19

Am Nachmittag desselben Sonntags stand Monk am Kai im Wind und sah zu, wie die Fähre an den Stufen anlegte und gleich darauf Runcorn mit staksigen Bewegungen an Land kletterte. Wegen der Sturzgefahr auf den feuchten, schlüpfrigen Steinen war äußerste Vorsicht geboten. Runcorn wirkte müde und durchgefroren, doch oben angekommen, trat er zügig auf Monk zu.

Sein Kollege begrüßte ihn mit einem knappen Nicken, dann stapften sie, den Kopf wegen Kälte und Wind eingezogen, zur Wache der Wasserpolizei. Sie kannten einander zu gut, um auf unnötige Höflichkeitsfloskeln angewiesen zu sein.

Auf der Wache begaben sie sich sogleich in Monks Büro, in das ihnen einen Moment später ein Constable Tee brachte. Monk dankte ihm, und sobald sie allein waren, nahmen er und Runcorn einander gegenüber am Schreibtisch Platz. Dort lag eine kurze Mitteilung von Rathbone. Monk überflog sie und reichte sie Runcorn. Sie enthielt Nachrichten über den Stand des Prozesses, seine persönliche Einschätzung und ein paar Worte über seinen Besuch bei Barclay Herne.

Runcorn blickte auf, seine Miene noch grimmiger als zuvor. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto fraglicher erscheint mir, dass Lambourn sich umgebracht hat«, stieß er hervor. »Am Anfang sah die Sache eindeutig aus, und die Leute von der Regierung waren sich absolut sicher.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe ihnen geglaubt. Mir ging es nur um die Witwe und die Töchter. Ich wollte es nicht noch schlimmer für sie machen und ihnen nicht mehr als das unbedingt Notwendige zumuten. Dabei war ich früher doch gar nicht so … sentimental!« Das letzte Wort stieß er voller Abscheu hervor.

Widerspruch, der in diesem Fall Trost bedeutet hätte, lag Monk auf der Zunge, doch das hätte nur gönnerhaft gewirkt. Hätte jemand ihn mit gut gemeinten Worten beschwichtigt, hätte er keine Hilfe darin gefunden, sondern sich in seiner Auffassung bestätigt gesehen, dass solche Formeln einen komplexen Sachverhalt wie diesen einfach nicht erfassten.

»Ich bin ja auch nicht besser«, meinte er mit einem schiefen Grinsen. »Wenn Dinah schlicht und schüchtern gewesen wäre, wäre ich vielleicht ihretwegen nicht zu Rathbone gegangen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihren Fall nicht angenommen hätte.«

Ein düsteres Lächeln huschte über Runcorns Lippen. »Wie ich das sehe, hat Lambourn die Wahrheit über das Opium gesagt. Vor allem über die Schäden, die es ohne korrekte Beschriftung anrichtet. Wahrscheinlich muss die Information wirklich klar und verständlich sein. Aber viele Menschen können nicht lesen. Sie werden auf Bilder angewiesen sein. Das kostet Geld. Andererseits glaube ich nicht, dass diejenigen, die dieses Zeug importieren, einen Menschen wegen solcher Forderungen umbringen.«

Sein Gesicht nahm einen fast gequälten Ausdruck an. »Und ich muss akzeptieren, dass das, was wir in China getan haben, entsetzlich war, ein Verrat an all den Werten, von denen die meisten von uns glauben, dass wir dafür einstehen. Gerade in dieser Hinsicht betrachten wir uns als zivilisiert, ja als Christen. Doch anscheinend brauchen wir nur außerhalb der Sichtweite der Heimat zu sein, und schon werden zumindest ein paar von uns zu verdammten Wilden. Aber hätte jemand Lambourn umgebracht, weil er das wusste? Wir alle kennen doch zumindest einen Teil der Wahrheit.« Er seufzte. »Und wer immer diese arme Frau ermordete, ist für meine Begriffe ein Wilder.«

Monk waren ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Doch er sah nun auch jenes Element, das Hester erwähnt hatte – die verzweifelte Abhängigkeit von Opium bei denjenigen, die erst wegen Schmerzen und dann aufgrund ihrer Sucht in die Klauen dieses Gifts geraten waren. »Ich würde gern genauer über Lambourns Aktivitäten kurz vor seinem Tod Bescheid wissen.«

Runcorn verstand sofort. »Sie meinen: Was hat er erfahren, dass es jemanden dazu provozierte, ihn umzubringen? Mit wem hat er gesprochen? Woher wusste diese Person, dass er etwas Bestimmtes herausgefunden hatte?«

»Richtig. Was, zum Henker, war das nur? Was könnte irgendjemanden hier in London in Gefahr bringen? Was hatte Lambourn entdecken und dann auch beweisen können? Auf den Beweis kommt es an. Es muss etwas Persönliches sein. Etwas, das zu wertvoll ist, als dass man es verlieren darf, wenn ein Mensch deswegen bis zum Äußersten geht und zum Mörder wird.«

»Es hat zahllose barbarische Verbrechen gegeben«, stieß Runcorn bitter hervor. »Ich habe gehört, dass jetzt über zwölf Millionen Chinesen opiumsüchtig sind.« Er sah Monk fest in die Augen. »Haben Sie hier jemals so etwas gesehen? Ich meine, Opiumhöhlen? Schmutzige Häuser in Seitengassen, wo Menschen auf Pritschen aneinandergedrängt liegen wie die Waren im Laderaum eines Schiffs und das Zeug rauchen. In diesen Spelunken kann man kaum noch die Wände sehen, so dicht ist der Qualm! Und sie liegen einfach da! Wissen die meiste Zeit gar nicht mehr, wo sie sind. Wie lebende Tote.« Er erschauerte.

»Ich weiß«, bestätigte Monk leise. Auch er hatte diese Szenen gesehen, wenn auch nicht allzu oft. »Ich könnte das ja verstehen, wenn ein Chinese hierherkäme und Hunderte von uns tötete, vor allem die Familien, die ihr Vermögen damit verdient haben. Aber warum Lambourn? Der war doch auch gegen Opium – sogar in der Medizin, wenn die Informationen mangelhaft waren.«

Runcorn nickte. »Richtig, das kann es nicht gewesen sein. Er muss etwas anderes entdeckt haben. Aber was?« Er massierte sich nachdenklich das Gesicht. Dabei entstand ein Geräusch, als hätte er beim Rasieren im kalten Morgenlicht einige Stoppeln übersehen.

»Wir sollten seinen Weg zurückverfolgen, so weit das möglich ist. Das hätte ich schon damals tun sollen. Aber ich hatte den Leuten von der Regierung geglaubt, als sie mir sagten, das hätte an der Ablehnung seiner Studie gelegen.«

»Gladstone hat noch nicht mit Neuigkeiten über die Untersuchung von sich hören lassen«, brummte Monk. »Wem hat Lambourn sie eigentlich gegeben?«

»Seinem Schwager, Barclay Herne«, antwortete Runcorn. »Der hat mir gesagt, er hätte sie weitergereicht, später wieder zurückerhalten und zerstört.«

»Was zutreffen kann, aber nicht muss«, kommentierte Monk.

»Ohne Erlaubnis von höherer Stelle kann er sie aber nicht vernichtet haben«, gab Runcorn zu bedenken. »Ansonsten hätte er eigenmächtig gehandelt und sie schuldhaft unterdrückt.«

»Vielleicht hat er all die Stellen geschwärzt, die für ihn problematisch waren«, überlegte Monk laut, halb im Selbstgespräch. Doch schon während er das sagte, befielen ihn Zweifel.

Runcorn warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Wieso hätte Lambourn Dinge in seine Untersuchung aufnehmen sollen, die nichts mit der Etikettierung von Opium zu tun hatten? Das und die möglichen Gesundheitsschäden bei fehlerhaften Angaben waren doch das Thema. Selbst wenn Hester mit diesen Nadeln und der Sucht recht hat, wird das vom Arzneimittelgesetz überhaupt nicht berührt.«

Monk gab keine Antwort. Runcorn hatte recht, und das wussten sie beide.

Sie tranken ihren Tee aus und verfielen in Schweigen.

Doch plötzlich hatte Monk einen Gedankenblitz.

»Vielleicht haben sie die Untersuchung gerade deswegen vernichtet, weil nichts daran auszusetzen war!«

Runcorn blickte ihn verständnislos an.

Monk beugte sich aufgeregt vor. »Sie enthielt nichts, was irgendjemanden schädigte, nichts, was keinen Sinn ergab. Lambourn wusste von der Opiumsucht, und er kannte die Namen derer, die sie ausnutzten, aber er nahm das nicht in sein Werk auf, weil es für das Thema nicht relevant war. Es war Lambourn selbst, den sie zerstören mussten, damit er mit niemandem darüber sprechen konnte!«

»Ah!« Endlich ging Runcorn ein Licht auf. »Sie mussten ihn hinreichend diskreditieren, um Selbstmord verständlich erscheinen zu lassen. Gott im Himmel, was für eine elende Niedertracht! Den Ruf des Mannes ruinieren, damit man ihn umbringen und das als Selbstmord hinstellen kann!« Er schlug sich die Hand an die Stirn und raufte sich die kurzen, dichten Haare. »Kein Wunder, dass Dinah sich so hilflos fühlt. Und wahrscheinlich hat sie nicht den Schimmer einer Ahnung, wer das sein könnte. Lambourn dürfte ihr, allein schon um ihrer Sicherheit willen, nichts gesagt haben.«

Monk nickte aufgeregt. »Richtig. Er muss im Laufe seiner Erhebungen darauf gestoßen sein, weil …« Er holte tief Luft und ließ sie mit einem Seufzer entweichen. »Im Grunde besteht nur über eines Gewissheit: Er hat es erst sehr spät herausgefunden, so spät, dass ihm keine Zeit blieb, etwas zu unternehmen, bevor er ermordet wurde. Seine Untersuchung muss ihn darauf gebracht haben. Und die Leute, denen er seine Ergebnisse präsentierte, stehen damit in irgendeinem Zusammenhang, denn sie haben sie unterdrückt.«

»Wir müssen genau nachvollziehen, was er in der letzten Woche seines Lebens getan hat, wo er überall war, mit wem er gesprochen hat«, sagte Runcorn. »Können Sie den einen oder anderen von Ihren Männern vom normalen Dienst abziehen? Wir haben nicht viel Zeit, höchstens ein paar Tage. Und dann ist morgen auch noch Heiligabend! Kann Rathbone bis nach Weihnachten durchhalten?«

»Ihm wird nichts anderes übrig bleiben!« Monk stöhnte. »Das Ärgerliche ist nur, dass der Verkauf von Opium nicht verboten ist, egal, ob mit oder ohne Nadeln. Selbst wenn wir den großen Unbekannten enttarnen, kann ihm das Gesetz nichts anhaben.«

Runcorn runzelte nachdenklich die Stirn. »Das kommt ganz darauf an, was er alles treibt. Es ist keine Kleinigkeit, Waren zu verkaufen, an denen ein verzweifelter Bedarf besteht, vor allem dann nicht, wenn die Abnehmer sie nicht jedes Mal bezahlen können.« Die Augen überschattet, den Mund zu einem dünnen Strich zusammengepresst, blickte er Monk eindringlich an.

Sein Kollege nickte langsam. »Wir müssen noch sehr viel mehr darüber erfahren. Und vor allem brauchen wir Klarheit darüber, ob wir auf der richtigen Fährte sind.«

»Hester?«, sagte Runcorn in fragendem Ton, fast so, als wagte er es nicht, sie ins Spiel zu bringen.

Monk erwiderte seinen Blick. »Vielleicht.« Dann stand er auf und ging zur Tür. »Ich hole Orme. Wir fangen sofort an.«

Runcorn erhob sich ebenfalls. »Ich habe auch zwei Männer, denen ich trauen kann. Ich brauche sie ja nur für die Details. Sie können bei Lambourns Bediensteten Daten und Uhrzeiten erfragen. Und vielleicht geraten wir an einen Fährmann, der uns helfen kann. Lambourn hat wahrscheinlich jedes Mal dieselben Fähren benutzt. Die meisten von uns sind Gewohnheitstiere. Das macht es einem leichter, wenn schon sonst nichts.«

Zwei Stunden später hatten Monk, seine Männer und Runcorn mehrere Blätter mit all dem vollgeschrieben, was sie bereits über Lambourns letzte Tage wussten. Als Grundlage dienten ihnen Runcorns Aufzeichnungen über seine eigenen Ermittlungen und das, was Hester Monk über ihre Besuche bei Agatha Nisbet und anderen Verkäufern opiathaltiger Medikamente erzählt hatte. Jetzt ging es ihnen darum, die Zeitangaben genauer zu erfassen, in der Hoffnung, auf die Nadel im Heuhaufen zu stoßen, das eine Element, das nicht zu den anderen passte und das der Grund für Lambourns Ermordung gewesen war.

Monk schob seinen Stuhl zurück und streckte sich. Vom Grübeln über den Blättern war er schon ganz steif und hatte Schmerzen im Rücken und im Nacken.

»Orme, können Sie noch einmal die Fährschiffer vernehmen? Sie werden schon mit Ihnen sprechen, wenn Sie ihnen die Hin- und Rückfahrt oder von mir aus auch das Stillstehen bezahlen müssen.« Er fletschte die Zähne zu einem grimmigen Grinsen. »Dürfte leicht verdientes Geld sein: ein Mal nicht den Rücken für ein paar Pence krumm zu machen, sondern sich einfach an den Rudern auszuruhen und im Gedächtnis zu kramen.« Er wandte sich an einen der anderen Polizisten. »Und Sie überprüfen, ob Lambourn irgendwann in den Opiumhöhlen von Limehouse war. Ich bezweifle das zwar, weil uns wahrscheinlich längst alle Informationen über ihn vorliegen, aber wir brauchen Gewissheit.«

»Jawohl, Sir. Soll ich’s auch auf der Isle of Dogs versuchen? Dort gibt es eine ganze Reihe von Spelunken.«

»Gute Idee. Dann wissen wir, ob er irgendwann dort war und herumgeschnüffelt hat. Wenn er etwas herausgefunden hätte, wäre er zurückgekehrt, um sich zu vergewissern. Und dann hätte er versucht, sich die Händler herauszugreifen.«

Er warf Runcorn einen fragenden Blick zu. Früher hatte er in Momenten wie diesem auch ihm Befehle erteilt. Damals hatte es stets einen kurzen Machtkampf gegeben, bei dem jeder eifersüchtig sein Territorium verteidigt hatte. Jetzt verkniff er sich die Worte und wartete. Er bemerkte ein anerkennendes Aufblitzen in Runcorns Augen und ein deutliches Nachlassen seiner Anspannung.

»Ich gehe noch einmal in Lambourns Haus und vernehme das Personal«, versprach Runcorn ruhig. »Der Diener wird wissen, zu welchen Zeiten er kam und ging. Und die Köchin wohl auch. Als ich damals mit ihnen redete, hielten sie eisern zu ihm und schwiegen. Diesmal werden sie helfen, wenn sie begreifen, dass es darum geht zu beweisen, dass es Mord und kein Selbstmord war. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, ihnen keine Worte in den Mund zu legen.« Er sah Monk offen in die Augen.

Dieser nahm die Veränderung zwischen ihnen beiden mit einem flüchtigen Lächeln zur Kenntnis. »Und ich nehme mir diese Agatha Nisbet vor, von der mir Hester erzählt hat. Ich will von ihr erfahren, was Lambourn ihr gesagt hat und was sie sonst noch alles über ihn weiß.«

»Sehr schön. Wann tauschen wir unsere Ergebnisse aus?«

»Wieder hier, heute Abend um neun?«

»In meinem Haus und um zehn«, widersprach Runcorn. »Sie können es von hier aus zu Fuß erreichen. Früher werden wir heute ohnehin nicht fertig. Rathbone wird den Prozess nicht länger als zwei Tage nach Weihnachten hinausziehen können. Das verschafft uns sechs Tage, um noch etwas zu finden.«

Monk nickte. »Klingt vernünftig. Aber nehmen wir mein Haus. In der Küche. Punsch und etwas zu essen.« Er blickte Orme an.

»Gerne, Sir!«, rief dieser. »Taylor auch?«

»Natürlich«, antwortete Monk. »Paradise Place, Rotherhithe.«

Taylor strahlte, als hätte er eine Auszeichnung erhalten. »Jawohl, Sir, das kenn ich!«

Monk benötigte eine Stunde, um die behelfsmäßige Klinik zu finden, die ihm Hester beschrieben hatte. Doch sehr viel länger musste er sich gedulden, bis Agatha so freundlich war, sich mit ihm in ihr winziges Büro zu setzen und seine Fragen zu beantworten.

Sie war ungefähr so groß wie er, aber viel massiver. Er konnte sich gut vorstellen, dass er sich sehr schnell von ihr würde einschüchtern lassen. Doch als er ihr in die Augen sah, bemerkte er die Freundlichkeit und Intelligenz, die Hester erwähnt hatte.

»Was woll’n Sie?«, fragte sie grob. »Ich hab der Wasserpolizei nix zu sagen.«

Wenn überhaupt eine Chance auf ihre Kooperation bestand, wäre es vorbei damit, sobald sie eine Lüge witterte. Monk beschloss darum, genauso direkt zu sein, wie er das von ihr erwartete.

»Ich versuche, den Mord an einem guten Mann zu klären, bevor seine Frau deswegen verurteilt und gehängt wird. Oder, genauer gesagt: bevor sie wegen eines anderen Mordes verurteilt wird, der von denselben Personen verübt wurde, die auch das erste Opfer auf dem Gewissen haben. Ich glaube, dass dieser Mann, ein Arzt, umgebracht wurde, weil er etwas Schlimmes über jemanden herausgefunden hatte, der am Handel mit Opium beteiligt ist und jeden vernichten wird, der darüber Bescheid weiß und ihn anklagen könnte.«

Plötzlich schlug ihre Langeweile in Interesse um. »Das müssten Dr. Lambourn und das arme Ding sein, das sie drüben am Limehouse Pier aufgeschlitzt haben. Und wenn es nich’ die Frau des Arztes is’, die sie umgebracht hat, wer war’s dann?« Ihre klaren Augen bohrten sich in die von Monk, und er bemerkte, dass sich ihre großen Hände zu Fäusten geballt hatten.

»Ja«, bestätigte er. »Als Dr. Lambourn Nachforschungen über Opium anstellte, stieß er zufällig auf ein paar andere Dinge. Eines davon war für eine bestimmte Person so gefährlich, dass derjenige Lambourns Ruf als Wissenschaftler in Misskredit brachte, ihn ermordete und dann seinen Tod wie Selbstmord aussehen ließ. Auf diese Weise wollte derjenige dafür sorgen, dass mit ihm auch das Geheimnis beerdigt wurde.«

Agatha wartete, unbeweglich wie ein Berg, und beobachtete ihn.

»Ich glaube, dass er das in der letzten Woche seines Lebens herausfand«, fuhr Monk fort. »Und jetzt folge ich seinen Spuren, so dicht ich nur kann.«

»Seien Sie bloß leise dabei«, riet sie ihm mit einem Anflug von schwarzem Humor. »Sie wollen doch nich’ auch noch mit aufgeschlitzter Kehle oder noch übler zugerichtet im Fluss gefunden werden.«

»Ich sehe, dass Sie vollkommen verstanden haben. Was hoffte Lambourn, von Ihnen zu erfahren, und was haben Sie ihm gesagt?« Er überlegte, ob er noch etwas über ihre Sicherheit hinzufügen sollte, sagte sich dann aber, dass ihr Schutz anzubieten einer Beleidigung gleichkäme. Sie musste so gut wie er wissen, dass Schutz einfach nicht möglich war.

»Opium«, murmelte sie nachdenklich. »Vieles von dem, was damit zusammenhängt, is’ wirklich nich’ schön.«

»Zum Beispiel?«, fragte Monk. »Diebstahl? Es mit schlechten Ersatzstoffen zu strecken und auf diese Weise unrein zu machen? Schmuggel gibt es nicht. Es kommt absolut legal ins Land. Was ist es wert, jemanden deswegen zu ermorden?«

»Man kann töten, um einen Markt zu beherrschen, egal, welchen!« Sie schnaubte voller Abscheu. »Bäcker und Fischhändler tun das! Auch vom Fleischmarkt wollen sich alle möglichen Leute ’ne Scheibe abschneiden und sich im Geschäft halten!«

»Hat sich Lambourn bei Ihnen danach erkundigt?«

Ihre Züge spannten sich an. »Ich hab meine eigenen Wege, um an Opium ranzukommen – an reines. Ich wende es gegen Schmerzen an, aber nich’ bei irgendwelchen reichen Dummköpfen, die vor ihren Schwierigkeiten fliehen wollen. Das hab ich ihm gesagt.«

»Warum dann der Aufwand mit Dr. Lambourns Ermordung? Verraten Sie mir das, Mrs Nisbet!«, drängte Monk. »Er war ein guter Mensch, ein Arzt, der sich dafür einsetzte, dass Medikamente korrekt gekennzeichnet wurden, damit die Leute sich nicht mehr versehentlich selbst umbrachten. Man hat erst ihn ermordet, um ihn zum Schweigen zu bringen, und dann seine Frau abgeschlachtet, um seine zweite Frau dafür hängen zu lassen. Was immer es ist, das er entdeckt hat, es ist viel schlimmer als die Gaunereien, die ich am Hafen mitbekomme. Diese Banditen können nicht ganz London umbringen.«

Agatha Nisbet nickte bedächtig. »Es gibt tatsächlich Schlimmeres als Diebstahl. Schleichendes Gift, zum Beispiel. Es hat gute Männer auf dem Gewissen, die jetzt in einer Art lebendem Tod dahinvegetieren, der grauenhafter is’ als das Grab. Opium hat eine gewaltige Macht. Wie das Feuer. Das wärmt den Kamin – oder es brennt das ganze Haus nieder.«

Monk war bewusst, dass sie ihn scharf beobachtete. Nichts würde ihr entgehen, weder das kleinste Zucken in seinem Gesicht noch die winzigste Bewegung seiner Augen. Einen kurzen Moment fragte er sich, was diese Frau gesehen und getan haben mochte; was das Leben ihr verwehrt hatte, dass sie diesen Weg gewählt hatte. Dann wandte er sich wieder der Gegenwart zu.

»Das Grauen, das ich gesehen habe, ist eher gewöhnlicher Natur«, erklärte er vorsichtig, denn ihm war klar, dass sie erst fortfahren würde, wenn er ihre Arbeit irgendwie gewürdigt hatte. »Hier eine Frau, die vergewaltigt und totgeschlagen wurde, dort ein Mann, den man abgestochen hat, oder ausgemergelte Kinder, die misshandelt und gequält wurden. Das alles hat es schon mal gegeben, und es wird wieder geschehen. Das Beste, was ich erreichen kann, ist, dass es weniger oft passiert. Aber was wissen Sie über diese Sache, die ganz London ins Unglück stürzen wird?«

Agathas Miene wurde jäh düster und hart. »Mord«, sagte sie leise. »Am Ende läuft alles auf Mord hinaus, oder? Mord wegen Geld. Mord für Schweigen. Mord für Träume, für Frieden statt rasenden Schmerzen, Mord für ’ne Nadel und ’ne Tüte mit weißem Pulver.«

Monk schwieg. Jenseits der Tür hörte er schnelle, leichte Schritte, und von weiter hinten vernahm er das Stöhnen von jemandem. Kein Knarzen von Bettfedern, nur das Rascheln von Strohsäcken auf dem Boden.

»Wer?«, fragte er schließlich. »Wer war es, den Lambourn enttarnt hat?«

»Das weiß ich nich’«, antwortete Agatha nach kurzem Zögern. »Und ich will’s nich’ wissen, weil ich ihn sonst umbringen müsste.«

Monk hatte keinen Zweifel daran, dass sie das tun würde. Was seine eigene Moral betraf, war er im Zwiespalt, denn womöglich empfand er genauso wie sie. Er lächelte sie an.

Sie erwiderte sein Lächeln und ließ dabei ihre weißen Zähne aufblitzen. »Sie sind ein komischer Heiliger, was?«, stellte sie neugierig fest. »Wenn Sie den Scheißkerl erwischen, dann knüpfen Sie bitte seinen Strick in meinem Namen besonders fest, ja? Der Mann, den er zerstört hat, war ein guter Mensch, und es gibt weiß Gott nich’ so viele von der Sorte, dass man es sich leisten könnte, auch nur einen zu verlieren.« Sie sprach mit rauer Stimme, als hätte sie ihre Tränen schon so lange unterdrückt, dass ihr die Kehle davon schmerzte.

»Das werde ich«, versprach Monk, ohne zu zögern. »Sobald ich ihn kriege.«

»Es heißt, Lambourn hätte sich die Pulsadern geöffnet?«, fragte Agatha, die Augen auf Monk gerichtet.

»Ja.«

»Aber das hat er nich’?« Ihre Stimme war fest und verriet keine Spur von Zweifel.

»Meiner Meinung nach nicht«, antwortete Monk ruhig. Er wollte keine absolute Sicherheit vortäuschen.

»Er hatte ein besseres Ende als manche andere, aber trotzdem hätte das nich’ passieren dürfen.«

»Nach welcher Art von Person muss ich fahnden?«, fragte Monk. »Können Sie mir irgendwelche Anhaltspunkte geben?«

Sie stieß ein angewidertes Schnauben aus. »Wenn ich das wüsste, würd ich ihn selber packen. Einer, der unauffällig is’, der aussieht, als könnte er Opium und Kornblumen nich’ voneinander unterscheiden. Jemand mit reiner Weste und guten Manieren, der nie mit eigenen Augen gesehen hat, was mit denjenigen geschieht, die sich dieses Zeug in die Venen spritzen und ohne Wiederkehr in den Wahnsinn reisen. Aber hin und wieder dürfen Leute wie ich erleben, wie solche Kerle hinter Gittern zu uns rausschauen.«

Lange schwieg Monk, dann erhob er sich. »Danke.« Damit wandte er sich zur Tür und ging hinaus.

Aufgewühlt von Agatha Nisbets Worten, kehrte Monk nach Wapping zurück. Er suchte also einen Mann, der seine Gewinne nicht dem Verkauf von Opium allein verdankte, sondern Opium zusammen mit Nadeln, einer Kombination, die binnen Wochen oder sogar Tagen eine tödliche Sucht auslösen konnte. Das war nicht mehr mit den üblichen Haushaltsheilmitteln zu vergleichen, wie sie jeder kaufen konnte. Und auch nicht mit der Gepflogenheit der Chinesen, Opium in der Pfeife zu rauchen.

Monk stand nun vor zweierlei Problemen. Zunächst musste er den Mann aufspüren. Aber selbst wenn er ihn zu fassen bekam, wären ihm dann nicht die Hände gebunden? Etwas derart Verdammenswertes zu verkaufen mochte eine Todsünde sein, doch es stellte keinen Gesetzesbruch dar. Es sei denn, natürlich, er hatte auch bei Lambourns und Zenia Gadneys Ermordung die Hände im Spiel gehabt.

Aber selbst wenn Joel Lambourn hinter sein Geheimnis gekommen war, wozu hätte dieser Mann ihn umbringen sollen, wenn man ihm nichts anhaben konnte? Was konnte er getan haben, dass er deswegen dann doch zum Äußersten gegriffen hatte? Und was ließ sich beweisen?

Das alles war immer noch ein undurchdringliches Wirrwarr.

Zurück in seinem Büro, studierte Monk noch einmal sämtliche Informationen, die ihm über die mit der Untersuchung zum Arzneimittelgesetz befassten Personen vorlagen, und erstellte eine Liste all derer, die mit Joel Lambourn in Verbindung gestanden hatten. Später würde er sie mit den Ergebnissen von Runcorns Recherchen über Lambourns Bewegungen in den letzten Tagen seines Lebens vergleichen müssen.

Natürlich musste die Liste nicht auf direkte Kontakte beschränkt bleiben. Ebenso gut konnte sie auch Personen umfassen, die lediglich in einem Gespräch erwähnt worden waren.

Wer war der Arzt, der Agatha Nisbets Meinung nach dazu verleitet worden war, für den Mann hinter dem Ganzen Opium zusammen mit Nadeln zu verkaufen? Wie konnten sie ihn aufstöbern, und würde er im Falle ihres Erfolgs etwas Brauchbares zu sagen haben? Wahrscheinlich nicht. Ohne sein regelmäßiges reines Opium würde er nicht lange genug leben. Eine falsche Dosierung oder eine zusätzlich hineingemischte Substanz konnte seinen Tod bedeuten. Auch darüber musste Monk unbedingt mehr in Erfahrung bringen. Hester würde ihm sicher helfen können, und Winfarthing würde vielleicht noch mehr wissen.

Wie viel hatte Lambourn gewusst? Das war die nächste große Frage. Auch hier mussten sie ermitteln, mit wem er gesprochen hatte, wo überall er am Ende seines Lebens gewesen war.

Damit war aber immer noch nicht die andere Hälfte des Problems beantwortet: Wer hatte von Lambourns Erkenntnissen erfahren und sein Wissen an den Mann im Hintergrund, den wahren Profiteur, weitergegeben, den Mann, der erst den Forscher und dann Zenia Gadney umgebracht hatte?

Welches war die logische Verbindung zwischen ihnen allen?

Hatte Lambourns Studie die verhängnisvolle Information enthalten, oder diente ihre Vernichtung nur als Ablenkungsmanöver zur Erklärung seines angeblichen Selbstmords? Monk würde seine Bemühungen verdoppeln müssen, wenn er herausfinden wollte, wer die Beseitigung der Studie angeordnet und wer dies ausgeführt hatte. Waren die Verantwortlichen ausdrücklich darin genannt worden? Oder ließen sich die relevanten Informationen aus den Unmengen von Fakten und Zahlen ableiten? Oder war all das womöglich irrelevant? Sie konnten es sich nicht leisten, auch nur eine von diesen Fragen zu ignorieren.

Er würde Runcorn bitten, einen guten Mann damit zu beauftragen, ihre Ergebnisse noch einmal zu überprüfen.

Die Studie war Barclay Herne überreicht worden, der anscheinend Sinden Bawtry berichtet hatte, dass sie zu viele Mängel aufwies, um dem Parlament als Grundlage für die Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes zu dienen.

Wer hatte sie noch gelesen? Wenn niemand infrage kam, konnte nur einer von den beiden der Verkäufer des Opiums sein. War am Ende Herne der Mörder seines Schwagers? Bawtry war im Athenäum gewesen, wie mindestens ein Dutzend Personen bezeugt hatten.

Aber der Opiumhändler hatte doch sicher noch andere an der Hand, die für ihn arbeiteten. Dazu konnte durchaus dieser ominöse Arzt gehören, der früher laut Agatha Nisbet ein anständiger Mann gewesen war. Wie konnte er, Monk, ihn ausfindig machen? Und wie schnell?

Wie viele Tage blieben ihm noch, bis der Prozess beendet wurde und es für weitere Erkenntnisse zu spät war?

Monk sandte Nachrichten an Runcorn, Orme und seinen anderen Helfer, Taylor. Fast auf den Schlag um zehn Uhr saßen sie alle um den Küchentisch, an dem normalerweise gegessen wurde. Einen fünften Stuhl hatte Hester für sich aus Scuffs Zimmer geholt, ohne den schlafenden Jungen zu wecken.

Der Herd wärmte den ganzen Raum, in dem es nach frischem Brot, geschrubbtem Holz und sauberer Wäsche roch.

Bei Tee und Toast mit Butter hatte Monk ihnen berichtet, was er von Agatha Nisbet erfahren hatte, und dabei betont, wie wichtig es war, den geheimnisvollen Arzt zu finden. Als niemand etwas dazu bemerkte, schaute er auf und sah, dass Hesters Blick auf ihm ruhte und anhand seiner Miene zu ergründen suchte, was er dachte.

»Hat sie dir noch mehr über diesen Arzt gesagt?«, fragte sie leise. »Irgendetwas – Alter, Erfahrungen, Fähigkeiten, was er jetzt macht?«

»Nein.« Monk seufzte. »Ich glaube, sie wollte ihn schützen. Es muss sie entsetzlich geschmerzt haben, dass er so tief gefallen ist.«

»Opium richtet das bei den Menschen an«, erklärte Hester mit düsterer Miene. »Ich kenne mich nicht wirklich damit aus, aber ich habe das eine oder andere gesehen und gehört. Manchmal muss man es bei schlimmen Verletzungen anwenden, und oft ist es zu brutal, es abzusetzen, vor allem dann, wenn die Wunden nie richtig verheilen.«

Monk musterte sie. Er erkannte den Schmerz, den ihr die Erinnerung an die eigene Hilflosigkeit bereitete. Unwillkürlich strafften sich ihre Schultern und dehnten ihr Kleid, verkrampften sich ihre Nackenmuskeln und schloss sich ihr Mund, sodass ihre Betroffenheit wie eine schlecht verheilte Wunde zum Vorschein kam. Er fragte sich, wie viel mehr als er sie gesehen hatte, welches Grauen sie mit niemandem teilen konnte.

Er griff über den Tisch und berührte ihre Finger, die auf der polierten Holzplatte lagen – ganz kurz nur, dann zog er die Hand wieder weg.

»Weißt du, wo du suchen musst?«, fragte er sie. Es widerstrebte ihm, auch zu Hause als Polizist aufzutreten, doch sie wusste, dass das seine Pflicht war, und würde es ihm verübeln, wenn er bei ihr eine Ausnahme machte, nur um sie zu schonen.

»Ich glaube, ja«, antwortete sie und sah ihm in die Augen. Die anderen Männer am Tisch, die sie schweigend beobachteten, nahm sie in diesem Moment nicht wahr.

»Ich begleite dich«, sagte Monk spontan. »Vielleicht ist er gefährlich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben nicht die Zeit, zwei Leute auf eine Aufgabe anzusetzen. Uns bleiben ja nur noch wenige Tage. Als ich den Mann zuletzt sah, dachte ich nicht daran, dass er selbst süchtig sein könnte. Aber das hätte ich sehen müssen!« Ihre Stimme verriet bittere Selbstkritik, Zorn.

»Du gehst nicht allein«, erklärte Monk, ohne zu zögern. »Wenn das der Mann ist, der Lambourn ermordet und Zenia Gadney zerstückelt hat, würde er nicht lange fackeln und dasselbe auch mit dir machen. Entweder ich komme mit, oder du bleibst hier!«

Ein feines Lächeln huschte über ihre Lippen, als hätte sein Verbot sie amüsiert.

»Hester!«, mahnte er scharf.

»Denk an die anderen Aufgaben, die auch noch zu erledigen sind«, entgegnete sie. »Laut Agatha war dieser Arzt früher ein guter Mensch. Davon werden immer noch einige Reste vorhanden sein, solange ich keine Bedrohung für ihn darstelle.« Sie beugte sich etwas weiter vor, um sich auf diese Weise mehr Autorität zu verschaffen. »Wir müssen wissen, wer ihn benutzt. Das ist derjenige, der Lambourn und Zenia Gadney ermordet hat – oder hat umbringen lassen. Den Arzt können wir uns vornehmen, nachdem wir Dinah entlastet haben. Vorher reicht die Zeit einfach nicht.«

Monk presste die Zähne aufeinander und ließ langsam die Luft entweichen. »Was, wenn dieser Arzt der Mörder ist?«, fragte er und wünschte sich im selben Moment, sein Einwand wäre nicht nötig gewesen.

Ihre Augen verrieten ihm, dass sie begriffen hatte.

Doch es war Runcorn, der in Worte fasste, was sie gedacht haben musste. »Das wird der Grund sein, warum in der Nähe von Lambourns Leiche keine Flasche oder Ampulle herumlag«, meinte er niedergeschlagen. »Er hatte das Opium nicht getrunken, es war ihm mit einer dieser Spritzen injiziert worden. Und natürlich nahm der Mörder sie dann mit. Es lag wohl kaum in seinem Interesse, dass jemand darüber Bescheid wusste. Aber es kann doch nicht so viele Personen geben, die eine solche Ausrüstung besitzen.«

»Das ändert trotzdem nichts daran, dass wir noch nicht wissen, wer Zenia Gadney umgebracht hat.« Zum ersten Mal meldete sich Orme zu Wort. »Ich bin wochenlang jeden Tag am Limehouse Pier draußen gewesen. Niemand gibt zu, sie am fraglichen Abend dort gesehen zu haben, außer in Begleitung einer Frau. Wenn sie einen Mann getroffen hat, ob Arzt oder nicht, einen, der von Herne oder Bawtry bezahlt wurde, dann ist das danach geschehen.« Er blickte erst Runcorn und dann Monk an. »Ich nehme an, Sie halten es für möglich, dass es trotz allem Dinah war, die die beiden umgebracht hat, nicht aus Eifersucht oder rasender Wut, sondern weil sie dafür Geld bekam und Opium dahintersteckte?«

Keiner antwortete ihm. Dieser Gedanke war nicht von der Hand zu weisen, und dennoch wollte ihn niemand akzeptieren.

Am Ende war es Runcorn, der das Schweigen brach.

»Ich habe damals mit allen gesprochen, die in Lambourns Haus leben«, begann er. »So konnte ich eine ziemlich gute Liste über seine Unternehmungen in seiner letzten Woche aufstellen. Allerdings enthält sie nur das, was man ohnehin erwarten würde.« Er zog zwei Blätter aus seiner Jackentasche und breitete sie auf dem Tisch aus.

Monk warf einen kurzen Blick darauf, doch Runcorns Miene verriet ihm, dass das noch nicht alles war.

»Aber dann habe ich versucht, seinen letzten Tag zu rekonstruieren«, fuhr Runcorn fort. »Die Ereignisse, die zu seinem Selbstmord geführt haben könnten. Ich glaube einfach nicht, dass irgendjemand beschließt, sich am nächsten Tag umzubringen. Wenn man das tut, dann geschieht es spontan. Wer immer ihn ermordet hat, hat das sorgfältig geplant, damit auch wirklich jedes Detail auf Selbstmord hinweist.«

Alle am Tisch nickten zustimmend. Niemand erwähnte Dinah, doch gerade deswegen schien sie umso gegenwärtiger zu sein.

»Mit wem traf er sich an diesem Tag?«, wollte Monk wissen. Schon bevor Runcorn den Mund öffnete, wusste er, dass die Antwort nicht leicht sein würde. Die Verwirrung war seinem Kollegen an den Augen abzulesen.

»Dr. Winfarthing«, erklärte Runcorn. »Gleich am Morgen. Am Nachmittag nur Ladeninhaber in Deptford. Danach kam er zu einem frühen Dinner nach Hause und arbeitete dann in seinem Büro, bis er am Abend einen kurzen Spaziergang mit Mrs Lambourn unternahm. Gegen zehn legten sie sich beide schlafen. Niemand hat ihn mehr lebend gesehen. Am nächsten Morgen wurde er am One Tree Hill von dem Mann entdeckt, der mit seinem Hund hinausgegangen war.«

»Das ergibt doch keinen Sinn«, stieß Hester betrübt hervor. »Nichts von alldem hätte Selbstmordgedanken auslösen können. Und das war noch nicht einmal der Tag, an dem er erfuhr, dass seine Studie abgelehnt worden war, oder?« Ihr Blick wanderte von Monk zu Runcorn und wieder zurück zu Monk.

»Nein«, antwortete Runcorn. »Das hatten sie ihm drei Tage zuvor mitgeteilt. Man nahm an, dass es so lange gedauert hätte, bis er sich für diese Tat wappnete. Vielleicht glaubte er aber auch, dass seine Vorgesetzten es sich noch einmal anders überlegen würden oder dass er neue Fakten aufdecken würde. Winfarthing hat jedenfalls bestätigt, dass er bei ihrem Treffen am Morgen des bewussten Tages fest entschlossen gewirkt hatte zu kämpfen.«

»Das führt uns wieder zurück zu Dinah Lambourn«, stellte Orme fest.

»Niemand hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt?«, fragte Monk Runcorn. »Niemand hat ihn besucht, eine Nachricht, einen Brief hinterlassen? Könnte etwas in der Post gewesen sein?«

»Das habe ich den Butler gefragt«, sagte Runcorn. »Er meinte, Dr. Lambourn hätte die Post persönlich gesichtet, als er gegen fünf heimkam. Es seien aber nur die üblichen Rechnungen gewesen. Keine persönlichen Briefe.«

»Und dann ging er zu Bett?«, rief Hester ungläubig. »Sind Sie sich da sicher? Kann es sein, dass er das Haus noch einmal verließ, als Dinah nach oben kam?« Ihre Stimme wurde leiser. »Und nie wieder zurückkehrte?«

Runcorn schüttelte den Kopf. »Laut dem Butler sind sie beide nach oben gegangen. Lambourn hätte ihm auf seine Frage hin ausdrücklich bestätigt, dass er sich schlafen legen wollte. Aber vielleicht las er noch eine Weile und ging dann wieder hinunter. Die Frage ist nur: Warum?«

Zögernd meldete sich Taylor zu Wort. »Es sei denn, er hat sich tatsächlich das Leben genommen.« Er biss sich auf die Lippe. »Sind wir denn sicher, dass sie nicht doch was von seiner Absicht wusste, aber dann gelogen hat, um das zu verbergen? Niemand gibt das gern zu, auch nich’ vor sich selbst, wenn jemand, den er liebt, sich so was antut. Könnte sie nich’ einfach gewollt haben, dass ihre Töchter an Mord glauben? Frauen sind schließlich zu so gut wie allem bereit, um ihre Kinder zu schützen.«

Hester musterte erst Taylor, dann Monk. Ihre Miene verriet Monk, dass sie das nicht ausschloss.

Doch Runcorn ließ sich nicht beirren. »Entweder ist jemand zu später Stunde zu ihm gekommen, oder er ist noch einmal außer Haus gegangen, um jemanden zu treffen.«

»Auf dem One Tree Hill?«, fragte Monk. »Der ist ja fast eine Meile von der Lower Park Street entfernt und recht steil. Wen hätte er dort mitten in der Nacht treffen wollen?«

»Jemanden, dem er vertraute«, meinte Runcorn. »Jemanden, mit dem er nicht gesehen werden wollte oder der nicht mit ihm gesehen werden wollte.«

»Und er dachte, er würde bald wieder zurück sein«, ergänzte Hester. »Sie sagen, er hatte keine Jacke an. Und das im Oktober!«

»Jemanden, dem er vertraute«, sinnierte Monk. »Vielleicht jemanden, der ihm nahe genug kommen konnte, um ihm eine Nadel in die Vene zu stechen und das Opium einzuspritzen.«

»Wie bei der armen Mrs Gadney«, warf Orme ein. »Sie wurde ja auch von jemand umgebracht, dem sie vertraute, sonst hätte sie nicht allein mit ihm in der Dunkelheit draußen auf dem Pier gestanden.«

»Mit Sicherheit kein Freier«, erklärte Monk im Brustton der Überzeugung. »Doch nicht so offen auf dem Präsentierteller.«

»Bestimmt nicht«, bestätigte Orme. »Ich hab bei den Vernehmungen sorgfältig Protokoll geführt. Außer mit Lambourn hat niemand sie zusammen mit einem Mann gesehen – zu keinem Zeitpunkt. Alles andere ist reine Spekulation. In den Zeitungen wird behauptet, sie hätte es mit Prostitution versucht, aber dafür gibt es keinerlei Beweise.« Er beugte sich weit vor. Seine Stimme klang jetzt sicher. »Was, wenn sie dort draußen mit jemandem war, den sie kannte, vor dem sie keine Angst hatte – genau so wie bei Lambourn?«

»Dieselbe Person?« Monk sprach das aus, wovon er wusste, dass sie es in diesem Moment alle dachten. »Wen konnte Zenia kennen, mit dem auch Lambourn verkehrte?«

»Eine angesehene Persönlichkeit«, sagte Runcorn langsam. »Jemand, zu dem auch Lambourn Vertrauen hatte und bei dem sie nie befürchtet hätte, dass er ihr etwas antun würde. Vielleicht …« Er überlegte. »Vielleicht jemand, der sich als Lambourns Anwalt ausgab oder als Freund.«

»Ein Arzt …«, sagte Hester. »Oder ein Angehöriger.«

»Oder seine Frau …«, murmelte Orme betrübt.

Niemand widersprach ihm.

Runcorn blickte in die Runde. »Jetzt haben wir noch bis zum Montag nach Weihnachten Zeit, um Beweise zu finden. Vorausgesetzt, Sir Oliver kann die Verhandlung bis dahin vertagen.«