieser Kline«, sagte Spike, »den muss ich kaltmachen, Mann. Der ist mir noch nie über den Weg gelaufen, der hat nicht die leiseste Ahnung von mir, und trotzdem weiß ich, dass ich ihn kaltmachen muss. Und ich werd erst wieder ruhig schlafen, wenn ich’s getan hab.«
Aus ihm sprach nicht nur das Bier; es waren die ganzen Drogen, die er unterwegs geschluckt hatte, Hallowachpillen, Bleifußpillen und Pillen, die ihm helfen sollten, das Ganze auch auf die Reihe zu kriegen. Ich sah ihm an, dass er vielleicht schon in fünf Minuten, spätestens aber in ein paar Stunden sehr unsanft runterkommen würde.
»Ich brauch ein bisschen Schlaf«, sagte ich. »Mein Gehirn spielt nicht mehr mit. Ich war die ganze Nacht wach. Warum fahren wir nicht raus aufs Land, suchen uns was Ruhiges und laden die Batterien wieder ein bisschen auf?«
»Hey«, sagte Spike, »ich weiß auch, wo.«
Er führte uns raus aus Snoqualmie in Richtung North Bend, bog aber dann von der Straße ab in einen Waldweg. Er wirbelte auf der Schotterpiste so viel Staub auf, dass ich befürchtete, gleich würde uns der Motor verrecken, aber der VW tat weiter brav seinen Dienst. Die Piste wurde enger und enger. Anfangs war es noch ein Holzweg gewesen, breit genug für einen Transporter, aber inzwischen kratzten die Äste an beiden Seiten des Busses, und aus dem Schotter wuchs immer dichteres Gras. Das ging fast fünfzehn Kilometer so weiter, bis wir eine Lichtung erreichten. Seit wir die Hauptstraße verlassen hatten, waren wir an keinem einzigen Wegweiser vorbeigekommen und hatten auch keinerlei Hinweis auf menschliche Besiedlung gesehen: keine Hochspannungsleitungen, keine Telegrafenmasten, keinen Briefkasten, gar nichts.
Aber hier stand plötzlich ein großes Blockhaus, noch ziemlich neu und von einem Rasen umgeben, hinter dem undurchdringlicher Wald aufragte. Spike hupte ein paarmal, aber es kam niemand heraus. Wir gingen alle zusammen zur Tür. Daran klebte ein Zettel, den Spike vorlas.
»›Lieber Freund, wenn du hierhergefunden hast, dann kennst du uns wahrscheinlich, und ebenso wahrscheinlich wird es dich nicht wundern, dass wir nicht da sind. Wir sind für ein paar Tage in Portland und kommen Donnerstag oder Freitag zurück. Du darfst hier gern campen. Es gibt auch einen Bach, falls du ihn findest. Love & peace, Marnie und Paul.‹ Freunde von mir«, sagte Spike. An der Hauswand standen Topfpflanzen aufgereiht, und er kickte spielerisch mit der Fußspitze gegen ein paar der Töpfe. »Uralte Freunde.«
»Prima«, sagte ich. »Wir haben Zelte dabei, und im Bus kann man auch gut schlafen.« Er bückte sich, während ich redete, hob die Pflanzen hoch und sah sie an, schnüffelte daran. »Wir haben sogar einen Campingkocher...« Ich verstummte, als er einen kleinen Blumentopf umdrehte und die Pflanze samt Erdballen vorsichtig herauszog und in der flachen Hand hielt. Dort, eingebettet in der Erde und dem dünnen, weißen Wurzelgeflecht, lag ein Hausschlüssel. Spike zwinkerte mir zu.
»Freunde wissen, wo sie den Schlüssel finden.«
Innen war das Haus phantastisch, fast zu hell für meinen Geschmack. Sonnenlicht strömte durch riesige Gaubenfenster herein. Naturbelassenes Holz, wohin man blickte. Die Wände und Möbel bestanden aus Kiefer, und die Decke war mit Nut- und Federbrettern aus dem gleichen Holz verschalt. In der Mitte des großes Wohnzimmers thronte ein Ofen; Türen führten zu Schlafzimmern, Badezimmern und einer Küche.
»Im Bad gibt’s einen Whirlpool«, informierte uns Spike. Er ließ sich auf ein weißes Sofa plumpsen. »Mann, das nenn ich Leben!«
Ich mochte mich nicht setzen. Ich wollte nichts anfassen, aus Angst, es zu beschmutzen. Als Spike wieder aufstand, war ich erstaunt zu sehen, dass er keine schwarzen Flecken auf dem weißen Stoff hinterlassen hatte.
Bel hatte das Haus mit dem skeptischen Blick einer potenziellen Käuferin inspiziert. Sie hob einen Papierkorb auf und hielt ihn mir hin.
»Die haben ihn innen ausgewischt«, sagte sie. Und das stimmte tatsächlich.
»Hey«, sagte Spike, »wenn ihr Müll wollt, dann kommt zu mir nach Hause. Das hier ist ideal für unseren Zweck.«
»Und was ist unser Zweck?«, fragte ich.
»Komm mit, und sieh selbst.«
Er führte uns zurück zum Pick-up. Ich sah, dass über der Rückenlehne der Sitzbank eine, allerdings leere, Gewehrhalterung montiert war. Spike öffnete die Tür, so dass wir hineinsehen konnten. Ein schöner Anblick war das nicht. Der Aschenbecher quoll über, und der Fußraum war mit ausgetretenen Zigarettenstummeln sowie Salatblättern und Tomatenachteln für eine ganze Familie übersät. Ich vermutete, dass Spike sich während der ganzen Fahrt von Tankstellenfraß ernährt hatte. Überall lagen leere Getränkedosen, schmutzige Socken und ein verdrecktes T-Shirt, Straßenkarten und Musikkassetten herum.
»Nett«, sagte ich, »wir nehmen’s.«
Spike lächelte und wischte alles von der Sitzbank herunter.
»Da bloß’n Teppich drüber, und es sieht alles picobello aus.«
Er lächelte noch immer, als er zwei Verriegelungen unter der Sitzbank löste. Dann zog er an der Bank, so dass die eigentliche Sitzfläche nach vorn glitt. Schließlich zog er das ganze Ding heraus und stellte es aufrecht an den Pick-up.
»Schön, schön«, sagte ich.
Unter dem Sitz gab es jede Menge Stauraum. Spike hatte ihn mit einem mörderischen Waffenarsenal gefüllt.
»Ich glaube, ich hab an alles gedacht«, erklärte er.
Bel steckte eine Hand hinein und zog einen Patronengurt heraus. Er war voll von sehr langen Messingpatronen. Sie hielt den Gurt in die Höhe, als wäre er eine Python, die sich ihr um das Handgelenk geschlungen hatte.
»Schwere Artillerie«, sagte ich.
»Die Zeit, Gänseblümchen zu Kränzen zu winden, ist lange vorbei«, meinte Spike und holte etwas heraus, das wie eine Ingram, vielleicht auch eine Cobray aussah. Darunter konnte ich ein paar M16 erkennen. Mir wurde ganz schwummerig bei der Vorstellung, was er da noch alles drin haben mochte. »Kein Dynamit«, sagte er bedauernd. »Sonst hätte ich es auch nicht riskiert, dieses Arschloch zu rammen. Aber ich hätte da ein bisschen Plastiksprengstoff, falls dir danach sein sollte.« Er hielt sein Gesicht dicht vor meines. Es war ein gut aussehendes Gesicht, typisch amerikanisch in seiner Mischung aus Gutgenährtheit und unvermindertem Hunger. Er trug eines seiner ärmellosen schwarzen T-Shirts und dazu schwarze Jeans. »Schießeisenparadies, Wild West, das reine Schießeisenparadies.«
Ich zögerte geschlagene fünf Sekunden lang.
»Packen wir’s an.«
 
Wir verschliefen den Rest des Tages. Als ich wieder auftauchte, fand ich Spike in der Küche vor, wie er, lediglich in frischem T-Shirt und Shorts, Zwiebeln hackte. Er hatte im Hauptschlafzimmer eine Hanfpflanze gefunden und ein paar Blätter abgezwickt. Die Düfte, die die Küche erfüllten, stammten nicht bloß von Gewürzkräutern. Er hielt mir das Hackmesser zur Begutachtung hin. Es war ein Kampfmesser mit Gummigriff und einer dicken 23-Zentimeter-Klinge, deren vorderes Drittel eine Sägezähnung aufwies.
»Eins-a-Gemüsemesser, Wild West.«
»Wenn du’s sagst...« Ich schaute in den Kühlschrank und holte einen Karton Orangensaft heraus. Inzwischen hatte ich erheblich weniger Probleme mit dem Haus. Der zum Tod Verurteilte legt in der Regel weniger Wert auf die Beschaffenheit seiner Zelle. Ich schüttelte den Karton und führte ihn an die Lippen.
»O Mann, Würmer!«, beschwerte sich Spike. »Gläser sind im Schrank über der Spüle.«
Also nahm ich mir ein Glas und füllte es bis zum Rand mit dem Rest des Saftes. Ich hatte das Glas zur Hälfte ausgetrunken, als Bel hereinkam, angetan mit einem langen Trucker-T-Shirt und, soweit ich sehen konnte, nicht viel mehr. Sie hatte das T-Shirt in einem Tankstellenshop gekauft. Vorne drauf prangte ein Truck, der aus seinem verchromten Kühlergrill Dampfwolken ausstieß wie ein Cartoonstier aus seiner Nase. Den Hintergrund bildete eine Konföderiertenflagge mit der Aufschrift »Kein Weichei!«
Spike bemühte sich, ihr nicht auf die Beine zu starren, als sie vor dem offenen Kühlschrank stand und, vornüber gebeugt, dessen Inhalt inspizierte.
»Kein Saft da?«
»Hier.« Ich reichte ihr mein Glas. »Wir bilden eine Würmerzugewinngemeinschaft«, erklärte ich Spike.
»Schnuckelig«, sagte er, noch immer am Hacken. Dann kippte er die Zwiebel in einen Topf und gab Öl dazu. Bel stellte sich interessiert daneben. »Onkel Spikes Texas-Style-Chili«, verriet er ihr. »Falls ich alle Zutaten finde, heißt das.« Er öffnete eine Dose Tomaten und leerte sie in den Topf, quetschte dann eine halbe Tube Tomatenmark hinein. Schließlich fügte er Chilipulver und ein paar weitere Gewürze hinzu und vollendete das Ganze mit einer Dose abgetropfter Kidneybohnen.
»Fleischernes hab ich nix gefunden, aber was soll’s. Wie scharf magst du’s?« Er bot Bel einen Löffel von der Soße. Sie fand, sie sei schon scharf genug.
»Weichei«, sagte er zu ihr.
»Spike, warum füllst du nicht einfach einen Teil davon für mich in einen anderen Topf um? Dann könnt ihr Jungs noch so viel Feuer dazuschütten, wie ihr lustig seid. Ich sitz einfach dabei und schau zu, wie ihr zwei Machos euch den Mund verbrennt.« Sie klopfte ihm auf den Rücken. »Vergiss nicht, das ist Essen, kein Wettkampf in Armdrücken.«
Spike wartete ein paar Sekunden ab und brach dann in brüllendes Gelächter aus.
»Bel, du hast mehr cojones als die Hälfte der Kerle, die ich kenne. Zieh nach Texas, und heirate mich.« Er ging mit einem Knie zu Boden und ergriff ihre Hand. »Ich halte hier und jetzt um deine Hand an, um die Hand der Frau meiner Träume.«
Sie stupste ihn mit den nackten Zehen an, und er plumpste, die Hände hinter sich aufgestützt, mit dem Hintern auf den Fußboden.
»Der gütige Herrgott erspare mir einen Korb!«
»Sorry, Spike. Vielleicht irgendwann einmal, wenn du groß bist.«
»Komm«, sagte ich und ging ihr in den Wohnbereich voraus. Wir ließen uns aufs Sofa fallen, während Spike ein paar Takte irgendeines Countrysongs trällerte, dann aber beschloss, den Rest davon nur noch zu pfeifen.
»Bel«, sagte ich leise, »ich möchte, dass du hierbleibst, während Spike und ich -«
Sie sprang wieder auf. »Schmink’s dir ab! Ich bin so weit mitgekommen, und jetzt willst du mich abservieren?«
»Setz dich, bitte.«
Sie setzte sich. »Hör zu, bevor du’s mit weiteren Ansprachen oder taktischen Tricks probierst, Michael: Ich weiß, warum du das gesagt hast, und ich weiß es zu schätzen. Es zeigt, dass dir was an mir liegt. Aber du könntest mich nicht davon abhalten mitzukommen, selbst wenn du mir eine Pistole auf die Brust setzen würdest - nicht mal eine von diesen M16. Wenn du mich hier zurücklässt, halt ich ein Auto an, hau dem Fahrer eins über die Rübe und komm dir hinterher. Und ich werde dann nicht sehr gut gelaunt sein.«
»Bel, ich möchte doch nur -«
»Das weiß ich, Süßer.« Sie stand auf, beugte sich über mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann ging sie zur Hi-Fi-Anlage und suchte etwas Passendes heraus.
Tja, dachte ich, das ist ziemlich genauso gelaufen wie erwartet. Immerhin hatte ich’s versucht - aber das bedeutete keineswegs, dass ich jetzt meine Hände in Unschuld waschen konnte. Ich hatte Bel eigentlich was ganz anderes sagen wollen: dass sie, wenn sie mitkam, bloß zu einem Risikofaktor werden würde. Sie könnte uns behindern, oder sie könnte uns zu fatalen Fehlentscheidungen verleiten. Sollte ich verwundet werden und die Lage wirklich brenzlig werden, dann wusste ich, dass Spike mich im Stich lassen würde... Und das wäre auch richtig so. Aber würde einer von uns unter den gleichen Umständen Bel im Stich lassen? Spike hatte mir schon klipp und klar gesagt, dass er Bel nicht dabeihaben wolle.
»Ich mein das jetzt nicht sexistisch oder so, Mann, aber das wird keine Party für eine Lady. Keiner wird Scampispießchen essen und kalifornischen Weißen schlürfen. Es wird keine hübschen Kleider und keine gepflegte Unterhaltung geben. Es wird Geschrei und Geballer geben, und das wär’s auch so ziemlich. Was, wenn sie sich vor Schiss plötzlich nicht mehr von der Stelle rühren kann? Was, wenn sie ausflippt, Mann? Was dann?«
Ich hatte keine Antwort parat. Das war eigentlich eine Frage, die man Bel stellen musste.
Bel legte Springsteen auf, was unserem Küchenchef einen beifälligen Urschrei entlockte. Es war der frühe Bruce. Wir sangen mit, wo immer wir den Text kannten, und Spike sang sogar mit, wenn er ihn nicht kannte. Bel verschwand im Schlafzimmer und kam in Jeans und Stiefeln zurück. Spike war in der Küche ins Schwitzen geraten und ließ sich Rotwein direkt aus der Flasche in die Kehle rinnen. Er sah, wie ich ihn beobachtete.
»Hey«, sagte er, »nur noch die, und dann ist Schluss, okay?«
»Ist schon okay«, sagte ich, »wir fahren heute Nacht sowieso nicht dahin.«
»Warum nicht, Wild West?«
»Jede Menge Gründe. Es ist so gut wie sicher, dass sie uns erwarten, wir sind noch nicht so weit. Wir sind alle noch ein bisschen kaputt oder überdreht. Jede Menge Gründe.«
»Nicht so weit? Mann, wie so weit können wir sein?«
»So weiter als jetzt. Wir müssen vollkommen ausgeruht sein. Morgen ist besser.«
»Was? Morgen vor Sonnenaufgang?«
»Morgen Nacht.«
»Wozu warten, Mann?«
»Weil Jeremiah Provost morgen im Hauptquartier erwartet wird.«
Bel setzte sich neben mich. »Glaubst du, er kommt trotz allem, was passiert ist?«
»Ich weiß nicht, vielleicht.« Spike war aus der Küche gekommen. Er verteilte Gläser und füllte sie mit Wein aus der Flasche, aus der er gerade getrunken hatte.
»Ist ungefährlich, Wild West, ich hab keine Würmer.«
»Er meint Bakterien«, erklärte ich Bel.
»War mir klar«, meinte sie cool.
»Spike«, sagte ich, »wir brauchen diese zusätzliche Zeit. Du hast uns noch gar nicht gezeigt, was wir mit dem ganzen Waffenarsenal, das du da angekarrt hast, anfangen können.«
»Tja«, gab er zu, »das ist allerdings wahr. Es juckte mich bloß, es heute Nacht durchzuziehen.«
»Entspann dich, beruhige dich. Trink in aller Ruhe was, und dann essen wir ganz gemütlich. Morgen feuern wir ein paar Schießeisen ab, schauen, wie die sich verhalten.«
Bel schüttelte den Kopf. »Wenn wir morgen Nacht auf die Halbinsel fahren, wäre es da nicht vernünftiger, die Waffen heute Nacht auszuprobieren, unter vergleichbaren Bedingungen?«
Spike stieß einen Pfiff zwischen den Zähnen aus. »Das ist eine gute Idee.«
»Ich hab eben durchaus meine guten Seiten«, sagte Bel und ließ sich nachschenken.
Zwanzig Minuten später setzten wir uns zu unserem Chili ohne carne an den Tisch. Wir aßen ihn mit Reis und sonst nichts. Er schmeckte gut, aber Spike beklagte sich in einem fort, wie fad er sei, und schüttete sich immer wieder Chilisauce nach. Während wir redeten, troff seine Stirn vor Schweiß.
»Dieser Colt Commando ist ziemlich gut«, sagte ich. »Schlägt ein bisschen aus.«
»Du benutzt ihn einhändig, klar schlägt er da aus. Wart’s ab, bis du die Ingram ausprobierst: Bei dem Ding hast du das Gefühl, jemand steht daneben und rüttelt dich ständig am Arm. Zielgenauigkeit kannst du vergessen, aber auf einer Blutbadskala von eins bis zehn ist das Ding eine glatte neun Komma fünf.« Er schaufelte sich einen weiteren Löffel Bohnen in den Mund. »Hast du die Varmint schon ausprobiert?«
»War nicht nötig.«
»War’ne flaue Woche, hm? Okay, hier ist mein Plan. Ich feuer eine Ingram in die Luft und lock die aus ihren Löchern, dann sprüh ich die Scheißer zu, während du auf einem Baum sitzt und die Gescheiten, die sich in den Hütten verstecken, einzeln ausknipst. Na, wie klingt das?«
»Scheiße«, sagte ich, weil ich wusste, dass das Bels Meinung war. Ich persönlich fand den Plan gar nicht so dumm.
Aber Bel warf den Löffel in ihren Napf. »Ihr könntet dabei Unschuldige erschießen. Wir wissen nicht, ob sie alle in der Sache mit drin stecken. Was die Sekte angeht, wissen wir nicht mal, ob auch nur einer von denen was damit zu tun hat.«
»Sie hat recht, Spike«, warf ich schnell ein. Ich wollte ihm nicht die Chance lassen, etwas zu sagen, was Bel richtig wütend gemacht hätte. »Nach dem, was ich von Provosts Gespräch mit Kline gehört und gesehen habe, sind die beiden nicht direkt Busenfreunde. Kline wäre kaum schlechter behandelt worden, wenn er in der Hölle Bibeln verkauft hätte.«
»Die Hölle ist voll von Bibelverkäufern«, sagte Spike, und ich bedachte seinen Scherz mit einem breiten Grinsen. Bels Miene blieb eisig, aber Spike hatte noch eine Waffe in der Hinterhand.
»Bel«, sagte er ohne hinzusehen, »versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber ich möchte dich morgen Nacht nicht dabeihaben.«
»Dumme Sache«, sagte sie. Spike sah mich hilfesuchend an, aber ich war ganz damit beschäftigt, die letzten Bohnen auf meinen Löffel zu schaufeln.
»Schau«, fuhr er fort, »Wild West und ich, wir kennen das alles schon - jeder auf seine Art. Wir sind nie direkt ein Team gewesen, aber wir kennen die Situation, und wir kennen uns auf dem Gebiet aus.«
»Nein«, sagte sie, »ihr kennt euch da nicht aus, aber ich schon. Ich bin da draußen gewesen, Scheiße, ich bin in dieser Siedlung gewesen! Und ihr erwartet von mir, dass ich brav daheim sitzen bleibe und euch Winterschals stricke, während ihr euch amüsieren geht? Schmink’s dir ab.«
»Bel«, sagte er, »ich weiß, dass du dich mit Schießeisen auskennst, aber kannst du auch tatsächlich damit umgehen?«
Sie starrten sich schweigend an. Bel sprach als Erste. »Du Hurensohn.« Klar und deutlich und schön dreisilbig artikuliert, ohne jeden pseudo-amerikanischen Akzent. Hu-rensohn. Dann stand sie auf, verließ den Tisch und ging nach draußen.
Ich folgte ihr, neugierig, was sie jetzt tun würde. Als Erstes drückte sie auf einen Schalter außen an der Hauswand. Ich nahm an, dass sie ihn schon vorher gesehen hatte. Schlagartig erfüllte grelles weißes Licht die Lichtung. Ich meinte, einen jungen Hirsch zu sehen, der sich wieder im Dunkel des Waldes auflöste. Die Scheinwerfer waren sowohl auf ebener Erde als auch in den Bäumen installiert. Man meinte, auf eine Bühne zu schauen. Spike kam zu mir auf die Veranda und reichte mir mein Weinglas. Bel setzte sich in den Pick-up und ließ den Motor an.
»Was hat sie vor?«, fragte Spike.
»Einen Verdacht hätte ich da schon.«
Sie fuhr den Pick-up bis an den äußersten Rand der Lichtung und stellte den Motor ab. Dann fing sie an, auf dem Boden herumzusuchen. Ich nahm Spike die leere Weinflasche aus der Hand und stieg die Verandastufen hinunter. Als ich bei Bel ankam, hatte sie schon ein paar größere Steine und eine leere Coladose gefunden. Ich reichte ihr die Weinflasche. Sie lächelte und platzierte sie auf der Motorhaube des Pick-up. Dann beugte sie sich in die Fahrerkabine und holte ein paar Waffen heraus.
Spike war auch von der Veranda heruntergekommen. Selbst er hatte inzwischen kapiert, was Bel vorhatte. Sie kam wieder auf das Haus zu, blieb stehen und drehte sich um. Der Pick-up zeigte ihr jetzt die Flanke, die Ziele standen nebeneinander auf der Motorhaube aufgereiht. Als Erstes wählte sie eine Pistole. Fachmännisch prüfte sie das Magazin und stieß es wieder in den Kolben, hielt dann die Waffe mit ausgestrecktem Arm, schloss das linke Auge und gab drei Schüsse ab. Sie traf die Dose und zwei von den Steinen, die über die Motorhaube wegflogen. Ich stellte Steine und Dose wieder auf, während sie sich mit dem kleinen Service Style Revolver vertraut machte. Drei weitere Schüsse, jetzt aus diesem, und alle drei ins Schwarze.
Spike fing an zu klatschen und verschüttete dabei Wein aus seinem Glas. »Okay«, sagte er, »eine weitere gute Seite an dir. Botschaft empfangen.«
Aber sie war noch nicht fertig. Sie zog die Varmint aus dem Camper und lud sie, gab dann sechs elegante Schüsse ab: jeder ein Treffer. Der Lack des Pick-ups hatte nicht den kleinsten Kratzer abgekriegt. Zum Abschluss schoss sie die Weinflasche in Scherben.
»Ich kann schießen«, sagte sie. »Ich tu’s bloß nicht gern. Und am allerwenigsten mag ich es, wenn dabei Unschuldige zu Schaden kommen.«
»Okay«, meinte Spike mit versöhnlich ausgebreiteten Armen. »Dann schlag uns einen anderen Plan vor.«
»Ich habe einen Plan für euch«, sagte ich. »Er besteht in einer Frage: Wie unterscheidet man die Guten von den Bösen?«
Sie schüttelten beide den Kopf, also gab ich mir selbst die Antwort.
»Man sieht, wer wegläuft. Jetzt kommt schon, die nächste Runde geht aufs Haus.«
Dann wurd’s aber kein Wein, sondern Kaffee, und wir setzten uns auf den Rasen, während Spike seine Schätze auf ein paar alten Decken ausbreitete.
»Kennt ihr den Film«, sagte er, »wo die ganzen Schießeisen auf dem Bett ausgelegt sind, und De Niro sucht sich was aus? Mann, ich kann’s nicht erwarten, denen ihre Visagen zu sehen, wenn wir mit diesem hübschen kleinen Arsenal aufkreuzen!« Spikes Grinsen war halogenweiß.
Ich meinte, Bel frösteln zu sehen, aber es wurde allmählich spät. Mir selbst war auch ein bisschen kalt.
Bis aufs Blut - Thriller
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