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Als mich Mahon bei meinem
Hotel absetzte, ging ich direkt in den Speisesaal und bestellte ein
frühes Abendmahl – seit einem aus Tee und Toast bestehenden
Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Bei einem Blick auf die
Bucht sah ich, dass der Wind nachgelassen hatte und heller,
wolkenloser Himmel die einsetzende Dämmerung verzögerte.
Danach ging ich auf mein Zimmer, duschte und
wickelte mich in meinen Bademantel, entschlossen, mich früh mit
einem Buch ins Bett zurückzuziehen. Aber erst holte ich meinen
Laptop aus dem obersten Schrankfach. Es war mehr als vierundzwanzig
Stunden her, seit Kim und ich im Long Dock mit Theo Mahon und Senan
Costello geredet hatten. Während ich die Kamera mit dem Notebook
verband, beschloss ich, sie anzurufen, um zu hören, wie sie mit dem
Briefbeschwerer vorankam, den ich in Auftrag gegeben hatte, und um
ihr von dem grausigen Fund in dem Muschelhaufen zu erzählen. Ich
geriet an ihren Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht. Ich
nahm an, sie arbeitete – sie hatte mir erzählt, dass es im Atelier
keinen Telefonanschluss gab, da es sie nur stören würde und jede
plötzliche Bewegung, wenn sie ihre fragilen Glasgebilde
zusammensetzte, die Arbeit von Stunden vernichten konnte.
Nachdem ich die Bilder auf den Computer überspielt
hatte, wählte ich die besten aus, um sie der Polizei zu schicken,
dann öffnete ich mein Postfach und tippte die Adressen ein, die mir
Mahon gegeben hatte. Bei einer tauchte der Name hynes auf –
offenbar der Sergeant in Kilkee. Der andere war ivor.nolan, der Detective in Ennis, der Hauptstadt
der Grafschaft. Ich verfasste ein kurzes Anschreiben und wartete
dann, bis ich das beruhigende Rauschen hörte, mit dem die Mail samt
Anhang in den Cyberspace abhob. Ich hatte bereits bemerkt, dass
neue E-Mails eingetroffen waren, und ging sie rasch durch,
entschlossen, keine zu öffnen, die etwas mit meiner Arbeit zu tun
hatten. Aber neugierig war ich doch.
Es gab nur eine, die ich lesen wollte. Sie war von
Peter Groot.
Ich weiß, ich habe dir dringend empfohlen, den
Kontakt mit der Außenwelt für eine Weile abzubrechen, aber ich
schreibe dies trotzdem. Hier ist es jetzt Frühling, und der
Bleiwurz, den ich für meinen Fensterkasten gekauft habe, beginnt zu
blühen. Ich habe ihn gepflanzt, weil er mich an deine Augen
erinnert, aber lieber würde ich tatsächlich in sie schauen. Würdest
du in Erwägung ziehen, über Weihnachten oder Neujahr
hierherzukommen? Ich weiß, ich bin ziemlich direkt, aber Subtilität
ist nicht mein Ding. Pete
PS: Bin selbst ein paar Tage nicht erreichbar.
Falls man nie wieder etwas von mir hört, vermache ich dir hiermit
meinen Blumenkasten.
Ich lächelte und sah auf die Uhr. Das Angenehme an
Südafrika ist, dass der Zeitunterschied nur eine Stunde beträgt.
Aber da er irgendwo unterwegs war, hatte es wenig Sinn, ihn
anzurufen, deshalb schickte ich ihm eine kurze Mail.
Habe nichts dagegen, Weihnachten in Kapstadt zu
feiern, wenn ich meine Mutter mitbringen darf. – War nur
Spaß!
Hätte auch nichts dagegen, wenn du in meine Augen
schaust – aber nur zu Vergleichszwecken. Ich werde darüber
nachdenken.
Ich fand, ich hatte mich gerade richtig
ausgedrückt, um versucht – und versuchend – zu klingen, aber auch
vorsichtig. In Wahrheit ließ Groots Einladung mein Herz rasen, und
ich lag da und dachte daran, was passieren könnte, wenn ich sie
annahm.
Ich machte das Licht aus, aber sobald sich meine
Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich ein Leuchten
von draußen. Ich stand auf und öffnete die Vorhänge. Es war der
Mond, hoch und hell, der das Meer und die Küste mit einer
Silberschicht überzog.
Die Flut war höher, als ich sie je gesehen hatte,
sie bedeckte den Strand bis hinauf zur Promenade. Doch von einem
leichten Kräuseln abgesehen, war die Meeresoberfläche in der Bucht
so still und glänzend wie Quecksilber in einer Schale.
Meine Gedanken dagegen waren alles andere als
ruhig. Genauso wenig wie mein Körper. Diese Wirkung hatte Peter
Groot neuerdings auf mich. Ich fühlte seine Nähe so stark, dass ich
unwillkürlich die Hand ausstreckte und den leeren Platz neben mir
tätschelte. Weihnachten schien entsetzlich weit entfernt.