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Sobald wir das Riff
passiert hatten, gab es keine Lichter oder andere von Menschen
geschaffene Orientierungspunkte mehr, aber die Sicht war gut und
wir hüpften wie ein flacher Kiesel über die leichte Dünung. Als wir
in die Intrinsic Bay einbogen, brannte der Mond ein Loch durch
einen dünnen Wolkenschleier, das an den Rändern braun war und wie
verschmortes Papier aussah.
Als wir uns jedoch dem Abschnitt der Klippen
näherten, zu dem ich Costello dirigierte, war der Mond plötzlich
verschwunden, und wir befanden uns im Schatten des Kliffs. Costello
verlangsamte sofort, schaltete mit der freien Hand eine starke
Lampe ein und leuchtete in die Richtung, in die wir fuhren. Alles,
was ich sah, waren die Wellenbuckel und eine undeutliche Form in
der Ferne. Es war, als würden wir eine sternenlose Region des Alls
mit nichts als einer kleinen Taschenlampe durchqueren. Ich dachte
an den Anglerfisch in den Tiefen des Ozeans.
Als wir näher an die Klippen kamen, drosselte
Costello den Motor. Wir hörten die Wellen an den Fels schlagen,
aber man sah keine Gischtlinie. Er ließ die Lampe über die Klippen
streichen. Mir sank der Mut, als ich die ungeheure Felsmasse
zwanzig Meter vor uns aus dem Meer steigen sah.
»Schauen Sie nicht nach oben«, sagte Costello aus
der Dunkelheit hinter mir.
Es war eine intelligente Umkehrung der üblichen
Warnung
und brach ein längeres Schweigen. Was mich anging, führte ich
dieses auf die Nervenanspannung und eine gewisse gedankliche
Verwirrung zurück: Ich versuchte, nicht zu viel an das zu denken,
was ich im Begriff war zu tun, während ich gleichzeitig sichergehen
wollte, dass ich mir alles richtig zurechtgelegt hatte. Außerdem
setzte mir Rattigans ungehobeltes Benehmen zu. Aber ich konnte mir
nicht erklären, warum Costello so schweigsam war – er hatte mich
nicht einmal gefragt, wieso der Detective am Kai aufgetaucht
war.
Ich bat Costello um die Lampe und ließ den Strahl
über den Fuß der Klippen wandern, bis ich den feucht glänzenden
Bogen aus Riementang gefunden hatte. Die einsetzende Flut bewegte
ihn bereits leicht.
»Da hinüber«, sagte ich. »Fahren Sie näher
ran.«
Ich gab ihm die Lampe zurück, er manövrierte das
Boot bis auf zehn Meter an die Klippen heran und stellte es
parallel zu ihnen.
»Ich würde sagen, das ist tatsächlich eine Höhle«,
sagte er. »Noch näher will ich nicht heran – ich bin sowieso schon
zu nah an den Felsen. Außerdem schwimmen hier ein paar
Markierungsbojen herum.« Er schwenkte den Strahl in einem Kreis
zwischen Boot und Klippe. Ich sah mehrere helle Kugeln nicht weit
entfernt. »Gus Carmodys Hummerkörbe. Die Leinen werden jetzt
schlaff auf dem Wasser liegen, und der Propeller könnte sich leicht
darin verfangen. Ein paar Meter unter uns liegt bis zum Kliff eine
von den Wellen geformte Plattform, es hat also keinen Sinn, eine
Leine nach unten abzusetzen – Sie werden nahe an der Oberfläche
sein, sobald Sie aus der Höhle herauskommen – wenn es denn eine
ist. Falls sie sich in mehrere Richtungen verzweigt, lassen Sie
sich nicht zu einer Erkundung verleiten. Sie bräuchten eine Spule
Schnur, um den Rückweg zu finden.«
Ich setzte mich mit dem Rücken zum Wasser auf den
Bootsrand und schaltete meine Tauchlampe ein.
»Lassen Sie die Lampe an, wenn Sie nach oben
kommen«, sagte er. »Sie müssten das Boot dann sehen. Aber ich werde
sowieso nach Ihnen Ausschau halten.«
Ich steckte mir das Mundstück in den Mund und
blies die Auftriebsweste ein wenig auf, dann legte ich die Hand
flach über Maske und Atemschlauch und ließ mich rückwärts ins
Wasser fallen. Sobald ich untergetaucht war, begann ich zu atmen
und achtete nicht auf den anfänglichen Kälteschock – ich hatte
genug zu überlegen. Ich tauchte auf und drehte mich, bis ich genau
auf die Klippe schaute. Dann ließ ich nach einer raschen
Überprüfung meiner Anzeigen Luft aus der Weste, richtete den
Lampenstrahl auf die Felswand und sank senkrecht in Richtung der
pulsierenden Dunkelheit der Höhlenöffnung, bemüht, nicht daran zu
denken, was dort oder in dem vierzig Meter tiefen Tal hinter mir
lauern mochte.
Und dennoch wurde ich, wie es unter Wasser so
häufig der Fall ist, von kleinen Dingen abgelenkt, die genau vor
mir passierten. Direkt vor meiner Brille trieb ein Trio
Seestachelbeeren, fragilen Glasornamenten ähnlich, in denen jeweils
elektrischer Strom in allen Farben des Spektrums pulsierte.
Dahinter waren Simse an der Felswand mit Teppichen rosaroter Algen
bedeckt, aus denen lila Perlen leuchteten – die Fühler von
Korallenanemonen, die sich von dem Plankton nährten, der wie feiner
Schnee um mich herum wirbelte. Dann bemerkte ich eine Reihe von
Spalten, die von roten Funken gesäumt wurden. Ich hielt in meinem
Abstieg kurz inne und entdeckte, dass es die Augen zahlloser
Krabben waren, die aus ihren Verstecken schauten und die das Licht
meiner Lampe reflektierten.
Aber ich wusste, dass ich auf all diese Dinge
rings um mich achtete, weil ich das Unvermeidliche hinauszögern
wollte: den Vorhang aus Riementang aufzuziehen, um zu sehen, was
dahinter lag.
Ich hatte gehofft, der Tangwald würde sich bereits
ein wenig ausgedünnt haben, wie es im Herbst immer geschieht, und
obwohl er wahrscheinlich tatsächlich nicht mehr so dicht war wie
sonst, bildete er immer noch eine wirksame Sperre vor dem Eingang,
den ich nun auf drei Meter im Durchmesser schätzte. Als ich
beobachtete, wie die olivgrünen Behänge in die Öffnung gesaugt und
wieder hinausgedrückt wurden, sah ich, dass sie sowohl am oberen
als auch am unteren Rand des Höhleneingangs befestigt waren. Das
bedeutete, es musste ein Stück über dem unteren Rand eine Art Lücke
zwischen ihnen geben.
Während ich zu dieser erhofften Lücke sank, kam
mir eins der Tangbänder, das sich vom Fels gelöst hatte, mit
gewundenen Bewegungen entgegen. Ich zuckte instinktiv zurück, da
mir die Bewegung zu lebhaft erschien. Ein Conger-Aal strömte an
meiner Taucherbrille vorbei und fixierte mich mit einem seiner
schwarz-weißen Puppenaugen. Plötzlich machte er kehrt, um mich
anzusehen, und ich konnte den ganzen torpedoförmigen Körper hinter
dem spitzen Kopf sehen, die mächtigen, halb geöffneten Kiefer mit
ihren sägeblattähnlichen Zahnreihen.
Ich hatte einmal gehört, dass diese nächtlichen
Räuber aggressiv auf helles Licht reagieren. Deshalb schaltete ich
meine Taschenlampe aus, sodass wir uns beide schlagartig im Dunkeln
befanden. Und obwohl es sinnlos war, schloss ich die Augen. Ich
wartete etwa zehn Sekunden, während mein Herz pochte wie ein
Schiffsmotor, dann schaltete ich das Licht wieder ein. Der Conger
war verschwunden.
Der Riementang rollte sich nun ein und aus wie die
langen Bänder chinesischer Akrobaten. Die Flut drückte herein. Es
war Zeit, dass ich in die Höhle kam.