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Das Gericht, ein imposantes
Kalksteingebäude mit ionischen Säulen, war durch ein Asphaltmeer
von der Außenwelt abgeschnitten. Ich sah die große Kanone sofort
und hielt mich links. Es war noch früh, deshalb waren mehrere
Parkplätze neben ihr frei.
McGann kam aus der Richtung des Gerichts auf uns
zu. Er trug einen offenen schwarzen Regenmantel, der wie ein Umhang
um ihn flatterte. Ein gut geschnittener dunkler Anzug und eine
Sonnenbrille vervollständigten seinen Secret-Service-Look.
Ich ließ das Fahrerfenster hinunter.
»Na, sehen Sie«, sagte er. »Sie sind also doch
noch in Kilkee geblieben.«
»Nicht, weil ich es wollte.«
»Ich weiß. Es tat mir leid, zu hören, was Kim
Tyrell zugestoßen ist. Es war gestern in allen Zeitungen. Aber ich
fürchte, zu dem Grund, warum sie ermordet wurde, kann ich nichts
beisteuern. Ich bin hier, um über Jonas Zitaras mit Ihnen zu
reden.«
Er nahm seine Sonnenbrille ab und blinzelte
Kendrick zu. »Hallo. Ich bin Barry. Sie sind Giles, richtig?«
Kendrick nickte.
McGann ging zur hinteren Tür und öffnete sie.
»Darf ich einsteigen?«
»Willkommen an Bord«, sagte ich, als er saß.
Kendrick und ich drehten uns zu ihm um.
»Also, was ist mit Zitaras?«, fragte ich.
McGann sprach Kendrick an. »Sie verdächtigen ihn,
Ihre Freundin mit Heroin versorgt zu haben, richtig?«
Kendrick sah mich an. »Ich bin mir ziemlich
sicher, dass er das getan hat.«
»Was wollen Sie deswegen unternehmen?«
»Wir werden vor Gericht aussagen, wir hätten
Beweise, dass Zitaras Sarah mit Heroin versorgt hat, dass sie
dadurch seelisch aus dem Gleichgewicht geriet und dass Detective
Rattigan nachlässig gehandelt hat, weil er diesem Umstand bei
seinen Ermittlungen nicht nachgegangen ist.«
»Beweise? Welche Beweise?« McGann sah mich
herausfordernd an.
»Beweise, die ein Richter wohl ernst nehmen
wird.«
McGann wandte sich an Kendrick. »Was wäre, wenn
man Rattigan überreden könnte, die Sache gegen Sie fallen zu
lassen, bevor sie überhaupt vor Gericht kommt?«
Kendrick schaute skeptisch drein. »Das ist
unwahrscheinlich. Aber selbst dann würde ich gegen Zitaras
vorgehen. Es ist mir egal, ob er nur ein kleines Rädchen in der
Maschine ist, falls Sie mir das erzählen wollen.«
McGann seufzte. »Ich bin nicht im Namen von
Zitaras an sich hier. Ich bin hier, um Sie beide ins Bild zu
setzen. Und es ist ein ziemlich großes Bild, deshalb haben Sie
Geduld mit mir. Sie wissen vielleicht, dass Drogenhandel zu einem
großen Geschäftszweig in Osteuropa geworden ist. Ehemalige
kommunistische Staaten haben Länder wie Holland als Produzenten
synthetischer Drogen überholt und werden außerdem mehr und mehr als
Transitrouten für Heroin aus Afghanistan benutzt – vor allem die
baltischen Staaten, da sie Zugang zum Meer haben. Tatsächlich
trifft dort so viel Heroin ein, dass zum
Beispiel in Lettland mehr Leute Heroin nehmen als Cannabis
rauchen. Habe ich jedenfalls gehört. Wie auch immer – nun ein
Schnitt zur Südwestküste Irlands. Zerklüftete Küstenlinie,
entlegene Strände, unbewohnte Inseln – wirklich schwer zu
überwachen für Marine und Küstenwache. Dazu kommt, dass durch den
Niedergang der Fischereiindustrie der eine oder andere
Trawlerbesitzer nach neuen Einkommensquellen Ausschau hält und
bereit ist, sich auf Drogenschmuggel einzulassen.
Wenn Sie das alles zusammennehmen, haben Sie
bereits einen Teil des Bilds, den Hintergrund, sozusagen. Und
dieser Hintergrund wird von unserer Drogenfahndung, der Küstenwache
und einer Reihe EU-Behörden genauestens überwacht. Man weiß, dass
vor etwa einem Jahr eine Drogenbande in Litauen eine vermeintlich
zuverlässige Schmuggelroute nach Irland und Großbritannien
aufgebaut hat. Es funktioniert folgendermaßen: Ein Frachtschiff mit
einer Lieferung Drogen an Bord lädt diese weit draußen auf See auf
einen Trawler um. Der Trawler steuert dann Küstengewässer an, aber
keinen Hafen. Stattdessen trifft er sich mit einem oder mehreren
schnellen Schlauchbooten, die die Ladung an Land bringen. Sie tun
es unter Umständen nicht sofort, die Ware wird etwa auf Inseln oder
in Höhlen gelagert, bis sie gefahrlos transportiert werden kann. In
den letzten Monaten wurde eine Reihe von Probeläufen durchgeführt,
um die Gewässer zu testen, sozusagen – vielleicht haben Sie sogar
selbst ein merkwürdiges Kommen und Gehen in den letzten Tagen
bemerkt. Jedenfalls ist der Schauplatz jetzt für eine große
Lieferung bereitet – und ich meine richtig groß. Aber es ist eine
Falle. Und Jonas Zitaras ist ein Teil davon.«
»Ein Teil der Falle oder des
Schmuggelunternehmens?«, fragte ich.
»Beides. Was die Schmuggler angeht, unterhält er
ein Netz von Straßenhändlern, die sowohl hier die Drogen verteilen
als sie auch weiter nach Nordirland und ins Vereinigte Königreich
transportieren. Wenn diese Lieferung also abgefangen wird, haben
sich die Verbrecher in Litauen eine blutige Nase geholt, und sie
werden Jahre brauchen, bis sie einen anderen Weg gefunden haben,
die Drogen nach Irland zu schaffen.«
»Dann steht Zitaras also kurz vor der
Verhaftung?«, fragte Kendrick.
»Sie verstehen es noch immer nicht, Giles. Er hat
von Anfang an bei der ganzen Sache mitgewirkt. Aber die Typen in
Vilnius würden ihn sofort als Verräter erkennen, wenn er nicht mit
Drogen handeln würde. Deshalb musste die Polizei hier bei uns
wegsehen. Sie brauchen einen Insider – so läuft dieses Geschäft nun
einmal. Der entscheidende Punkt ist, dass die Operation in dieser
kritischen Phase nicht gefährdet werden darf. Zitaras muss normal
weitermachen dürfen. Die Abmachung sieht also folgendermaßen aus.«
Er sah Kendrick direkt an. »Wenn Sie einverstanden sind, nicht
gegen Zitaras vorzugehen, wird man Rattigan beiseite nehmen, ehe er
das Gerichtsgebäude betritt, und ihm sagen, er soll die Sache gegen
Sie fallen lassen.« Jetzt sah er mich an. »Und Ihnen wird er auch
vom Hals bleiben.«
Ich war perplex. Ebenso sehr wegen McGanns Rolle
als Vermittler bei der ganzen Geschichte wie über das, was ich
gerade gehört hatte.
Kendricks Blick drückte alles aus. Kann man dem Kerl trauen?
Ich weiß nicht, gab ich
mit einem Achselzucken zurück.
Kendrick sah aus dem Fenster und fasste die Kanone
ins Auge.
»Sie ist russisch«, sagte McGann. »Ein Souvenir
aus dem Krimkrieg. Als wir noch zum Empire gehörten. Jetzt machen
wir nur noch Friedenssicherung.«
»Es tut mir leid«, sagte ich schließlich, »wenn
ich ein bisschen skeptisch bin, auch wenn ich alles geben würde, um
diesen schrecklichen Menschen los zu sein. Aber ich hätte ein paar
Fragen.«
»Klar. Schießen Sie los.«
»Warum reden Sie – Barry
McGann, Inhaber eines Hubschraubercharterunternehmens – mit uns
über das alles? Warum nicht die Polizei, jemand aus dieser
Operation, von der Sie uns erzählen?«
»Glaubhafte Abstreitbarkeit, wie die CIA
vielleicht sagen würde. Sie würden nicht einmal jemanden von diesen
Leuten dazu bringen, für mich zu bürgen. Was Sie aber feststellen
werden, ist, dass Rattigan«, er sah auf die Uhr, »in einer halben
Stunde aus Ihrem Leben verschwindet. Vorausgesetzt, Sie sind
einverstanden, Giles.«
Kendrick sah ein wenig verwirrt aus. »Mein
Einverständnis jetzt würde mich aber nicht davon abhalten, etwas
gegen ihn zu unternehmen, wenn die Operation vorbei ist,
oder?«
McGann zuckte mit den Achseln. »Vermutlich
nicht.«
»Dann überlasse ich Illaun die
Entscheidung.«
McGann machte mir ein Zeichen, noch einen Moment
zu warten. »Ich sollte hinzufügen, Giles, dass Sie Ihren Pass
sofort zurückerhalten. Und Sie bekommen unverzüglich einen
Totenschein, damit Sie Ihre Freundin nach Hause überführen
können.«
Er drückte auf alle richtigen Knöpfe bei
Kendrick.
Ich stellte eine naheliegende Frage. »Zitaras
neulich mit Ihnen im Hubschrauber – hatte das mit dieser Sache zu
tun?«
»Ja. Ich hatte ihn zu einem Treffen mit einem
Trawler aufs
Meer hinausgeflogen. Ein Testlauf. Wir stellten Funkkontakt mit
ihnen her, schwirrten ein bisschen um sie herum – alles, um
Eindruck zu machen.«
»Sie stecken also von Anfang an mit drin?«
»Nur als Gelegenheitsarbeiter. Bis gestern Abend
war mir das ganze Szenario nicht klar.«
Es fiel mir schwer, das zu glauben. »Ich wüsste
gern, wer – außer Zitaras selbst – wusste, dass ich bereit sein
würde, mit Ihnen zu reden.«
»Wer mich geschickt hat, meinen Sie? Okay, da er
nur indirekt beteiligt ist, gefährde ich wohl nichts und niemanden,
wenn ich Ihnen sage, dass es Gus Carmody war.«
So, so. Da stolpere ich in Carmodys Höhle, und nun
tischt man mir diese komplizierte Abenteuergeschichte auf.
»Ich war übrigens nicht seine erste Wahl«, fuhr
McGann fort. »Er hätte lieber diesen Typen geschickt, der die
Wracks erkundet – Mahon -, aber der war krank und nicht in der Lage
dazu. Deshalb hat Gus gestern Abend mit mir Kontakt aufgenommen.
Die Mannschaft hinter der ganzen Falle macht sich Sorgen, dass
alles den Bach runtergeht, wenn Zitaras durchleuchtet wird. Und Gus
ist eine Art inoffizieller Berater. Er war außerdem für die
Rekrutierung Zitaras’ verantwortlich. Es geht auf die Zeit zurück,
als er bei der Wasserschutzpolizei gearbeitet und eine Operation
gegen Drogenschmuggel in der Shannon-Mündung geleitet hat. Damals
fuhren Trawler die Mündung hinauf und luden Ware auf gemietete
Ausflugsboote um, die dann weiter flussaufwärts tuckerten und das
Zeug an Dealer in Städten am Fluss verteilten. Gus erwischte
Zitaras in Lough Derg mit einem Laderaum voll Cannabis. Aber wie
Sie wissen, ist Jonas der geborene Geschäftsmann. Er tauschte
einige sehr nützliche Informationen dagegen ein, dass die Vorwürfe
gegen ihn fallen gelassen wurden. Als sie daraufhin
einen der beteiligten Drogenringe zerschlugen, rechnete man es Gus
als dessen Verdienst an.«
»Und ist Zitaras auf diese Weise im Crabshell
gelandet? Er arbeitet doch bestimmt nicht umsonst als
Kellner.«
»Jonas und umsonst arbeiten? Niemals. Aber er ist
nicht wirklich als Kellner angestellt – das gehört alles zum
äußeren Schein. Außerdem kann ihn Gus so im Auge behalten.«
McGann malte ein sehr rosiges Bild. Der
pensionierte Staatsdiener Gus Carmody, der immer noch seine Pflicht
tut. Sicherlich konnte man angesichts solch mustergültigen
Verhaltens über ein paar illegal gefangene Hummer hinwegsehen. Das
war die Botschaft, die bei mir ankam. Sollte ich mir aber
schmeicheln wollen, in etwas Aufregenderes verstrickt zu sein, dann
hatte ich die Möglichkeit, mein Erlebnis in der Höhle auf das
»Kommen und Gehen« zurückzuführen, das mit dem Drogenplan
einherging. McGann hatte meinen Ausflug in die Intrinsic Bay nicht
erwähnt, aber er wusste zweifellos davon. Und es war
unwahrscheinlich, dass mein Überleben Gus Carmody entgangen
war.
Aber im Augenblick war nichts dabei zu verlieren,
wenn ich auf McGanns Vorschlag einging. Es würde mir Rattigan vom
Hals schaffen und letzten Endes – es war kein unfreundlicher
Gedanke, sagte ich mir – Giles Kendrick ebenfalls. Es würde mir
außerdem Zeit verschaffen, wenn Carmody glaubte, ich hätte mich
ablenken lassen.
»Okay, machen wir es so«, sagte ich.
»Gute Entscheidung.« McGann legte mir die Hand auf
die Schulter. »Ich melde mich.« Er stieg aus dem Wagen und sprach
bereits in sein Handy, als wir ihn auf dem Parkplatz aus dem Blick
verloren.
»Na, da soll mich doch der Teufel holen«, sagte
Kendrick. »Drogenschmuggel, hm? Das erklärt, was Sie in der Höhle
gesehen haben – und warum Sie niedergeschlagen wurden. Sie wurde
benutzt, um Drogen zu verstecken, vielleicht sogar Waffen. Ich muss
zugeben, der Gedanke kam mir vorher schon, als Sie die Kerzen
erwähnt haben. Jeder Heroinkonsument benutzt hin und wieder eine
Kerze, um den Löffel für einen Schuss anzuwärmen. Ich stelle mir
vor, dass die Alubehälter für diese Lichter ideal dazu sind, sie
dienen also einem doppelten Zweck, wenn man so will.«
»Heroin nehmen, während man taucht? Bestimmt
nicht.«
»Na ja, wenn man süchtig ist …«
Ich sah skeptisch zu Kendrick hinüber.
»Sie glauben, ich denke es mir aus? Ich habe
Junkies schon merkwürdigere Dinge tun sehen, das kann ich Ihnen
versichern.« Er wirkte nachdenklich. »Es wäre nett, die ganze
Angelegenheit endlich klären zu können. Ich möchte Sarah nach
England zurückbringen.«
»Das verstehe ich, Giles. Und ich glaube, genau
darauf hat McGann gebaut. Sind Sie von seiner
Drogenrazzia-Geschichte wirklich überzeugt?«
»Absolut. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass
Sie wegen ein paar Hummer bewusstlos geschlagen wurden?«
Ich antwortete nicht. Weil ich glaubte, dass der
Angriff auf mich weder mit einem illegalen Hummerfang noch mit
einem Drogenversteck zu tun hatte.
Ich warf einen Blick auf die Uhr am
Armaturenbrett. Es war 10.50 Uhr. Zeit, zum Gerichtsgebäude
hinüberzugehen.
Kendricks Handy begann, eine barocke Melodie zu
spielen. Er meldete sich. »Hallo? … Ja … Ich verstehe …« Er sah mich mit leicht hochgezogenen
Augenbrauen an.
Der Anrufer sagte noch etwas.
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Kendrick.
»Danke für alles. Ich melde mich später in Ihrem Büro.« Er steckte
das
Handy weg. »Ihr Freund McGann hat Wort gehalten. Die Anklage wurde
fallen gelassen. Ich kann mir den Totenschein holen.«
Ich ließ wortlos den Motor an.