5
Lieutenant Willer stand in der Tür des Disputationsraums und sah
zu, wie die Sonne über den Gipfeln oberhalb des Flusses aufging.
Dumpfer Gesang trieb von der Kirche hinter ihm heran, stieg und
fiel in der Wüstenluft.
Er ließ die Kippe seiner vorletzten Zigarette fallen, trat sie aus, hustete einen Schleimbatzen hoch und spuckte aus. Ford war nicht zurückgekehrt, und von Broadbent war auch nichts zu sehen gewesen. Hernandez war unten am Streifenwagen und versuchte es ein letztes Mal. Santa Fé hatte bereits einen Hubschrauber, der von Albuquerque zum Heliport geflogen war – doch der Luftraum war immer noch gesperrt, und es gab keinen Hinweis darauf, wann die Sperre aufgehoben werden sollte.
Er sah, wie Hernandez sich geduckt aus dem Wagen zurückzog, hörte die Tür zuschlagen. Bald darauf kam der Deputy den steilen Pfad herauf. Er fing Willers Blick auf und schüttelte den Kopf. »Immer noch nichts.«
»Irgendwas über Broadbent oder sein Fahrzeug?«
»Nichts. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.«
Willer fluchte. »Hier erreichen wir doch nichts. Fangen wir lieber mit den Forststraßen am Highway an.«
»Ja.«
Willer warf einen letzten Blick hinauf zur Kirche. Was für eine Zeitverschwendung. Wenn Ford zurückkam, würde er diesen so genannten Mönch an den Eiern in die Stadt schleifen und aus ihm herausbekommen, was genau er dort oben in den Mesas gemacht hatte. Und falls Broadbent wieder auftauchte, nun ja – Willer würde gern zuschauen, wenn dieser Millionär von einem Tierarzt sich eine Kellerzelle mit einem Cracksüchtigen teilte und den Gefängnisfraß vorgesetzt bekam.
Willer ging den Pfad hinab, Handschellen und Schlagstock klapperten leise, und Hernandez folgte ihm nach. Sie würden sich im Bode's Burritos und ein paar Liter Kaffee zum Frühstück holen. Und eine frische Schachtel Marlboro. Er hasste das Gefühl, nur noch eine Zigarette übrig zu haben.
Er legte die Hand an den Türgriff des Streifenwagens und wollte die Tür aufreißen, als er ein fernes Brummen aus der Luft hörte. Er blickte auf und sah einen schwarzen Punkt am Morgenhimmel erscheinen.
»He«, sagte Hernandez und kniff die Augen zusammen, »ist das nicht ein Hubschrauber?«
»Verdammt richtig.«
»Vor nicht mal fünf Minuten haben die mir gesagt, das Ding stehe auf dem Landeplatz.«
»Idioten.«
Willer holte seine letzte Zigarette hervor und zündete sie an – Freddie, der Pilot, hatte immer ein paar Schachteln dabei.
»Endlich kommt Bewegung in die Sache.«
Er beobachtete, wie der Hubschrauber näher kam, und seine Frustration verflog. Sie würden die Canyon-Party dieser Mistkerle schon sprengen. Das Terrain war sehr weitläufig, aber Willer war ziemlich sicher, dass die Musik oben im Labyrinth spielte, und genau dorthin würde er sich als Erstes fliegen lassen.
Der schwarze Punkt wurde größer, und Willer starrte ihn verwundert an. Das war kein Polizeihubschrauber, jedenfalls hatte er so einen noch nie gesehen. Er war schwarz und viel größer, und zu beiden Seiten hingen irgendwelche Behälter herab wie Pontons. Mit einem scheußlichen Gefühl in der Magengrube ging Willer plötzlich auf, was hier in Wirklichkeit los war. Der geschlossene Luftraum, der schwarze Helikopter. Er wandte sich an Hernandez.
»Denken Sie, was ich denke?«
»FBI.«
»Genau.«
Willer fluchte leise. Das sah denen ähnlich, ließen die lokale Polizei wie blinde Idioten herumstolpern und kamen dann gerade rechtzeitig für die Festnahme und den Presserummel eingeschwebt.
Der Hubschrauber neigte sich leicht im Anflug, wurde langsamer und senkte sich auf den Parkplatz. Er neigte sich rückwärts, als er aufsetzte, und die Rotoren wirbelten stechenden Staub auf. Während die Rotoren noch ausliefen, glitt die Tür auf, und ein Mann im Wüstentarnanzug mit einem M4-Karabiner und großem Rucksack sprang heraus.
»Was zum Teufel soll das?«, fragte Willer.
Neun weitere Soldaten sprangen aus dem Hubschrauber, einige mit geheimnisvoller Elektronik und Kommunikationsgerät beladen. Als Letzter kam ein großer Mann, dünn, mit schwarzem Haar und knochigem Gesicht in einem Trainingsanzug. Acht Mann verschwanden im Laufschritt den Pfad hinauf in Richtung Kirche, während die beiden anderen Soldaten bei dem Mann im Trainingsanzug blieben.
Willer sog an seiner letzten Zigarette, warf die Kippe zu Boden, atmete aus und wartete. Die waren gar nicht vom FBI – jedenfalls sahen sie nicht danach aus.
Der Mann im Trainingsanzug kam herüber und blieb vor ihm stehen. »Darf ich Sie bitten, sich zu identifizieren, Officer?«, fragte er in neutralem und deshalb umso überlegenerem Tonfall.
Willer ließ eine Sekunde verstreichen. »Lieutenant Willer, Santa Fé Police. Und das ist Sergeant Hernandez.« Er rührte sich nicht.
»Darf ich Sie bitten, von dem Streifenwagen zurückzutreten?«
Wieder wartete Willer erst ab. Dann sagte er: »Wenn Sie eine Marke haben, Mister, wäre das der richtige Zeitpunkt, sie mir zu zeigen.«
Der Blick des Mannes huschte kaum merklich zu einem der Soldaten hinüber. Der Soldat trat vor – ein muskulöser Junge mit Bürstenschnitt und Tarnfarbe im Gesicht, ganz aufgeplustert in dem Gefühl, seine Pflicht zu tun. Willer kannte diese Sorte aus der Armee, und er mochte sie nicht besonders.
»Sir, bitte treten Sie von dem Fahrzeug zurück«, sagte der Soldat.
»Wer zum Teufel sind Sie, dass Sie mir das befehlen wollen?« Er würde sich diesen Mist nicht gefallen lassen, zumindest so lange nicht, bis er ein paar hochrangige Abzeichen gesehen hatte. »Ich bin Lieutenant Detective der Mordkommission des Santa Fé Police Department, ich bin hier im Einsatz, mit einem Haftbefehl, und verfolge einen Flüchtigen. Wer zum Teufel hat Ihnen hier den Oberbefehl übertragen?«
Der Mann im Trainingsanzug sagte ruhig: »Ich bin Mr. Masago von der National Security Agency der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Gebiet wurde zur Einsatzzone erklärt und der militärische Ausnahmezustand darüber verhängt. Diese Männer gehören zu einem Delta-Force-Kommando, der Einsatz hier betrifft die nationale Sicherheit. Also, letzte Warnung: Treten Sie von dem Fahrzeug zurück.«
»Erst will ich –«
Ehe Willer es sich versah, lag er zusammengekrümmt auf dem Boden und versuchte verzweifelt, ein wenig Luft in die Lunge zu saugen, während der Soldat ihm geschickt die Dienstwaffe abnahm. Schließlich, mit größter Mühe, bekam er wieder Luft und schnappte gierig danach. Er drehte sich herum, rappelte sich auf Hände und Knie, hustete und spuckte, versuchte sich nicht zu übergeben, während die Muskeln in seinem Magen zuckten und krampften, als hätte er einen Hasen verschluckt. Er biss die Zähne zusammen, kam auf die Füße und richtete sich auf. Hernandez stand da wie vor den Kopf geschlagen. Ihm hatten sie ebenfalls die Waffe abgenommen.
Willer sah fassungslos zu, wie einer der Soldaten sich in seinen Streifenwagen setzte – in seinen Streifenwagen – und einen Schraubenzieher zückte. Gleich darauf kam er mit dem Funkgerät und baumelnden Drähten in der einen und dem Autoschlüssel des Streifenwagens in der anderen Hand wieder zum Vorschein.
»Übergeben Sie uns bitte auch Ihr Sprechfunkgerät, Officer«, sagte der Mann im Trainingsanzug.
Willer atmete noch einmal tief ein, öffnete mit leicht zitternden Fingern die Gürtelhalterung und händigte dem Mann das Funkgerät aus.
»Übergeben Sie uns Schlagstock, Handschellen, Pfefferspray und alle anderen Waffen und Kommunikationsgeräte. Ebenso eventuelle weitere Wagenschlüssel.«
Willer gehorchte. Er sah, wie mit Hernandez genauso verfahren wurde.
»Jetzt gehen wir hinauf zur Kirche. Sie und Officer Hernandez gehen voran.«
Willer und Hernandez stiegen den Pfad zur Kirche hinauf. Als sie am Disputationsraum vorbeikamen, bemerkte Willer, dass der Laptop des Klosters im Schmutz vor der Tür lag, in kleine Stücke zerbrochen; in der Nähe lag eine zerstörte Satellitenschüssel mit traurig herabhängenden Kabeln. Willer erhaschte einen Blick auf die Soldaten, die drinnen damit beschäftigt waren, ganze Tische voller Elektronik aufzubauen. Einer stand auf dem Dach und installierte eine wesentlich größere Schüssel.
Sie betraten die Kirche. Der Gesang war verstummt, es herrschte Schweigen. Die Mönche standen in einer Ecke zusammengedrängt und wurden von zwei Mann der Sondereinsatztruppe bewacht. Einer der Soldaten bedeutete Willer und Hernandez, sie sollten sich dazustehen.
Der Mann im Trainingsanzug trat vor die schweigende Gruppe der Mönche. »Ich bin Mr. Masago von der National Security Agency der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir führen in diesem Gebiet einen Sondereinsatz durch. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie hier in diesem Raum bleiben, ohne Verbindung zur Außenwelt, bis der Einsatz vorbei ist. Zwei Soldaten werden hierbleiben und dafür sorgen. Der Einsatz wird zwölf bis vierundzwanzig Stunden dauern. Sie haben hier alles, was Sie brauchen: Toilette, Wasser, eine kleine Küchenzeile mit gut gefülltem Kühlschrank. Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten.«
Er nickte Willer zu und zeigte auf einen Nebenraum. Willer folgte
ihm dorthin. Der Mann schloss die Tür, wandte sich ihm zu und sagte
mit leiser Stimme: »Und jetzt, Lieutenant Detective, will ich
hören, warum Sie hier sind und um wen es sich bei diesem Flüchtigen
handelt.«