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Fünfzehn Jahre zuvor war
ich vor der Isle of Man zum Wrack des Küstenfrachters Arabella getaucht. Wie die Intrinsic war die Arabella
von Liverpool gekommen, als sie sank. Aber damit endete die
Ähnlichkeit auch schon. Die Arabella war
mit einer Fracht Souvenirkeramik anlässlich der Krönung von Königin
Elizabeth II. auf dem Weg nach Belfast. Es war das Jahr 1953, und
das Schiff war gesunken, nachdem es im Nebel mit einem anderen
Handelsschiff zusammengestoßen war. Das Wasser drang in den
Bugabschnitt, der Frachter sank mit der Nase voran, und als es sich
in den sandigen Meeresgrund bohrte, brach der beschädigte Bug ganz
ab. Die Ladung ergoss sich auf den Meeresboden, während das Schiff
sich auf die Backbordseite legte. Bald brachen der Steuerbordrumpf
und die Decks dazwischen ein und rutschten nach vorn, sodass die
gesamten Deckaufbauten wie ein Pappkarton in dieselbe Richtung
gefaltet wurden.
Da es keine starken Strömungen gab und die
Arabella in leicht zugänglichen dreißig
Metern Tiefe lag, wurde sie schließlich dazu benutzt, angehende
Unterwasserarchäologen im Wracktauchen auszubilden.
Ich meldete mich nach meinem Diplom zu dem Kurs
an. Brian Pender war mein Tauchlehrer, und es war unser letzter
Tauchtag, als er verschwand.
Sechs Taucher waren bereits paarweise entlang
einer am Wrack verankerten Leine nach unten gestiegen, waren in den
Bug vorgedrungen und wohlbehalten zum Boot zurückgekehrt. In
unserem Kurs wurde häufig Luft durch Schläuche von der Oberfläche
geatmet, aber innerhalb des Wracks tauchten wir mit Flaschen. Brian
und ich stiegen als Letzte hinab. Während ich über dem Rumpf
entlangschwamm, blieb er direkt hinter mir – die angemessene
Position für einen Tauchlehrer. Er war jünger als ich, aber ich
hatte ihn in den vergangenen Tagen als Profi durch und durch erlebt
und hätte ihm mein Leben anvertraut. Ich brauchte das Gefühl, ihm
so trauen zu können, denn ich war eine ängstliche Taucherin.
Ich ließ meinen Lampenstrahl über das Wrack
wandern und staunte einmal mehr, wie das Meer die widerspenstigsten
Materialien verändert. Auch wenn keine Tropffiguren aus Rost wie
bei der Titanic von dem Schiff hingen,
wurde es in etwas völlig anderes verwandelt und diente einem neuen
Zweck. Organisches Material bedeckte es wie Raureif. Die
Rumpfplatten waren von Entenmuscheln und Hunderten weißer Seesterne
besetzt. Gelbe und rosa Anemonen umgaben die Bullaugen, eine
stachlige Spinnenkrabbe bahnte sich einen Weg über Klumpen
orangefarbener Schwämme, die eine Leiter einhüllten, eine Hecke aus
leicht schwankenden Venusfächern besiedelte den Kiel auf ganzer
Länge. Und die ganze Zeit sausten Fische in und aus Löchern und
Spalten in dem künstlichen Riff.
Meine Betrachtung wurde unterbrochen, weil Brian
auf meine Flasche klopfte – man lässt sich unter Wasser leicht
ablenken. Aber er wollte mich nicht ermahnen, sondern mir zeigen,
was er im Strahl seiner Tauchlampe entdeckt hatte: einen riesigen
Meeraal, der aus dem geräumigen Maul des offen liegenden Bugs der
Arabella genau vor uns glitt.
Er stieg wie eine Rauchfahne auf, dann verschwand
er in das dunklere Wasser hinter dem Wrack. Brian fing meinen Blick
auf und zeigte mir den erhobenen Daumen. Ich verstand
es so, dass wir jetzt zum Bug hinuntertauchen würden. Ich richtete
meine Lampe nach unten, um zu sehen, wo wir in den Bug eintauchen
würden, und erschrak, als ich einen Vorhang aus Seegras um die
Öffnung sah. Ich mochte seine ledrige Umarmung nicht und dachte
nicht gern daran, was sich in den wogenden Wedeln verbergen könnte.
In dieser Tiefe hatte ich mit keinem gerechnet. Ich würde all
meinen Mut zusammennehmen müssen. Angst ist in dieser Tiefe
lebensgefährlich.
Ich sah zu Brian hinüber und wartete darauf, dass
er die Führung übernahm, aber er achtete nicht auf mich, sondern
blickte in die Richtung, die der Meeraal eingeschlagen hatte. Er
drehte sich zu mir und machte mir ein Zeichen, zu warten. Dann
paddelte er kräftig mit den Schwimmflossen und war nach wenigen
Sekunden hinter dem Bug verschwunden.
Ich war verwirrt. Brian hätte nicht einfach so
davonschwimmen dürfen. Es passte auch gar nicht zu ihm. War es ein
Test für mich? Ich sah auf meine Uhr. Theoretisch lautet die Regel:
Eine Minute warten, dann an die Oberfläche zurückkehren und den
Taucher als vermisst melden. Ich schwamm langsam einen
vollständigen Kreis und hielt nach oben, unten und allen Seiten
nach einem Anzeichen von Brian oder seinen Luftblasen Ausschau. Ich
war eine einigermaßen erfahrene Sporttaucherin – jedenfalls
erfahren genug, um zu wissen, dass das Partnersystem nicht allzu
verlässlich ist. Manche Taucher schwammen ihren Partnern vielleicht
hinterher, andere trödelten einfach herum, bis sie zurückkamen.
Aber ich wusste auch, dass es besser war, auf der sicheren Seite zu
bleiben, selbst wenn ich mich dafür von Brian oder den anderen
Kursteilnehmern im Boot verspotten lassen musste. Eine Minute
später begann ich mit dem Aufstieg. Aber Brian kam nicht nach oben.
Und obwohl eine Woche lang intensiv nach ihm gesucht wurde, fand
man seine Leiche nicht.
Die Kursteilnehmer und Tauchlehrer kehrten für den
Rest des Kurses nach Schottland zurück, aber ich blieb. Brians
Eltern waren angereist, und ich versprach ihnen, noch nicht
aufzugeben – in meine Entschlossenheit, das Rätsel seines
Verschwindens zu lösen, mischten sich Schuldgefühle, weil ich ihn
allein zurückgelassen hatte. Ich stellte ein Freiwilligenteam aus
ortsansässigen Tauchern zusammen, und wir setzten die Suche
fort.
Brian war neun Tage lang im Wasser gewesen, als
ich ihn fand. Er trieb mit dem Kopf nach unten zwanzig Meter unter
der Wasseroberfläche. Nur der in schwarzes Neopren gekleidete
Oberkörper ragte aus den Schlingen eines weggeworfenen
Fischernetzes. Es hatte einen mächtigen Knoten auf seinem Rücken
gebildet, und von dort breitete es sich wie ein riesiger Umhang in
die Dunkelheit unter ihm aus. Er schien es aus der Tiefe
heraufzuziehen, als wäre es eine Art Herkulesaufgabe, die er
erfüllen musste.
Sein Körper war in Sichtweite des Wracks den
halben Weg bis zur Oberfläche hinaufgetrieben. Wie hatten wir ihn
an jenem Tag übersehen können? Wie hatten ihn die Suchteams
übersehen können, die das Gebiet eine Woche lang durchforstet
hatten?
Ich vermutete, dass er sofort seine
Tauchausrüstung abgeworfen hatte, als er sich in dem Trawlernetz
verfing, aber als er sich befreien wollte, hatte sich das Netz um
ihn gewickelt und verhindert, dass er aufstieg. Während ich sorgsam
darauf achtete, dass ich mich nicht selbst verhakte, näherte ich
mich ihm von vorn und sah, dass seine Maske fehlte. Ich rechnete
damit, dass sich sein hübsches Gesicht in eine groteske Fratze
verwandelt hatte, aufgebläht durch den Verwesungsprozess. Deshalb
schloss ich meine Augen für einen Moment, ehe ich sie wieder
öffnete und die Taschenlampe einschaltete. Und genau in diesem
Moment hob Brian den Kopf.
Ich fuhr mit einem Ruck zurück, während ein
Meeraal unter seiner Brust hervorglitt, wo er Schutz gesucht hatte.
Seine Flucht hatte die Kopfbewegung verursacht. Und jetzt folgte
der nächste Schock. Brians Kapuze bedeckte noch immer seinen Kopf,
sodass der fleischlose Schädel an eine mittelalterliche Darstellung
des Todes erinnerte. Doch die Knochen waren noch nicht gänzlich
abgenagt. Eine kleine Flotte winziger Fische schwärmte noch um sein
Gesicht herum – die Unterwasserentsprechung eines
Fliegenschwarms.
Ich dachte, ich hätte das Schlimmste gesehen, was
das Meer anrichten konnte, aber erst, als wir Brians Leiche an Land
gebracht und aus dem Netz gewickelt hatten, entdeckten wir, dass
seine gesamte untere Hälfte fehlte. Und auch im Rest seines
Tauchanzugs war nicht mehr viel übrig. Am Ende konnten Brians
Eltern dank meiner Entschlossenheit, ihn zu finden, nicht viel mehr
als einen Schädel in den Sarg legen, und mich hielt es für alle
Zeiten vom Tauchen ab.