9. KAPITEL
Wir blieben nicht auf dem schmalen Weg, dem ich gefolgt war. ClanFintan führte uns vom Fluss fort und durch den Wald, bis wir auf eine gut ausgebaute Straße kamen (offensichtlich die, die ich die ganze Zeit gemieden hatte). Bald erreichten wir eine Gabelung und nahmen die nordwestliche Abzweigung, die noch weiter vom Fluss wegführte. Ich durchsuchte meine Erinnerung an meinen Schwebetrip und entschied, dass das hier wohl eine kürzere Strecke war, als dem sich windenden Fluss zu folgen. Erstaunlicherweise hielten die anderen Zentauren mit uns Schritt. ClanFintan und seine Kumpels schienen unermüdlich, während sie im Galopp Meile um Meile des Weges fraßen. Mich verfolgen zu müssen, hatte sie offensichtlich aufgehalten.
Auf der Straße herrschte lebhafter Verkehr, aber alle waren in die Richtung unterwegs, aus der wir kamen. Die meisten Reisegruppen waren Familien. Die Frauen saßen auf Pritschenwagen, und die Männer gingen entweder zu Fuß oder ritten nebenher, meistens begleitet von einer kleinen Auswahl Vieh. Mir fiel auf, dass die Menschen alle wohlgenährt und ordentlich aussahen, nicht wie ich mir Bauern vorgestellt hatte. Sie waren nicht grobschlächtig, mit verfaulenden Zähnen und stumpfem, parasitenverseuchtem Haar. Ehrlich gesagt waren es erstaunlich attraktive Menschen – beinahe so gut aussehend wie ihre Pferde. Dieses Land hatte offenbar ein Faible für gute Pferde. Den ganzen Tag über hatte ich noch nicht einen Klepper gesehen.
Dennoch konnte ich nicht anders, als ein bisschen stolz darauf zu sein, dass meine Epi sogar aus dieser Menge gut aussehender Pferde noch herausstach. Das Gleiche galt für ClanFintan, aber er gehörte nicht wirklich in die Pferdekategorie, also war es unfair von mir, mir darauf etwas einzubilden.
Bevor wir auf die ersten Bewohner getroffen waren, hatte ich mich gefragt, ob ich erkannt werden würde. Ich sollte die Antwort bald bekommen. Die erste Familie, an der wir vorbeikamen, grüßte die Zentauren höflich. Alle verstummten aber sofort, als sie mich erblickten. Aus ihrer Höflichkeit wurde reiner Überschwang.
„Es ist Epona!“
Die Mutter, die den Wagen lenkte, in dem neben Taschen und Beuteln ganz entzückende Kinder saßen, bemerkte mich zuerst. Ihre Kinder nahmen ihren Ruf auf und winkten mir begeistert zu.
„Epona!“
„Gesegnet seien Sie, Lady Rhiannon!“
„Mögen Sie eine sichere Reise haben!“
Ich lächelte und winkte und kam mir dabei vor wie Miss Amerika auf dem Laufsteg, nämlich ausgesprochen dümmlich. Man hat mir aber noch nie vorgeworfen, schüchtern oder zurückhaltend zu sein, und so fand ich nach und nach Gefallen an den Zuneigungsbekundungen. Die Menschen waren alle so nett! Ich nehme an, Rhiannons Volk wusste nicht, was für eine Zicke sie in Wirklichkeit war. Gut für mich.
So ging es beinahe den ganzen Morgen. Die Zentauren behielten ein unglaubliches Tempo bei, und immer wieder kamen uns Reisende in Richtung Tempel entgegen.
Wir redeten nicht viel. Ich war nicht davon überzeugt, dass es so einfach war, dieses Tempo durchzuhalten, wie ClanFintan behauptete, und wollte ihn nicht stören. Stattdessen ließ ich die vorbeiziehende Landschaft auf mich wirken, winkte den mich anbetenden Bürgern zu und versuchte mein Bestes, um möglichst bequem zu sitzen.
Das Land war wunderschön, saftig und gedieh offensichtlich gut. Hügelige Weinberge wechselten sich mit Getreidefeldern ab, dazwischen standen immer wieder kleine Häuschen. Wilde Blumen wuchsen auf Wiesen und sprenkelten das satte Grün mit Orange, Violett und Gelb. Wir mussten mehrere klare, glitzernde Bäche überqueren, die die Felder durchzogen. Aus der Luft und im Schutze der Nacht hatte die Gegend mich an Umbrien erinnert. Jetzt, bei Tageslicht und aus der Nähe, war es mehr wie der Lake District in England, nur dass die Hügel etwas gezähmter wirkten. Und es war wärmer. Bisher hatte es auch noch nicht geregnet. Und, nun ja, es gab hier keine Engländer. Alles in allem war es ein Land, auf das jeder stolz wäre, wenn es ihm gehörte.
Es war später Vormittag, als ich in der Nähe eines unseren Weg kreuzenden Bachs ein schön dichtes Gebüsch (und einige weichblättrige Pflanzen) entdeckte.
„Können wir hier bitte einen kurzen Boxenstopp einlegen?“ Zutiefst beschämt musste ich zugeben, dass ich jede Ausrede genoss, die es mir ermöglichte, mich an ClanFintans Rücken zu drücken.
„Was bitte ist ein Boxenstopp?“
ClanFintans Arme waren mit einem leichten Schweißfilm bedeckt, aber sein Atem klang noch normal. Er war in wirklich guter Verfassung. (Notiz an mich: lecker.)
„Das ist eine Pause, in der man seine Energie auflädt und sich um, nun ja, notwendige Dinge kümmert.“ Themen wie das Erledigen dringender Bedürfnisse werden ja angeblich einfacher, je länger man verheiratet ist. Die Tatsache, dass wir noch nicht allzu lange vermählt waren, in Verbindung mit dem Mangel an auch nur halbwegs vernünftigen Toiletten musste ja zu Verlegenheit führen. Kein Wunder, dass ich fühlte, wie ich wieder errötete. „Außerdem habe ich Durst.“
„Oh, natürlich. Daran hätte ich eher denken sollen.“ Er wechselte in gemächlichen Trab, als wir uns dem Bach näherten. Über die Schulter rief er seinen Zentauren zu: „Wir werden einen kleinen“, er lächelte mich an, „Boxenstopp einlegen.“
Ich musste ihnen zugutehalten, dass sie keine Miene verzogen.
ClanFintan drehte sich zu mir um und legte mir einen Arm um die Taille. Dann hob er mich aus dem Sattel und stellte mich auf die Erde. Peinlich berührt bemerkte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben, und ich musste mich Halt suchend an seinen starken Arm klammern. Er verstand sofort, worin mein Problem lag, und ehe ich mich versah, schaute ich ihm in die Augen, während er mich in eine Umarmung zog und festhielt.
„Es tut mir leid. Ich glaube, meine Beine sind eingeschlafen.“ Ich schaute zu ihm hoch, weil ich sehen wollte, ob er sich über meine Schwäche lustig machte.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Da Sie sich nicht beklagt haben, habe ich das Tempo einfach beibehalten.“ Auf seinem hübschen Gesicht spiegelte sich Sorge. „Ich hätte rücksichtsvoller sein sollen. Bitte, setzen Sie sich hier auf diesen Baumstamm und lassen Sie mich die Blutzirkulation in Ihren Beinen wieder anregen.“
Er half mir hinüber zu einem gefällten Baum, und ich setzte mich darauf. Meine Füße baumelten herunter, ohne die Erde zu berühren, und ich hielt mich an den trockenen Ästen fest, um das Gleichgewicht zu halten. Ich saß beinahe in Höhe seiner Hüfte, was es ClanFintan erlaubte, mir ohne große Mühe die Stiefel auszuziehen. Dann nahm er meinen rechten Fuß und massierte und streichelte ihn von der Zehenspitze über die Fußsohle bis zu meinem Knie und wieder zurück zu den Waden.
Es war so angenehm, dass ich mit halb geschlossenen Lidern und leicht geöffneten Lippen dasaß. Ich fühlte mich wie Marilyn Monroe, als mir ein Stöhnen entfuhr.
„Zu fest?“ Er schaute auf.
„Pst, nicht reden. Mein Bein hat gerade ein tiefes und bedeutungsvolles Erlebnis mit Ihren Händen. Wir sollten es dabei nicht stören.“
Er lachte leise in sich hinein.
„Kommt das Gefühl im Fuß langsam wieder?“
„Alle möglichen Gefühle kommen wieder. Meinten Sie irgendein bestimmtes?“
Er lächelte nur und wandte sich meinem anderen Bein zu.
„Mmmm. Sie sind darin sehr gut.“ Ich hatte immer das schleichende Gefühl, dass Männer ein bisschen wie Welpen sind – man muss sie loben und belohnen, wenn sie das Richtige tun. „Danke schön.“
Nachdem ich das mit dem Lob erledigt hatte, wandte mein Gehirn sich nur zu gern dem Thema Belohnung zu – und wurde viel zu schnell durch einen Klaps auf meine Wade aus seinen nicht jugendfreien Träumen gerissen.
„Ich denke, jetzt müsste es besser sein.“
Er hob mich vom Baumstamm und stellte mich neben sich. Er hatte recht, meine Füße gehorchten mir wieder, aber für einen Moment überlegte ich, ihm etwas vorzuspielen.
„Sie haben recht. Habe ich noch etwas Zeit, meine Füße im Bach zu kühlen, bevor ich meine Stiefel wieder anziehe?“
„Aber nur kurz, Lady Rhiannon. Ich möchte sicherstellen, dass wir heute vor Sonnenuntergang in Sichtweite von MacCallans Burg sind.“
„So schnell schon?“ Das Wissen darum, was wir auf der Burg vorfinden würden, lag mir schwer auf dem Magen.
„Sie können hierbleiben, und ich kümmere mich um alles, was auf der Burg getan werden muss.“ Er sprach mit sanfter Stimme.
„Danke, aber nein. Er ist mein Vater. Es liegt schließlich in meiner Verantwortung, und ich muss mit eigenen Augen sehen, was ihm passiert ist.“
„Das verstehe ich, und ich werde an Ihrer Seite sein.“
Langsam, beinahe zögernd, streckte er einen Arm aus und nahm meine Hand.
Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass er mich vielleicht gar nicht mögen wollte. Nach allem, was er über mich wusste, könnte ich mich innerhalb von Sekunden wieder in die zickige Schlampe verwandeln, die kein Interesse daran hatte, sich um ihn zu kümmern, und die diese Ehe nie gewollt hatte – zeitlich begrenzt oder nicht. Die Freundlichkeit, die er mir gegenüber zeigte, war ein Beweis für seine Integrität. Es musste unglaublich schwer für ihn gewesen sein, meine Hand zu nehmen.
Also gab ich ihm mein bestes „Guter Junge, braver Junge“-Lächeln und drückte seine Hand.
„Ich bin froh, dass Sie bei mir sind, aber jetzt brauche ich ein wenig Privatsphäre, Sie verstehen?“
Er lächelte und erwiderte den Druck, bevor er meine Hand losließ und sich in Richtung Fluss zu seinen Zentauren begab.
„Ich bin ganz in der Nähe, falls Sie mich brauchen.“
„Ich bin sicher, dass ich eher sterben würde …“, flüsterte ich, während ich zielstrebig davonstapfte, um ein Gebüsch zu suchen, wobei ich achtgab, nicht auf irgendwelche Äste zu treten.
Nachdem ich alles erledigt hatte, was es zu erledigen gab, kehrte ich zum Bach zurück und trank durstig von dem klaren, eiskalten Wasser. Ich wusch mein Gesicht und strich mir mit nassen Fingern durch das Haar, um meine wilden Locken zu zähmen. Dann setzte ich mich ans Ufer und ließ meine Füße ins Wasser baumeln, während ich versuchte, so etwas wie eine Frisur zu erzeugen.
„Wenn Sie erlauben, Mylady.“
Ich schaute über meine Schulter und sah, wie ClanFintan sich hinter mich kniete. In der einen Hand hielt er ein Stück Leder, in der anderen einen breitzinkigen Kamm. Das Lederstück war genauso eins, wie er es benutzte, um seine dichte Mähne (oder wie sollte ich es sonst nennen) zurückzuhalten. Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er die Reste des von Alanna geflochtenen Zopfs gelöst und zog den Kamm durch meine wilden roten Strähnen. Ich seufzte glücklich und schloss die Augen. In viel zu kurzer Zeit hatte er meine Haare hübsch zusammengebunden.
„Das sollte erst einmal halten.“
Es gelang mir, eine Art Dank hervorzustöhnen.
„Sie lassen ihre Füße besser erst richtig trocknen, bevor Sie die Stiefel wieder anziehen. Wir müssen bald aufbrechen.“
Er klang mitfühlend, und seine Hand ruhte kurz auf meiner Schulter, bevor er sich erhob.
„Okay, ich bin fertig.“ Ich stand auf, ging zu einer kleinen Wiese hinüber und trocknete mir im Gras die Füße ab. Einer der Zentauren, ein attraktiver junger Rotschimmel, kam auf mich zu und bot mir mit einem scheuen Lächeln etwas an, das wie Trockenfleisch roch.
„Danke schön!“ Ich lächelte ihn strahlend dafür an, dass er kein Pflanzenfresser war.
„Gern geschehen, Mylady.“
Er errötete auf ganz entzückende Art und gesellte sich wieder zu seinen Freunden, die sich zum Aufbruch bereit machten.
Ich hielt das Fleisch mit den Zähnen fest und zog meine Stiefel an, dann humpelte ich zu ClanFintan hinüber, der schon auf mich wartete. Er kaute auch auf einem Stück Trockenfleisch herum, während er den Bauchgurt festzurrte und sicherstellte, dass der Sattel gut saß.
„Okay, ich bin so weit.“ Ich streckte meine Hand aus, und wir legten unsere Arme umeinander. Schneller, als ich blinzeln konnte, saß ich schon wieder oben.
ClanFintan schüttelte kurz den Kopf, dann trabte er los und fiel schon bald in seinen weichen, Meilen fressenden Galopp.
Der Rest des Tages verlief sehr ähnlich wie der Vormittag. Wir ritten so lange, bis meine Füße sich anfühlten, als gehörten sie nicht länger zu meinem Körper, und/oder ich mal musste. Dann gab ich ClanFintan ein Zeichen, dass ich eine Pause brauchte. Wir hielten für ungefähr zehn Sekunden (so fühlte es sich zumindest an, aber es waren wohl eher zehn Minuten), ich bekam meine Beinmassage, und schon waren wir wieder unterwegs und kauten auf einem schier endlosen Vorrat an Trockenfleisch herum.
Außer einem leichten Schweißfilm zeigten die Zentauren keine Anzeichen von Ermüdung. Meine Erschöpfung sorgte dafür, dass ich mich wie ein Mädchen fühlte (und ich meine ein mädchenhaftes Mädchen), und ich kämpfte gegen den Drang an, zu nörgeln. Wobei das bestimmt etwas war, was Rhiannon tun würde – diese Erkenntnis ließ mich nur umso entschlossener den Mund halten.
Irgendwann fiel mir auf, dass uns schon sehr lange keine Reisenden mehr begegnet waren. Im selben Moment bemerkte ich, dass die Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Ich atmete tief die sich abkühlende Luft ein und roch einen Hauch von Salz und Wasser. Zu unserer Rechten konnte ich sehen, dass die Weinstöcke auf den Hügeln Bäumen gewichen waren, und ich erkannte, dass wir uns der Burg aus östlicher Richtung näherten.
„Wir sind fast da.“ Meine Stimme klang viel ruhiger, als ich mich fühlte.
„Ja.“ Er fiel in sanften Trab. „Sie sagten, dass die Kreaturen durch den nordöstlichen Teil des Waldes gekommen sind?“
„Ja.“ Meine Stimme erstarb zu einem Flüstern, als die Erinnerung hochkam.
„Dann werden wir einen Kreis reiten und uns der Burg aus dem Südwesten nähern. Wenn sie immer noch dort sind, haben wir vielleicht Glück, und die untergehende Sonne hilft, und wir können uns unbemerkt anschleichen.“
Für mich klang das zwar blödsinnig, aber da Englischlehrer nicht gerade für ihre ausgefeilten Kriegstaktiken bekannt sind, beschloss ich, meine Kommentare für mich zu behalten.
ClanFintan bedeutete seinen Zentauren mit einer Geste, ihm zu folgen und den Weg zu verlassen. Ich konnte fühlen, wie seine Muskeln arbeiteten. Wir ritten der untergehenden Sonne entgegen. Das über weite Strecken flache Land wurde jetzt hügelig. Salzgeruch hing schwer in der Luft, und ich konnte hören, wie Wellen an felsiges Ufer schlugen. Die Hufe der Zentauren dröhnten, als sie über den mit Tannennadeln übersäten Boden galoppierten. Eichen und Ahornbäume wichen Pinien, und ich war überrascht, als sich der Duft von Lebkuchen und noch etwas anderem unter die salzige Brise mischte. Diesen Geruch konnte ich nicht einordnen. Er war ungewöhnlich, unbestimmbar und klebrig.
Wir schlitterten abrupt in eine Vollbremsung, als vor uns plötzlich Felsen auftauchten, die steil zum Meer abfielen. Dann hatte meine Erinnerung mich also nicht getäuscht – die Küste hatte Ähnlichkeit mit Irlands beeindruckenden Klippen von Moher. Sie breitete sich unter uns aus, so weit wir sehen konnten. Im Norden thronte die Burg wie ein steinerner Wächter gefährlich nah am Abgrund.
Die letzten Sonnenstrahlen trafen die westliche Fassade und ließen den grauen Stein hell wie glänzendes Silber erstrahlen. Mir stockte der Atem, und plötzlich überwältigte mich ungeahnte Sehnsucht. Wenn ich in diese Welt hineingeboren worden wäre, wäre ich in dieser Burg aufgewachsen. Ich blinzelte ein paarmal und sagte mir, dass es nur der scharfe Wind war, der mir Tränen in die Augen trieb.
„Mylord, schauen Sie da, auf den Feldern rund um die Mauer.“
Die Stimme des Palominos klang grimmig. Er zeigte auf die Gegend, die das westliche Tor umgab. Ich kniff die Augen zusammen und folgte der Linie, die sein Finger beschrieb. Es sah aus, als lägen Müllhaufen auf dem Boden, als hätten die Feldarbeiter Getreidesäcke oder Heuballen gestapelt.
„Oh mein Gott. Das sind Leichen.“ Meine Stimme zitterte. Jetzt wurde mir auch klar, was das für ein unbestimmbarer Geruch war.
„Dougal, halte nach jeder Art von Bewegung Ausschau.“
Der Palomino nickte und zog sich zwischen die Bäume zurück, wo er mit ihnen zu verschmelzen schien.
„Connor, unterstütze ihn.“
Der Rotfuchs zog sich ebenfalls in den Wald zurück. Dann sprach ClanFintan mich an: „Rhiannon, Sie sagten, dass Sie in der Nacht, in der Sie hier waren, die Anwesenheit des Bösen spürten, bevor Sie die Kreaturen tatsächlich sahen. Spüren Sie im Moment auch etwas Böses?“
Ich starrte auf die Burg und versuchte, mein wild klopfendes Herz zu beruhigen.
„Nein, ich spüre nichts von dem, was ich in der Nacht gefühlt habe.“
„Sind Sie sicher, Mylady?“
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, zwang mich, die Erinnerung an die Nacht zuzulassen, an das spürbar Böse, das aus dem Wald gesickert und wie giftiger Nebel in die Burganlage geglitten war.
„Ich bin mir sicher. Das Gefühl ist unmissverständlich, und im Moment ist definitiv nichts Schreckliches spürbar.“ Meine Hände ruhten immer noch auf seinen Schultern, und er fasste hinauf und drückte sie kurz.
„Gut.“ Dann wandte er sich zu Dougal und Connor um, die in dem Moment zu uns zurückkehrten. „Berichtet.“
„Außer den Aasfressern bewegt sich nichts. Wir haben auch keine Hinweise auf Feuer gesehen oder gerochen.“ Dougal klang sachlich und ruhig.
„Lady Rhiannon spürt nichts, was auf die Anwesenheit der Kreaturen hindeuten würde. Ich denke, es ist sicher, die Burg zu betreten.“ Dann wandte er sich wieder an mich. „Mylady, Sie müssen nicht mit hinaufkommen. Wenn Sie hier warten wollen, bringe ich Ihnen Nachricht von Ihrem Vater. Sie können mir vertrauen, dass ich mich mit dem Respekt um seine Überreste kümmere, den er verdient.“
„Ich vertraue Ihnen, aber darum geht es nicht. Ich muss … ich muss es einfach selber tun.“ Mein Mund war unglaublich trocken. „Es wird für mich nicht real sein, bis ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe.“
Er nickte langsam, und ich spürte, dass er seufzte.
„Nun gut. Dann gehen wir. Alle. Zentauren, bleibt in der Nähe und seid wachsam.“
ClanFintan trabte auf die Burg zu, je vier Zentauren auf beiden Seiten. Ich hielt mich an seinen Schultern fest und sagte mir immer wieder: Du kannst das, du kannst das, du kannst das.
Als wir uns der Burg näherten, trug der Wind uns den klebrigen Geruch zu. Anfangs war er leicht säuerlich, als würde man die Kühlschranktür öffnen und feststellen, dass irgendetwas darin nicht mehr ganz frisch ist. Dann wurde er immer intensiver und schien wie Nebelschwaden über dem Boden zu wabern, sodass ich würgen musste. Mein eben noch trockener Mund füllte sich mit Galle.
„Versuchen Sie, durch den Mund zu atmen. Das hilft.“
In ClanFintans Stimme lag Mitgefühl. Ich fragte mich, woher er so viel über den Geruch des Todes wusste.
„Wo haben Sie Ihren Vater während Ihrer Vision das letzte Mal gesehen?“
„Am Fuße der Treppe, die zu den Schlafräumen der Soldaten führt.“
Er hielt an, und seine Wachen taten es ihm gleich. „Rhiannon, lassen Sie mich zuerst einen Blick auf die Toten werfen. Ich werde Ihren Vater wiedererkennen und Ihnen sagen, wenn ich ihn gefunden habe. Sie halten sich einfach fest und schließen die Augen.“
„Es geht schon. Lassen Sie uns das hier hinter uns bringen.“ Ich versuchte, mutig zu klingen, aber meine Stimme war schwach und zittrig.
Er ging weiter, und bald erreichten wir die ersten Leichen. Als wir näher kamen, stoben dunkle Vögel auf, ein Gewirr aus Flügeln. Ich schaute nicht hin, denn ich wollte gar nicht sehen, was sie in ihren spitzen Schnäbeln trugen. Leichen lagen übereinandergeschichtet, hier ein Haufen, dann ein Stück weiter wieder einer. Inmitten dieses Grauens kam es mir irrwitzig tröstlich vor, dass sie nicht allein waren. Ich versuchte wegzuschauen, aber meine Augen wollten meinem Gehirn nicht gehorchen – vielleicht gehorchten sie stattdessen meinem Herzen. Ich trauerte um diese mutigen Männer und spürte, dass ihre verweilenden Seelen meinen Respekt und meine Bewunderung für ihren Heldenmut spüren konnten und sich getröstet fühlten, wenn ich den Blick nicht abwandte, sondern ihr Opfer anerkannte.
Ich warf den neben uns gehenden Zentauren einen Blick zu. Ihre Gesichter waren ausdruckslose Masken, und ich versuchte, es ihnen gleichzutun. Sie überprüften jeden einzelnen Mann und stellten akribisch sicher, dass sich kein Lebender darunter befand. Wir bewegten uns langsam an der südlichen Mauer in Richtung des Burgeingangs entlang. Das große Eisentor stand offen; leblose Körper und pickende Vögel bedeckten den Weg. Wir passierten das Tor und kamen durch einen schmaleren, überdachten Eingang dahinter auf den Burghof.
„Zu den Schlafräumen der Soldaten.“ ClanFintans emotionslose Stimme hallte schaurig von den toten Mauern wider.
Es war wie eine Szene aus einem von Dalí gemalten Albtraum. Männer lagen in dunklen Lachen geronnenen Blutes, ihre Körper gekrümmt, die Gliedmaßen in grotesken Winkeln abstehend. In all diesem Gemetzel gab es Anzeichen von Schönheit. Die dicken Säulen, die den Hof umgaben, waren elegant, ebenso wie der Springbrunnen, der immer noch fröhlich vor sich hin plätscherte. Allerdings war sein Wasser nun blutgefärbt. Etwas am Brunnen fesselte meine Aufmerksamkeit, dann stellte ich geschockt fest, dass die Marmorstatue darauf, ein Mädchen, das Wasser aus einer wundervoll bemalten Amphore schüttete, eine jüngere Version von mir war. Ich schaute genauer hin und bekam eine Gänsehaut. Die Amphore, dieser verdammte Krug. Die Abbildung darauf zeigte eine mir bekannte Szene, nun rosa gefärbt vom blutigen Wasser: die Priesterin, dem Betrachter den Rücken zugewandt. Ich sah das rot-goldene Haar und den ausgestreckten Arm, wie sie die Ehrerbietung ihrer Bittsteller entgegennahm. Ich wusste, wenn ich näher herangehen würde, sähe ich eine Narbe auf ihrer Hand, die gleiche Narbe, die nun vor meinen Augen verschwamm, als ich auf meine eigene Hand hinunterschaute. Mir wurde schwindlig.
„Rhiannon!“
ClanFintan drehte sich zu mir um und hielt mich fest, bevor ich hinunterfallen konnte.
„Ich schaff das, ich schaff das, ich schaff das.“ Ich zitterte am ganzen Körper.
„Soll ich Sie hier wegbringen?“
„Nein! Ich kann jetzt nicht aufhören. Geben Sie mir nur eine Sekunde.“ Ich erlangte mein Gleichgewicht wieder und drückte den Rücken durch. Zögernd lockerte ClanFintan seinen Griff um meinen Arm. „Suchen wir ihn.“
Er schnaubte eine wortlose Erwiderung und bewegte sich nach links. Die anderen Zentauren folgten uns und setzten ihre sorgfältige Untersuchung der Toten fort. Wir gingen zwischen Säulen hindurch und durch einen weiten, windigen Korridor mit Türen zu beiden Seiten und großen, von der Decke bis zum Boden reichenden Fenstern. Die Hufe der Zentauren klapperten laut auf dem Steinboden. Das und das Gekreische der Vögel waren die einzigen Geräusche, die ich neben dem Klopfen meines Herzens hören konnte. ClanFintan ging zielstrebig durch den Korridor und durch einen Raum, in dem lange Holztische standen. Auch hier lagen tote Männer. Er wandte sich nach links, wo eine Tür in einen wesentlich kleineren Innenhof führte. Dieser Hof hatte verschiedene Ausgänge. Von einem führte eine steile Steintreppe hinauf zu einem großen, niedrigen Raum direkt unter dem Dach der Burg. Es war der Schlafraum, aus dem die Männer in dieser fürchterlichen Nacht gekommen waren.
Selbst wenn ich ihn nicht von meinem mitternächtlichen Besuch wiedererkannt hätte, könnte ich an den unvollständig bekleideten Leichen, die die Treppe und den vor uns liegenden Hof bedeckten, erkennen, wo wir uns befanden. In einer entfernten Ecke, nahe dem Fuß einer Treppe nach draußen auf das Dach, lag eine einzelne Leiche. Dieser Mann war nicht von einem Kameraden in den Tod begleitet worden, der bei dem Versuch starb, ihn zu schützen. Er lag allein in einem Bett aus Blut.
„Er ist da drüben.“ Ich zeigte auf den einsamen Körper und war überrascht, dass meine Hand nicht zitterte.
ClanFintan nickte und ging in die Richtung, in die ich deutete.
Es war mein Vater. Er lag auf dem Rücken, der Oberkörper bizarr verdreht. Sein linker Arm lag unter ihm, der rechte war in Fetzen gerissen, der Handgelenksknochen ragte durch die Haut, aber er hielt immer noch sein Schwert umklammert. Sein Kilt war schwarz und steif von Blut, das sich unter ihm gesammelt hatte. Sein Oberteil war zerrissen und gab den Blick auf die tiefen Löcher in seiner Brust frei. Man konnte sehen, dass er ausgeweidet worden war. Ich riss meinen Blick von seinen klaffenden Wunden los und betrachtete sein Gesicht. Es war halb abgewandt von mir. Die Augen waren geschlossen, und der Tod hatte sie bereits tief in die Höhlen sinken lassen. Seine Wangenknochen stachen unnatürlich hervor. Seine Haut sah wächsern aus und hatte die blassgraue Färbung des Todes, seine Lippen waren jedoch nicht vor Schmerzen verzerrt. Im Gegenteil. Es wirkte friedlich, ausgeruht, als hätte er eine schwierige Arbeit erledigt und gönnte sich ein wohlverdientes Schläfchen.
„Warum ist er ganz allein gestorben?“ ClanFintans Stimme spiegelte meine Trauer.
„Er war nicht allein. Um ihn herum haben Männer gekämpft. Er hat weitergemacht, als sie alle schon tot waren.“ Ich erinnerte mich an seinen Heldenmut, mit dem er die Kreaturen herausgefordert hatte. „Darum liegt er hier drüben in seinem Blut, in ihrem Blut. Er hat viele der Widerlinge mit sich genommen. Sie müssen ihre Toten weggebracht haben.“
„Kann ich Sie jetzt von hier fortbringen?“
„Ja.“ Mit einem Mal wusste ich, was getan werden musste. „Verbrennt sie.“ ClanFintan schaute mich über seine Schulter an. „Baut eine große Pyramide im Hof und verbrennt sie alle. Reinigt diesen Ort mit Feuer.“ Traurig lächelte ich die Überreste des Mannes an, der ein Spiegelbild meines Vaters gewesen war, und flüsterte: „Befreit ihre Seelen.“
„Es sei, wie Sie wünschen, Lady Rhiannon.“
ClanFintan verbeugte sich vor dem ruhenden Körper meines Vaters, dann dreht er sich um und eilte zum Vordereingang der Burg. Ich schaute die Gestalt meines Vaters so lange an, wie es mir möglich war. Ich hörte kaum die Kommandos, die ClanFintan den Zentauren gab, damit sie meinen Wunsch erfüllten. Ein letztes Mal schaute ich auf die verstreut liegenden Männer – erkannte in Gedanken jeden einzelnen Tod an, wollte mich für immer an jeden mutigen Akt der Verteidigung erinnern.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, und aller Atem entwich meiner Lunge. ClanFintan drehte sich um, dachte, ich würde erneut zusammenbrechen. Ich umklammerte seinen Arm und schaute ihm in die Augen.
„Die Frauen! Wo sind die Leichen der Frauen?“ Ich hatte das Gefühl, zu schreien, aber meine Stimme war nicht mehr als ein ersticktes Flüstern.
Er erstarrte.
„Dougal!“
Der Palomino-Zentaur kam angetrabt, sein Blick war überschattet vom Leid, das er gesehen hatte.
„Hast du irgendwelche Frauenleichen gefunden?“
Dougal blinzelte verwirrt, dann weiteten sich seine Augen.
„Nein, ich habe weder Frauen noch Mädchen gesehen. Nur Männer und männliche Kinder.“
„Ruf die anderen. Sucht nach ihnen. Ich werde Lady Rhiannon fortbringen. Wir treffen uns an der Stelle, wo wir das erste Mal den Schutz der Pinien verlassen haben.“
Dougal stob davon und rief nach den anderen Zentauren.
„Halten Sie sich fest.“
Ich beugte mich vor und schlang meine Arme um seinen Körper, barg meinen Kopf an seiner Schulter und atmete tief ein. Sein warmer, schwerer Duft überlagerte den widerlich süßen Geruch des Todes. Ich schloss die Augen und fühlte, wie sich seine Muskeln an- und entspannten. Der Wind pfiff uns um die Ohren, und ich wusste, dass wir uns mit jedem Schritt weiter vom Tod entfernten. Als wir den Waldrand erreichten, wurde er langsamer und hielt dann sanft an. Er legte seine Arme über meine, die immer noch um seine Brust geschlungen waren. Keiner von uns sprach.
Endlich war ich in der Lage, meinen Griff zu lösen, und auch er ließ meine Arme los. Er drehte sich um und hob mich vorsichtig hinunter. Dieses Mal ließ er mich nicht los, sobald meine Füße die Erde berührten, das war mir nur recht, denn ich wollte die warme Sicherheit seiner Umarmung noch nicht aufgeben. Ich reichte gerade mal bis an seine Brust und lehnte meine Wange daran, nahm seine Wärme auf. Mir fiel auf, dass ich zitterte und meine Zähne klapperten, und ich fragte mich, ob mir jemals wieder warm werden würde.
„Sie waren sehr mutig. MacCallan wäre stolz auf Sie.“ Seine Stimme brummte tief in seiner Brust.
„Ich habe mir vor Angst beinahe in die Hose gemacht und war einer Ohnmacht nahe.“
„Aber nur beinahe.“
„Ja, aber dafür bin ich inmitten dieses Chaos fast von Ihnen heruntergefallen.“ Bei dem Gedanken überlief mich ein Schauer.
„Ich hätte Sie aufgefangen.“
„Danke.“ Ich drückte mich noch etwas fester an ihn und fühlte, wie er sich langsam vorbeugte, bis seine Lippen meinen Scheitel berührten.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute in seine dunklen Augen. Ich wusste nicht, was ich von diesem Mann-Pferd halten sollte, dem ich für ein Jahr in Ehe versprochen war. Dass er mich interessierte, war offensichtlich. Immerhin war er wie niemand sonst, den ich je getroffen hatte. Ich meine, mal ganz ehrlich, es laufen nicht sonderlich viele Zentauren in Oklahoma herum – zumindest nicht in Tulsa (man kann nie sicher sein, was ganz im Westen des Staates vor sich geht). Eine Sache musste ich in diesem Augenblick vor mir selber zugeben: Ich fühlte mich einfach besser, wann immer ich ihn berührte. Und das war mir noch nie zuvor bei jemandem passiert.
Ohne über die Konsequenzen oder meine Motive nachzudenken, streckte ich eine Hand aus, bis sie seine weiche Weste berührte. Dann hakte ich meine Finger in den Ausschnitt und zog einmal daran. Er war nicht dumm und bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Ich war überrascht, wie weich seine Lippen sich anfühlten, als sie auf meine trafen – sie waren wärmer als die Lippen eines Mannes. Und, verdammt, er war groß. Seine Arme umfingen mich, und es fühlte sich an, als würde die Welt sich in seinem Kuss auflösen. Einen Moment lang vergaß ich alles, abgesehen von seinen Armen und Lippen und der Wärme seines Mundes, als seine Zunge meine fand.
Das Trommeln der Hufe eines schnell herannahenden Zentauren zerstörte den Zauber. ClanFintan ließ mich los – widerstrebend, wie ich gern denke –, und wir wandten uns Dougal zu, um seinen Bericht anzuhören.
„Wir konnten keine weiblichen Leichen finden, Mylord.“ Der junge Zentaur sah aus, als wäre er an diesem Abend um zehn Jahre gealtert. „Aber wir haben Spuren gefunden, die nach Norden in den Wald führen. Zwischen den Fußspuren der Kreaturen waren kleinere – wie von weichen Sandalen, die getragen werden von …“
„… Frauen und Mädchen“, beendete ClanFintan den Satz.
„Ja, Mylord. Sie haben nicht versucht, ihre Spuren zu verwischen. Es sieht aus, als wollten Sie uns wissen lassen, was sie getan haben und wo sie zu finden sind.“
„Sie haben schon lange aufgehört, sich zu verstecken.“
ClanFintan sprach mit solch einer Sicherheit, dass ich ihn überrascht anschaute.
„Woher weißt du das?“ Ich fühlte mich ihm immer noch so nah, dass ich das unpersönliche Sie nicht über die Lippen brachte.
Er schaute mich an und lächelte, um Entschuldigung bittend. „Das erkläre ich dir später.“
Und das würde er verdammt noch mal auch besser tun.
Er wandte sich wieder an Dougal. „Bleib mit Lady Rhiannon hier, während ich zur Burg zurückkehre, damit wir dort beenden können, was getan werden muss.“
Ich fing an zu protestieren, aber er legte mir einen Finger auf die Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen.
„Ohne dich werden wir schneller sein. Ich will mich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr hier aufhalten.“
Da musste ich ihm zustimmen.
„Pass auf sie auf“, befahl er Dougal, gab mir dann einen kurzen Kuss auf die Hand, drehte sich um und galoppierte zurück zur Burg.
Ich beneidete ihn nicht um die vor ihm liegende Aufgabe.
„Mylady …“ Dougals jugendliche Stimme klang schüchtern und zögernd. „Kann ich Ihnen etwas Wein anbieten?“ Er hielt mir einen Weinschlauch hin, der an seinem Rücken befestigt gewesen war.
„Ja, vielen Dank.“ Ich nahm einen großen Schluck und starrte hinüber zur Burg. Ich konnte sehen, wie die Zentauren Leichen über den Hof zerrten. Sie hatten das Festmahl der schwarzen Vögel unterbrochen, die nun aufgeregt über der Burg kreisten. Ihre gierigen Schreie wurden vom Wind zu uns herübergetragen. Krähen haben mir schon immer Gänsehaut verursacht – jetzt wusste ich, wieso. Ich trank noch einen Schluck und spülte den Geschmack des Todes mit dem Wein fort. Blinzelnd zwang ich mich, meinen Blick von der Burg zu lösen, und betrachtete die Schaumkronen auf den ans Ufer brandenden Wellen unter mir. Schroffe Felsen ragten am Rand der Klippen dramatisch hervor, und ich verspürte mit einem Mal den Drang, hinunterzuklettern und die salzige Brise den Geruch nach Tod und Verwesung aus meiner Kleidung waschen zu lassen.
Ich war nur ein paar Schritte gegangen, als ich Dougals Hufe hinter mir hörte. Ich sprach ihn über die Schulter an: „Ich will nur ein wenig auf einem der Steine sitzen.“
Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er an meinen Absichten zweifelte.
„Ich verspreche, mich nicht hinunterzustürzen.“ Er sah immer noch nicht überzeugt aus. „Ich werde in Sichtweite bleiben.“
Die Steine waren wesentlich glatter, als sie aus der Entfernung gewirkt hatten, und ich hatte Schwierigkeiten, Halt für meine Zehen und Finger zu finden. Ich suchte mir den kleinsten Stein aus und machte es mir darauf gemütlich. Auf das Wasser schauend, löste ich meinen Zopf, schüttelte mein Haar aus und schob es von meinen Schultern. Ich strich mit den Fingern hindurch, zwang den Wind, den Geruch von Verwesung mit sich zu nehmen. Dann trank ich noch einen Schluck und sprach ein ernsthaftes Dankgebet an Gott oder Epona oder wer auch immer die Weintrauben erfunden hatte.
Langsam öffnete ich die Augen und blinzelte in der hartnäckigen Brise. Das Ufer weit unter mir war wild und gefährlich. Wellen brachen sich an zerklüftetem Stein. Es gab keinen Strand. Die Sonne hatte schon lange ihren Abstieg begonnen, und während ich zuschaute, küsste sie das Wasser und ließ es violett und pinkfarben erröten. Die sanfte Schönheit des Sonnenuntergangs kam völlig unerwartet, und ich merkte, dass ich vor Freude die Luft anhielt.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf Dinge im Leben, die liebenswert und schön waren, nicht schrecklich und unvorstellbar grausam. Sonnenuntergänge über dem Meer … große Männer … Rotwein. Plötzlich erschien ein Bild hinter meinen geschlossenen Lidern, wie ein Video auf einer Leinwand. Es war eine Vision von meinem letzten Besuch bei meinem Vater. Wir hatten auf den alten schmiedeeisernen Stühlen gesessen, die teilweise schon rosteten, weil Dad sie immer draußen auf der Veranda stehen ließ. Unsere Füße hatten wir auf einen Kalksandstein gelegt, der als Fußhocker diente, aber eigentlich einfach nur zu groß war, um aus dem Weg geräumt zu werden. Es war der Sonntagabend vor der letzten Schulwoche, und es war bereits sehr heiß für Mai – ich erinnere mich, dass das Bier eiskalt war und nach Frühlingsregen schmeckte. Die warme Brise umhüllte uns mit dem süßen Duft von Schmetterlingsflieder, den Dad zwei Jahre zuvor um die gesamte Veranda gepflanzt hatte. Ich sagte ihm, dass ich einfach nicht herausfinden konnte, wieso meiner sich nie so gut entwickelte wie seiner, und er erklärte mir kurz und bündig, dass seiner sich besser entwickelte, weil ich einfach nicht genug Pferdemist untergrub – das ließ mich damals genau wie heute auflachen. Siehst du, sagte mir ein Teil meines Herzens, er lebt noch.
In einer anderen Welt lebt er noch.
Meine Wangen fühlten sich kalt an, und ich bemerkte, dass sie nass von Tränen waren. Ich öffnete die Augen und schaute in Richtung Burg.
Der Sonnenuntergang, der eben noch das Meer in wunderbare Farben getaucht hatte, hatte nun dunklere Töne angenommen, die das Ende des Tages ankündigten. Orange und Rot verliehen den obersten Spitzen der Burgmauern eine nur zu vertraute blutige Färbung, während der Rest der Burg bereits im Schatten lag. Durch meinen Tränenschleier sah das Gebäude aus wie ein lauerndes Biest, immer noch rot gefärbt von Blut. Ich wusste um die Regeln von Metaphern und die Kraft der bildhaften Sprache, aber dieses Bild war nicht hübsch auf Papier gedruckt, und ich lag nicht zusammengerollt mit einem guten Buch und einem Glas Wein auf meiner Couch und verlor mich ein wenig zu sehr in der Fantasiewelt eines Romanautors. Ich schüttelte mich und wischte mir über die Augen. Diese Welt war jetzt meine Realität, aber es musste nicht sein, dass das bösartige Bild vor mir mein neues Leben bestimmte. Ich wandte der Burg den Rücken zu, konzentrierte mich auf das Meer und den Sonnenuntergang und atmete tief die reinigende Abendluft ein.