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Als ich in mein Hotelzimmer hinaufging, fasste ich einen Entschluss: Nie wieder würde ich ohne einen kompletten Satz Kleidung zum Wechseln irgendwohin fahren. Nur ein Reservehöschen in der Handtasche – das gehörte der Vergangenheit an. Von jetzt an würde mich eine komplette Garnitur Ersatzkleidung überallhin begleiten.
Ich war gewiss von kleiner Statur, aber Breda musste etwa zehn gewesen sein, als sie die dünnen, ausgeblichenen Sachen getragen hatte, in die ich mich unter der Gefahr zwängte, die Blutzufuhr zu wichtigen Körperteilen abzuschnüren. Auf der Fahrt in Marions Wagen hatte ich mit einer Hand am Kragen gezerrt und mit der anderen das Oberteil über einem kleinen Speckröllchen nach unten gezogen, das sich über Nacht um meine Hüfte gebildet hatte. Zu meiner Erleichterung verschwand es wieder, als ich das Unterteil des Trainingsanzugs vom Leib geschält hatte.
Ich zog meinen Bademantel an und ging auf den Balkon hinaus, um meinen Nassanzug gewendet aufzuhängen. Er würde rasch trocknen in der Brise, die über die Bucht fegte und die hereinbrechenden Wellen mit feinen Sprühnebelfahnen krönte. Die Sonne war zwischen Wolkenfetzen noch zu sehen, aber die Temperatur war um rund fünf Grad gesunken. Die Brecher beim Riff an den Pollock Holes spuckten Gischt wie Granatenexplosionen in den Himmel. Ohne Frage sah es am Lookout Cliff nicht anders aus.
Ich hängte den Kleiderbügel an das Balkongeländer und meinen Taucheranzug darüber. Gerade noch rechtzeitig, ehe er davonflog, sah ich meinen hellblauen Badeanzug aus einem der Ärmel schauen. Ich hatte vergessen, dass ich ihn getragen hatte. Jetzt war meine Demütigung komplett. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich – wenn auch benommen – irgendwie im Badezimmer der Costellos meinen Nassanzug ausgezogen und mich abgetrocknet hatte, um dann in Marions Pyjama zu schlüpfen. Aber als ich sah, wie ordentlich der Badeanzug aufgeräumt war, wusste ich, dass jemand anderer mich ausgezogen und auch angekleidet haben musste.
Dann fing ich zu lachen an. Ich erkannte die schüchterne Person nicht wieder, zu der ich anscheinend geworden war. Das wiederum ließ mich daran denken, wie sehr viel selbstbewusster wir mit unserem Körper und unserer Nacktheit umgehen, wenn wir wissen, dass eine geliebte Person davon erregt wird. Diesbezüglich war in letzter Zeit nicht viel bei mir los gewesen, vielleicht zerbrach ich mir deshalb über Dinge den Kopf, die mich normalerweise nicht allzu sehr beunruhigen würden.
Oder aber ich ersetzte sehr viel ernstere Sorgen durch diese belanglosen. Kaum war mir der Gedanke gekommen, traf mich die Tragweite all dessen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war, wie eine der Wellen, die gegen das Riff donnerten.
Man hatte mich der Komplizenschaft in einem Mordfall bezichtigt. Eine Freundin von mir war brutal ermordet worden, und ich hatte ihre Leiche gefunden. Man hatte mich bewusstlos geschlagen und liegen gelassen, damit ich ertrinken sollte.
Ich fühlte mich plötzlich benommen, ging ins Zimmer zurück und legte mich aufs Bett. Ich schloss die Augen, aber sofort drehte sich alles in meinem Kopf, und mir drohte, übel zu werden, deshalb öffnete ich sie schnell wieder. Dann begannen meine Gedanken zu rotieren. Wer hatte mich angegriffen? Was versteckten sie wirklich in dieser Höhle? Hatte Senan Costello mich töten wollen und dann die Nerven verloren? Würde Kim Tyrell noch leben, wenn ich nicht nach Kilkee gekommen wäre?
Reue und Bedauern durchfluteten mich, und aus meinen Augenwinkeln liefen Tränen. »Es tut mir so leid, Kim«, flüsterte ich.
Ich lag da, bis das Gefühl irgendwann nachließ, nicht ohne einen harten Klumpen in meinem Magen zu hinterlassen. Meine Haut war aufgeschwollen vor Tränen. Ich ging ins Bad und spritzte mir Wasser ins Gesicht, holte einige Male tief Luft und versuchte, mich zusammenzureißen. Dann fiel mir ein, dass ich inmitten all der Geschehnisse eine Entdeckung gemacht hatte, die sich als archäologisch bedeutsam herausstellen konnte. Aber das würde vorläufig warten müssen.
In der Zwischenzeit musste ich jemandem mitteilen, was ich in der Höhle gesehen hatte, jemandem, der mich ernst nehmen würde und die Autorität besaß, etwas in der Sache zu unternehmen. Aber an wen konnte ich mich wenden? Hynes und Rattigan hatte ich bereits ausgeschlossen. Was war mit diesem Detective aus Ennis … Nolan? Es hatte wenig Sinn – Rattigan hätte sofort die Finger mit drin. Gallagher? Er wäre noch der aussichtsreichste Kandidat, auch wenn es hieße, seine Geduld auf die Probe zu stellen. Ich spielte in Gedanken durch, was ich ihm sagen würde. Es erschien mir nicht überzeugend. Es gab noch einige Lücken in dem Skript, die ich erst füllen musste.
Ich hatte gerade die Website des Fischereiverbands auf meinem Laptop aufgerufen, als mein Handy in der Schublade läutete, in der ich es liegen gelassen hatte. Es war Giles Kendrick.
»Wie war Ihr Tauchgang gestern Abend?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Ihnen, wenn wir uns treffen.«
»Genau deshalb rufe ich an. Würden Sie es für eine gute Idee halten, wenn wir uns treffen, bevor wir morgen vor Gericht erscheinen?«
»Gericht? Ach so, ja. Ich hatte ganz vergessen, dass Rattigan mich dorthin bestellt hat.«
»Uh. Dieser fürchterliche Mensch. Er hat mich gestern Abend gesehen, als ich von der Bootsrutsche heraufkam. Er war hier beim Haus gewesen, um zu überprüfen, wo ich stecke. Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich mit Ihnen gesprochen habe.«
»Das änderte nichts. Er kam trotzdem zur Bootsrutsche hinunter. Der Typ erinnert mich an eine Bremse – hartnäckig, unangenehm, keine Wesenszüge, die einen versöhnlich stimmen könnten.«
»Außer dass eine Bremse Teil eines Lebenskreislaufs ist. Aber genug von Rattigan – ich habe alles arrangiert, damit Sarahs Leichnam nach Hause geflogen wird.«
»Oh? Wann?«
»Sobald der Totenschein ausgestellt ist.«
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, aber nett, dass Sie fragen. Ich habe mich in die fähigen Hände eines Bestattungsunternehmers begeben, der mir erzählte – wohl um mich zu beruhigen -, er habe viel Erfahrung darin, Ertrunkene zurückzuführen.«
»Wie ermutigend. Hatten Sie mit Sarahs Familie Kontakt?«
»Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen. Mein Eindruck war, dass Sarahs Tod zu einem ungünstigen Zeitpunkt kam. Ich glaube, sie hat gerade einen neuen Lustknaben einem Härtetest unterzogen.« Ich hörte die Verachtung in seiner Stimme. »Sarah wäre erfreut, wenn sie wüsste, dass sie ihrer Mutter Unannehmlichkeiten bereitet hat.«
»Was machen Sie gerade?«
»Nicht viel.«
»Ich muss die Küste hinauffahren. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn jemand bei mir wäre.«
»Sicherer?«
»Ich erkläre es. Was halten Sie davon?«
»Es ist wahrscheinlich gegen die Vereinbarung mit Rattigan. Aber klar, ich komme mit. Wohin fahren wir?«
»Haben Sie die Wellen am Spanish Point schon einmal gesehen?«
»Nein.«
»Dann lade ich Sie dazu ein.«
Die Opferstaette
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