21

Während Rathbone im Gericht Runcorn befragte, lief Monk sich die Füße wund, um mehr über Barclay Herne und Sinden Bawtry in Erfahrung zu bringen, und Hester suchte in aller Stille noch einmal Dr. Winfarthing auf. Sie hatte sich noch nicht entschieden, Monks Warnung, vorsichtig zu bleiben, in den Wind zu schlagen – noch nicht –, doch eines wusste sie schon jetzt: Wenn sie Monk auf ihrer Suche nach dem Arzt mitnahm, von dem Agatha gesprochen hatte, würde sie diesen kaum dafür gewinnen können, mit ihr zu reden.

Wie immer war Winfarthing hocherfreut, Hester zu sehen, doch als er sie mit der ihm eigenen Herzlichkeit begrüßt und sich in seinen Sessel hatte fallen lassen, verriet sein Gesicht, wie schwer seine Sorgen auf ihm lasteten.

»Ich nehme an, Sie sind wegen dieser armen Frau, Dinah Lambourn, gekommen.« Er seufzte niedergeschlagen.

»Ja. Wir haben nicht mehr viel Zeit bis zum Urteilsspruch. Sie kannten Joel Lambourn – Sie haben mit ihm zusammengearbeitet?«

»Und was wollen Sie jetzt von mir, Mädchen?«, schnaubte er. »Wenn ich irgendeinen Beweis dafür hätte, dass er sich nicht selbst umgebracht hat, meinen Sie nicht, dass ich das sofort gemeldet hätte?«

»Natürlich. Aber inzwischen hat sich die Sachlage geändert. Was wissen Sie über Opium und Spritzen?«

Er riss die Augen auf und atmete tief durch. »Ist es das, womit Sie sich jetzt beschäftigen? Dass er jemandem über den Weg gelaufen ist, der Nadeln und Opium verkaufte, das so rein war, dass man es sich direkt ins Blut spritzen konnte? Damit kann man Menschen umbringen, wenn man die Dosierung nicht richtig hinbekommt. Im besten Fall macht man sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit süchtig, es sei denn, man beschränkt sich auf wenige Tage.«

»Ich weiß. Im Amerikanischen Bürgerkrieg setzten einige Ärzte Opium ein, um den am schlimmsten Verwundeten zu helfen. Sie glaubten nicht, dass man danach süchtig werden konnte. Natürlich täuschten sie sich. Aber immerhin handelten sie aus edlen Gründen. Aber was ist, wenn jemand das um des Geldes oder – schlimmer noch – um der Macht willen getan hat?«

Winfarthing nickte sehr langsam. »Allmächtiger im Himmel, Mädchen! Sind Sie sicher? Was für ein abscheuliches Verbrechen! Haben Sie jemals gesehen, was das Opium in einem Menschen anrichtet? Haben Sie die Entzugserscheinungen gesehen, wenn er seine Dosis nicht bekommt?« Sein Gesicht war bei der Erinnerung an das Elend vor Kummer völlig verzerrt.

»Nein. Nur die üblichen Schmerzsymptome«, antwortete sie.

»Oh, Schmerzen gibt es auch!«, rief er. »Und Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Panikattacken, Depression, Unruhe, Schlaflosigkeit, Muskelzittern, Krämpfe, Schüttelfrost, Zuckungen, Kopfschmerzen, Gänsehaut, Appetitlosigkeit – und noch andere Folgeerscheinungen, wenn man großes Pech hat.«

Hester spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte, als würde sie selbst bedroht. »Wie lange?«, fragte sie heiser.

»Das kommt darauf an.« Er beobachtete sie aufmerksam. »Vielleicht nur zwei Tage – oder auch zwei Monate.«

Sie rieb sich über das Gesicht. »Wie können wir ihn nur schnappen? Das Ganze ist ja nicht einmal illegal!«

»Meinen Sie, das weiß ich nicht?« Winfarthing stöhnte müde. »Aber dem Verkäufer winken riesige Gewinne. Wenn man erst einmal von Opium abhängig ist, ist man bereit, alles zu geben, was man hat, oder alles zu tun, was von einem gefordert wird, nur um seine Dosis zu bekommen. Es ist diese Bereitschaft, die das größere Problem darstellt. Wenn Sie recht haben und es wirklich das ist, worauf Lambourn gestoßen ist, dann haben Sie es mit einem von Grund auf bösen Mann zu tun.«

Hester runzelte die Stirn. »Aber warum haben die Kerle Lambourn umgebracht? Was konnte er ihnen denn schon anhaben? Es ist ja nicht gegen das Gesetz, und Lambourn muss das gewusst haben!«

Winfarthing saß wie festgefroren da und starrte sie an, als wäre ihm soeben etwas an ihr aufgefallen, das er noch nie zuvor bemerkt hatte.

»Was ist?«, fragte sie.

»Hatte er vielleicht jemanden mit Entzugserscheinungen gesehen?«, fragte er.

»Das weiß ich nicht …« Dann begriff Hester, woran er dachte. »Sie meinen, dass genau das in seiner Untersuchung stand? Eine Beschreibung der Sucht nach Opium, wenn es gespritzt wird, und der Entzugserscheinungen – verbunden mit der Bitte, auch das in das Gesetz aufzunehmen! Dann könnte man solche Geschäfte für illegal erklären!«

»Ganz genau. Es muss möglich sein, ein Gesetz zu verfassen, das die eingeschränkte Verwendung von Opium in sorgfältig beschrifteten Medikamenten zulässt, wenn sie geschluckt werden. Zugleich muss aber seine Verwendung oder Gabe mittels Spritze verboten werden, es sei denn, es wird von einem Arzt verabreicht, aber auch das nur unter strenger Aufsicht. Dann wäre unser Mann ein Verbrecher – und alles wäre anders.«

»Das gilt aber nur für die Zukunft. Wie können wir diesen Punkt im Prozess vortragen, um Dinah Lambourn rechtzeitig zu entlasten?«, fragte Hester eindringlich. »Wir haben nur noch Tage! Werden Sie aussagen?«

»Selbstverständlich. Aber es wird mehr erforderlich sein als meine Stellungnahme, Mädchen. Wir werden den Arzt brauchen, von dem diese Agatha gesprochen hat. Wer ist das überhaupt? Kennen Sie ihn?«

»Nein. Andererseits habe ich eine Ahnung … Nur weiß ich nicht so recht, wie ich ihn dazu bringen kann, vor Gericht zu erscheinen. Vielleicht kommt er sogar, wenn …« Sie unterbrach sich, weil sie zu verzagt war, um echte Hoffnung anklingen zu lassen.

»Tun Sie es!«, drängte er. »Ich begleite Sie. Gott im Himmel, ich bin zu jedem verdammten Wagnis bereit, solange ich nur dieses Geschäft mit der Sucht beenden kann. Wenn Sie einen Mann mit Entzugserscheinungen gesehen, ihn schreien und würgen gehört hätten, während er am ganzen Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, würden Sie dasselbe tun.«

»Dinah für ein Verbrechen hängen zu sehen, das sie nicht begangen hat, genügt mir vollauf«, erwiderte Hester. »Aber niemand glaubt an ihre Unschuld. Wir müssen dafür sorgen, dass die Leute den Zusammenhang mit Opium begreifen. Und Ihre Schilderung wird ihnen die Augen öffnen. Ich werde zusehen, dass Oliver Rathbone Sie als Zeugen aufruft. Aber jetzt muss ich weiter zu Agatha Nisbet und sie dazu bringen, mir zu verraten, wo ich diesen Arzt finden kann.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Winfarthing besorgt.

Hester überlegte einen Moment lang. Es wäre sicherer und leichter, wenn sie ihn an ihrer Seite hätte, doch Agatha würde sich dann wohl zurückziehen.

»Nein, danke, aber ich weiß Ihr Angebot zu schätzen.«

Er funkelte sie wütend an. »Sie sind töricht. Ich sollte darauf bestehen.«

»Nein, das sollten Sie bleiben lassen. Sie wissen so gut wie ich, dass Agatha nichts mehr sagen wird, wenn ich nicht allein erscheine.«

Er schnitt eine Grimasse und ließ sich resigniert in seinen Stuhl zurücksinken. »Seien Sie aber vorsichtig«, warnte er. »Wenn sie sich bereit erklärt, seinen Namen zu verraten, geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie sie zu ihm mitnehmen. Sonst muss ich Sie trotz allem doch noch begleiten.«

»Sie haben mein Wort«, versprach Hester.

Er dankte es ihr mit einem strahlenden Lächeln. »Ich sehe Sie dann im Gericht.«

Zwei Stunden später stand Hester in »Agony« Nesbits beengtem Büro.

»Nein«, sagte Agatha tonlos, »das werd ich ihm nich’ antun.«

Hester starrte sie an. Den Zorn in den Augen der anderen Frau ignorierte sie. »Woher nehmen Sie das Recht, das über seinen Kopf hinweg zu entscheiden? Sie haben gesagt, er sei früher ein guter Mann gewesen, und es sei der Verkäufer von Opium mit einer Spritze gewesen, der ihn verwandelt habe. Geben sie ihm die Chance, wieder so gut zu werden, wie er es früher war. Wenn er diese Chance nicht ergreift, dann können wir das nicht ändern. Lambourn wird zum Selbstmörder abgestempelt, Dinah wird hängen, und niemand wird den Opiumhändlern das Handwerk legen oder die Kerle bestrafen.«

Agatha schwieg.

Hester wartete.

»Ich werd nich’ versuchen, ihn zu überreden«, sagte Agatha schließlich. »Sie haben nich’ gesehen, was Entzug is’, sonst würden Sie nich’ um so was bitten. Sie würden das niemandem zumuten, schon gar nich’ ’nem Menschen, den Sie mögen … ’nem Freund.«

»Das vielleicht nicht«, räumte Hester ein. »Aber ich würde ihn auch nicht bevormunden.«

»Wenn er jemand braucht, dann den Mann, der ihm das Opium liefert«, meinte Agatha. »Ohne das Zeug leidet er monatelang unter dem Entzug, vielleicht sogar sein Leben lang, mal mehr, mal weniger.«

»Können Sie es ihm nicht besorgen?«

»Ich hab ja kaum genug für die Verletzten. Woll’n Sie mir etwa Ihres geben? Wissen Sie überhaupt, wie viel nötig is’, um ’nen Süchtigen auf die Beine zu bekommen?«

»Nein. Gibt es da einen Unterschied?«

»Sie sind ’n zähes Luder!«, zischte Agatha.

»Ich bin Krankenschwester«, korrigierte Hester sie. »Das heißt, dass ich Realistin bin … wie Sie.«

Daraufhin schnaubte Agatha nur und schwieg mehrere Sekunden lang. Schließlich straffte sie ihre mächtigen Schultern. »Na gut, dann kommen Sie mit. So, wie Sie sich anhören, ham Sie keine Zeit zu verlieren.«

Alle Spannung fiel von Hester ab, und endlich lächelte sie. Sie wandte sich zur Tür.

Sobald Alvar Doulting Agatha sah, wusste er, weswegen die zwei Frauen gekommen waren. Heftig den Kopf schüttelnd, wich er in sein Zimmer zurück, als ließen die sich in seinem Rücken auftürmenden Regale eine Flucht zu.

Agatha blieb abrupt stehen und packte Hester mit ihrer knochigen Hand derart fest am Arm, dass diese sich auf die Lippe beißen musste, um nicht aufzuschreien.

»Keiner kann dich zwingen«, beschwichtigte Agatha Doulting.

»Wenn Sie es nicht tun, wird Dinah Lambourn hängen«, warnte Hester ihn. »Und Joel Lambourns Untersuchung wird für immer unter Verschluss bleiben. Vor allem der Teil über Opium durch die Nadel. Natürlich werden Menschen süchtig sein, was immer wir auch machen, aber wenn es verboten wird, werden es weniger werden. Es ist Zeit für die Entscheidung, was Sie tun, was Sie … sein wollen.«

»Keiner kann dich zwingen«, wiederholte Agatha. Ihr Gesicht war blass, ihre Stimme klang gepresst. Ihre Finger hielten Hesters Arm noch immer wie ein Schraubstock umklammert.

Doultings Augen schossen gehetzt zwischen den beiden hin und her. Die Sekunden verstrichen. Er wirkte geschlagen, als könnte er nicht länger kämpfen. Vielleicht wusste er, dass er nichts mehr zu gewinnen hatte, außer den letzten Fetzen Ehre des Mannes, der er einst gewesen war.

»Hindere mich nicht daran, Agatha«, sagte er leise. »Wenn ich den Mut dazu aufbringe, dann tue ich es auch.«

»Sie werden aussagen, dass Sie Joel Lambourn über die Sucht nach Opium durch eine Nadel direkt in die Vene aufgeklärt haben und er das in seine Untersuchung aufgenommen hat?«, fragte Hester klar und deutlich. »Und Sie werden schildern, wie es sich auf diejenigen auswirkt, die in seinen Sog geraten?«

Doulting sah ihr in die Augen und nickte langsam.

Hester war nicht klar, ob sie wagen sollte, ihm zu glauben. »Danke«, flüsterte sie.

Doulting sank auf die Bank zurück und wandte den Kopf Agatha zu.

»Ich besorg dir genügend«, versprach diese hastig und zerrte Hester am Arm mit sich. »Kommen Sie, wir haben hier genug getan.« Sie drehte sich noch einmal zu Doulting um. »Ich komm bald wieder.«

Rathbone saß in Monks Küche. Vor ihm dampfte sein Tee unberührt vor sich hin. Auf einem Gestell war das Gebäck für das morgige Weihnachtsfest zum Abkühlen ausgebreitet worden.

»Sind Sie sicher?«, drängte Rathbone und blickte erst Monk, dann Runcorn an. »Sind die Aussagen wirklich unwiderlegbar?«

Hester nickte. »Ja. Dr. Winfarthing wird als Erster auftreten. Er wird bestätigen, dass Joel Lambourn bei ihm war und er ihm den Verkauf von Opium in Kombination mit Nadeln schilderte. Danach wird Doulting dem Gericht von Lambourns Besuch bei ihm berichten und wiederholen, was er ihm erklärt hat. Lambourn hat das in seinen Untersuchungsbericht aufgenommen. Das ist der Grund, warum er umgebracht wurde. Würde man diese Art des Opiumverkaufs verbieten, verlören die Händler ein Vermögen. Das war es wert, Lambourn zu ermorden – und Zenia Gadney.«

»Und Dinah Lambourn zu hängen«, ergänzte Runcorn bitter.

»Wer hat denn nun eigentlich Lambourn umgebracht?«, fragte Rathbone.

»Der Verkäufer jenes Opiums, das so rein ist, dass man es injizieren kann, ohne einen Menschen gleich zu töten«, sagte Hester leise. »Oder jemand, den er dafür bezahlt hat. Moralisch betrachtet, ist er jedenfalls schuldig.«

»Wer?«, drängte Rathbone und blickte sie nacheinander an. »Barclay Herne?«

Diesmal gab ihm Monk die Antwort. »Möglicherweise, aber soweit wir das beurteilen können, besitzt er nicht das Vermögen, wie es Geschäfte dieser Art von Handel einbringen würden. Außerdem ist ein solcher Mord zu gefährlich für ein geringes Entgelt.«

»Aber wer dann?« Rathbone, dem allmählich das Ausmaß des drohenden Skandals dämmerte, stöhnte. »Sinden Bawtry? Mein Gott, das wäre entsetzlich! Es wird gemunkelt, dass seine Versetzung in ein sehr hohes Regierungsamt ansteht. Wenn das zutrifft, wäre es kein Wunder, dass Joel Lambourn auf seine Enttarnung drängte. Denn sonst hätte Bawtry die Macht gehabt, die Aufnahme von Opium als Suchtmittel in das Arzneimittelgesetz zu verhindern.« Er holte tief Luft. Seinen Tee ignorierte er immer noch. »Aber Bawtry speiste am fraglichen Abend zusammen mit Gladstone. Daran lässt sich nicht rütteln. Und das Dinner fand meilenweit vom Tatort auf der anderen Seite des Flusses statt.«

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Schließlich war es Rathbone, der es brach. »Herne etwa?«, fragte er skeptisch in die Runde. »Sollte er es für ihn erledigt haben? Für eine angemessene Belohnung zu einem späteren Zeitpunkt?« Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Barclay Herne die Leidenschaft und den Mut für eine so gefährliche Tat besaß, die doch nur jemand begehen konnte, der keine Skrupel kannte und von Gier zerfressen oder selbst süchtig war. Er erinnerte sich an Hernes selbstbewusstes Auftreten vor Gericht und dann an seine Blässe und Nervosität bei seinem unerwarteten Besuch vorigen Sonntag. »Wir können uns keinen Fehler leisten«, schloss er. »Wenn ich etwas sage, muss ich damit recht haben und in der Lage sein, es zu beweisen – oder zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit glaubwürdig darzustellen.«

Runcorn kaute auf der Lippe. »Das wird nicht leicht sein. Der Richter mag nicht wissen, wen er schützt, aber ihm wurde mit Sicherheit gesagt, dass es um viel geht. Vielleicht glaubt er, es handele sich um Englands Ansehen und die Vergiftung von halb China mit Opiumpfeifen. Wie auch immer, ich wage die Behauptung, dass seine Zukunft davon abhängt, dass es ihm gelingt, die Angelegenheit weiter unter dem Deckel zu halten.«

»Dessen bin ich mir verdammt sicher«, knurrte Rathbone. Er wandte sich an Hester. »Glauben Sie wirklich, dass Agatha Nisbet kommen wird? Und Doulting? Er könnte sich bis zur Besinnungslosigkeit mit Rauschgift vollpumpen oder am Prozesstag längst tot in einer dunklen Gasse liegen.«

Angespannt blickten alle auf Hester.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Uns bleibt nichts, als es zu versuchen.«

»Nun, wir haben nicht viel zu verlieren«, fasste Rathbone die Lage zusammen. »Wie die Dinge stehen, werden sie Dinah schuldig sprechen. Ich habe niemanden mehr, den ich als Zeugen aufrufen könnte. Sie hat mich schon einmal angelogen, und ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt etwas von Lambourns Enthüllungen wusste. Die Tatsache, dass sie weiter an ihn glaubt, wird meines Erachtens nicht genügen.« Er wandte sich wieder an Hester. »Glauben Sie denn dieser Agatha Nisbet?«

Hester zögerte nicht eine Sekunde. »Ja. Aber mit Alvar Doulting wird es nicht leicht sein. Wenn es ihm einigermaßen gut geht, bringt sie ihn mit, aber sie wird ihn zu nichts zwingen. Sie müssen zusehen, dass Sie noch mindestens einen weiteren Prozesstag herausschlagen. Ich werde ihr helfen, ihn so weit wie möglich zu stärken.«

»Ich habe sonst niemanden mehr«, wiederholte Rathbone.

»Dann müssen Sie Dinah persönlich aufrufen«, sagte Hester mit unsicherer Stimme. »Gleich nach Weihnachten.«

Je mehr Rathbone von Hester erfuhr und je mehr Enthüllungen sich damit abzeichneten, desto mehr festigte sich bei ihm die Überzeugung, dass sowohl Coniston als auch Pendock von einem drohenden Skandal wussten und ihnen eingeschärft worden war, ihn mit aller Macht unter Verschluss zu halten, selbst wenn eine Frau gehängt wurde, weil man bei der Frage nach ihrer Unschuld nicht auch den allerletzten Aspekt überprüft hatte. Wer war noch alles süchtig nach diesem so weit verbreiteten Gift? Wer verdankte noch alles sein Vermögen dem Handel mit Opium?

Sie setzten alles auf eine Karte. Das war ihnen allen schmerzhaft bewusst. »Ich werde mit Dinah sprechen«, versprach er. Seit der Enthüllung, dass sie nie Lambourns rechtmäßige Frau gewesen war, hatte er noch keine Zeit gehabt, sie zu besuchen. Er konnte sie sich nicht anders als mit Lambourn verheiratet vorstellen. »Aber wir müssen in jedem Fall etwas zu bieten haben, das besser ist als ein verschwommenes Bild von einem Opiumhändler, dessen Namen wir noch nicht einmal wissen.«

Monks Blick wanderte zu Hester und wieder zurück zu Rathbone. »Ich weiß. Wir werden einfach nicht aufhören, nach Beweisen zu suchen. Aber dafür brauchen wir Zeit. Glauben Sie, dass Sie den zusätzlichen Tag herausschinden können?«

Gerne hätte Rathbone das bejaht, doch er war skeptisch. Wenn es ihm nicht gelang und die Leute merkten, dass er in zunehmender Verzweiflung Fragen stellte, deren Antworten auf der Hand lagen, würde Coniston Einspruch wegen erkennbarer Zeitverschwendung erheben, und Pendock würde ihm zu Recht das Wort verbieten. Und – wichtiger noch – die Geschworenen würden sehen, dass ihm die Argumente ausgegangen waren.

Und verständlicherweise würden sie versuchen, den Prozess noch am Freitag zu beenden, damit sie wenigstens die restlichen Weihnachtstage unbeschwert verbringen konnten.

Hester zog eine skeptische Miene. Sie hatte die Unentschlossenheit in seinen Augen gesehen. »Rufen Sie Winfarthing am Freitag auf«, schlug sie vor. »Gleich nach Dinah.«

»Sind Sie sich bei ihm sicher?«

»Fällt Ihnen etwas Besseres ein?«, fragte sie mit einem fast unmerklichen Schulterzucken zurück.

»Mir fällt überhaupt nichts ein«, gestand er. »Können wir uns darauf verlassen, dass er nichts Belastendes sagen wird, auch nicht versehentlich?«

»Höchstwahrscheinlich«, erwiderte sie.

»Und diese Frau, die Nisbet?« Als er den harten Ton in seiner eigenen Stimmme vernahm, erkannte er, wie tief die Furcht in ihm saß, dass er in seinem eigenen Schmerz über Verlust und Desillusionierung am Ende Dinah Lambourn im Stich lassen und sie das mit dem Leben bezahlen würde.

Hester lächelte. »Es gibt keine Gewissheiten. Das alles haben wir doch schon einmal erlebt. Wir spielen unsere Karten aus, so gut wir eben können. Eine Garantie auf den Sieg haben wir nie gehabt. Das ist nicht vorgesehen.«

Rathbone wusste, dass sie recht hatte. Er war schlichtweg nicht mehr so tapfer wie früher und sich der Dinge, auf die es ankam, weniger gewiss. Oder vielleicht war er seiner selbst nicht mehr so sicher.

Als Rathbone auf dem Rückweg mit der Fähre über den Fluss fuhr, genoss er zu seiner eigenen Überraschung den kalten Wind im Gesicht und sogar die Unannehmlichkeiten, die ihm das aufgewühlte Wasser bereitete. Im Pool of London schien heute viel los zu sein: Große Ozeansegler lagen vor Anker, die darauf warteten, Fracht aus allen möglichen Häfen der Welt zu entladen; Leichterboote, die Waren von den Wasserstraßen im Inland zu den riesigen Schiffen brachten, Fähren, die sich in beide Richtungen dazwischen hindurchschlängelten, sogar ein Boot der Wasserpolizei, das sich seinen Weg zum St. Saviour’s Dock bahnte. Jeder schien heute mit doppelter Anstrengung zu arbeiten. Mit Paketen beladen, eilten die Leute durch die Straßen, riefen sich Glückwünsche zu, besorgten die letzten Einkäufe für das morgige Fest.

Am Nordufer angekommen, kletterte Rathbone von Bord und zahlte den Fahrpreis. Zügig lief er zur Commercial Road, wo er einen Hansom nahm. Sein Ziel war das unmittelbar hinter dem Old Bailey gelegene Newgate Prison, wo Dinah Lambourn eingesperrt war.

Vor der Begegnung mit ihr kehrte Rathbone in einem ruhigen Gasthaus ein, wo er sich Steak-and-Kidney-Pudding gönnte, einen üppigen, in Teig gebackenen Auflauf mit Rinderlende, Nierenfleisch und Austern, den er mit einer halben Flasche bestem Rotwein hinunterspülte. Auch wenn er zu sehr von seinen Sorgen belastet war, um den reichhaltigen Geschmack genießen zu können, fühlte er sich danach von frischer Entschlossenheit beseelt. Ein großer Teil seines Tatendrangs war freilich von Zorn auf sich selbst befeuert, weil er sich so leicht hatte geschlagen geben wollen.

Er hatte angestrengt darüber nachgedacht, was er Dinah sagen sollte, und kurz bevor er das Gefängnis erreichte, traf er seine Entscheidung. An der Pforte gab er dem Aufseher die nötigen Informationen und musste sich zum x-ten Mal ausweisen, als ob man ihn dort nicht schon längst kennen würde.

Dann wurde er zu der vertrauten Zelle eskortiert, wo er allein wartete, bis Dinah hereingeführt wurde. Sie wirkte abgemagert und noch blasser als beim letzten Mal, als wüsste sie, dass der Kampf vorbei und sie verloren war. Und die Schuld an diesem Scheitern spürte Rathbone wie eine Wunde tief im eigenen Innern.

»Bitte setzen Sie sich, Mrs Lambourn«, bat er sie. Nachdem sie sich auf dem Stuhl ihm gegenüber niedergelassen hatte, nahm auch er Platz. Während er ihre unbeholfenen Bewegungen beobachtete, erkannte er, dass sie vor Angst ganz starr war.

»Ich habe soeben mit Mr Monk gesprochen«, eröffnete er das Gespräch. »Er und Mr Runcorn haben viel über Dr. Lambourn herausgefunden, und alles davon bestätigt das, was Sie mir gesagt haben. Leider kann das Ihre Aussichten nicht wesentlich verbessern, denn wir haben keine Beweise, die vor Gericht bestehen könnten. Wenn wir unsere neuen Zeugen aufrufen, gehen wir ein gewaltiges Risiko ein, und ich brauche Ihre Bestätigung, dass Sie das verstanden haben.«

»Sie haben jemanden gefunden?« In ihrem Gesicht blitzte jäh eine wilde, verwegene Hoffnung auf, und ihre Augen begannen fast fiebrig zu glänzen.

Rathbone schluckte schwer. »Zeugen, denen man vielleicht nicht glauben wird, Mrs Lambourn. Der eine ist Arzt, aber, wie mir gesagt wurde, so etwas wie ein Abtrünniger. Die andere Zeugin führt als selbst ernannte Krankenschwester eine Klinik für Hafenarbeiter in Rotherhithe. Sie sagt, dass Dr. Lambourn sie während seiner Recherchen über den Nutzen und die Gefahren von Opium befragt hat. Noch haben wir nichts in Händen, was ihre Angaben erhärtet, und sie ist auch nicht unbedingt das, was man eine respektable Person nennen würde. Andererseits hat sie Dr. Lambourn diese Dinge geschildert, woraufhin er andere Gewährsleute befragte, die ihm ihre Angaben bestätigten.«

Dinah war verwirrt. »Auf Opium bezogen? Das verstehe ich nicht.«

»Nein, nicht allein auf Opium bezogen. Das ist ja gerade der springende Punkt. Sie hat von einer völlig neuen Spritztechnik mit einer Hohlnadel berichtet, über die das Opium direkt ins Blut gelangt. Damit lassen sich Schmerzen sehr viel effektiver behandeln, doch zugleich kann diese Methode in kürzester Zeit Sucht auslösen – mit verheerenden Folgen.« Er schnitt eine Grimasse. »Ein kurzes Glücksgefühl, erkauft für den Preis eines Lebens in der Hölle danach.«

»Was hat das mit Joel zu tun?«, fragte Dinah. »Oder mit Zenias Tod? In Joels Studie ging es doch ausschließlich um die Notwendigkeit von Angaben über die Menge und Dosierung von Opium in frei erhältlichen Medikamenten.«

»Ich weiß«, bestätigte Rathbone sanft. »Wir glauben, dass er rein zufällig von den Spritzen und ihren Folgen erfuhr und das dann in seine Studie mit aufnahm. Wenn es so war, dann hätten die Ergebnisse durchaus auch in das Arzneimittelgesetz einfließen können, und der uneingeschränkte Verkauf wäre womöglich verboten worden.«

Dinahs Augen weiteten sich. Begreifen und zunehmendes Entsetzen spiegelten sich darin. »Wenn die Folgen wirklich so schrecklich sind, wie Sie sagen, dann muss das unbedingt verboten werden«, sagte sie langsam.

Rathbone nickte. »Die Studie ist vernichtet worden, aber allein für den Fall, dass er jemandem davon erzählt hatte, Ihnen zum Beispiel, musste er diskreditiert werden.«

»Sie haben ihn umgebracht, damit er nichts davon wiederholen konnte«, flüsterte Dinah heiser.

»Ja.«

»Und die arme Zenia?«

»Der Mord an ihr diente wahrscheinlich dazu, Sie zu beseitigen und mit Ihnen alles, was er Ihnen vielleicht gesagt hat.«

»Wer ist dieser Arzt, den Sie erwähnt haben?«

»Dr. Winfarthing? Ich persönlich kenne ihn nicht. Mrs Monk sagt, dass Dr. Lambourn ihn befragt hat. Ich möchte ihn vor allem verhören, um die Aufmerksamkeit des Gerichts so lange zu gewinnen, bis Monk Agatha Nisbet zu einer Aussage überreden kann. Das könnte einen ganzen Tag dauern. Trotzdem muss ich noch jemand anders aufbieten, der mir am Freitagvormittag zur Verfügung steht. Das ist der erste Tag nach Weihnachten, und vorher wird es uns nicht gelingen, mit Winfarthing zu sprechen und ihn der Anständigkeit halber zu warnen, dass die andere Seite versuchen wird, seine Glaubwürdigkeit in den Schmutz zu ziehen.«

»Dann sagt er am Ende vielleicht gar nicht aus?«, fragte Dinah mit zitternder Stimme.

»Abgesehen von solch unschönen Methoden könnte es unseren Interessen sogar schaden, ihn aussagen zu lassen, bevor ich Gelegenheit habe herauszufinden, was er eigentlich bezeugen wird; womöglich werde ich dann auf seine Vernehmung verzichten. Vergessen Sie nicht, nach mir wird Mr Coniston die Gelegenheit bekommen, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Sie haben sicher genug erlebt, um zu wissen, dass er Winfarthing oder jedem anderen schwer zusetzen wird. Er wird es mit allen Mitteln darauf anlegen, seine Glaubwürdigkeit, wenn nicht sogar seinen Ruf zu zerstören.«

Er senkte die Stimme zu einem beinahe fürsorglichen Ton. »In diesem Prozess geht es nicht nur um Ihr Leben oder Ihre Freiheit. Wenn Sie nicht schuldig sind, dann muss es irgendjemand anders sein.«

»Aber ich weiß nicht, wer!« Dinah schloss die Augen, und unter den Lidern quollen Tränen hervor. »Meinen Sie nicht, dass ich es Ihnen sagen würde, wenn ich etwas wüsste?«

»Doch, doch, natürlich«, versicherte er ihr geduldig. »Aber wenn ich Sie retten soll, muss ich jetzt den Geschworenen die Augen öffnen und ihnen aufzeigen, dass es eine solche Person gibt. Sie wiederum müssen entscheiden, ob Sie mir den Auftrag dazu erteilen wollen. Es wird qualvoll sein. Und bevor ich Winfarthing in den Zeugenstand rufe, muss ich den Freitagvormittag mit etwas anderem füllen, sonst erklärt der Richter die Beweisaufnahme für beendet, und es ist zu spät. Er wird das Urteil zweifellos noch vor dem Wochenende fällen wollen. Fürs Erste sind Sie mein einziger Trumpf – außer Ihren Töchtern. Aber, glauben Sie mir, Coniston wird Sie lieber in der Luft zerfetzen, als zuzulassen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Er ist wohl wirklich von Ihrer Schuld überzeugt und wird deswegen auch Ihre Kinder nicht schonen.«

»Ich werde aussagen«, erklärte sie in einem Ton, mit dem sie jedes weitere Argument unterband. Freilich hatte er es längst gewusst, wie sie entscheiden würde.

»Und Sie wissen, was Coniston gegen Sie im Schilde führt?«

»Natürlich. Er wird versuchen, mich als hysterische Frau darzustellen, die sich dem Gedenken an einen Mann verschrieben hat, der nicht dazu bereit war, sie zu heiraten, weil er Angst davor hatte, sein Geld zu verlieren und ihre unehelichen Töchter aufziehen zu müssen.« Sie zwang sich zu einem kurzen Lächeln, das Rathbone in der Seele wehtat, denn er merkte ihr das Bemühen um Tapferkeit an. »Schlimmer, als in drei Wochen vor den Henker zu treten, kann das wohl kaum sein.«

Rathbone setzte schon zum Widerspruch an, entschied dann aber, dass leere Versprechungen nur eine Verhöhnung wären. Er senkte den Blick auf die vernarbte Tischplatte und sah schließlich wieder zu Dinah auf. »Ich weiß, dass Sie Zenia Gadney nicht umgebracht und den Verdacht bewusst auf sich selbst gelenkt haben, um vor Gericht gestellt zu werden, damit Sie Joels Ruf und Ehre vor der Öffentlichkeit retten können. Womöglich verlieren wir, aber noch sind wir nicht am Ende!«

»Wirklich nicht?«, flüsterte sie.

»Wirklich nicht. Ich rufe Sie am Freitag als meine erste Zeugin auf und vernehme Sie, bis Winfarthing auftaucht.«

»Wird er das?«

»Ja.« Es war ein kühnes Versprechen. Rathbone hoffte, er würde es halten können. Er erhob sich. »Aber jetzt muss ich heimgehen und mir überlegen, welche Fragen ich Ihnen stellen werde und mit welchem Konzept ich dann an Winfarthings Vernehmung herangehen soll.«

Sie blickte zu ihm auf. »Und Miss Nisbet?«

»Ah, das ist etwas anderes. Bei ihr weiß ich genau, was ich sie fragen werde.«

Vielleicht übertrieb er da ein wenig, aber in Agatha Nisbets Fall beunruhigte ihn nur eines: Würde sie überhaupt kommen? In dieser Hinsicht musste er sich auf Hester verlassen. Von Monk und Runcorn wusste er, dass sie immer noch an dem Mordfall arbeiteten und fieberhaft zu ermitteln suchten, wer Lambourn auf den One Tree Hill begleitet und dort zurückgelassen hatte, damit er verblutete.

Hester und Monk hatten beide ihr Möglichstes getan, um Scuff von dem brisanten Prozess fernzuhalten, doch der Junge war zu aufmerksam, um sich überlisten zu lassen. Nur der Adventszeit und seiner Vorfreude auf sein erstes Weihnachtsfest in einer Gemeinschaft war es zu verdanken, dass er sich hatte ablenken lassen.

Der Morgen des Weihnachtstags war sonnig und kalt – zumindest am Anfang. Später zogen Wolken auf, und es roch nach Schnee.

Hester war lange vor Sonnenaufgang auf den Beinen, um die Gans rechtzeitig ins Backrohr zu schieben und im ganzen Haus Girlanden und Stechpalmenzweige aufzuhängen.

Nach langem Debattieren hatten sie und Monk beschlossen, Scuff eine Taschenuhr zu schenken, und zwar die beste, die sie sich leisten konnten, eine mit seinen auf der Unterseite eingravierten Initialen. Dazu hatten sie noch einige kleinere Aufmerksamkeiten für ihn vorbereitet, Tütchen voller Süßigkeiten, selbst gemachten Karamellen und seinen Lieblingsnüssen. Monk hatte für ihn ein Paar warme Wollsocken besorgt, und Hester hatte vorsichtig eines von Monks Halstüchern auf die passende Größe für Scuffs schmalen Kragen zurechtgeschnitten. Und natürlich hatte sie auch ein Buch für ihn ausgewählt, bei dem sie sicher war, dass er es verschlingen würde.

Gegen acht Uhr, als es endlich heller Tag war, hörte sie die Küchentür aufgehen, und Scuff spähte nervös herein. Als er die Stechpalmen und die Girlanden bemerkte, weiteten sich seine Augen.

»Is’ heute Weihnachten?«, fragte er atemlos.

»Allerdings«, antwortete sie mit einem breiten Lächeln. »Frohe Weihnachten, Scuff!« Sie legte den Kochlöffel, mit dem sie den Porridge umgerührt hatte, beiseite und trat zu ihm hinüber. Kurz überlegte sie, ob sie ihn um Erlaubnis für einen Kuss bitten sollte, doch dann entschied sie sich, ihm keine Gelegenheit zu lassen, ihn ihr zu verweigern, selbst wenn er sich danach sehnte. Und bevor er wusste, wie ihm geschah, schloss sie beide Arme um ihn und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Frohe Weihnachten, Scuff!«, rief sie fröhlich.

Für einen Moment erstarrte er, doch dann erwiderte er schüchtern ihren Kuss. »Frohe Weihnachten, Hester«, sagte er, nur um sogleich dunkelrot anzulaufen, weil ihm ihr Vorname herausgerutscht war.

Sie bemühte sich, ihr Lächeln vor ihm zu verbergen, und tat so, als hätte sie nichts bemerkt. »Möchtest du gleich frühstücken?«, fragte sie leichthin. »Als Erstes gibt es Porridge, aber iss nicht zu viel, weil ich auch noch Rührei mit Speck mache. Und zum Dinner gibt es natürlich Gänsebraten.«

Er schnappte nach Luft. »Echten?«

»Aber sicher. Es ist ja auch echtes Weihnachten.«

Scuff schluckte. »Ich hab ’n Geschenk für Sie. Wollen Sie’s jetzt haben?« Er rutschte auf seinem Stuhl herum, schon halb im Begriff aufzustehen.

Sie brachte es nicht über sich, ihn auf später zu vertrösten, zumal seine Augen leuchteten und seine Wangen vor Aufregung gerötet waren. Da wäre es grausam gewesen, ihn warten zu lassen. »Ich würde es sehr gerne jetzt sehen.«

Er glitt zu Boden, rannte auf den Flur hinaus und polterte die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Gleich darauf kam er wieder hereingestürmt, in der Hand etwas Kleines, das er in ein Stück Stoff gewickelt hatte. Ohne ihr Gesicht aus den Augen zu lassen, reichte er es ihr.

Sie nahm es entgegen. Neugierig und bereits etwas besorgt packte sie es aus. Es entpuppte sich als ein kleiner silberner Anhänger mit einer Perle darin, der an einer zarten Kette befestigt war. In diesem Moment war es das schönste Schmuckstück, das Hester je gesehen hatte. Zugleich überlegte sie entsetzt, wie er an die Kette herangekommen sein mochte.

Sie blickte Scuff in die Augen.

»Gefällt’s Ihnen?«, fragte er atemlos.

Sie hatte einen Kloß im Hals und musste erst schlucken, bevor sie antworten konnte. »Natürlich! Es ist wunderbar! Wer könnte nicht davon entzückt sein?« Konnte sie es wagen, Scuff nach der Herkunft zu fragen? Oder würde er dann glauben, sie hätte kein Vertrauen zu ihm?

Die Anspannung fiel von ihm ab, und er strahlte sie erleichtert an. »Ich hab’s von ’nem Tosher, der immer die Abwasserkanäle abgrast«, verkündete er stolz. »Ich hab Botengänge für ihn erledigt, und da hat er’s mir geschenkt.« Plötzlich schaute er verlegen weg. »Ich hab ihm gesagt, dass es für meine Mama is’. Is’ das schlimm?«

Jetzt war Hester diejenige, der das Blut ins Gesicht schoss. »Das ist überhaupt nicht schlimm – im Gegenteil!«, beruhigte sie ihn, während sie sich die Kette mit äußerster Vorsicht um den Hals legte und den Verschluss zuschnappen ließ. Sie bemerkte das freudige Leuchten in seinen Augen.

»Schöner kann man es gar nicht sagen!«, ergänzte sie. »Wir haben übrigens auch ein paar Kleinigkeiten für dich, sobald William herunterkommt.«

»Für ihn hab ich auch was«, versicherte Scuff ihr, wie um sie zu beruhigen.

»Ganz bestimmt hast du was«, antwortete sie. »Hast du jetzt Lust auf Porridge? Heute ist schließlich ein besonderer Tag, und wir haben viel zu tun.«

Er setzte sich wieder an den Tisch. »Wie lange dauert Weihnachten eigentlich?«

»Den ganzen Tag, bis Mitternacht. Und morgen ist der Stephanustag. Das ist auch ein Feiertag.«

»Fein! Weihnachten gefällt mir!«, rief er überglücklich.