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Ich fuhr zum Parkplatz an
den Pollock Holes, am anderen Ende der Stadt von meinem Hotel aus
gesehen. Hier war der Startpunkt des Klippenwanderwegs, und es war
nicht weit von der Stelle, wo ich als Kind immer geschwommen und
geschnorchelt war.
Es war Ebbe, aber selbst in der Dunkelheit konnte
man die Wellen sehen, die am äußeren Rand des Riffs aufschlugen wie
Betttücher, die in einer windigen Nacht über die Wäscheleine
flattern. Diese flache Felsplatte vor der Küste schützt die Bucht
von Kilkee vor der wütenden See, in der die Intrinsic sank.
Das Riff liegt bei jeder Ebbe frei, und in diesen
Zeiten erlernte ich das Schnorcheln in natürlichen Schwimmbecken,
die auf seiner Oberseite zurückbleiben – den Pollock Holes. In den
kleineren Tümpeln suchten mein Bruder Richard und ich auch nach
Einsiedlerkrebsen und Seesternen. Und wir lernten, uns nicht vor
dem verknoteten Blasentang oder den langen Streifen von Seegras zu
fürchten, die an den Rändern der Rinnen wuchsen, die ins Meer
hinausführten. Nur die Dickichte aus Riementang waren uns nicht
ganz geheuer.
Und dann kam der Tag – ich war fünfzehn -, da
durften wir vom Riff selbst losschnorcheln, in den äußeren Teil der
Intrinsic Bay hinaus. Aber bei dieser Gelegenheit ist etwas
passiert, es war eine dieser plötzlichen Veränderungen im Wesen der
See, die sie zu deinem Feind machen.
An diesem Morgen herrschte bereits eine
beträchtliche Dünung, aber nun brachen sich die Kronen auch noch.
Dann setzte eine kalte Strömung ein, die uns allmählich von der
Flutrinne im Riff wegführte, durch die wir in die offene See
hinausgelangt waren und durch die wir auch wieder zurückzukommen
gedachten. Mein Vater begann uns zu der Rinne zurückzuführen, aber
inzwischen war Gezeitenwechsel, und rund um den Eingang krachten
und schäumten Wellen. Alles, was ich unter mir und ringsum sah,
waren Unterwasserfelsen, die sich aus dem Meeresboden erhoben,
gesäumt von gewaltigen Riementangfeldern, die wie ein Chor lautlos
kreischender Medusen in der grünen Düsternis umherwirbelten. Ich
war starr vor Angst, zu keiner Bewegung mehr fähig. Mein Vater
schob seine Maske hoch und schwamm zurück, um mich zu retten,
während Richard Hilfe holen ging.
Das Problem war jetzt, dass ich meine Maske und
den Schnorchel nicht abnehmen wollte, denn wenn ich unter Wasser
nichts sah, konnte ich dem Seetang und den Steinen nicht ausweichen
und wusste nicht, wo ich meine Füße aufsetzen konnte. Andererseits
war es der Anblick des wogenden Tangs und der brodelnden Wellen,
der mir Angst machte. Mein Vater konnte mich nicht überreden, den
Schnorchel aus dem Mund zu nehmen, damit er mich wie ein
Rettungsschwimmer auf dem Rücken in Sicherheit schleppen konnte –
sobald ich waagrecht lag, würde ich durch den Schnorchel Wasser
aufnehmen. Deshalb legte er den Arm um mich und führte mich
behutsam zu einem Felsvorsprung, wo Richard und meine Mutter
inzwischen warteten. Sobald wir das Riff erreichten, spürte ich die
lederartige Berührung des Tangs, der an mich klatschte und nach mir
griff. Mein Vater drängte mich, alle Kraft zusammenzunehmen und
hindurchzuschwimmen, aber ich konnte meine Beine buchstäblich nicht
bewegen. Ich langte nach unten und
ertastete zu meinem Entsetzen die Maschen eines Fischernetzes, das
sich um mich gewickelt hatte. Als ich versuchte, es wegzuziehen,
schluckte ich Wasser und fing an zu husten. Der Schnorchel fiel mir
aus dem Mund, ich schrie, ich würde festsitzen, und mein Vater
erkannte, dass er handeln musste.
Er rief den beiden auf dem Felsen zu, und dann hob
er mich so weit aus dem Wasser, wie er konnte. Ich streckte die
Hände aus, und es gelang ihnen, mich auf das Riff zu ziehen.
Während ich weinte und nach Luft rang, befreiten mich Richard und
meine Mutter aus dem Netz, das unsichtbar unter Wasser getrieben
war. Es stellte sich als ein Stück nicht größer als ein
Kaminvorleger heraus, aber es hätte gereicht, mich zu
ertränken.
Zum Teil war meine spätere Taucherausbildung der
Versuch, die Angst zu überwinden, die sich an jenem Tag in mir
festgesetzt hatte, und bis zu dem Zwischenfall mit Brian Pender war
es mir weitgehend gelungen. Danach gab ich das Tauchen ganz auf.
Ich liebte das Meer immer noch und ich konnte darin schwimmen und
schnorcheln. Aber der Gedanke, aus irgendeinem Grund in die
Intrinsic Bay zu gehen, erfüllte mich mit Furcht, deshalb konnte
ich Sally Hursts Empfindungen gegenüber der Bucht vollkommen
verstehen.
Während ich dort in meinem Wagen saß und auf das
von Wellen gepeitschte Riff hinaussah, fragte ich mich, ob Sarah
Baxter von hier zu ihrem Spaziergang in den Tod aufgebrochen war.
Oder war sie über die Straße zum Loop Head zum Lookout Cliff
gelangt? Zu Fuß oder im Wagen? War sie in letzterem Fall selbst
gefahren oder – bereits tot oder sterbend – hingefahren
worden?
Rechts von mir, auf der andern Seite der Bucht von
Kilkee, hing der Erntemond wie ein Lampion über der
Walrückensilhouette von George’s Head. Er stand noch zu tief, um
viel
Licht zu geben. Die wenigen anderen Fahrzeuge auf dem Parkplatz
waren leer, soweit ich es im Dunkeln erkennen konnte.
Die Leute gingen zu allen Tageszeiten auf den
Klippen spazieren, aber abends blieben sie normalerweise auf dem
Weg. Was hatte Sarah dort hinaufgeführt? War sie entschlossen
gewesen, sich in die Tiefe zu stürzen, oder hatte sie nur den Halt
verloren, nachdem sie vom Pfad abgewichen war? War sie allein
gewesen oder in Begleitung? Von Giles oder jemand anderem? Hatte es
einen schrecklichen Unfall gegeben – oder war sie gestoßen
worden?
Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, stieg ich aus
und ging den Wanderpfad hinauf. Ich hatte beschlossen, ihren Weg
nachzugehen, um vielleicht zu verstehen, was passiert sein könnte.
Es erschien mir natürlich, das zu tun, und ich stellte mir vor,
dass Angehörige von ihr dasselbe tun würden, wenn sie nach Kilkee
kamen.
Der Pfad stieg zunächst sanft an. Ich warf einen
Blick nach rechts. Das Riff war genau unterhalb von mir, eine
dunkle Fläche, von Spitzen aus Gischt gesäumt. Ich hörte den
klagenden Ruf eines Brachhuhns über das Geräusch der Wellen hinweg,
und ich wusste, dass er von einem Felsvorsprung weit draußen auf
dem Riff kam – einem Sammelpunkt für Nachtvögel, ob bei Ebbe oder
Flut.
Thomas Westropp, der Altertumsforscher und
Volkskundler, dürfte diesen Pfad ebenfalls gegangen sein. Er begann
seine Arbeit Jahrzehnte nach den Ereignissen, die Derry Costello
umrissen hatte, deshalb hatte er den Gottesstein selbst nicht
wahrnehmen können. Aber hatte er die Geschichte seiner Existenz,
wie Costello sie erzählte, aufgezeichnet? Vielleicht nicht. Ich
vermutete, dass etwas daran nicht stimmte.
Irland war im Verlauf des 19. Jahrhunderts
vermessen und kartografiert worden, und dazu hatte die Erfassung
aller möglichen
alten Bauwerke und Denkmäler gehört. Ich wusste, dass dies für die
Grafschaft Clare im Jahr 1839 geschehen war. Das Säulenkreuz wäre
dabei sicher verzeichnet und die dazugehörige Klosteranlage
entdeckt worden. Und doch wurden sie übersehen. Warum? Es konnte
nur daran liegen, dass der Stein damals bereits verborgen war –
fünfzehn Jahre vor der Zeit, die Derry
Costello ins Spiel gebracht hatte.
Es war nicht ungewöhnlich für Irland, dass man
Erzählungen hörte, denen zwar die richtigen Fakten zugrunde lagen,
die sich aber nicht viel um deren Abfolge oder um zeitliche Lücken
dazwischen scherten. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, in diesem
Fall seien die Fakten der einen Geschichte absichtlich dazu benutzt
worden, eine andere zu stärken. Sarah Baxter hatte in Zusammenhang
mit dem Schiffbruch der Intrinsic einen
»Stein« erwähnt, der drei Jahre vor der Vermessung Clares versunken
sei. Hatte sie sich auf den Gottesstein bezogen? Aber wie könnte er
etwas mit einem Schiffbruch zu tun gehabt haben? Es sei denn, man
glaubte wirklich, dass er die Macht hatte, Stürme zu
erzeugen.
Ich grübelte eine Weile vor mich hin, bis ich
bemerkte, dass der Pfad steiler wurde. Eine Fledermaus flatterte
genau über meinen Kopf. Ich hielt einen Moment inne und verfolgte
ihren unregelmäßigen Flug vorbei am Mond und über die Felder auf
der anderen Seite des Klippenpfads. Ich wollte gerade weitergehen
und überlegte, die Taschenlampe einzuschalten, da der Weg nahe am
Rand des Kliffs vorbeiführte. Doch ehe ich sie einschalten konnte,
sah ich, wie sich ein Stück vor mir etwas bewegte. Eine Gestalt kam
den Weg herunter, etwa zwanzig Meter vor mir. Die Silhouette kam
mir irgendwie bekannt vor. Ich musste den Weg rasch
verlassen.
Zum Glück war ich an einer Stelle, wo eine Reihe
treppenartiger Felsplatten Richtung Meer hinunterführten. Ich stieg
nach unten, kauerte mich etwa drei Meter vom Pfad entfernt nieder
und hoffte, dass ich nicht gesehen worden war.
Ein Mann in Parka und Wollmütze erreichte die
Stelle, wo ich gestanden hatte. Ich hielt den Atem an und betete.
Ohne erkennbares Zeichen, dass er mich bemerkt hatte, setzte der
Mann seinen Weg nach unten fort. Ich schlich aus meinem Versteck
und sah ihn im Dunkeln verschwinden. Es war Giles Kendrick.
Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Da ich
kein Handy bei mir hatte, konnte ich niemanden verständigen. Ich
würde ihm folgen müssen.
Sein Wagen sprang an, als ich noch einige Meter
vom Parkplatz entfernt war. Ich begann zu laufen und wäre fast über
einen Stein gestürzt, der auf den Weg gekullert war. Gleichzeitig
schaltete er das Licht ein und fuhr los. Nun knipste ich endlich
meine Lampe an und vergewisserte mich, dass mir keine Hindernisse
im Weg lagen. Ich holte meine Wagenschlüssel heraus und entriegelte
das Fahrzeug, während ich darauf zulief. Ich stieg ein, ließ den
Motor an und schaltete das Licht an.
Giles Kendrick stand mit der Hand auf der
Kühlerhaube vor mir.