22
Als der Prozess am Freitag fortgesetzt wurde, wirkte Coniston deutlich entspannt, als hätte er nach einer langen, anstrengenden Reise das Ziel vor Augen. Sein Gesicht drückte sogar so etwas wie Mitgefühl für Rathbone aus.
Pendock sorgte zügig für Ruhe im Saal.
»Haben Sie einen Zeugen, Sir Oliver?«, fragte er.
»Ja, Mylord. Ich rufe die Angeklagte auf, die unter dem Namen Dinah Lambourn bekannt ist.«
Pendock blickte ihn leicht verwirrt an, als hielte er das für einen Irrtum, verzichtete aber auf einen Kommentar.
Dinah wurde von der Anklagebank zum Zeugenstand geführt. Am ganzen Leib zitternd, erklomm sie zögernd die Stufen. Als hätte sie Angst herunterzufallen, klammerte sie sich mit beiden Händen an das Geländer. Und vielleicht war ihre Furcht gar nicht so unberechtigt. Ihr Gesicht sah aus, als flösse unter der alabasterfarbenen Haut kein Blut mehr.
Rathbone trat in die Mitte des Saales und blickte zu ihr auf. Wie lange würde er sie dort oben aussagen lassen müssen? Und bevor er Winfarthing aufrief, musste er unbedingt mit ihm sprechen. Ein Anwalt, der einen Zeugen verhörte, ohne zu wissen, was dieser sagen würde, war dumm. Bei allem Vertrauen in Hester brauchte er einfach ein wenig eigene Vorbereitung.
»Sie haben fünfzehn Jahre lang mit Joel Lambourn als dessen Ehefrau zusammengelebt?«, begann er mit gepresster Stimme.
»Ja.«
»Haben Sie ihn je geheiratet?«
»Nein.«
»Warum nicht?« Diese Frage klang brutal, doch er wollte bei den Geschworenen erst gar keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass Dinah von Anfang an über Zenia Gadney im Bilde gewesen war.
»Weil er schon mit Zenia verheiratet war, als wir uns kennenlernten«, antwortete sie.
»Und er ließ sich nicht von ihr scheiden, um Sie heiraten zu können?« Rathbone versuchte, einen überraschten Ton in seine Stimme zu legen, ohne grausam zu wirken, doch das war unmöglich. Unwillkürlich zuckte er beim Klang seiner eigenen Worte zusammen.
»Ich habe ihn nie darum gebeten«, erklärte Dinah. »Ich wusste, dass Zenia einen schlimmen Unfall gehabt hatte und wegen der Schmerzen erst nach Alkohol und dann nach Opium süchtig geworden war. Vom Gin kam sie schließlich los, aber vom Rauschgift nie wirklich. Es gab eine Zeit, als nur ein einziger Umstand sie vor dem Selbstmord bewahrte, und an den klammerte sie sich damals mit aller Kraft: Das war die Tatsache, dass er sie nicht im Stich ließ. Ich selbst habe ihn geliebt und werde ihn immer lieben. Gerade deshalb hätte ich nie von ihm verlangt, dass er etwas tat, was er für grausam und ein Unrecht hielt. Ich hätte nicht gewollt, dass er sich selbst verleugnete.«
»Aber war es nicht ein Unrecht, dass er sein Leben mit Ihnen teilte?« Rathbone stellte diese Frage nur deshalb, weil er wusste, dass Coniston sie sonst nachholen würde.
»Er hat mich nie gebeten, mein Leben mit ihm zu teilen«, erwiderte Dinah. »Ich selbst habe mich dafür entschieden. Und, ja, die Gesellschaft wird wohl sagen, dass das unrecht war. Aber das kümmert mich nicht wirklich.«
»Recht und Unrecht kümmern Sie nicht? Oder liegt Ihnen nur nichts am Urteil der Gesellschaft?«
»Ich glaube, sie liegt mir durchaus am Herzen«, antwortete Dinah mit einem verzerrten Lächeln. »Die Gesellschaft, meine ich. Aber nicht so sehr, dass ich ihretwegen den einzigen Mann aufgebe, den ich je geliebt habe. Wir haben gegen den Anstand verstoßen, oder hätten das getan, wenn man darüber Bescheid gewusst hätte. Aber wir haben niemandem geschadet. Vielleicht hätten sich auch die Leute nicht allzu sehr daran gestört. Tausende haben schließlich eine Mätresse oder einen Liebhaber. Tausende mehr besuchen Straßenmädchen. Solange das im Privaten geschieht, hat doch niemand allzu viel daran auszusetzen.«
Was sie sagte, war vollkommen zutreffend, doch Rathbone wünschte sich, sie wäre nicht ganz so freimütig gewesen. Andererseits hätte dann womöglich Coniston diesen Punkt aufgegriffen und für sich genutzt.
Wie auch immer, Rathbone musste hartnäckig weiterfragen, notfalls den ganzen Vormittag lang. Irgendetwas zu reden war immer noch besser als Stille, die Pendock sofort veranlassen würde, die Entscheidung den Geschworenen anheimzustellen. Hatte Hester Winfarthing zum Kommen überreden können? Was würde er machen, wenn der Mann die Aussage verweigerte?
»Waren Sie glücklich?«, fragte er Dinah.
Coniston erhob sich. »Mylord, wieder einmal versucht mein gelehrter Freund, die Zeit des Gerichts zu vergeuden. Wenn es hilft, die Prozedur zu beschleunigen, setze ich gerne als gegeben voraus, dass die Angeklagte und Dr. Lambourn zusammen das ideale Leben führten und bis zu seinen letzten Tagen so glücklich waren, wie Mann und Frau es miteinander nur sein können. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, zu diesem Zweck eine ganze Prozession von Zeugen aufmarschieren zu lassen.«
»Ich hatte diesbezüglich keinerlei Absichten, Mylord!«, rief Rathbone empört.
»Dann kommen Sie endlich zu dem Argument, das Sie anbringen wollen, Sir Oliver«, erwiderte Pendock ungeduldig.
Nur mit Mühe wahrte Rathbone die Selbstbeherrschung. Er durfte sich nicht durch Zorn oder Stolz aus dem Konzept bringen lassen. »Sehr wohl, Mylord.« Er blickte wieder zu Dinah auf. »Sprach Dr. Lambourn mit Ihnen über seine Arbeit, insbesondere die Studie, die er über den Verkauf und die Etikettierung von opiathaltigen Medikamenten durchführen sollte?«
»Ja. Gerade sie lag ihm sehr am Herzen. Er wollte, dass man sämtliche frei verkäuflichen Medikamente lesbar beschriftete, mit gut sichtbaren Zahlen, damit jeder erkennen konnte, welche Dosis sicher war.«
»Ist das ein heftig umstrittenes Gesetz, soweit Sie das beurteilen können?«
Coniston erhob sich erneut. »Mylord, wie meinem gelehrten Freund sehr wohl bewusst ist, hat die Angeklagte auf diesem Gebiet keinerlei Fachwissen.«
Pendock seufzte. »Ihrem Einwand wird stattgegeben. Sir Oliver, bitte stellen Sie der Angeklagten keine Fragen, von denen Sie genau wissen, dass sie nicht die nötigen Fachkenntnisse hat, um sie beantworten zu können. Ich werde nicht dulden, dass Sie diesen Prozess mit nutzlosen Manövern in die Länge ziehen, die nur unsere Zeit verschwenden!«
Rathbone schluckte seine Wut hinunter. Erneut wandte er sich an Dinah.
»Hat Ihnen Dr. Lambourn je erzählt, dass ihn die Regierung oder irgendwelche Gesundheitsbehörden kritisiert oder behindert hätten, während er Informationen über nicht zum Krankheitsbild gehörende Todesfälle nach der Einnahme von Opium sammelte?«
»Nein. Es war ja die Regierung, die ihn mit dieser Untersuchung beauftragt hatte.«
»Welcher Regierungsbeamte konkret?«
»Mein … Mr Barclay Herne.« Nachdem sie fast damit herausgeplatzt wäre, vermied sie sorgfältig jeden Hinweis auf die verwandtschaftliche Nähe.
»Dr. Lambourns Schwager?«, hakte Rathbone nach.
»Ja.«
Erneut wurde Pendock ungeduldig. Er zog eine finstere Miene und trommelte mit seinen Fingern auf der polierten Holzplatte seines Pults herum.
»Ist Mr Herne verantwortlich für dieses Projekt?«, erkundigte sich Rathbone.
»Ich glaube, ja«, antwortete Dinah. »Es war immer Barclay, dem Joel Bericht erstattete.«
Angesichts von Pendocks Verärgerung stellte Rathbone gleich die nächste Frage. »Es war also Barclay Herne, der ihm mitteilte, dass seine Studie indiskutabel war?«
»Ja.«
»War Dr. Lambourn davon sehr erschüttert?«
»Er war wütend und fassungslos. Die Fakten waren sorgfältig protokolliert worden, und er konnte sie alle belegen. Er konnte nicht verstehen, wo Barclay das Problem sah. Aber er war entschlossen, die Studie gründlich zu überarbeiten, damit man sie doch noch annahm.«
Rathbone gab sich überrascht. »Er empfand das weder als persönlichen Affront noch als das Ende seiner Laufbahn?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Dinah. »Es war eine Studie. Ihre Ablehnung machte ihm zu schaffen, aber das trieb ihn mit Sicherheit nicht in die Verzweiflung.«
»Hat er Ihnen erzählt, dass er bei seinen Recherchen auf irgendetwas Schlimmes gestoßen war?«, fragte Rathbone.
Wieder erhob sich Coniston. »Mylord, einzelne Aspekte von Dr. Lambourns Untersuchung oder Dinge, die ihn betrübt haben mögen oder nicht, sind wohl kaum von Belang. Wir beschuldigen die Angeklagte des Mordes an Dr. Lambourns erster Frau und nicht der Inkompetenz oder mangelnden Sentimentalität bei seiner …«
»Ich teile Ihre Auffassung, Mr Coniston.« Pendock beugte sich zu Rathbone hinab.
Bevor der Richter ihn zurechtweisen konnte, wirbelte Rathbone zu seinem Gegner herum, als hätte er Pendock gar nicht wahrgenommen. »Und ob es darum geht!«, rief er. »Sie behaupten, Dr. Lambourn hätte sich aus Verzweiflung über irgendetwas, das in dieser Zeit geschehen sei, das Leben genommen. Am Anfang haben Sie gesagt, der Auslöser sei eine Art sexuelle Abartigkeit, wegen der er sich einer Prostituierten in Limehouse bedient habe, und die Furcht, dass seine Frau dahinterkommen würde. Jetzt, da Sie wissen, dass die ›Prostituierte‹, als die Sie sie bezeichnet haben, eine ehrbare Frau war, die einmal mit Dr. Lambourn verheiratet gewesen war und es zum Zeitpunkt ihres Todes vor dem Gesetz immer noch war, mussten Sie diese Strategie aufgeben!«
Coniston starrte ihn verwirrt, ja aufgeschreckt an.
»Als Nächstes haben Sie ins Feld geführt, die Angeklagte hätte ihr Opfer aus Eifersucht ermordet, weil sie soeben das Geheimnis um Dr. Lambourns Besuche bei ihr entdeckt hatte«, fuhr Rathbone fort. »Doch kaum hatten Sie das verkündet, erkannten Sie, dass sie die ganzen letzten fünfzehn Jahre darüber im Bilde gewesen war; also war auch diese Argumentationskette eindeutig absurd. Und jetzt behaupten Sie, dass er sich umbrachte, weil eine bedeutende und sehr umfangreiche Studie, die er angefertigt hatte, zurückgewiesen worden war und er mit der Arbeit noch einmal von vorn anfangen musste. Ich versuche nun zu ergründen, ob es sich tatsächlich so verhielt oder nicht. Ich beabsichtige, andere Zeugen aus seinem Fachgebiet aufzurufen, damit sie sich zu diesem Sachverhalt äußern.«
Getuschel erhob sich im Saal. Pendock drosch mit seinem Hammer so wütend auf das Pult, dass schlagartig völlige Stille einkehrte. »Sir Oliver! Wir verhandeln gegen die Angeklagte wegen des Mordes an Zenia Gadney-Lambourn, nicht wegen des Todes von Joel Lambourn, der bereits gerichtlich als Selbstmord bestätigt worden ist. Seine Gründe dafür, so tragisch sie auch sein mögen, haben hier keine Relevanz.«
»Mylord, ich stelle den Antrag, beweisen zu dürfen, dass sie von dringender Relevanz sind, und ich werde die Geschworenen davon überzeugen!«, rief Rathbone tollkühn.
»So, so«, knurrte Pendock skeptisch. »Wir warten voller Ungeduld. Fahren Sie bitte fort.«
Mit pochendem Herzen wandte sich Rathbone wieder an Dinah.
»Ich weiß, dass es Ihnen schwerfällt zu glauben, dass Dr. Lambourn sich das Leben genommen hat. Aber war er in der Woche, bevor seine Leiche entdeckt wurde, irgendwann auffallend bekümmert, wütend oder unentschlossen hinsichtlich seiner nächsten Schritte? Wirkte er verändert?«
Coniston rutschte vor, ohne sich zu erheben, blieb aber sprungbereit auf der Stuhlkante sitzen.
Dinah verstand Rathbones Wink. »Ja. Etwas fiel mir zwei oder drei Tage vor seinem Tod auf, als er nach Befragungen in der Hafengegend heimkam. Er war verzweifelt wegen etwas, das er in Erfahrung gebracht hatte.«
»Erzählte er Ihnen, was das war?«, fragte Rathbone.
Im Saal herrschte Stille. Niemand wagte zu atmen. Die Geschworenen verharrten regungslos auf ihren Stühlen.
»Nein«, hauchte Dinah, um dann mit einiger Anstrengung lauter zu werden. »Ich habe ihn gefragt, aber er sagte, es sei zu entsetzlich, als dass er mit jemandem darüber reden könne, solange er nicht wisse, wer dahinterstecke. Ich habe nachgebohrt, aber er beharrte darauf, dass es etwas sei, wovon ich um meiner Sicherheit willen nichts wissen solle, so schrecklich sei das Leid der Betroffenen. Es würde mich Tag und Nacht in meinen Träumen und Gedanken verfolgen, mein ganzes Leben lang.« Die Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Ich sah, wie bekümmert er war, und begriff, dass er die Wahrheit sagte. Ich habe ihn nicht wieder gefragt. Mir ist nicht klar, was für ihn leichter gewesen wäre: mein Wissen oder meine Ahnungslosigkeit. Ich habe es nie erfahren, weil er zwei Tage später tot war.«
»Könnte das an der Zahl der Todesfälle in einer bis dahin nicht erfassten Gegend gelegen haben, verursacht durch eine versehentliche Überdosierung von Opium?«, fragte Rathbone.
Dinah schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Wäre etwas Schreckliches vorgekommen, zum Beispiel auffallend viele Tote in einem bestimmten Gebiet, dann hätte doch sicher Mr Herne Aufklärung über die Einzelheiten verlangt, und es wäre nicht mehr geheim gewesen. Nein, es muss sich um etwas anderes gehandelt haben.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, stimmte Rathbone ihr zu. »Kündigte er Ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt an, was er in dieser schrecklichen Angelegenheit, die so viel Leid gebracht hatte, zu unternehmen gedachte?«
Dinah verfiel in Schweigen.
Einer der Geschworenen rutschte unbehaglich hin und her, ein anderer beugte sich vor, als wollte er Dinah näher betrachten.
Coniston starrte Rathbone an, dann blickte er zum Richter auf.
Rathbone hätte gern gewusst, ob Barclay Herne anwesend war. Doch er stand mit dem Rücken zum Zuschauerraum und wagte nicht, sich umzudrehen.
»Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, was er zu mir gesagt hat«, erklärte Dinah schließlich. »Die Worte an sich und das, was er gemeint haben könnte. Er war sehr bekümmert und aufgeregt.«
»Wusste er, wer in diese Gräueltaten verwickelt war?«, hakte Rathbone nach. »Oder äußerte er sich über die Natur dieser Entdeckung?«
»Nur insofern, als dass sie mit Opium zu tun hatte«, antwortete Dinah leise. »Und dass die Sache ihm dringend am Herzen lag.«
Jetzt konnte Coniston sich nicht mehr zurückhalten. »Mylord! Wir haben in keiner Weise festgestellt, dass es eine Gräueltat aufzudecken galt, sondern lediglich, dass etwas geschehen war, über das Dr. Lambourn bestürzt war.« Er breitete die Hände aus. »Das könnte ein Unfall gewesen sein, eine Naturgewalt, irgendetwas. Oder aber auch gar nichts. Wir haben nur das Wort der Angeklagten, und das wird jetzt als Vorwand dafür gebraucht, das Ende dieses Prozesses so lang wie möglich hinauszuschieben.«
»Sie haben vollkommen recht, Mr Coniston«, stimmte Pendock ihm zu. »Ich habe keine Geduld mehr für Ihre Zeitverschwendung, Sir Oliver. Wenn Sie keine weiteren Beweise mehr vorzubringen haben, stelle ich das Urteil den Geschworenen anheim.«
Rathbone war verzweifelt. Er konnte Dinah keine weiteren Fragen stellen. Sie hatte sich nach der Verlesung der Anklage als unschuldig bezeichnet. Dem gab es nichts mehr hinzuzufügen.
»Ich habe noch zwei Zeugen, Mylord«, kündigte er mit einer Stimme an, die in seinen eigenen Ohren hohl, ja lächerlich klang. Wo, zum Kuckuck, steckte Monk? Und wo waren Hester und Dr. Winfarthing?
Pendock wandte sich an Coniston. »Haben Sie Fragen an die Angeklagte, Mr Coniston?«
Der Staatsanwalt zögerte. Ob aus Feigheit, weil er jedes Risiko scheute, oder aus Rücksicht, um allen ein nutzloses Ritual zu ersparen, antwortete er dann gelassen: »Nein, Mylord, danke.«
Damit schien Rathbones Niederlage besiegelt. Mit dem Mut der Verzweiflung erklärte er: »Ich möchte Dr. Gustavus Winfarthing aufrufen, Mylord, aber er ist noch nicht eingetroffen. Dafür entschuldige ich mich und bitte …«
In diesem Moment flog die Flügeltür am anderen Ende des Saals auf, und eine hünenhafte Gestalt mit zu Berge stehender, ergrauender Haarpracht, als hätte draußen ein Sturm getobt, eilte mit fliegenden Frackschößen herein.
»Wagen Sie es bloß nicht, sich in meinem Namen zu entschuldigen!«, donnerte er. »Sie können Gift darauf nehmen, dass ich hier bin! Nicht mal ein Blinder auf einem galoppierenden Pferd könnte mich übersehen!«
Gedämpftes Gelächter breitete sich aus, das vielleicht nicht nur von Belustigung herrührte, sondern in gleichem Maße Erlösung von der Anspannung ausdrückte. Selbst ein, zwei Geschworene grinsten über das ganze Gesicht, bis sie jäh merkten, dass das unschicklich war, und sich zwangen, eine würdige Miene aufzusetzen.
Winfarthing schritt durch den Saal bis zu Rathbones Pult, wo er abrupt stehen blieb. »Sind Sie bereit für mich, Sir Oliver? Oder soll ich draußen warten?«
»Nein!« Mit erheblicher Mühe bezwang Rathbone seine Erleichterung und auch seine Besorgnis. »Wir sind durchaus für Sie bereit, Dr. Winfarthing. Wenn ich Sie in den Zeugenstand bitten darf, werden Sie sogleich vereidigt.«
In Wahrheit war er keineswegs bereit. Er hätte zuerst mit ihm unter vier Augen sprechen und erfahren müssen, was der Mann zu sagen hatte, damit er die Vernehmung in die gewünschte Richtung lenken konnte. Andererseits wagte er nicht, Pendocks Geduld allzu sehr zu strapazieren, sonst verlor er vielleicht noch seine letzte Chance.
Winfarthing gehorchte und zwängte seinen mächtigen Körper mit einiger Mühe zwischen den Geländern der engen Wendeltreppe zum Zeugenstand hinauf. Nachdem er geschworen hatte, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, wartete er demütig, bis Rathbone begann.
Der Anwalt sah diesen Mann zum ersten Mal. Er hatte nichts über ihn gewusst bis auf das Wenige, was Hester ihm berichtet hatte. Sehr viel mehr hatte er aus der Art abgeleitet, mit der sie von ihm gesprochen hatte. Schon die bloße Erwähnung seines Namens hatte sie zum Lächeln gebracht.
Obwohl – oder weil – Rathbone nichts mehr zu verlieren hatte, begann er die Vernehmung mit einer Beherztheit, von der er nicht wusste, wo er sie hernahm.
»Dr. Winfarthing, waren Sie mit Joel Lambourn bekannt?«
»Aber natürlich!«, dröhnte Winfarthing und starrte Rathbone mit erhobenen Augenbrauen an, als hätte er einen besonders unbegabten Schüler vor sich, der sich eine Dummheit geleistet hatte. »Hervorragender Mann, und zwar fachlich wie menschlich.« Und als ahnte er schon einen Einspruch aufgrund der Tatsache, dass er nicht nach einer Bewertung gefragt worden war, fuhr er zu Coniston herum und blitzte ihn wütend an.
»Danke«, sagte Rathbone hastig. »Kam er zu Ihnen wegen Ihrer Meinungen oder Erfahrungen mit der Einnahme von Opium, als er in den letzten drei, vier Monaten vor seinem Tod für seine Studie Recherchen anstellte?«
»Natürlich war er bei mir«, erklärte Winfarthing, in Ton und Mimik die Überraschung in Person, als wäre die Frage vollkommen überflüssig.
Auf der Galerie herrschte Stille. Kein Laut, kein Rascheln von Kleidern war zu hören. Rathbone betete zu Gott, Winfarthing würde etwas zu berichten haben, womit sie sich in den Nachmittag retten konnten, an dem Monk hoffentlich mit Agatha Nisbet eintreffen würde.
»Warum, Dr. Winfarthing?«, soufflierte Rathbone. »Haben Sie denn eigene Erfahrungen mit dem Tod von Säuglingen aufgrund zu hoch dosierten Opiums?«
»So tragisch es ist, ja. Ich konnte viele von Dr. Lambourns Ergebnissen bestätigen und ihm meine eigenen Erkenntnisse zur Verfügung stellen, die zufällig fast deckungsgleich waren.«
Coniston erhob sich. »Mylord, um dem Gericht Zeit zu sparen, stimme ich dem Zeugen bereitwillig darin zu, dass Dr. Lambourns Daten auf ehrliche Weise gesammelt wurden und hinsichtlich des Schindluders bei der Dosierung von Opium für Kinder durchaus zutreffend gewesen sein können. Zu ermessen, ob das eine Tragödie ist, die sich durch verbesserte Methoden bei der Abfüllung beheben lässt, fällt nicht in unseren Aufgabenbereich. Aber da Sir Oliver selbst darauf hingewiesen hat – ob berechtigterweise oder nicht –, dass Dr. Lambourns Tod nichts mit seiner Studie über die Beschriftung opiathaltiger Medikamente zu tun hatte, vermag ich nicht zu erkennen, wie das auch nur den entferntesten Bezug zu Zenia Gadneys Ermordung haben soll, selbst wenn wir den unwahrscheinlichen und nie nachgewiesenen Umstand annehmen, dass sie in Teile der Studie eingeweiht war. Und erst recht nicht, dass eine Abschrift des Werks in ihrem Besitz gewesen sein könnte.«
»Ihr Argument ist berechtigt, Mr Coniston«, antwortete Pendock. »Sir Oliver, Sie verschwenden wieder einmal Zeit. Das dulde ich nicht! Wenn Dr. Winfarthing uns nichts weiter mitzuteilen hat außer seiner Meinung, dass Dr. Lambourn ein guter Arzt war, dann nehmen wir es zur Kenntnis, aber es ist, wie Mr Coniston zu Recht sagt, für diesen Prozess irrelevant. Sollte Mr Coniston keine Fragen an Dr. Winfarthing haben, dann rufen Sie bitte Ihren nächsten Zeugen auf, wer immer das sein mag, und lassen Sie uns fortfahren.«
Winfarthings Augen weiteten sich, und sein Gesicht färbte sich dunkelrot vor Zorn. Er warf sich in dem engen Zeugenstand mit einiger Mühe herum und funkelte den Richter in seiner scharlachroten Robe und der weißen Allongeperücke an.
»Sir!«, donnerte er. »Ich habe sehr viel Relevantes zu sagen, auch wenn ich mir sehr wohl bewusst bin, dass die Einzelheiten vielleicht nicht erfreulich sind, denn es geht um die entwürdigendsten und qualvollsten von Menschen ersonnenen Methoden, den Körper und die Seele von Mitmenschen zu schänden. Es betrifft widerwärtigen Missbrauch bei der Linderung von Schmerzen, und zwar zu dem Zweck, sich daran zu bereichern. Und wenn wir weiter als Personen von Anstand und Ehre gelten wollen, wenn wir das sein wollen, was den Menschen auszeichnet, dann ist es ein Luxus, auf den wir einfach kein Recht haben, zu sagen: ›Wir möchten uns lieber nicht mit der Wahrheit quälen.‹« Er beschrieb eine Viertelumdrehung und richtete sich mit glühenden Augen an die zwölf Geschworenen.
Diese lauschten gebannt und voller Respekt.
Pendock hatte es die Sprache verschlagen. Er vermied es, Winfarthing anzuschauen, und spähte stattdessen zu Coniston hinüber, ohne bei ihm Hilfe zu finden. So wandte er sich schließlich an Rathbone.
»Halten Sie Ihren Zeugen bitte im Zaum, Sir Oliver«, forderte er ihn wütend auf. »Ich dulde in meinem Gerichtssaal kein Chaos. Wenn Sie etwas Relevantes über den Mord an Zenia Gadney zu fragen haben – und achten Sie sorgfältig darauf, dass das wirklich der Fall ist –, dann tun Sie das bitte ohne weitere Abschweifungen und Verzögerungen.«
»Abschweifungen?«, zischte Winfarthing in einem bis zu den hintersten Rängen hörbaren Bühnenflüstern.
Rathbone merkte, dass ihm der letzte Fetzen Kontrolle aus den Händen zu gleiten drohte. Er blickte Winfarthing an, und spätestens jetzt wurde ihm klar, warum Hester diesen Mann mochte. Er war unbezähmbar und entsprach damit ihrer anarchischen Natur.
»Dr. Winfarthing«, sagte er streng, »haben Sie Dr. Lambourn Informationen gegeben, die er in seine Studie aufgenommen haben könnte und die für ihn etwas Neues darstellten? Ich erkundige mich gezielt nach einem Umstand, der ihn in einem Maße beunruhigt haben könnte, dass damit seine tiefe Betroffenheit in den Tagen kurz vor seinem Tod erklärt wäre, ein Schock, den er der Angeklagten nicht offenbarte, weil sie das zu sehr belastet hätte.«
Winfarthing musterte ihn erstaunt. »Natürlich habe ich ihm welche gegeben!«, dröhnte er. »Ich habe ihm gesagt, dass das Opium, das man schluckt, und sogar das verdammte Zeug, das man raucht, noch nicht einmal das halbe Problem sind. Das Arzneimittelgesetz, wenn es denn je das Licht der Welt erblickt, wird eine zahnlose Hexe bei der Bewältigung des eigentlichen Problems sein, das sich jetzt langsam …«
Pendock beugte sich weit vor, das scharf geschnittene Gesicht weiß wie die Wand. »Sir Oliver, wenn Sie Ihren Zeugen nicht bändigen können …«
»Die Nadel!«, bellte Winfarthing mit vor Erbitterung klirrender Stimme. Die Augen direkt auf die Geschworenen gerichtet, hob er beide Hände. »Ein kleines Ding mit einer längs verlaufenden Aushöhlung in der Mitte und einer Spitze, die scharf genug sein muss, die Haut eines Menschen bis hinunter zu den Venen zu durchstechen. An ihrem anderen Ende wird eine Art Ampulle oder winzige Flasche, gefüllt mit einer Opiumlösung, befestigt. Diese muss völlig rein sein – kein Hustensaft oder Magenmittel. Man drückt den Kolben nach unten …« Er schloss die Hand mit einer dramatischen Geste, als liege tatsächlich etwas darin. »Und das Opium ist im Blut. In den Venen wird es durch den ganzen Körper transportiert, zum Herzen und zu den Lungen, ins Gehirn! Verstehen Sie? Ekstase – und dann Wahnsinn! Die Bestie beißt einen ein Mal – und langsam entstehen unvorstellbare Qualen, Schmerzen, Brechanfälle, kalter Schweiß, Gänsehaut, Zittern, Schüttelfrost und Alpträume, die kein gesunder Mensch aushalten muss. Das wollen Sie natürlich nicht hören.«
Er beugte sich über die Brüstung und bohrte seinen Blick in ihre Gesichter.
»Aber was erst recht keiner von Ihnen will, meine Freunde, ist, es selbst durchzumachen! Oder zu sehen, wie Ihre Kinder es durchmachen … Oder, wenn Sie den Anspruch haben, gottesfürchtige Menschen zu sein, irgendeinen Mitmenschen in diesem schönen Erdenkreis so zu erleben.«
Er ignorierte Pendock, dessen Hand zum Hammer zuckte, und den bereits wieder stehenden Coniston, der schon die Lippen zum Protest spitzte.
»Ich weiß, ich weiß!« Winfarthing war nicht aufzuhalten. »Ohne Relevanz für den Tod dieser bedauernswerten Frau in Limehouse – Gadney, oder wie immer sie hieß, armes Ding.« Er starrte Rathbone an. »Aber vielleicht war es das doch, verstehen Sie? Es ist unangenehm, darüber zu sprechen. Denn dann müssen wir uns ja der Tatsache stellen, dass wir verantwortlich sind. Mein Gott, wenn wir Manns genug sind, so etwas zuzulassen, dann sollten wir um der Liebe des Himmels willen auch Manns genug sein, es uns so anzuschauen, wie es ist!« Seine Stimme war angeschwollen, bis sie den ganzen Raum füllte und niemand sich seiner Empörung entziehen konnte.
»Wir haben Opium in dieses Land gebracht. Bei seinem Verkauf stecken wir das Geld ein. Wenn wir verletzt sind, lindern wir damit unsere Schmerzen. Wir trinken es, um unsere Hustenanfälle, Magenschmerzen und unsere Schlaflosigkeit zu beenden. Es ist ein Segen Gottes – bei klugem Gebrauch.« Seine Stimme sank zu einem Knurren herab. »Aber das gibt uns nicht das Recht, uns von seinem Missbrauch abzuwenden, von dem grauenhaften Wissen darüber, wie es sich auf diejenigen auswirkt, deren Ahnungslosigkeit sie in den lebenden Tod der Sucht hat stolpern lassen. Sie ertrinken darin! Ein mächtiger Ozean aus endlosem, grauem Halb-Leben.
Und diejenigen, die es an sie verkaufen, die ihnen diese magische Nadel in die Hand drücken, die Hölle gegen Profite verhökern, brechen kein einziges Gesetz! Ist es da nicht unsere Pflicht vor Gott und den Menschen, diese Gesetze zu ändern?«
Niemand rührte sich. Die Geschworenen starrten ihn mit versteinertem Gesicht an.
Coniston wirkte betreten. Er blickte zu Pendock hinüber, dann zu den Geschworenen und schließlich zu Rathbone, sagte aber nichts.
Rathbone räusperte sich. »Haben Sie Dr. Lambourn das Elend bei der Sucht nach der Injektion von Opium durch eine Nadel geschildert, Dr. Winfarthing?«
»Himmelherrgott, Mann!«, brüllte Winfarthing. »Wovon, zum Henker, glauben Sie, rede ich denn die ganze Zeit?«
Mit einem Ruck erwachte Pendock jäh zum Leben und ließ den Hammer mit einem Knall niedersausen.
Winfarthing wirbelte zu ihm herum. »Was jetzt?«, begehrte er auf. »Mylord«, fügte er mit einer guten Portion Sarkasmus hinzu.
»Ich dulde keine Gotteslästerung in meinem Gericht, Dr. … Winfarthing.« Pendock gab vor, den Namen vergessen zu haben und sich seiner nur mit Mühe zu entsinnen. »Beim nächsten Verstoß belange ich Sie wegen Missachtung des Gerichts.«
Ein Ausdruck völliger Fassungslosigkeit breitete sich über Winfarthings Gesicht aus. Offensichtlich kam ihm eine passende Entgegnung in den Sinn, und ebenso deutlich war ihm anzumerken, dass er sie sich mit Mühe verkniff.
»Ich entschuldige mich beim Allmächtigen«, sagte er ohne die geringste Demut. »Andererseits bin ich mir sicher, dass Er weiß, mit welcher Absicht ich Seinen Namen ausspreche.« Er wandte sich erneut Rathbone zu. »Um Ihre Frage zu beantworten, Sir: Ich habe Dr. Lambourn über den Verkauf von Opium berichtet, das sich dazu eignet, ins Blut gespritzt zu werden, und ihm erklärt, wie diese Nadeln benutzt werden. Das bedeutet, dass ein Mann – und übrigens auch eine Frau – nach nur wenigen Tagen Bekanntschaft mit diesem Gift in eine private Hölle aufgenommen wird und dort gefangen bleibt, bis der Tod ihn erlöst und er in welche Verdammnis auch immer eingehen kann, die die Ewigkeit für ihn bereithält. Und zu verdanken hat er das dem Verkäufer dieses Alptraums und denjenigen unter uns, die bewusst wegschauen, weil sie sich nicht damit belasten wollen!«
Coniston schnellte hoch. Mit einer den plötzlichen Tumult im Saal übertönenden, gellenden Stimme schrie er: »Mylord! Ich muss mit Ihnen in Ihrem Büro sprechen! Das ist von höchster Bedeutung!«
»Ruhe!«, brüllte Pendock. »Ich bestehe auf Ruhe in meinem Gericht!«
Nur langsam legte sich der Lärm. Unbehaglich, zornig, ängstlich rutschten die Leute auf ihren Sitzen herum; jeder wollte von seinem Nachbarn hören, dass er das doch sicher nur geträumt hatte.
Pendocks Gesicht war vor Zorn dunkelrot angelaufen; die Hand, die den Hammer hielt, zitterte. »Sir Oliver, Mr Coniston. Kommen Sie umgehend in mein Büro. Die Verhandlung wird vertagt.« Er erhob sich und stürmte mit wehender roter Robe hinaus, ohne darauf zu achten, ob er Gegenstände streifte oder umstieß.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube folgte Rathbone Coniston und dem Gerichtsdiener durch die Seitentür zur Vorhalle. Sobald der Amtsbüttel an die Bürotür geklopft und der Richter »Herein!« gedonnert hatte, traten sie in seine Gemächer.
Dann wurde die Tür hinter ihnen geschlossen, und sie standen vor Pendock, der Rathbone kaum eines Blickes würdigte, ehe er sich Coniston zuwandte.
»Nun, worum geht es Ihnen, Mr Coniston?«, fragte er. »Wenn Sie mir sagen wollen, dass dieser Winfarthing unverschämt ist, dann bin ich mir dessen eindringlich bewusst. Wenn Sir Oliver ihn nicht zu einer Art Mäßigung anhalten kann, muss ich ihn wegen Missachtung des Gerichts belangen und seine Aussage beenden. Bisher erscheint mir sein Gerede aufhetzerisch, unbewiesen und ohne Belang für diesen Fall.«
Rathbone setzte schon zu Winfarthings Verteidigung an, doch Coniston ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Mylord, ich gebe Ihnen in jedem Punkt recht und denke, dass die Geschworenen es, wie wir, als den letzten Trick eines Verzweifelten auffassen werden. Doch hier geht es noch um eine andere, weit dringendere und ernstere Angelegenheit.« Er beugte sich ein wenig weiter vor, als könnte er Pendock damit die Bedeutung seines Arguments noch drastischer vor Augen führen. »Winfarthing hat hochstehende Männer schwerer Verbrechen bezichtigt, ohne Beweise oder Namen zu nennen, aber seine dunklen Andeutungen können dazu führen, dass unschuldige Männer gebrandmarkt werden, nur weil sie in einem Zusammenhang mit diesem elenden Lambourn erwähnt wurden. Hiervon sind Staatsangelegenheiten betroffen, Mylord; der Ruf der Regierung Ihrer Majestät droht Schaden zu nehmen, sowohl im In- als auch im Ausland.«
»Unsinn!« Rathbone explodierte schier vor Wut und Frustration. »Das ist eine lächerliche Ausrede, nur um …«
»Das ist es nicht!« In seinem Eifer ignorierte Coniston den Richter und wandte sich direkt an Rathbone. »Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie nicht wussten, was dieser Mann sagen würde, aber da es Ihnen jetzt klar ist, müssen Sie ihn mit einer Entschuldigung an das Gericht entlassen und zum Ausdruck bringen, dass nichts davon der Wahrheit …«
»Ich werde nichts davon als unwahr zurückweisen!«, fuhr ihm Rathbone über den Mund. »Das kann ich nicht, und Sie ebenso wenig. Und wenn er so mit Lambourn gesprochen hat, wie er es schildert, dann ist das sehr wohl relevant, egal, ob es zutrifft oder nicht – es ist das, was Lambourn danach glaubte.«
»Sie wissen doch überhaupt nicht, ob Lambourn es glaubte oder nicht!«, protestierte Coniston. »Dafür haben Sie nur Winfarthings Wort. Dieser Opiumverkäufer, wenn er denn existiert, könnte … irgendjemand sein! Das ist vollkommen verantwortungsloses Gerede, das die Öffentlichkeit ohne vernünftigen Grund in Angst und Schrecken versetzt.«
»Wenn etwas verantwortungslos ist, dann ist es die Verurteilung Dinah Lambourns, ohne ihr die bestmögliche Verteidigung zu gewähren!«, konterte Rathbone. »Und ohne sämtliche Zeugen und Argumente zu hören, die …«
»Genug!« Pendock hob gebieterisch die Hand. »Das Thema Nadeln ist ohne Relevanz für den Mord an Zenia Gadney. Sie wurde niedergeschlagen und regelrecht ausgeweidet. Was immer Winfarthing über den Verkauf von Opium oder die Sucht danach zu wissen glaubt oder gehört hat, steht in keinem Zusammenhang mit der grotesken Ermordung einer Frau am Limehouse Pier. Weder kaufte noch verkaufte sie Opium, noch konnten Sie beweisen, dass es in ihrem Leben eine Rolle spielte.«
»Danke, Mylord!« Coniston seufzte voller Erleichterung. Rathbone würdigte er keines Blicks.
Pendocks Gesicht war angespannt, aber er nahm Conistons Dank lächelnd zur Kenntnis. Er wandte sich an Rathbone. »Am Montag beginnen Sie Ihr Schlussplädoyer, und dann überlassen wir die Entscheidung den Geschworenen. Haben Sie mich verstanden?«
Rathbone fühlte sich niedergeschmettert. »Ich habe noch eine Zeugin, Mylord«, begann er.
Coniston schoss von seinem Stuhl hoch. »Noch eine Zeugin? Wofür? Mehr Schauergeschichten über die Entwürdigung jener, die sich für ein Leben in Sucht entschieden haben?«
»Gibt es denn noch mehr?«, blaffte Rathbone. »Dann wissen Sie offenbar mehr darüber als ich!«
»Ich weiß, dass es viel Geschwätz und Lust am Skandal gibt«, erwiderte Coniston. »Dazu Sensationsgier und Bestrebungen, Panik zu schüren, um die Leute vom Mord an der armen Zenia Gadney abzulenken. Und Sie reden von Gerechtigkeit! Wie steht es um die Gerechtigkeit für sie?«
»Gerechtigkeit für Zenia Gadney hieße, die Wahrheit aufzudecken«, knurrte Rathbone nicht minder zornig. Er wirbelte wieder zu Pendock herum. Unvermittelt bemerkte er dabei zum ersten Mal eine gerahmte Fotografie ein Stückchen rechts vom Richter, die normalerweise in dessen Blickrichtung mit der Rückseite zu den Besuchern stand. Sie zeigte eine Frau und zwei junge Männer, von denen einer Pendock glich. Es hätte sogar er selbst sein können, nur fünfunddreißig Jahre jünger. Auch der andere Junge ähnelte ihm, wenn auch nicht so stark. Brüder?
Alt konnte das Bild jedenfalls nicht sein, denn die Frau trug ein modisches Kleid von einem Schnitt, den es erst seit ein, zwei Jahren gab. Und als Pendock ein junger Mann gewesen war, hatte man Fotografien noch nicht gekannt. Kurz, die Personen auf dem Bild mussten seine Frau und seine Söhne sein. Und einer der Söhne kam Rathbone merkwürdig bekannt vor. Der Anwalt war sich fast sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben – in einer anderen Umgebung und nicht in dieser eleganten Haltung wie hier mit seiner Mutter. Auf jener anderen Fotografie hatte er weit spärlicher bekleidet, ja, in seiner Nacktheit erotisch posiert, und die mit ihm abgelichtete Person war ein kleiner Junge mit schmaler Brust von allenfalls fünf, sechs Jahren gewesen.
Coniston redete. Rathbone wandte sich zu ihm um und wartete darauf, wieder das Wort ergreifen zu können. Er fühlte sich auf einmal benommen und schwindlig; um ihn herum wankten die Wände.
Coniston stockte und blickte ihn besorgt an. »Fehlt Ihnen etwas?«
»Nein, nein«, log Rathbone. »Danke, aber ich … habe nichts.«
»Dann werden Sie am Montagvormittag Ihr Schlussplädoyer halten«, erklärte Pendock steif.
»Sehr wohl … Mylord«, murmelte Rathbone. »Ich … werde kommen.«
Damit war er entlassen. Noch einmal schielte er auf die Fotografie in ihrem kunstvollen silbernen Rahmen, dann entschuldigte er sich und stolperte hinaus. Zurückblieben Coniston und der Richter.
Benommen kehrte Rathbone nach Hause zurück. Der Hansom hätte ihn überallhin fahren können, ohne dass er es gemerkt hätte. Als sie vor seiner Haustür anhielten, musste der Kutscher ihn mit einem Zuruf daran erinnern. Er stieg aus, bezahlte den Mann und erklomm die Stufen zur Vordertür. Mit Ardmore, der ihm öffnete, sprach er nur kurz, um sich zu bedanken und ihn zu bitten, keinen Besucher vorzulassen.
»Dinner, Sir?«, fragte der Butler einigermaßen besorgt.
Rathbone zwang sich zu etwas mehr Höflichkeit. Das hatte der Mann zweifellos verdient. »Eher nicht, vielen Dank. Aber falls ich es mir anders überlege, werde ich gern um ein paar Sandwiches oder eine Scheibe Kuchen bitten – was Mrs Wilton gerade vorrätig hat. Und in ein, zwei Stunden werde ich mir ein Glas Brandy genehmigen. Ich muss nachdenken. Zwar rechne ich nicht mit Besuch, aber falls doch jemand kommt, kann ich ihn nicht empfangen, außer es ist Mr Monk.«
Seine Worte vermochten Ardmore keineswegs zu beruhigen. »Fehlt Ihnen wirklich nichts, Sir Oliver? Sind Sie sicher, dass ich sonst nichts für Sie tun kann?«
»Danke, Ardmore, aber mir fehlt wirklich nichts. Ich muss eine wichtige Entscheidung zu diesem Fall treffen. Da brauche ich Zeit, um die richtige Lösung für eine Frau zu finden, die eines Mordes angeklagt ist, den sie nicht begangen hat. Zumindest glaube ich das. Dann geht es um die Frau, die auf extrem brutale Weise umgebracht wurde, womit meiner Meinung nach eine bestimmte Absicht verfolgt wurde. Außerdem um einen oder mehrere Männer, die diese Verbrechen verübt haben, und schließlich steht ein größeres Ganzes auf dem Spiel, nämlich die Rechtsprechung im Allgemeinen.«
»Sehr wohl, Sir.« Ardmore blinzelte. »Ich werde darauf achten, dass Sie nicht gestört werden.«
Fast eine ganze Stunde lang grübelte Rathbone darüber nach, ob er sich überhaupt vergewissern wollte, dass der junge Mann auf Ballingers Fotografie Pendocks Sohn war. Wenn er darauf verzichtete, sie zu verwenden, brauchte seine Identität gar nicht erst geklärt zu werden.
Handelte es sich aber tatsächlich um Hadley Pendock, stellte sich die Frage, wie er das Bild benutzen sollte. Gewiss nicht, um ein bestimmtes Urteil zu erzwingen. Für Rathbone stand unverrückbar fest, dass das ein unverzeihliches Unrecht wäre. Andererseits hatte Grover Pendock während des gesamten Prozesses in allen wichtigen Punkten gegen Dinah entschieden. Und jetzt versuchte er, die ganze Sache zu beenden, bevor Agatha Nisbet die Gelegenheit bekam auszusagen. Selbst wenn sie am Montag doch noch vor Gericht erschien, würde man ihr nicht gestatten, irgendetwas zu sagen, womit Herne, Bawtry oder sonst jemand bloßgestellt werden konnte, der die Morde an Joel Lambourn, Zenia Gadney und indirekt auch an Dinah Lambourn in Auftrag gegeben hatte.
Das durfte er nicht zulassen!
Es klopfte.
»Herein?«, rief er, verwundert, weil er tatsächlich froh über die Störung war, die er sich ausdrücklich verbeten hatte.
Ardmore trat ein. Er balancierte ein Tablett, beladen mit Roastbeef-Sandwiches und Mrs Wiltons köstlichen süßsauren Essiggurken in einer kleinen Schale. Ferner waren ein Stück Obstkuchen und ein Glas Brandy dabei.
»Für den Fall, dass Ihnen danach sein sollte«, kommentierte der Butler und stellte das Tablett auf dem Tisch neben Rathbone ab. »Möchten Sie vielleicht auch eine Tasse Tee? Oder Kaffee?«
»Nein, danke. Das hier ist wunderbar. Richten Sie doch bitte Mrs Wilton aus, dass ich für ihre Aufmerksamkeit sehr dankbar bin. Für Ihre übrigens auch. Sie können sich jetzt zurückziehen. Ich werde Sie heute nicht mehr benötigen.«
»Sehr wohl, Sir. Danke, Sir.« Ardmore verließ das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Auf dem Steinboden der Vorhalle entfernten sich seine Schritte in Richtung Küche.
Er griff nach dem ersten Sandwich. Ein paar Minuten Pause vom Grübeln taten ihm gut, und auf einmal merkte er, wie hungrig er war. Das Sandwich war frisch, und die Essiggurken schmeckten köstlich. Er verzehrte eines, dann noch eines und schließlich ein drittes.
Hatte sich Arthur Ballinger am Anfang seiner Laufbahn als das gesehen und empfunden, was er tatsächlich geworden war: ein schmutziges Werkzeug bei der Rettung eines unschuldigen Menschen? Von welchem Nutzen war ein Anwalt, wenn er sich mehr um seine Ruhe vor moralischen Skrupeln sorgte als um das Leben seines Mandanten? Falls Rathbone die Fotografie von Hadley Pendock benutzte – vorausgesetzt, er war es tatsächlich –, würde er sich danach schmutzig fühlen. Richter Pendock würde ihn hassen. Natürlich würde er niemandem verraten, welchen Mittels Rathbone sich bedient hatte, doch vielleicht würde er keinen Hehl daraus machen, dass es in der Tat ungewöhnlich war und gewiss nichts, wozu ein Gentleman sich hergeben, geschweige denn es als Waffe benutzen würde, um andere zu schädigen. Er würde für sich behalten, dass Rathbone es nur deshalb hatte verwenden können, weil Pendocks Sohn schutz- und obdachlose Kinder verführt oder vergewaltigt hatte.
Doch wenn er darauf verzichtete und Dinah Lambourn gehängt wurde, wie würde er sich dann fühlen? Was würden Monk und Hester von ihm halten? Und – wichtiger noch – wie würde er von sich denken?
Würde er je wieder für etwas kämpfen, nachdem er sich seiner Verantwortung entzogen hatte? Konnte irgendetwas das noch entschuldigen?
Wie auch immer, ob er die Fotografien nun verwendete oder nicht, was wurde dann aus ihm selbst?
Ein biederer, moralisch einwandfreier Feigling, der sich fügte, während eine unschuldige Frau den Gang zum Galgen antrat? Ein unbescholtener Mann, der sein restliches Leben lang von Alpträumen verfolgt werden würde, wenn er allein in einem stillen Haus in seinem prächtigen Bett lag?
Oder ein Mann, der sich die Hände mit Erpressung beschmutzt hatte, um einen schwachen Richter zu Ehrlichkeit zu zwingen?
Er aß das letzte Sandwich auf, verspeiste den Kuchen und trank den Brandy bis zum letzten Tropfen. Am Montag würde er einen Schritt wagen, der sein Leben verändern würde – und vielleicht auch das von Dinah und demjenigen, der Lambourn und Zenia Gadney ermordet hatte.
Er stand auf und lief zum Tresor hinüber, in dem er Arthur Ballingers Fotografien verwahrt hatte. Eines Tages würde er einen besseren Ort dafür finden müssen, aber nicht heute, und fürs Erste war er froh, dass er sie noch bei sich hatte.
Er entriegelte den Panzerschrank und nahm die Schachtel heraus. Als er sie öffnete, verspürte er, da er seine Entscheidung nun getroffen hatte, Ruhe in sich. Eine nach der anderen betrachtete er die Fotografien. Ihre Grobheit widerte ihn an, aber noch mehr quälten ihn ihre Grausamkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber der Erniedrigung und dem Schmerz der Kinder.
Und da war es. Es war dasselbe Gesicht wie dasjenige in Pendocks silbern eingerahmter Fotografie. Und am unteren Rand des Bildes vor ihm stand in Ballingers Handschrift der Name »Hadley Pendock«, zusammen mit dem Ort und dem Datum der Aufnahme.
Rathbone legte das Bild zurück, machte einen Vermerk in seinem Tagebuch, verschloss die Truhe und verwahrte sie erneut im Tresor.
Er wusste, was er am Montag vor der Wiederaufnahme des Prozesses tun musste, wie schwer auch immer es ihm fiel, wie schmerzhaft und abstoßend es auch immer war. Die Scham schmeckte bitter, doch das war eine Kleinigkeit im Vergleich zur Schlinge des Henkers.