14
Ich fuhr zum Parkplatz an den Pollock Holes, am anderen Ende der Stadt von meinem Hotel aus gesehen. Hier war der Startpunkt des Klippenwanderwegs, und es war nicht weit von der Stelle, wo ich als Kind immer geschwommen und geschnorchelt war.
Es war Ebbe, aber selbst in der Dunkelheit konnte man die Wellen sehen, die am äußeren Rand des Riffs aufschlugen wie Betttücher, die in einer windigen Nacht über die Wäscheleine flattern. Diese flache Felsplatte vor der Küste schützt die Bucht von Kilkee vor der wütenden See, in der die Intrinsic sank.
Das Riff liegt bei jeder Ebbe frei, und in diesen Zeiten erlernte ich das Schnorcheln in natürlichen Schwimmbecken, die auf seiner Oberseite zurückbleiben – den Pollock Holes. In den kleineren Tümpeln suchten mein Bruder Richard und ich auch nach Einsiedlerkrebsen und Seesternen. Und wir lernten, uns nicht vor dem verknoteten Blasentang oder den langen Streifen von Seegras zu fürchten, die an den Rändern der Rinnen wuchsen, die ins Meer hinausführten. Nur die Dickichte aus Riementang waren uns nicht ganz geheuer.
Und dann kam der Tag – ich war fünfzehn -, da durften wir vom Riff selbst losschnorcheln, in den äußeren Teil der Intrinsic Bay hinaus. Aber bei dieser Gelegenheit ist etwas passiert, es war eine dieser plötzlichen Veränderungen im Wesen der See, die sie zu deinem Feind machen.
An diesem Morgen herrschte bereits eine beträchtliche Dünung, aber nun brachen sich die Kronen auch noch. Dann setzte eine kalte Strömung ein, die uns allmählich von der Flutrinne im Riff wegführte, durch die wir in die offene See hinausgelangt waren und durch die wir auch wieder zurückzukommen gedachten. Mein Vater begann uns zu der Rinne zurückzuführen, aber inzwischen war Gezeitenwechsel, und rund um den Eingang krachten und schäumten Wellen. Alles, was ich unter mir und ringsum sah, waren Unterwasserfelsen, die sich aus dem Meeresboden erhoben, gesäumt von gewaltigen Riementangfeldern, die wie ein Chor lautlos kreischender Medusen in der grünen Düsternis umherwirbelten. Ich war starr vor Angst, zu keiner Bewegung mehr fähig. Mein Vater schob seine Maske hoch und schwamm zurück, um mich zu retten, während Richard Hilfe holen ging.
Das Problem war jetzt, dass ich meine Maske und den Schnorchel nicht abnehmen wollte, denn wenn ich unter Wasser nichts sah, konnte ich dem Seetang und den Steinen nicht ausweichen und wusste nicht, wo ich meine Füße aufsetzen konnte. Andererseits war es der Anblick des wogenden Tangs und der brodelnden Wellen, der mir Angst machte. Mein Vater konnte mich nicht überreden, den Schnorchel aus dem Mund zu nehmen, damit er mich wie ein Rettungsschwimmer auf dem Rücken in Sicherheit schleppen konnte – sobald ich waagrecht lag, würde ich durch den Schnorchel Wasser aufnehmen. Deshalb legte er den Arm um mich und führte mich behutsam zu einem Felsvorsprung, wo Richard und meine Mutter inzwischen warteten. Sobald wir das Riff erreichten, spürte ich die lederartige Berührung des Tangs, der an mich klatschte und nach mir griff. Mein Vater drängte mich, alle Kraft zusammenzunehmen und hindurchzuschwimmen, aber ich konnte meine Beine buchstäblich nicht bewegen. Ich langte nach unten und ertastete zu meinem Entsetzen die Maschen eines Fischernetzes, das sich um mich gewickelt hatte. Als ich versuchte, es wegzuziehen, schluckte ich Wasser und fing an zu husten. Der Schnorchel fiel mir aus dem Mund, ich schrie, ich würde festsitzen, und mein Vater erkannte, dass er handeln musste.
Er rief den beiden auf dem Felsen zu, und dann hob er mich so weit aus dem Wasser, wie er konnte. Ich streckte die Hände aus, und es gelang ihnen, mich auf das Riff zu ziehen. Während ich weinte und nach Luft rang, befreiten mich Richard und meine Mutter aus dem Netz, das unsichtbar unter Wasser getrieben war. Es stellte sich als ein Stück nicht größer als ein Kaminvorleger heraus, aber es hätte gereicht, mich zu ertränken.
Zum Teil war meine spätere Taucherausbildung der Versuch, die Angst zu überwinden, die sich an jenem Tag in mir festgesetzt hatte, und bis zu dem Zwischenfall mit Brian Pender war es mir weitgehend gelungen. Danach gab ich das Tauchen ganz auf. Ich liebte das Meer immer noch und ich konnte darin schwimmen und schnorcheln. Aber der Gedanke, aus irgendeinem Grund in die Intrinsic Bay zu gehen, erfüllte mich mit Furcht, deshalb konnte ich Sally Hursts Empfindungen gegenüber der Bucht vollkommen verstehen.
Während ich dort in meinem Wagen saß und auf das von Wellen gepeitschte Riff hinaussah, fragte ich mich, ob Sarah Baxter von hier zu ihrem Spaziergang in den Tod aufgebrochen war. Oder war sie über die Straße zum Loop Head zum Lookout Cliff gelangt? Zu Fuß oder im Wagen? War sie in letzterem Fall selbst gefahren oder – bereits tot oder sterbend – hingefahren worden?
Rechts von mir, auf der andern Seite der Bucht von Kilkee, hing der Erntemond wie ein Lampion über der Walrückensilhouette von George’s Head. Er stand noch zu tief, um viel Licht zu geben. Die wenigen anderen Fahrzeuge auf dem Parkplatz waren leer, soweit ich es im Dunkeln erkennen konnte.
Die Leute gingen zu allen Tageszeiten auf den Klippen spazieren, aber abends blieben sie normalerweise auf dem Weg. Was hatte Sarah dort hinaufgeführt? War sie entschlossen gewesen, sich in die Tiefe zu stürzen, oder hatte sie nur den Halt verloren, nachdem sie vom Pfad abgewichen war? War sie allein gewesen oder in Begleitung? Von Giles oder jemand anderem? Hatte es einen schrecklichen Unfall gegeben – oder war sie gestoßen worden?
Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, stieg ich aus und ging den Wanderpfad hinauf. Ich hatte beschlossen, ihren Weg nachzugehen, um vielleicht zu verstehen, was passiert sein könnte. Es erschien mir natürlich, das zu tun, und ich stellte mir vor, dass Angehörige von ihr dasselbe tun würden, wenn sie nach Kilkee kamen.
Der Pfad stieg zunächst sanft an. Ich warf einen Blick nach rechts. Das Riff war genau unterhalb von mir, eine dunkle Fläche, von Spitzen aus Gischt gesäumt. Ich hörte den klagenden Ruf eines Brachhuhns über das Geräusch der Wellen hinweg, und ich wusste, dass er von einem Felsvorsprung weit draußen auf dem Riff kam – einem Sammelpunkt für Nachtvögel, ob bei Ebbe oder Flut.
Thomas Westropp, der Altertumsforscher und Volkskundler, dürfte diesen Pfad ebenfalls gegangen sein. Er begann seine Arbeit Jahrzehnte nach den Ereignissen, die Derry Costello umrissen hatte, deshalb hatte er den Gottesstein selbst nicht wahrnehmen können. Aber hatte er die Geschichte seiner Existenz, wie Costello sie erzählte, aufgezeichnet? Vielleicht nicht. Ich vermutete, dass etwas daran nicht stimmte.
Irland war im Verlauf des 19. Jahrhunderts vermessen und kartografiert worden, und dazu hatte die Erfassung aller möglichen alten Bauwerke und Denkmäler gehört. Ich wusste, dass dies für die Grafschaft Clare im Jahr 1839 geschehen war. Das Säulenkreuz wäre dabei sicher verzeichnet und die dazugehörige Klosteranlage entdeckt worden. Und doch wurden sie übersehen. Warum? Es konnte nur daran liegen, dass der Stein damals bereits verborgen war – fünfzehn Jahre vor der Zeit, die Derry Costello ins Spiel gebracht hatte.
Es war nicht ungewöhnlich für Irland, dass man Erzählungen hörte, denen zwar die richtigen Fakten zugrunde lagen, die sich aber nicht viel um deren Abfolge oder um zeitliche Lücken dazwischen scherten. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, in diesem Fall seien die Fakten der einen Geschichte absichtlich dazu benutzt worden, eine andere zu stärken. Sarah Baxter hatte in Zusammenhang mit dem Schiffbruch der Intrinsic einen »Stein« erwähnt, der drei Jahre vor der Vermessung Clares versunken sei. Hatte sie sich auf den Gottesstein bezogen? Aber wie könnte er etwas mit einem Schiffbruch zu tun gehabt haben? Es sei denn, man glaubte wirklich, dass er die Macht hatte, Stürme zu erzeugen.
Ich grübelte eine Weile vor mich hin, bis ich bemerkte, dass der Pfad steiler wurde. Eine Fledermaus flatterte genau über meinen Kopf. Ich hielt einen Moment inne und verfolgte ihren unregelmäßigen Flug vorbei am Mond und über die Felder auf der anderen Seite des Klippenpfads. Ich wollte gerade weitergehen und überlegte, die Taschenlampe einzuschalten, da der Weg nahe am Rand des Kliffs vorbeiführte. Doch ehe ich sie einschalten konnte, sah ich, wie sich ein Stück vor mir etwas bewegte. Eine Gestalt kam den Weg herunter, etwa zwanzig Meter vor mir. Die Silhouette kam mir irgendwie bekannt vor. Ich musste den Weg rasch verlassen.
Zum Glück war ich an einer Stelle, wo eine Reihe treppenartiger Felsplatten Richtung Meer hinunterführten. Ich stieg nach unten, kauerte mich etwa drei Meter vom Pfad entfernt nieder und hoffte, dass ich nicht gesehen worden war.
Ein Mann in Parka und Wollmütze erreichte die Stelle, wo ich gestanden hatte. Ich hielt den Atem an und betete. Ohne erkennbares Zeichen, dass er mich bemerkt hatte, setzte der Mann seinen Weg nach unten fort. Ich schlich aus meinem Versteck und sah ihn im Dunkeln verschwinden. Es war Giles Kendrick.
Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Da ich kein Handy bei mir hatte, konnte ich niemanden verständigen. Ich würde ihm folgen müssen.
Sein Wagen sprang an, als ich noch einige Meter vom Parkplatz entfernt war. Ich begann zu laufen und wäre fast über einen Stein gestürzt, der auf den Weg gekullert war. Gleichzeitig schaltete er das Licht ein und fuhr los. Nun knipste ich endlich meine Lampe an und vergewisserte mich, dass mir keine Hindernisse im Weg lagen. Ich holte meine Wagenschlüssel heraus und entriegelte das Fahrzeug, während ich darauf zulief. Ich stieg ein, ließ den Motor an und schaltete das Licht an.
Giles Kendrick stand mit der Hand auf der Kühlerhaube vor mir.
Die Opferstaette
titlepage.xhtml
dunn_9783641042578_oeb_toc_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_tp_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_epi_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c01_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c02_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c03_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c04_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c05_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c06_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c07_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c08_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c09_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c10_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c11_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c12_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c13_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c14_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c15_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c16_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c17_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c18_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c19_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c20_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c21_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c22_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c23_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c24_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c25_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c26_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c27_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c28_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c29_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c30_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c31_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c32_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c33_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c34_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c35_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c36_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c37_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c38_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c39_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c40_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c41_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c42_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c43_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c44_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c45_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c46_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c47_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c48_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c49_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c50_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c51_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c52_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_c53_r1.html
dunn_9783641042578_oeb_cop_r1.html