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In der Bibliothek des Amsterdam Club herrschte die übliche Stille. Die einzigen Geräusche waren das vornehme Rascheln von Zeitungen und ein gelegentliches Klingeln von Eiswürfeln in einem Glas. Die mit Eiche getäfelten Wände, die dunklen Gemälde und das schwere Mobiliar verliehen dem Raum eine Atmosphäre von Eleganz und Zeitlosigkeit, noch verstärkt vom Duft nach alten Büchern und Leder.

In einer Ecke, in einen tiefen Sessel versunken, der in einem gelben Lichtkreis stand, saß Iain Corvus, nippte an einem Martini und überflog die neueste Ausgabe des Scientific American. Er blätterte hastig um, ohne richtig zu lesen, und ließ die Zeitschrift schließlich ungeduldig auf den Beistelltisch fallen. Um sieben Uhr an einem Samstagabend leerte sich die Bibliothek allmählich, wie gewöhnlich, denn die Mitglieder gingen zum Abendessen hinüber. Corvus war weder nach Essen noch nach Unterhaltung zumute. Zweiundsiebzig Stunden waren vergangen, seit Maddox sich zuletzt bei ihm gemeldet hatte. Corvus hatte keine Ahnung, wo er war oder was er tat, und es gab keine ungefährliche Möglichkeit, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Er zappelte in seinem Sessel herum, schlug das andere Bein über und trank einen kräftigen Schluck Martini. Er spürte, wie sich die willkommene Wärme in seiner Brust ausbreitete und ihm zu Kopf stieg, doch sie beruhigte ihn nicht. So viel hing von Maddox ab; alles hing von Maddox ab. Seine Karriere hing am seidenen Faden, und er war einem ehemaligen Sträfling ausgeliefert.

Melodie arbeitete heute noch spät im Mineralogielabor und führte weitere Analysen an der Probe durch. Sie hatte sich als phänomenale Wissenschaftlerin entpuppt und viel mehr erreicht, als Corvus erwartet hatte. Sie hatte so hervorragende Arbeit geleistet, dass sich bei ihm allmählich Besorgnis breitmachte – vielleicht war sie doch keine so einfache Partnerin, wie er angenommen hatte. Womöglich hatte er einen Fehler gemacht, als er eine so bedeutende und bahnbrechende Analyse ihr allein anvertraut hatte, ohne sich zumindest so weit an der Arbeit zu beteiligen, dass es gerechtfertigt erschien, wenn er später den Ruhm dafür einheimste.

Sie hatte versprochen, ihn um elf Uhr anzurufen und ihm die neuesten Erkenntnisse mitzuteilen. Er sah auf die Uhr: noch vier Stunden.

Was sie entdeckt hatte, war bereits mehr als ausreichend, um es bei dem Gespräch über seine Beförderung präsentieren zu können. Es wäre schlicht unmöglich, ihm den Titel zu verweigern und zuzuschauen, wie der wichtigste Dinosaurierfund aller Zeiten zusammen mit ihm zu einem anderen Museum abwanderte. Ganz gleich, wie wenig sie ihn mochten, ganz gleich, wie sehr sie sich an seinen mangelnden Veröffentlichungen störten, dieses Exemplar konnten sie sich nicht entgehen lassen. Es war ein unerhörter Glücksfall – aber nein, dachte Corvus, es war nicht einfach nur Glück. Glück, hatte einmal jemand gesagt, entstand, wenn gute Vorbereitung auf die richtige Gelegenheit traf. Er hatte sich gut vorbereitet. Er hatte vor über einem halben Jahr gerüchteweise erfahren, dass Marston Weathers einer großen Sache auf der Spur war. Er wusste, dass der alte Knacker in New Mexico unterwegs war und hoffte, einen illegalen Dinosaurier auf BLM-Land abzugreifen – auf staatlichem Grund und Boden. Corvus hatte erkannt, dass dies die perfekte Gelegenheit war: einem Dieb einen Dinosaurier wegzunehmen und ihn der Wissenschaft zu übergeben. Er würde damit der Öffentlichkeit einen wertvollen Dienst erweisen – und sich selbst auch.

Corvus war mehr als erschrocken gewesen, als er erfahren hatte, dass Maddox Weathers umgebracht hatte, aber als er den ersten Schock überwunden hatte, war ihm klar geworden, dass dies die richtige Entscheidung gewesen war – sie vereinfachte die Dinge ganz erheblich. Außerdem war damit ein Mann aus dem Verkehr gezogen worden, der mehr unersetzliches, wissenschaftlich wertvolles Material von staatlichem Land gestohlen hatte als jeder andere.

Vorbereitung. Dieser Maddox war ihm auch nicht einfach in den Schoß gefallen. Maddox hatte Corvus kontaktiert, und zwar deshalb, weil Corvus die weltweite Autorität in Sachen Tyrannosaurier war. Als Corvus auf die Idee kam, Maddox könnte ihm dabei helfen, ein absolut einmaliges Exemplar in die Finger zu bekommen, wurde ihm klar, wie nützlich Maddox auch ansonsten sein konnte – wenn er nicht im Gefängnis säße. Corvus ging ein persönliches Risiko ein, als er die Freilassung bewerkstelligte. Aber die Tatsache, dass Maddox wegen schweren Totschlags verurteilt worden war, nicht wegen Mordes – er hatte einen sehr guten Anwalt gehabt –, war durchaus hilfreich gewesen. Maddox hatte sich im Gefängnis sehr gut geführt. Und schließlich, als Maddox' erste Anhörung zur Strafaussetzung anstand, erschienen weder Freunde noch Verwandte des Opfers, die gegen eine vorzeitige Entlassung protestierten und ihr Leid klagten. Corvus selbst hatte bei dieser Anhörung gesprochen, sich für Maddox verbürgt und ihm eine Stelle angeboten. Es hatte funktioniert, und der Ausschuss hatte seiner Freilassung zugestimmt.

Im Lauf der Zeit erkannte Corvus, dass Maddox seltene Qualitäten besaß. Er war ein bemerkenswert charismatischer und intelligenter Mensch, konnte sich ausdrücken, sah gut aus und war absolut präsentabel. Wäre er unter anderen Umständen aufgewachsen, hätte er selbst einen recht ordentlichen Wissenschaftler abgeben können.

Vorbereitung, die auf Gelegenheit traf. Bisher hatte Corvus alles gut im Griff. Er sollte sich beruhigen und darauf vertrauen, dass Maddox den Auftrag erledigen und ihm das Notizbuch beschaffen würde. Das Notizbuch wiederum würde ihn direkt zu dem Fossil führen. Es war der Schlüssel zu allem.

Ungeduldig sah er auf die Armbanduhr, trank seinen Martini aus und griff nach dem Scientific American. Er hatte sich wieder beruhigt.