20. KAPITEL

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber Carolan kam mir zuvor.

„Nein! Versuchen Sie nicht, die Wahrheit mit verdrehten Worten zu verschleiern. Ich kenne Rhiannon. Ich habe endlose Jahre damit verbracht, sie zu hassen. Ich weiß, dass ihr wahrer Charakter der eines verzogenen, verwöhnten Kindes ist.“

Als Alanna bei diesen Worten scharf die Luft einsog, drehte er sich zu ihr um. Seine Gesichtszüge wurden weich.

„Du weißt, dass es stimmt, Geliebte.“ Mit einer zarten Geste, in der all seine Liebe lag, berührte er ihre Wange. „Sie hat deine Loyalität und Opferbereitschaft nur mit Eifersucht und Gehässigkeit belohnt.“

Er sah wieder mich an. Er hatte jede Vorsicht abgelegt, jetzt sah er nur noch neugierig und positiv überrascht aus.

„Darf ich erneut fragen, wer Sie sind? Wie hatte das passieren können?“ Er betrachtete mich mit den Augen eines Arztes. „Physisch haben Sie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihr.“

Ich hatte schon immer geahnt, dass Gene zu clever für mich war.

Er trat näher an mich heran, und mir fiel auf, dass ClanFintan dieses Mal keine Anstalten machte, ihn aufzuhalten. Ehrlich gesagt war der Zentaur verdächtig still geworden. Er betrachtete mich mit dem gleichen analytischen Blick, den Carolan hatte. Nur schien er nicht sonderlich glücklich zu sein.

„Ihre Haare sind vielleicht ein bisschen kürzer.“ Carolan lachte kurz auf. „Und Sie haben definitiv eine seltsame Art zu sprechen, aber ansonsten sehen Sie ihr verblüffend ähnlich.“

„Carolan, du irrst dich!“

Alanna unterbrach ihn schnell, wollte ihn davon abhalten, noch mehr zu sagen, doch dieses Mal war ich es, die sie zum Schweigen brachte.

„Lass ihn ausreden, Alanna“, sagte ich.

Carolan schaute mir wieder in die Augen. „Sie sind nicht Rhiannon. Sie mögen Eponas Auserwählte sein, aber Sie sind nicht Rhiannon. Wenn ich in Ihre Augen schaue, sehe ich nicht, was ich in den Augen meiner alten Feindin sah. Sie haben nicht das Böse in sich, das sie in sich trug.“

Ich warf einen Blick auf Alannas besorgte Miene und seufzte. „Ich kann das nicht mehr“, sagte ich an sie gewandt. Mein Blick suchte den von ClanFintan. „Ich will dich nicht länger belügen.“

Er reagierte mit keiner Geste und keinem Zucken. Sein Gesicht war zu der Maske geworden, gegen die ich schon bei unserer ersten Begegnung angekämpft hatte.

Ich konnte nicht zurücknehmen, was ich gesagt hatte. Und ehrlich gesagt wollte ich das auch gar nicht. Ich bin ich, und ich war es leid, ständig für eine andere, noch dazu so eine Zicke, gehalten zu werden.

„Ich bin nicht Rhiannon.“ Ich hörte Carolans zufriedenes Grunzen, aber ich schaute ihn nicht an. Mein Blick blieb auf meinen Ehemann gerichtet. „Mein Name ist Shannon Parker. Es ist schwer zu erklären, denn ich selber verstehe es noch nicht einmal ganz, obwohl ich die Person bin, der es passiert ist. Ich komme aus einer anderen Welt – einer Welt, in der die Menschen offensichtlich die gleichen sind wie hier, zumindest äußerlich. Wie ein Spiegelbild oder Schatten, aber die Welt selbst ist völlig anders.“ Ich machte eine kleine Pause und hoffte, dass ClanFintan etwas sagen würde. Er blieb stumm, nickte aber, als wollte er mich zum Weitererzählen ermuntern. „Irgendwie hat Rhiannon von meiner Welt erfahren, und sie hat herausgefunden, wie sie den Platz mit mir tauschen kann. Es dreht sich alles um eine Amphore, mit einem Abbild von ihr. Seit der Sekunde, in der ich diese Urne das erste Mal gesehen habe, hat sich alles verändert.“ Ich suchte nach den richtigen Worten. „Ich hatte keine Ahnung, was passierte. Es erschien mir wie ein fürchterlicher Unfall. Tatsächlich dachte ich anfangs, ich sei tot.“ Mein Blick bettelte ClanFintan an, mich zu verstehen. „Erinnerst du dich an den Tag unserer Hochzeit? Und dass ich kaum sprechen konnte, weil ich meine Stimme verloren hatte?“

Er nickte erneut.

„Das kam von dem … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … dem Tausch der Welten.“

Alanna trat vor und stellte sich neben mich. „Sie ist nicht Rhiannon, und dafür können wir dankbar sein.“

„Wie sollen wir für etwas dankbar sein, das auf einer Lüge beruht?“ ClanFintans Stimme war flach und emotionslos.

„Aber es war nicht ihre Lüge! Es war meine.“ Alanna sprach schnell weiter, obwohl ich versuchte, sie aufzuhalten. „Sie wollte niemandem etwas vorspielen, aber sie hat es getan, weil ich ihr sagte, dass das Volk sie braucht.“

Sie schaute mich an und zwang mich, meinen Blickkontakt mit ClanFintan zu unterbrechen.

„Ich wollte ja auch, dass du es ClanFintan erzählst, aber ich hatte Angst. Anfangs nur um mich und davor, was passieren würde, wenn man mich für Rhiannons Verschwinden verantwortlich machte. Nachdem ich dich dann kennengelernt hatte, hatte ich Angst, dass sich das Volk gegen dich wenden würde, wenn es herausfände, dass du eine Schwindlerin bist.“ Sie schaute ClanFintan eindringlich an und fuhr fort: „Dann hatte ich Angst, dass die, die dir nahestehen, dir wehtun würden, wenn sie deine wahre Identität erfahren. Inzwischen ist mir bewusst geworden, dass unsere Göttin ihre Hand bei diesem Wechsel im Spiel hat und dass es für uns alle so zum Besten ist.“ Sie nahm meine Hand und sprach dann direkt den Zentauren an. „Wenn du böse bist, weil du getäuscht wurdest, dann richte deinen Ärger gegen mich. Und, Schamane, bevor du das tust, wirf einen genauen Blick auf das Geschenk, das dir gemacht worden ist. Was würde die Zukunft für dich bereithalten, wenn du wirklich mit Rhiannon verheiratet wärst?“

Carolans Lachen überraschte mich. Er legte einen Arm um seine Frau und zog sie an sich. Dann wandte er sich ebenfalls an den Zentauren.

Sein Leben? Rhiannons rachsüchtige Art hat unser aller Leben beeinträchtigt. Ich werde für immer dankbar sein, dass sie sich selbst verbannt hat.“ Er lächelte mich an und hob meine Hand kurz an seine Lippen. „Willkommen, Mylady. Auserwählte der Epona. Möge unsere Welt Ihnen den Segen zurückgeben, den Sie uns so reichlich gebracht haben.“

Ich erwiderte sein Lächeln, bevor ich wieder nervös zu ClanFintan schaute. Als er zu sprechen anfing, klang er nachdenklich, aber immer noch ohne jegliches Gefühl.

„Ich wusste, dass du anders warst. Du hattest eine seltsame Art zu sprechen, aber anfangs sagte ich mir, dass ich dich nie richtig gekannt hatte, und vielleicht bist du einfach nur anders, weil du die Auserwählte Eponas bist.“ Er warf Carolan einen Blick zu. „Aber du hast recht. Mir fiel auch sofort auf, dass ihr Rhiannons bösartige Seite fehlte.“

Carolan nickte zustimmend. ClanFintan fing meinen Blick mit seinem auf.

„Ich habe nichts gesagt, weil ich hoffte, du würdest mir genügend vertrauen, um dich zu bekennen.“

Endlich schwangen auch Gefühle in seiner Stimme mit, aber schweren Herzens musste ich feststellen, dass es Traurigkeit war, die seine Worte begleitete.

„Ich vertraue dir! Es schien nur nie der richtige Zeitpunkt zu sein. Und dann, na ja, habe ich nichts gesagt, weil ich Angst hatte, deine Liebe zu verlieren.“ Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Ja, verdammt. Ich liebte ihn.

Es war alles so romantisch, dass ich mich am liebsten übergeben hätte, aber verbringen Sie mal eine Nacht mit einem Gestaltwandler, der ausgestattet ist wie ein Pferd, dann würde es Ihnen genauso gehen.

Außerdem – er ist einer der Guten, wie John Wayne und James Bond. Und ich hatte schon immer eine Schwäche für die guten Jungs.

Also stand ich da und versuchte, die Tränen zurückzublinzeln, die unter meinen flatternden Lidern hervorzuquellen drohten. ClanFintan seufzte schwer und überbrückte schnell den Abstand zwischen uns, bevor ich richtig losheulen konnte. Er berührte mein Gesicht und umfasste mein Kinn mit seiner warmen Hand.

„Meine Liebe ist etwas, das du niemals verlieren wirst.“ Er beugte sich vor und küsste mich sanft. Dann lächelte er über meinen unzweifelhaft dümmlichen Gesichtsausdruck. „Meine Geduld vielleicht, aber niemals meine Liebe.“

Ich wollte die Arme um ihn legen und mein Gesicht an seine warme Brust schmiegen, aber ich spürte die Blicke, mit denen Alanna und Carolan freudig unser romantisches Zwischenspiel beobachteten. Also zog ich ClanFintan nur ein Stück zu mir herunter, gab ihm einen kleinen Kuss und flüsterte ihm zu: „Ich bete dich an.“

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt knurrte mein Magen so laut, dass man ihn höchstwahrscheinlich auch noch in meiner alten Welt hören konnte. Das wiederum brachte ClanFintan zum Lachen, und er führte mich zurück an den Tisch. Er setzte sich auf die Chaiselongue und zog mich zu sich herunter, sodass ich auf der Seite saß, die den Speisen am nächsten war. Die Liegen waren praktischerweise so groß, dass mindestens zwei Personen darauf Platz fanden (ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was Rhiannon so alles auf ihnen angestellt hatte). ClanFintan legte einen Arm um meine Taille, und ich kuschelte mich an ihn.

„Setzt euch, Mädels“, sagte ich zufrieden.

Dieses Mal zögerte Carolan nicht, sondern führte Alanna zur Chaiselongue und setzte sich neben sie. Mir fiel auf, dass er sie die ganze Zeit über mit einer Hand berührte, als hätte er Angst, dass sie verschwinden könnte.

„Ich wette, in Wahrheit hast du noch gar nichts gegessen, oder?“, fragte ich Carolan zwischen zwei Bissen von einem köstlichen Zimtbrötchen.

Er grinste. „Ehrlich gesagt habe ich sogar die Zeremonie heute Morgen verpasst, weil ich Zwillingen auf die Welt geholfen habe. Sie haben recht, ich habe noch nicht gefrühstückt.“

„Dann greif zu. Es ist genügend da.“ Über meine Schulter warf ich ClanFintan einen neckenden Blick zu. „Es ist so reichlich, als würden sie versuchen, ein Pferd damit satt zu kriegen.“

Carolan verschluckte sich beinahe an seinem Porridge, und Alanna, die sich inzwischen an meinen Humor gewöhnt hatte, musste ihm heftig auf den Rücken klopfen. ClanFintan sagte nichts, aber während unsere Gäste miteinander beschäftigt waren, biss er mir in die Schulter.

„Au“, stieß ich einen leisen Schrei aus. Als die beiden uns anschauten, hatte ClanFintan schon wieder eine vollkommen unschuldige Miene aufgesetzt.

Ich hätte nicht so überrascht sein sollen, ich wusste doch, dass er ein Beißer war.

„Wie sollen wir Sie nun nennen?“, wollte Carolan wissen.

„Ja“, ClanFintan neigte seinen Kopf, sodass er mir ins Gesicht schauen konnte. „Du hast gesagt, in deiner Welt nannten sie dich …“ Er überlegte einen Moment. „Shannon Parker.“

Wenn er ihn aussprach, klang der Name schön und exotisch. Augenblicklich wünschte ich, wir könnten die Vorsicht in den sprichwörtlichen Wind schlagen, damit er mich bei meinem echten Namen nennen könnte.

Dann wachte ich allerdings auf – im übertragenen Sinne.

„Ich heiße Shannon, aber ich glaube nicht, dass es sonderlich klug wäre, wenn ihr mich jetzt so nennt. Außer …“ Was soll’s, dachte ich, ich kann die Frage genauso gut stellen. „Meint ihr, wir sollen die Leute darüber aufklären, wer ich wirklich bin?“

„Nein!“, riefen sie alle drei gleichzeitig aus.

Es folgte ein Augenblick der Stille (ich nehme an, sie stellten sich den Schrecken vor, der sich verbreiten würde, sollte das Volk erfahren, dass ich nicht Rhiannon war). Dann räusperte Carolan sich. Wir schauten ihn erwartungsvoll an.

„Nun, ich kann nichts Gutes darin sehen, wenn wir das Volk aufklären. Vor allem nicht in diesen turbulenten Zeiten.“ Er legte eine Pause ein und warf Alanna einen fragenden Blick zu. „Und es ist sicher, dass sie die Auserwählte Eponas ist?“

„Ja, sie ist die Geliebte der Epona“, bestätigte Alanna unter heftigem Kopfnicken.

Carolan sah erleichtert aus. „Dann gibt es keinen Grund, das Gefüge des Tempels zu stören und das Volk in Aufruhr zu versetzen, indem wir sie über …“, er suchte nach den richtigen Worten, „… dieses zufällige Ereignis informieren.“

ClanFintan und Alanna murmelten ihre Zustimmung.

„Nun, okay“, sagte ich, „aber Rhiannon hat viele Dinge getan, mit denen ich nicht einverstanden bin.“

„Gut!“

Bei ClanFintans Ausruf mussten wir alle lachen, und ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Rhea, die Menschen lieben dich.“ Alanna lächelte in Richtung des Zentauren. „Und deine Krieger fürchten dich, weshalb sie nicht offen über Rhiannons Angewohnheiten sprechen.“ Sie schaute wieder mich an. „Sei du selbst. Das ist der beste Weg, um Rhiannons Fehler auszumerzen.“

Das klang gut, fand ich.

„Aber wie nennen wir dich?“, wollte ClanFintan wissen.

„Ich mag den Namen, den Alanna mir gegeben hat. Rhea. Es ist nicht Rhiannon, sondern eindeutig ich, aber dennoch ähnlich genug, um keine großen Probleme heraufzubeschwören.“

Sie nickten zustimmend, und dann aßen wir alle eine Weile in zufriedenem Schweigen.

„Zu schade, dass nicht alles so einfach gelöst werden kann“, beendete ich die Stille nach einer Weile.

Gemurmelte Zustimmung.

Unglücklicherweise konnte ich es nicht darauf beruhen lassen. Ich meine, wenn ich in dieser Welt leben sollte, mussten wir diese Vampirkreaturen loswerden.

„Okay, Carolan …“ Widerstrebend richtete er beim Klang meiner Stimme seine Aufmerksamkeit von seiner Frau auf mich. „Erzähl uns, was du über die Fomorianer weißt.“

„Sie sind die Inkarnation des Bösen.“

„Ach was?“ Ich meine, hallo, das wussten wir bereits!

Er zuckte mit keiner Wimper wegen der Unterbrechung, sondern fuhr in seinem Geschichtsprofessorton fort: „Sie sind eine Spezies, die aus dem fernen Osten kommt.“

Ich fühlte ClanFintans überraschte Reaktion, die mich daran erinnerte, dass auf der Landkarte, die mir den Schlag versetzt hatte, alles Land östlich des Flusses als Land der Zentauren ausgewiesen war.

„Ja, bevor die Zentauren sich in der grünen Ebene niedergelassen hatten“, ging Carolan auf den Unmut meines Gatten ein. „Die Legenden sind undeutlich. Anfangs gab es wenig Kontakt zwischen den Menschen aus Partholon und den Fomorianern. Auf dem Gebiet, auf dem die Fomorianer siedelten, scheint es eine lange Dürre gegeben zu haben, gefolgt von einem großen Feuer. Dem Feuer konnte kein Einhalt geboten werden, und die Fomorianer liefen Gefahr zu verbrennen. Also baten sie unsere Vorfahren um Hilfe. Sie mussten den großen Fluss überqueren, was, wie man sagt, ohne die Hilfe Partholons nicht möglich war.“

„Hä?“ Ich schaute ihn verwirrt an.

„Der Legende nach müssen die Fomorianer immer mit der Erde in Verbindung bleiben. Sie ist ihr Lebensblut, somit können sie keine fließenden Gewässer überqueren.“

„Warte mal – die haben Flügel. Wenn sie mit der Erde in Verbindung bleiben müssen, wie können sie dann fliegen?“

„Ausgezeichneter Einwand.“ Er lächelte. „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie jemals wirklich geflogen sind. Sie wurden beschrieben als …“, er räusperte sich und kniff die Augen zusammen, während er nach den korrekten Worten suchte, „…als gleitende Dämonen. Nicht als fliegende Dämonen. Ich nehme an, ihre Flügel haben eine ähnliche Funktion wie bei Tieren, die in den Bäumen herumspringen, der Schwanz oder die Beine. Es sind keine echten Flügel wie bei Vögeln, sondern nur eine Apparatur, mit deren Hilfe sie den Wind nutzen können.“

Ich erinnerte mich an die gruseligen, riesigen Schritte, mit denen diese Kreaturen sich fortbewegt hatten, und musste ihm zustimmen.

Carolan sprach weiter: „Das Volk von Partholon setzte sich zusammen und entschied, dass es eine Abscheulichkeit wäre, sie in den Flammen sterben zu lassen – oder an Hunger, wenn das Feuer irgendwann doch ausgebrannt wäre. Also wurde eine riesige Brücke über den Fluss Geal gebaut. Sie bestand aus Holzplanken, die mit Erde bedeckt wurden, darüber weitere Holzplanken und noch mehr Erde. Nicht weit von hier sind noch Überreste der Brücke zu finden.“ Wir starrten ihn nur an, bis er einen Schluck Wein nahm und fortfuhr: „Die Fomorianer überquerten den Fluss, und unsere beiden Rassen sollten friedlich miteinander leben.“

„Ich habe gehört, dass die Fomorianer nur in Geschichten existierten, die dazu dienen, kleinen Kindern Angst einzuflößen“, unterbrach ClanFintan Carolans Vortrag. „Wieso ist es nicht bekannt, dass das Volk von Partholon ihnen geholfen hat, hierherzukommen?“

„Es gibt nur wenige schriftliche Berichte über die Fomorianer. Nur Schreiber wissen, dass die Geschichten überhaupt existieren. Die meisten Aufzeichnungen sind so alt, dass sie schwer zu entziffern sind, also machen sich auch nur wenige Schriftgelehrte die Mühe, die brüchigen Folianten zu studieren.“

ClanFintans Blick verriet mir, dass die Schreiberlinge in seinen Augen Mädchen waren.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, kicherte Carolan. „Außer natürlich, jemand, der in der Schrift ausgebildet wurde, ist zufällig ein Historiker mit zu viel Zeit und Neugierde.“

Alanna drückte seine Hand, und sie lächelten einander glücklich an.

Er fuhr fort: „Sehen Sie, die einzigen Legenden, die durch die Gesänge der Barden als mündliche Überlieferung überlebt haben, waren die, die nach dem Krieg entstanden sind.“

Wir waren alle drei überrascht. Für mich war es eine Erleichterung, mal nicht die einzige Ahnungslose zu sein.

„Ja, die mündlichen Überlieferungen erzählen nur, was passiert ist, nachdem die Fomorianer den Fluss Geal überquert haben.“

Ich dachte darüber nach, wie die Dinge in meiner alten Welt funktionierten, und entschied, dass das Sinn ergab. Ich meine, bitte, wie viele Politiker gibt es, die denken, das Leben wäre viel einfacher, wenn nicht so viele Menschen lesen oder schreiben könnten (oder Anwälte anheuern und ins Fernsehen gehen würden).

„Also, was berichten uns die Überlieferungen?“, warf ich ein.

„Die Fomorianer waren geschwächt und ihre Reihen dezimiert, trotzdem wurde ihre wahre Natur bald offensichtlich. Es steht geschrieben, dass sie Dämonen waren, grässlich und abscheulich, die mit den dunklen Mächten spielten.“ Er hielt eine Hand hoch und zählte an den Fingern ab: „Sie liebten es, das Blut der Menschen zu trinken. Sie fühlten sich körperlich unwohl, wenn sie bei Tageslicht unterwegs sein mussten. Sie konnten kein fließendes Wasser überqueren. Sie dachten, sie stünden über allen Gesetzen der Natur und Eponas.“ Er zog eine Grimasse.

Ich dachte, dass das erstaunlich nach Fidel Castro klang, aber es würde zu lange dauern, diesen Vergleich zu erklären, also hielt ich den Mund.

„Die Legende besagt, dass ein Krieg ausbrach. Die Fomorianer waren nur wenige an der Zahl. Sie wurden zurückgeschlagen und gezwungen, sich über den Pass in den Bergen Trier an den Ort ihrer Verbannung zurückzuziehen. Dann wurde die Wachtburg als Schildwache für den Pass errichtet. Sie erfüllt diese Aufgabe seit Generationen.“

„Nicht mehr“, sagte ich.

„Das Nordland hätte die Fomorianer vernichten müssen“, erwiderte Carolan. „Es ist dort zu kalt und trostlos. Die Sonne scheint zwar hell, doch sie spendet keine Wärme. Sie hätten in die schlechten Träume der Kinder verschwinden sollen.“

„Tja, aber sie sind zurück“, sagte ich in bester Poltergeist-Imitation. Ich konnte mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass sie den Film nicht gesehen hatten, aber sie verstanden, was ich meinte.

„Wie kann man sie töten?“ ClanFintans Ton war so scharf, dass er förmlich die Luft zwischen uns durchschnitt.

„Unglücklicherweise sind sie sehr widerstandsfähig. Schlag ihnen den Kopf ab. Verbrenne sie. Das bringt sie um.“ Carolan sah den Zentauren um Entschuldigung bittend an. „Die Legende besagt, dass es schwierig ist, sie zu töten.“

„Hat die Legende auch etwas darüber gesagt, dass sie sich mit Menschen paaren?“, wollte ich wissen.

„Nein!“ Carolan sah ehrlich schockiert aus. „Es gab auch Frauen unter ihnen, wenn auch nicht viele.“

„Nun, sie haben immer noch weibliche Wesen.“ Ich erinnerte mich an die geflügelte Kreatur, die den Fötus aus dem Leib der armen Frau gezogen hatte. „Aber es sieht nicht so aus, als würden sie sich mit denen fortpflanzen. Die Kinder zeugen sie mit menschlichen Frauen, denen sie dann die … Wesen aus dem Leib reißen.“

Carolan wurde blass.

„Ja, genau das passiert mit den Frauen, die verschwunden sind.“ ClanFintans Aussage war wie eine Totenglocke.

„Dann multiplizieren sie sich“, stellte Carolan leise fest.

Das klang böse.

„Ja“, erwiderte ClanFintan. „Bevor Ian starb, berichtete er, dass es viele von ihnen gibt.“

„Ihr müsst sie aufhalten!“ Alannas Stimme überschlug sich beinahe.

Carolan nahm sie mit einer Geste in den Arm, die mir so vertraut war, dass ich für einen Moment das Gefühl hatte, wieder in meinem Apartment zu sein und Gene und Suzanne wären zum Frühstück vorbeigekommen. Es war ein unheimliches Gefühl, diese Vermischung beider Welten, und es verursachte mir leichten Schwindel. Ich musste meinen Blick abwenden … und schaute direkt auf den hinteren Teil meines Mannes – der definitiv ein halbes Pferd war. Was mich sofort in die Gegenwart zurückbrachte. Diese Welt spielte nicht nach den Regeln, die ich kannte. Keine Autos. Keine Flugzeuge. Kein Fernsehen (Gott sei Dank), das den Eindruck vermittelte, Gewalt sei etwas, das nur anderen zustieß.

Einen Moment lang war ich überwältigt von dieser Situation. Ich wusste nicht, was zum Teufel ich tat, ich war aber ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in eine Führungsposition gedrängt worden, in dem die Menschen hier jemanden brauchten, der haargenau wusste, was zu tun war. Ich schloss die Augen und rieb mir die Stirn; ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Spannungskopfschmerz im Anmarsch war.

Ich spürte, wie sich die starken Arme meines Mannes um mich legten und mich sicher an seinen warmen Körper zogen. Meine Anspannung ließ nach, als ich mich erinnerte, dass ich nicht allein war. Ich öffnete die Augen und lächelte ihn an.

„Sie sind schon einmal geschlagen worden“, sagte er entschlossen. „Und sie werden wieder besiegt werden.“

„Und dieses Mal hat sich Partholon mit den mächtigen Zentauren verbündet“, erinnerte uns Carolan.

ClanFintan nahm das Kompliment mit einer angedeuteten Verbeugung entgegen. Dann schenkte er mir einen verwegenen Blick. „Aye, es gibt nur wenige Dinge, die ein Zentaur und ein Mensch mit vereinten Kräften nicht schaffen können.“

Alanna kicherte, und ich wurde, glaube ich, rot, aber ich wusste, was er meinte. Wir mussten zusammenarbeiten, um die Fomorianer wieder loszuwerden. Ich konnte entweder hier sitzen und mich verrückt machen und andere Menschen (und halbe Tiere) für mich denken lassen, oder ich konnte handeln. Ich war schon immer dafür gewesen, Problemen offen gegenüberzutreten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es nur sehr wenige schlimme Bedrohungen gibt, die verschwinden, wenn man sie ignoriert (ein Konzept, das Teenagern schwer zu vermitteln ist). Ehrlich gesagt tue ich lieber etwas und mache dabei einen Fehler, als abzuwarten und Moos anzusetzen (was ja nun auch wirklich nicht sonderlich attraktiv ist).

„Sie haben gerade erst Laragon angegriffen“, sagte ich. „Wenn ich mich von meinem Blick auf die Landkarte Partholons richtig erinnere, gibt es in der Nähe von Burg Laragon nur einen großen See und …“ Ich stockte, als mir einfiel, was sich auf der anderen Seite des Sees befand.

„Den Tempel der Musen!“ In Alannas Stimme schwang der Horror mit, den ich empfand.

„Oh mein Gott, wohnen da nicht nur Frauen?“, fragte ich Alanna.

Es war Carolan, der antwortete. „Ja. Dort leben die neun Inkarnationen der Göttinnen. Jede ist eine Meisterin einer besonderen Fähigkeit.“ Er sprach nüchtern, dennoch hörte man die Sorge heraus, als er mit seiner Erklärung fortfuhr: „Jede von ihnen hat außerdem weitere neun Begleiterinnen und Neophyten. Die schönsten und talentiertesten jungen Frauen aus ganz Partholon werden im Tempel der Musen in den Künsten des Tanzes, der Dichtkunst, Musik, Wissenschaften und so weiter ausgebildet. Frauen, die ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben, werden für ihre Intelligenz und ihr Wissen ebenso geachtet wie für ihre Anmut und Schönheit.“ Dann fügte er noch hinzu: „Rhiannon ist ebenfalls von den Musen unterrichtet worden.“

„Aber haben sie denn keine Wachen wie wir hier?“ Das sah überhaupt nicht gut aus für die Frauen.

„Nein. Epona ist die Göttin der Krieger. Es ist nur logisch, dass ihre Auserwählte von Wachen umgeben ist. Die Musen sind keine Kriegerinnen, sie sind Lehrerinnen für Kunst und Schönheit und Wissenschaft. Sie brauchen keine Wachen.“

„Jetzt schon.“ Mir wurde übel. Ein Bild meiner Hochzeit mit ClanFintan schoss mir durch den Kopf, und mit ihm ein Bild der Frau, die das Spiegelbild meiner Freundin Michelle war. Als Muse des Tanzes war sie ganz außergewöhnlich gewesen – wunderschön und verführerisch. Ich wollte nicht daran denken, was die Kreaturen in einem Tempel voller göttlicher Frauen wie ihr anstellen würden.

„Kommt.“ Ich stand auf. „Lasst uns einen Blick auf die Karte werfen.“ Ich zeigte auf die Tür, die in meine Bibliothek führte. „Wir müssen einen Weg finden, wie wir verhindern können, dass noch mehr Frauen in ihre Gewalt geraten.“