4
Detective Lieutenant Jimmie Willer saß hinten im
Polizeihubschrauber; er war todmüde und spürte das Dröhnen der
Rotoren in sämtlichen Knochen. Unter ihnen glitt die gespenstische
nächtliche Landschaft vorüber. Der Heli-Pilot folgte dem Lauf des
Chama River, dessen Biegungen wie Säbelklingen schimmerten. Sie
kamen an kleinen Ortschaften am Flussufer vorbei, wenig mehr als
zusammengedrängte Lichtpunkte – San Juan Pueblo, Medanales,
Abiquiú. Ab und zu kroch ein einsames Auto den Highway 84 entlang
und warf einen winzigen gelblichen Lichtkegel in die Dunkelheit.
Nördlich des Wasserspeichers von Abiquiú war es vorbei mit den
Lichtern; jetzt kamen die Berge und Canyons der Chama Wilderness
und das riesige, zerklüftete Hochland, unbewohnt von hier bis zur
Staatsgrenze von Colorado.
Willer schüttelte den Kopf. Ganz ungünstiger Ort, um sich ermorden zu lassen.
Er tastete nach der Marlboro-Schachtel in seiner Brusttasche. Es ärgerte ihn, dass man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen hatte; es ärgerte ihn, dass er den einzigen Polizeihubschrauber aus Santa Fé hatte anfordern müssen; es ärgerte ihn, dass er die Gerichtsmedizinerin nicht erreichen konnte und sein eigener Deputy draußen im Cities of Gold Casino seinen jämmerlichen Lohn verspielte und das Handy abgeschaltet hatte. Obendrein kostete der Heli-Einsatz sechshundert Dollar pro Stunde, eine Ausgabe, die er von seinem Budget würde bezahlen müssen. Und dieser Flug war erst der Anfang. Sie würden noch einmal rausfliegen müssen, mit der Gerichtsmedizinerin und der Spurensicherung, bevor sie den Leichnam und eventuelles Beweismaterial bergen konnten. Und dann die Presse … Vielleicht, dachte Willer hoffnungsvoll, war das nur ein weiterer Mord in der Drogenszene und der Presse nicht mehr als eine kleine Meldung in der Lokalzeitung wert.
Ja, bitte, Gott, lass es einen Drogenmord sein.
»Da. Der Joaquin Wash. Jetzt nach Osten«, wies Broadbent den Piloten an. Willer warf dem Mann, der ihm den Abend versaut hatte, einen Seitenblick zu. Er war groß und langgliedrig, und einer seiner abgetragenen Cowboystiefel wurde von einem Streifen Klebeband zusammengehalten.
Der Hubschrauber legte sich in die Kurve, weg vom Fluss.
»Könnten Sie etwas runtergehen?«
Der Heli flog tiefer und zugleich langsamer. Willer konnte die Ränder des Canyons im Mondlicht klar erkennen, während die Schluchten selbst wie bodenlose Abgründe wirkten. Verdammt unheimliche Gegend.
»Das Labyrinth ist genau unter uns«, sagte Broadbent. »Die Leiche lag am Eingang, an der Stelle, wo das Labyrinth auf den Joaquin Canyon trifft.«
Der Hubschrauber flog noch langsamer und zog eine Schleife. Der Mond stand fast genau über ihnen und beleuchtete zum Großteil sogar den Grund der Schlucht. Willer sah nichts außer silbrigem Sand.
»Landen Sie da auf der offenen Fläche.«
»Klar.«
Der Pilot ließ den Heli schweben und begann das Landemanöver. Die Rotoren wirbelten einen kleinen Sandsturm auf, bevor die Maschine den Boden erreichte. Gleich darauf kamen sie zum Stehen, die Staubwolken zogen ab, und das pfeifende Dröhnen der Rotoren wurde leiser.
»Ich bleibe beim Hubschrauber«, erklärte der Pilot. »Macht ihr euer Ding.«
»Danke, Freddy.«
Broadbent kletterte hinaus, und Willer folgte ihm; er duckte sich, hielt gegen den aufgewirbelten Sand eine Hand vor die Augen und joggte, bis er aus dem Luftstrom heraus war. Dann blieb er stehen, richtete sich auf, zog die Packung aus der Brusttasche und zündete sich eine Zigarette an.
Broadbent ging weiter. Willer schaltete seine starke Taschenlampe ein und leuchtete die Umgebung ab. »Dass Sie mir nicht auf irgendwelche Spuren treten«, rief er Broadbent zu. »Sonst kriege ich es mit den Jungs von der Spurensicherung zu tun.« Er richtete den Lichtkegel auf den Eingang des Canyons. Da war nichts, nur flacher Sand zwischen zwei hohen Sandsteinwänden.
»Was ist da drüben?«
»Das ist das Labyrinth«, sagte Broadbent.
»Wo führt es hin?«
»Das sind eine Menge Canyons, die Richtung Mesa de los Viejos führen. Da drin kann man sich leicht verlaufen, Detective.«
»Hm.« Er schwenkte die Taschenlampe von einer Seite zur anderen. »Ich sehe keine Spuren.«
»Ich auch nicht. Aber sie müssen hier irgendwo sein.«
»Gehen Sie vor.«
Er folgte Broadbent langsam und vorsichtig. Die Taschenlampe war im hellen Mondlicht kaum nötig, eigentlich eher hinderlich. Er schaltete sie ab.
»Ich sehe immer noch keine einzige Fußspur.« Er blickte voraus. Der Canyon war von Felswand zu Felswand in Mondlicht getaucht und völlig leer – kein Felsbrocken, kein Busch, keine Fußspur und keine Leiche, so weit das Auge reichte.
Broadbent zögerte und sah sich um.
Willer hatte allmählich ein mieses Gefühl bei der Sache.
»Die Leiche lag hier in diesem Bereich. Und meine Hufspuren müssten da drüben deutlich zu sehen sein …«
Willer sagte nichts. Er bückte sich, drückte die Zigarette im Sand aus und steckte die Kippe in die Tasche.
»Die Leiche war genau hier. Da bin ich ganz sicher.«
Willer schaltete die Taschenlampe wieder an und suchte die Umgebung ab. Nichts. Er knipste sie wieder aus und holte sich noch eine Zigarette.
»Der Esel stand dort drüben«, fuhr Broadbent fort, »etwa hundert Meter von der Leiche entfernt.«
Hier gab es keine Spuren, keine Leiche, keinen Esel, nichts als einen leeren Canyon im Mondlicht. »Sind Sie sicher, dass das die richtige Stelle ist?«, fragte Willer.
»Absolut.«
Willer hakte die Daumen in den Gürtel und beobachtete Broadbent, der herumlief und den Boden absuchte. Er war groß und bewegte sich behände. Im Ort hieß es, er sei ein Krösus – aber aus der Nähe betrachtet sah er keineswegs reich aus mit diesen kaputten alten Stiefeln und dem Hemd von der Heilsarmee.
Willer hustete einen Schleimbatzen hoch. Hier draußen musste es Tausende solcher Canyons geben, und es war mitten in der Nacht – Broadbent hatte sie zur falschen Stelle geführt.
»Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«
»Er lag genau hier, am Eingang zu diesem Canyon.«
»Vielleicht vor einem anderen Canyon?«
»Nein, es war ganz sicher hier.«
Willer sah doch mit eigenen Augen, dass der Canyon völlig leer war. Der Mond schien taghell.
»Na, jetzt ist hier jedenfalls nichts. Es gibt keine Spuren, keine Leiche, kein Blut – gar nichts.«
»Hier lag eine Leiche, Detective.«
»Höchste Zeit, endlich Feierabend zu machen, Mr. Broadbent. «
»Sie wollen einfach aufgeben?«
Willer atmete tief durch. »Ich sage nur, dass wir morgen früh noch mal herkommen sollten. Bei Tageslicht sieht so eine Gegend vertrauter aus, vielleicht erinnern Sie sich dann besser.« Er würde bei diesem Kerl nicht die Geduld verlieren.
»Kommen Sie mal hier rüber«, sagte Broadbent plötzlich. »Sieht so aus, als wäre der Sand hier glatt gestrichen worden.«
Willer musterte den Mann. Für wen, zum Teufel, hielt er sich eigentlich, dass er ihn, Willer, so herumkommandierte?
»Ich kann hier keinerlei Hinweis auf ein Verbrechen erkennen. Dieser Hubschrauber kostet mein Department sechshundert Dollar die Stunde. Wir kommen morgen wieder her, mit Karten und einem GPS-Gerät, und suchen nach dem richtigen Canyon.«
»Sie haben mich wohl nicht verstanden, Detective. Ich gehe nirgendwohin, solange ich dieses Problem nicht gelöst habe.«
»Wie Sie wollen. Sie kennen sich hier ja bestens aus.« Willer machte kehrt, ging zurück zum Hubschrauber und stieg ein. »Nichts wie raus hier.«
Der Pilot setzte seinen Kopfhörer ab. »Und was ist mit ihm?«
»Der kennt den Weg.«
»Er winkt Ihnen zu.«
Willer fluchte leise und sah nach der dunklen Gestalt in ein paar hundert Meter Entfernung. Sie winkte und gestikulierte.
»Sieht so aus, als hätte er was gefunden«, sagte der Pilot.
»Herrgott noch mal.« Willer stieg mühsam aus dem Heli und marschierte hinüber.
Broadbent hatte etwas trockenen Sand mit dem Fuß weggescharrt und darunter eine schwarze, nasse, klebrig wirkende Schicht zum Vorschein gebracht.
Willer schluckte, griff nach seiner Taschenlampe und schaltete sie ein. »O Gott«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »O Gott.«