20
In der Nacht lag Rathbone lange wach und grübelte. Monk hatte ihn regelmäßig auf den neuesten Stand seiner Ermittlungen gebracht und ihm sogar mitgeteilt, wonach sie suchten. Doch bislang hatten sie keine Beweise gefunden, die sie dem Gericht vorlegen konnten.
Dinahs einzige Verteidigung bestand in ihrem Glauben daran, dass ihr Mann ermordet worden sei, weil er etwas entdeckt hatte, das den Ruf einer bestimmten Persönlichkeit ruinieren würde. Sie selbst wiederum war bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren, solange sie auf diese Weise die Polizei und das Gericht zwingen konnte, die Wahrheit zu ermitteln.
Wann sollte Rathbone die Geschworenen darauf aufmerksam machen? Wenn er es zu früh enthüllte, würde dieser Gedanke seine Macht bis zum Schlussplädoyer verlieren. Wartete er indes zu lange, würde es nach einem verzweifelten Manöver in letzter Minute aussehen.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Finsternis und hatte das Gefühl, die Kontrolle über diesen Fall vollkommen verloren zu haben. Er musste sie unbedingt zurückgewinnen. Doch auch wenn sein Vorgehen momentan auf nichts als dem Vertrauen in Dinahs Unschuld und der Hoffnung auf Monks Fähigkeit beruhte, noch einen Beweisfaden zu finden, tat er gut daran, dies vor Coniston zu verbergen. Und auf keinen Fall durften die Geschworenen etwas davon mitbekommen.
In Monks Nachricht war deutlich von einer Opiumsucht die Rede gewesen, die noch schlimmer war als diejenige beim bloßen Rauchen, da hier die Substanz durch die Vene direkt in den Blutkreislauf gespritzt wurde. Jemand machte Menschen in einer Zeit der Schwäche, des physischen oder seelischen Leidens bewusst abhängig und beutete dann ihre Verzweiflung aus.
Solche Skrupellosigkeit war Ausdruck unendlicher Verderbtheit, doch vor dem Gesetz galt sie nicht als Verbrechen. Monk hatte das ausdrücklich eingeräumt. Warum war Lambourn dann also umgebracht worden? Was hatte er entdeckt, dass er deswegen hatte sterben müssen?
Rathbone blieb nichts anderes übrig, als zu raten, und zwar auf Anhieb das Richtige. Nur dann konnte er hoffen, eine Verlängerung zu erwirken, in der Monk auf einen konkreten Beweis stoßen musste. Bis dahin hätte Rathbone die Grundlagen seiner Argumentation errichtet und müsste nur noch das fehlende Stückchen einfügen, das alle Teilchen zusammenführte, und den Namen desjenigen nennen, der die Morde an Lambourn und Zenia Gadney zu verantworten hatte.
Würde ihm das gelingen? Mit den Umrissen eines Plans im Kopf schlief er endlich ein.
Als der Prozess am Montagvormittag fortgeführt wurde, bemerkte Rathbone gleich als Erstes die selbstgefällige Zufriedenheit in Sorley Conistons Gesicht. Wie die Dinge standen, konnte sein Gegner kaum noch verlieren.
Wenn Rathbone den Hauch einer Chance haben wollte, musste jetzt er das Tempo diktieren und die andere Seite mit Indizien unter Druck setzen. Morgen war Heiligabend. Momentan konnte er bestenfalls auf vernünftige Zweifel bauen, doch ein Blick hinüber auf die zwölf Geschworenen ließ keine Hoffnung aufkommen. Regungslos saßen sie mit grimmiger Miene da, als bereiteten sie sich bereits für den Augenblick vor, in dem sie stoisch verkünden würden, dass sie bereit waren, eine Frau für eine Tat zum Tode zu verurteilen, die sie ihrer Überzeugung nach begangen hatte.
Rathbone sah weit und breit keinen anderen Verdächtigen, den er ihnen anbieten konnte, doch jetzt musste er schleunigst einen aus dem Hut zaubern. In seiner Vorstellung war das ein namen- und gesichtsloser Meuchelmörder, angeworben vom wahren Schuldigen, der danach trachtete, Lambourns Glaubwürdigkeit zu zerstören und seine Studie aus der Welt zu schaffen. Während Rathbone sich das vor Augen hielt, kam ihm sein Ansatz genauso verzweifelt vor, wie er auf alle Anwesenden wirken musste. Egal – jetzt galt es, dieser Person ein Profil zu verleihen: Ziele, Verlustängste, Gier, Niedertracht.
Nachdem Richter Pendock alle an ihre Pflichten erinnert hatte, erhob sich Coniston und rief seinen letzten Zeugen auf. Rathbone war gemäß den Vorschriften über dessen Namen und Funktion in Kenntnis gesetzt worden, hatte aber keine Möglichkeit, etwas gegen die Aussage dieses Mannes vorzubringen, von der er jetzt schon wusste, worauf sie hinauslaufen würde. Er hatte gehofft, Coniston würde nicht auf die Idee kommen, auch ihn aufzutreiben, aber angesichts von Amity Hernes Wissen über Dinah Lambourn war nichts anderes zu erwarten.
Bislang hatte Rathbone nur vermocht, die Ahnung eines Zweifels zu wecken und die Frage aufzuwerfen, ob sich Lambourn wirklich selbst das Leben genommen hatte oder ob angesichts des Fehlens einer Waffe oder eines Behälters zum Mischen des Opiums nicht doch eine andere Person bei ihm gewesen war. Eine Nadel oder Spritze hatte bisher niemand erwähnt. Bestand wenigstens eine winzige Möglichkeit nahezulegen, dass er ermordet worden war? Und wenn ja, ließ sich ein zweiter Mörder ins Spiel bringen und die These von Dinahs Schuld erschüttern?
Der neue Zeuge wies sich mit Namen und Beruf aus und wurde vereidigt.
»Mr Blakelock«, begann Coniston, »Sie sind als Registrierbeamter für die Erfassung von Geburten, Todesfällen und Hochzeiten zuständig?«
»Jawohl, Sir«, antwortete der Zeuge, ein stattlicher Mann, der vorzeitig ergraut war, sich aber ansonsten gut gehalten hatte.
»Haben Sie vor achtzehn Jahren auch die Hochzeit eines gewissen Dr. Joel Lambourn ins Register eingetragen?«
»Jawohl.«
»Mit wem?«
Die Zuschauer zeigten kein Interesse. Nur Rathbone saß stocksteif da, die Augen auf die Geschworenen gerichtet.
»Zenia Gadney«, erklärte Blakelock.
»Zenia Gadney?«, wiederholte Coniston mit gellender Stimme, als hätte ihn die Antwort verblüfft.
Sogar Pendock schreckte hoch, und sein Kinn klappte nach unten.
Durch die Geschworenenbank ging ein Schauer der Erregung. Ein Mann keuchte, alle anderen schnappten nach Luft.
Coniston wartete, bis die volle Bedeutung allen ins Bewusstsein gesickert war. Mit einem winzigen Lächeln fuhr er schließlich fort.
»Und wurde diese Ehe aufgelöst, Sir?«
»Nein.«
Coniston zuckte mit den Schultern und breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. »Wer ist dann Dinah Lambourn, die Mutter seiner Kinder, mit der er in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens bis zu seinem Tod zusammenlebte?«
»Ich nehme an, dass ›seine Geliebte‹ in diesem Fall der angemessenste Ausdruck wäre«, antwortete Blakelock.
»Und als Lambourn starb, wäre dann nicht Zenia … Lambourn die Witwe und nicht die Angeklagte?«
»Ja.«
»Und infolgedessen Erbin des Vermögens?«
Rathbone erhob sich. »Mylord, das ist eine Spekulation, die anzustellen Mr Blakelock keine Befugnis hat und die im Übrigen falsch ist. Wenn Sie das wünschen, kann ich Dr. Lambourns Notar aufrufen, der Ihnen bestätigen wird, dass er sein Vermögen seinen Töchtern Adah und Marianne vermacht hat. Es gab ein kleines Legat, eine Leibrente für Zenia Gadney. Die beläuft sich in etwa auf den Betrag, den er ihr zu seinen Lebzeiten gab.«
Pendock funkelte ihn an. »Sie hatten davon Kenntnis, Sir Oliver?«
»Ich hatte von den Bestimmungen des Testaments Kenntnis, Mylord. Es erschien mir naheliegend, mich diesbezüglich zu erkundigen.«
Pendock setzte zu einer Widerrede an, überlegte es sich dann aber anders. Es wäre unangebracht gewesen, Rathbone zu fragen, was Dinah ihm anvertraut hatte; abgesehen davon würden sich die Geschworenen ohnehin ihr eigenes Urteil bilden. So, wie es stand, hatte Coniston es ohnehin nicht nötig, kleinere Scharmützel zu gewinnen.
»Ich bitte um Entschuldigung, Mylord«, sagte Coniston mit einem leisen Lächeln. »Es war nur eine Vermutung, und wie mein gelehrter Freund zu bedenken gegeben hat, in diesem Fall eine unberechtigte. Vielleicht möchte die Verteidigung jemanden aufrufen, der beweist, dass der Angeklagten bekannt war, dass ihre Kinder erben würden? Dann würde sich ihre sehr natürliche Sorge erübrigen, durch den Selbstmord ihres Mannes in Armut zu verfallen, und zurückbliebe nur noch das Motiv der nicht minder natürlichen Eifersucht.«
Rathbone gestattete sich einen Gesichtsausdruck von völliger Fassungslosigkeit. »Will der Strafverfolger unterstellen, dass die Angeklagte auf die Frau eifersüchtig war, die sie so offensichtlich in Dr. Lambourns Gunst ersetzt hatte?«, rief er. »Oder dass Zena Gadney nach all den Jahren plötzlich so eifersüchtig wurde, dass sie Dinah Lambourn angriff? In diesem Fall wäre zwar die Verstümmelung immer noch abstoßend und unnötig, aber der Schlag, der Mrs Gadneys Tod verursachte, könnte durchaus als Selbstverteidigung aufgefasst werden!«
»Das ist absurd!«, rief Coniston ungläubig, doch ohne Empörung erkennen zu lassen. »Mylord …«
Pendock hob die Hand. »Schon gut, Mr Coniston. Ich sehe selbst, wie grotesk das ist.« Er funkelte Rathbone an. »Sir Oliver, ich dulde nicht, dass dieser ernste und bedeutende Prozess zu einer Farce entartet! Die Angeklagte suchte das Opfer dort, wo es lebte. Was immer geschah, nachdem sie es gefunden hatte, starb es durch Gewalteinwirkung und an einer grässlichen Verstümmelung. Das sind unbestreitbare Fakten. Die Geschworenen werden sich ihre eigene Meinung darüber bilden, wer die Schuld trägt. Ist das das Ende der Beweisführung seitens der Anklage, Mr Coniston?«
»Ja, Mylord.«
Pendock wandte sich an Rathbone. »Haben Sie noch Fragen an Mr Blakelock?«
»Nein, Mylord, danke.«
»Dann dürfen Sie den ersten Zeugen der Verteidigung aufrufen.« Pendock hob den Blick zu Blakelock. »Danke. Sie dürfen den Zeugenstand verlassen.«
Mitten auf der freien Fläche vor dem Richterpult kam sich Rathbone plötzlich vor wie ein Gladiator in einer römischen Arena, der ohne schützende Rüstung oder Schwert auf die Löwen wartete. Noch nie hatte er sich so verletzlich gefühlt, nicht einmal bei Fällen, bei denen er gewusst hatte, dass sein Mandant schuldig war. Wie ein Schock traf ihn die Erkenntnis, dass es nicht sein Glaube an Dinah war, der gelitten hatte, sondern der Glaube an sich selbst.
Jetzt musste er sorgfältig Andeutungen über eine mächtige Person streuen, die wild entschlossen war, sich selbst zu schützen. Zugleich musste er unbeirrt an seinem Glauben an Dinahs Unschuld festhalten, auch wenn das jeder Vernunft Hohn zu sprechen schien. Zu keinem Zeitpunkt durfte er aus den Augen verlieren, dass Lambourn im Laufe seiner Untersuchung etwas entdeckt hatte, das einen mächtigen Mann gefährdete, woraufhin man ihn ermordet hatte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern, hatte man dann seinen Tod wie einen Selbstmord arrangiert. Zenia Gadney wiederum hatte man ermordet, weil man sie als Opfer brauchte, damit Dinah aus dem Weg geräumt und ihr Kreuzzug zur Rettung von Lambourns Ruf und seiner Mission im Keim erstickt werden konnte.
Er zwang sich zu einem Lächeln, das ihm selbst gespenstisch vorkam.
»Ich rufe Mrs Helena Moulton auf.«
Der Gerichtsdiener befahl Helena Moulton in den Saal. Gleich darauf trat sie ein und erklomm etwas zögernd die Stufen zum Zeugenstand. Die Nervosität war ihr deutlich anzusehen. Ihre Stimme zitterte, als sie schwor, die Wahrheit zu sagen.
»Mrs Moulton«, begann Rathbone in sanftem Ton, »sind Sie mit der Angeklagten, Mrs Dinah Lambourn, bekannt?«
»Ja.« Mrs Moulton vermied es, zur Anklagebank zu sehen. Als wäre ihr Hals mit einer Klammer fixiert worden, starrte sie unentwegt in Rathbones Richtung.
»Waren Sie Freundinnen?«, fragte er.
»Ich … ja. Ja, wir waren Freundinnen.« Sie schluckte. Sie war kreidebleich, und ihre Hände lagen verkrampft auf der Brüstung. Auf ihren mit Juwelen besetzten Ringen glitzerte das Licht.
»Denken Sie an Ihre Gefühle bei dieser Freundschaft zurück«, forderte Rathbone sie auf. Ihm war schmerzlich bewusst, dass es Helena Moulton jetzt peinlich sein musste, sich zu ihrer Freundschaft mit Dinah zu bekennen, und sie wohl Angst hatte, die Kreise, in denen sie sich bewegte, würden ihr deswegen unterstellen, sie billige die Dinah zur Last gelegte Tat.
Rathbone glaubte nicht, dass ihre Aussage einen Umschwung zu Dinahs Gunsten auslösen würde, ja nicht einmal, dass sie überhaupt etwas bewirken würde, aber er brauchte jede zusätzliche Stunde, um die er die Vernehmung seiner wenigen Zeugen in die Länge ziehen konnte, um vielleicht doch noch die Umrisse irgendeines anderen Verdächtigen entwerfen zu können. Vielleicht stieß Monk zufällig gerade jetzt auf einen Beweis seiner Existenz. Und erstaunlicherweise hatte er fast das gleiche Vertrauen in Runcorn. Dieser Mann hatte etwas Stures, eine Art, sich festzubeißen und bis zum Ende nicht lockerzulassen.
Mrs Moulton wartete auf die Frage. Damit war sie nicht allein. Pendock zeigte sich allmählich verärgert.
»Sie haben viel zusammen unternommen?«, fuhr Rathbone fort. »Sie sind zu Nachmittagspartys, Kunst- und Reisefotografieausstellungen und auch ins Theater gegangen und haben natürlich auch im Sommer Gartenpartys besucht?«
»Wie viele andere auch«, sagte sie misstrauisch.
»Selbstverständlich. Ohne viele Leute kann man ja wohl kaum von einer Party sprechen, nicht wahr?«, säuselte Rathbone. »Sie beide waren gern zusammen?«
Auf eine Frage wie diese konnte sie schlecht mit Nein antworten. Sonst hätte sie indirekt zugegeben, Hintergedanken verfolgt zu haben.
»Doch, doch … ja«, bestätigte sie widerstrebend.
»Sie müssen über vieles gesprochen haben.«
Coniston erhob sich. »Mylord, damit wird nur die Zeit dieses Gerichts verschwendet. Die Staatsanwaltschaft nimmt zur Kenntnis, dass Mrs Moulton mit der Angeklagten befreundet war. Allerdings kann ich Letztere wohl nicht mehr berechtigterweise ›Mrs Lambourn‹ nennen.«
Rathbone wollte protestieren, hatte jedoch keine hinreichende Begründung. Falls er dieses Scharmützel verlor, war das in den Augen der Geschworenen nur eine weitere Niederlage.
Pendock maß Rathbone mit einem verdrießlichen Blick. »Wollen Sie auf irgendetwas Bestimmtes hinaus, Sir Oliver? Wenn ja, dann sprechen Sie es bitte zügig an. Welche gesellschaftlichen Ereignisse Mrs Moulton und die Angeklagte besucht haben, erscheint doch wirklich völlig irrelevant.«
»Mylord, ich versuche zu klären, inwieweit Mrs Moulton in der Lage ist, den Geisteszustand der Angeklagten zu beurteilen.«
»Dann betrachten Sie das bitte als geklärt und stellen Sie Ihre Frage.«
»Sehr wohl, Mylord.« Rathbone hatte sich mehr Zeit erhofft, konnte aber nichts gegen den Richter vorbringen. »Mrs Moulton, war die Angeklagte in der letzten Woche vor Dr. Lambourns Tod nervös oder übermäßig besorgt?«
Mrs Moulton zögerte. Kurz sah sie auf, als wollte sie mit der in der Anklagebank stehenden Dinah Blickkontakt herstellen, doch dann überlegte sie es sich anders und starrte wieder Rathbone an. »Soweit ich mich erinnere, war ihr Verhalten nicht anders als sonst. Sie … sie erwähnte allerdings, dass sie sehr viel zu tun hatte, und wirkte ziemlich müde.«
»Und nach seinem Tod?«
Ein Ausdruck von tiefem Mitgefühl legte sich über ihr Gesicht, und alle Befangenheit und Anspannung fielen von ihr ab. »Sie war wie eine Schlafwandlerin«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der derart von seinem Kummer gebeugt war. Ich wusste, dass sie einander nahe waren. Er war ein sehr sanfter Mann, ein guter Mensch …« Sie schluckte und gewann nur mit Mühe die Fassung zurück. »Ihre Trauer schnitt mir ins Herz, aber es gab nichts, was ich hätte tun können. Niemand konnte etwas tun.«
»Das ist richtig«, bestätigte Rathbone leise. »Selbst die engsten Freunde vermögen es nicht, einen solchen Verlust auszugleichen. Der Tod an sich ist schon entsetzlich, aber dass ein Mensch sich selbst das Leben genommen haben soll, macht ihn noch viel schlimmer.«
»Das hat sie aber nicht geglaubt!«, rief Mrs Moulton eindringlich und beugte sich weit über das Geländer, als könnte sie so den Abstand zwischen ihnen verringern und ihren Worten mehr Macht verleihen. »Sie hat immer gesagt, dass sie ihn umgebracht haben, um zu … verhindern, dass seine Untersuchung angenommen wird. Und ich bin mir sicher, dass sie das auch fest glaubte.«
»Allerdings, Mrs Moulton, dessen bin ich mir auch sicher!«, pflichtete Rathbone ihr bei. »Mehr noch, ich beabsichtige, das den Geschworenen klarzumachen.«
Eine Ahnung von Unmut flackerte über Conistons Gesicht, ohne allerdings den Ausdruck von Selbstgefälligkeit zu verdrängen.
Pendock war irritiert, unterbrach aber nicht.
Rathbone sprach eilig weiter, beseelt von einer zarten Zuversicht, die wie eine Flamme im Wind flackerte und jeden Moment erlöschen konnte.
»Wie Sie wissen, wurde Ihre Freundin wegen des Verdachts des Mordes an Zenia Gadney verhaftet, nachdem sie am Tag davor in der Copenhagen Place gesehen worden war, wo sie Anwohner nach ihrer Adresse fragte. Im Verhör gab sie aber an, am fraglichen Tag bei Ihnen gewesen zu sein. Trifft das zu?«
Das Unbehagen war Helena Moulton deutlich anzumerken. »Ja«, hauchte sie so leise, dass Pendock sie bitten musste, ihre Antwort für die Geschworenen zu wiederholen. Sie gab sich einen Ruck. »Ja!«
Rathbone schenkte ihr ein winziges aufmunterndes Lächeln. »Und verbrachte sie diesen Tag mit Ihnen, Mrs Moulton?«
»Nein.«
Pendock beugte sich vor.
»Nein«, wiederholte sie deutlicher. »Sie …« Sie schluckte. »Sie sagte, sie sei mit mir bei einer Soiree gewesen. Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen ist. Das konnte ich unmöglich bestätigen. Ich war in einer Kunstausstellung, wo mich Dutzende von Leuten sahen. Abgesehen davon hat an diesem Tag weit und breit keine Soiree stattgefunden.«
»Sie kann also auf keinen Fall die Wahrheit gesagt haben?«, schloss Rathbone.
»Auf keinen Fall.«
Erneut erhob sich Coniston. »Mylord, mein gelehrter Freund verschwendet schon wieder unsere Zeit. Wir haben längst festgestellt, dass die Angeklagte gelogen hat! Das ist nicht mehr Gegenstand dieses Prozesses.«
»Mylord!«, rief Rathbone, an Pendock gewandt. »Das ist nicht das Argument, auf das ich hinarbeite. Was Mr Coniston offenbar nicht mitbekommen hat, ist die Tatsache, dass Dinah Lambourn zu keinem Zeitpunkt erwarten konnte, dass man ihr diese Aussage glauben würde.«
Coniston breitete theatralisch die Hände aus. Es war eine Geste der Hilflosigkeit, mit der er den Zuschauern im Allgemeinen und den Geschworenen im Besonderen den Schluss nahelegte, dass Rathbone wirklich verzweifelt sein musste, wenn er mit allen Mitteln Zeit schinden wollte, um das Unvermeidbare hinauszuschieben.
»Sir Oliver!«, donnerte Pendock entnervt. »Das scheint in der Tat ein völlig nutzloses Manöver zu sein. Wenn Sie in diesem … Durcheinander so etwas wie einen roten Faden sehen, dann lassen Sie das Gericht das bitte wissen.«
Rathbone wurde zu größerer Eile gedrängt, als ihm das recht sein konnte, und Pendocks Miene verriet ihm, dass er ihm keinen größeren Spielraum gewähren würde. Bevor ihm endgültig das Wort entrissen wurde, musste er Dinahs so tapferes wie verzweifeltes Wagnis jetzt schildern.
»Mylord, ich versuche, den Geschworenen zu zeigen, dass Dinah Lambourn glaubte, dass ihr Mann mit der Zurückweisung seiner Untersuchung verunglimpft und dann seine Kompetenz als Wissenschaftler mit übler Nachrede in den Schmutz gezogen worden war. Als er sich weigerte, still und leise zurückzutreten und sich von etwas zu distanzieren, von dem er wusste, dass es die Wahrheit war, wurde er kaltblütig ermordet. Damit das wie ein Selbstmord aussah, wurden die Umstände entspechend arrangiert.«
Der Gerichtssaal explodierte. Jemand schrie eine wüste Beschimpfung. Ein Mann jubelte. Die Geschworenen fuhren aufgeschreckt herum.
Pendock drosch mit seinem Hammer auf das Pult und verlangte Ruhe.
Coniston zeigte sich erst ungeduldig und dann angewidert.
Sobald sich die Zuschauer einigermaßen beruhigt hatten, fuhr Rathbone mit erhobener Stimme fort: »Sie war willens, sich einem Prozess über einen Mord auszusetzen, den sie nicht begangen hat!«, dröhnte er. »Ihr Ziel war es, sich vor der Öffentlichkeit über den heimtückisch eingefädelten Mord an ihrem Mann Gehör zu verschaffen und zu erzwingen, dass sich wenigstens ein Mensch fand, der seinen Tod noch einmal untersuchte.« Er wandte sich an die völlig verdatterten Geschworenen. »Sie ist bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, damit Sie, die Vertreter unseres Volks, die Möglichkeit bekommen, die Wahrheit über Joel Lambourns Entdeckung zu erfahren und für sich zu beurteilen, ob er ein guter, ehrlicher und fähiger Mensch war, der nach Kräften seinem Land diente, oder ob er verblendet, eitel und letztlich doch ein Selbstmörder war.«
Er deutete nach oben zur Anklagebank. »So groß war – und ist – ihre Liebe zu ihm. Sie hat niemanden getötet, noch weiß sie, wer Joel Lambourn oder die bedauernswerte Zenia Gadney ermordet hat. Und das werde ich Ihnen beweisen, so wahr es einen gnädigen Gott und in England ein Gesetz gibt!«
Gegen den Sturm, der jetzt auf den Zuschauerrängen ausbrach, vermochte Pendocks Hammer nichts mehr auszurichten. Schließlich ließ der Richter den Saal räumen und ordnete eine verfrühte Mittagspause an. Dann erhob er sich und eilte hinaus, seine Robe flatterte wie ein gebrochener scharlachroter Flügel.
Zur Not war Rathbone bereit, Adah und Marianne Lambourn aufzurufen, einfach um Zeit zu gewinnen. Vielleicht entdeckte Monk ja noch in letzter Sekunde einen Beweisfetzen, der hinreichende Zweifel aufwerfen würde. Ursprünglich hatte Rathbone gehofft, zu erfahren, wer Zenia ermordet hatte, und das auch beweisen zu können. Wenn es ihm zudem gelungen wäre zu belegen, dass Lambourn nicht Selbstmord begangen hatte, hätte Dinah rational und liebevoll gewirkt, doch bislang war er bei jedem Schritt in diese Richtung behindert worden. Im Augenblick blieb ihm nur noch die Möglichkeit, vage auf eine manipulierende Person hinzuweisen, der er erst noch einen Namen verleihen musste.
Vielleicht hätte ihn der bisherige Verlauf des Prozesses nicht überraschen dürfen. Wenn Dinah recht hatte, dann hatte eine Persönlichkeit von enormer Macht sehr viel zu verbergen, und sowohl Pendock als auch Coniston waren dementsprechend in Kenntnis gesetzt worden. Darüber hinaus hatte man wohl auch die Drohung anklingen lassen, dass mit der Enttarnung des Betreffenden sein Ruf nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden drohte und mit ihm womöglich die Ehre der Regierung.
Rathbone gestand sich ein, dass er darauf angewiesen war, vernünftigen Zweifel zu begründen. Der bestand in der Möglichkeit, dass es irgendeine andere Lösung geben konnte, egal, wie vage, deren Existenz sich beweisen ließe. Gelang ihm das, musste er nur noch diesen Nachmittag und den morgigen Tag überstehen, dann würde ihm Weihnachten eine kurze Atempause bis Freitag verschaffen. Und danach kam das Wochenende. Zugleich wusste er aber auch, dass er sich bei niemandem beliebt machen würde. Er würde den Leuten das Fest verderben, wenn sie seinetwegen gleich nach Weihnachten erneut ihre lästige Pflicht erfüllen mussten. Gerne hätte er darauf verzichtet, hätte er eine andere Wahl gehabt.
Sein erster Zeuge in der Nachmittagssitzung war der Ladeninhaber, der Dinahs Besuch in der Copenhagen Place und ihre extremen Emotionen derart lebhaft geschildert hatte, dass die meisten seiner Kunden jetzt das Gefühl hatten, selbst dabei gewesen zu sein und die Frau auf Anhieb erkennen zu können.
Rathbone wusste freilich, dass die eigenen Gedanken das Auge durchaus täuschen konnten. Insofern hoffte er, dass genau das auch bei ihrem Besuch in Jenkins’ Laden der Fall gewesen war und dessen Erinnerungen statt einem echten Erlebnis eher dem Wissen um die späteren Ereignisse zu verdanken waren. Es stellte natürlich ein gewisses Risiko dar, diesen Mann jetzt in den Zeugenstand zu rufen, zumal nach ihm Coniston die Möglichkeit bekommen würde, ihn auszufragen, doch inzwischen hatte Rathbone ohnehin nichts mehr zu verlieren.
Aus der Sicherheit seines Ladens und des vertrauten Gewerbes gerissen, wirkte Mr Jenkins äußerst gewöhnlich, als er sich im Zeugenstand postierte. So, wie er sich an das Geländer klammerte, konnte man fast meinen, er kämpfte bei stürmischer See auf der heftig schwankenden Kommandobrücke seines Schiffs um Halt. War das die nur zu verständliche Nervosität eines Mannes, der sich in einer höchst ungewohnten Umgebung befand und obendrein genau wusste, dass von seinem Wort das Leben einer Frau abhing? Oder plante er aus Furcht vor dem Zorn ihrer Gegner, das, was er Rathbone angekündigt hatte, zurückzunehmen?
Zuallererst musste Rathbone ihn beruhigen. Er trat vor, bis er dem Zeugenstand so nahe war, dass er darauf verzichten konnte, mit erhobener Stimme zu sprechen.
»Guten Tag, Mr Jenkins«, begann er. »Vielen Dank dafür, dass Sie uns Ihre Zeit opfern. Wir sind uns dessen bewusst, dass Sie ein Geschäft zu führen haben und Ihre Kunden außer am Sonntag jeden Tag Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Darum werde ich Sie nicht lange von der Arbeit abhalten. Sie haben einen Gemischtwarenladen in der Copenhagen Place, Limehouse, ist das richtig?«
Jenkins räusperte sich. »Jawohl, Sir.«
»Sind die meisten Ihrer Kunden Leute aus dem Viertel, die in einem Umkreis von … sagen wir, einer halben Meile um Ihr Geschäft leben?«
»Jawohl, Sir.«
»Weil die Menschen Lebensmittel aller Arten benötigen und sie verständlicherweise nicht weiter als unbedingt nötig tragen möchten?«
Coniston rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her.
Pendock zog ein verdrießliches Gesicht.
Nur die Geschworenen lauschten aufmerksam. Sie glaubten, gleich würde etwas Wichtiges und vielleicht Brisantes kommen. Schließlich war Rathbone berühmt und weithin gefürchtet. Und wenn sie das nicht vor dem Prozess gewusst hatten, so war es ihnen spätestens jetzt klar.
Jenkins nickte. »O ja, Sir. Ich kenn sie ganz gut. Ich hab die Sachen, die sie brauchen, alle im Laden. Sie müssen mich gar nich’ fragen.«
»Ein Fremder würde Ihnen also sofort auffallen?«, fragte Rathbone lächelnd. »Jemand, der nicht im Viertel lebt und vielleicht Wünsche hat, die Ihnen neu sind?«
Jenkins schluckte. Er wusste um die Bedeutung dieser Frage. »Ich denke, ja.« Schon war er sich weniger sicher. Seine Worte verrieten Unschlüssigkeit.
»Eine gut gekleidete Frau, die nicht aus Limehouse stammte, die noch nie bei Ihnen Lebensmittel gekauft hatte und weder Tasche noch Korb bei sich trug?«, half ihm Rathbone.
Jenkins starrte ihn wortlos an.
Doch Rathbone brauchte eindeutige Antworten. Freilich durfte er die Fragen nicht noch einmal wiederholen oder dem Zeugen Antworten in den Mund legen, sonst würden ihm die Geschworenen die Verzweiflung anhören.
»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie einen sehr freundlichen oder zumindest ungezwungenen Umgang mit den meisten Ihrer Kunden pflegen, Mr Jenkins. Sie sind ja auch unbescholtene Bürger, die einem ordentlichen Beruf nachgehen?«
»Ja … ja, natürlich.«
»Eine Frau mit wildem, um nicht zu sagen hysterischem Gebaren würde in Ihrem Laden also sofort auffallen?«
Coniston erhob sich.
Rathbone drehte sich mit fragender Miene zu ihm um, den Kopf schiefgelegt, als sei er verwundert.
Mit einem entnervten, unendlich gelangweilten Seufzen ließ sich sein Gegner zurück auf seinen Stuhl sinken. Nichts von alldem würde seinen Eindruck auf die Geschworenen verfehlen. Für einen Moment war ihre Konzentration durchbrochen und die Intensität der Emotionen gemindert worden.
»Mein gelehrter Freund scheint die Bedeutung meiner Frage nicht erfasst zu haben, Mr Jenkins«, meinte Rathbone mit einem Lächeln. »Vielleicht ist sie auch anderen unklar. Ich versuche zu zeigen, dass Ihr Geschäft in der Nachbarschaft Dienste an der Gesellschaft leistet. Sie kennen sämtliche Frauen in der Umgebung, die ihren täglichen Bedarf an Tee, Zucker, Mehl, Gemüse und so weiter bei Ihnen decken. Das sind anständige, respektable Personen, die sich bei Ihnen unter Freunden fühlen. Eine Frau, die Sie noch nie gesehen haben und die offenbar auch sonst niemand kennt und deren Gebaren hysterisch und sehr fordernd ist, fällt da aus dem Rahmen. Es ist sehr wahrscheinlich, um nicht zu sagen, so gut wie sicher, dass man sich an sie erinnert. Trifft das zu?«
Jenkins konnte nicht anders, als zuzustimmen. Hatte Coniston mit seinem Verhalten der Verteidigung am Ende sogar unbeabsichtigt einen Gefallen getan? Rathbone wagte nicht, sich mit einem Blick auf ihn zu vergewissern. Dann würden die Geschworenen ihn sofort als Spieler durchschauen.
»Ich … ich denke, dass ich sie mir merken würde«, murmelte Jenkins.
»Dann möchte ich Sie bitten, zur Anklagebank zu sehen und mir zu sagen, ob Sie sicher sind, dass die Frau dort oben dieselbe Person ist, die in Ihren Laden kam und fragte, wo Zenia Gadney lebte. Wir haben bereits gehört, dass es eine große, dunkelhaarige Frau war, die ihr ungefähr ähnelte, aber in London gibt es Tausende Frauen dieses Aussehens. Sind Sie sicher, ohne jeden Zweifel sicher, dass sie diese Frau war? Sie schwört, dass sie es nicht war.«
Jenkins spähte zu Dinah hinauf. Dabei blinzelte er leicht, als wären seine Augen getrübt.
Rathbone wandte sich an Pendock. »Mylord, darf ich mit Erlaubnis des Gerichts die Angeklagte bitten, sich zu erheben?«
Pendock blieb keine Wahl. Das Ersuchen war nur eine Förmlichkeit. Hätte er es abgewiesen, hätte er Gründe dafür anführen müssen, und die gab es nicht.
»Bitte«, brummte der Richter.
Rathbone drehte sich zur Anklagebank um, woraufhin Dinah sich erhob. Wie Rathbone sofort merkte, wirkte sich das zu ihrem Vorteil aus. Man konnte sie deutlicher sehen, und jeder einzelne Geschworene verrenkte sich schier den Hals. Ihr Gesicht war blass und von der Trauer schwer gezeichnet, doch auf gewisse Weise war sie schöner als bei sich zu Hause, wo ihr alles vertraut war. Auch wenn die Öffentlichkeit sie bereits verurteilt hatte, war sie vom Gericht noch nicht für schuldig befunden worden und durfte darum ihre eigenen Gewänder tragen. Da sie noch um ihren Mann trauerte, war sie entsprechend schwarz gekleidet. Zusammen mit ihren ausdrucksstarken Zügen und ihrer makellosen Haut betonte das auf verblüffende Weise die Schönheit ihres Gesichts, aber auch das darin gespiegelte Leid. Sie wirkte gefasst, als hätte sie nicht mehr die Energie, zu hoffen oder zu kämpfen.
Jenkins schluckte erneut. »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nich’ sagen, dass sie das war. Sie … sieht anders aus. Ich kann mich nich’ erinnern, dass ihr Gesicht so aussah.«
»Danke, Mr Jenkins«, stieß Rathbone, vor Erleichterung aufatmend, hervor. »Mein gelehrter Freund wird Sie vielleicht noch etwas fragen wollen, aber was mich betrifft, möchte ich Sie nicht länger davon abhalten, in Ihr Geschäft zurückzukehren und wieder Ihre Dienste an der Gemeinschaft in der Copenhagen Place zu leisten.«
»Jawohl, Sir.« Nervös wandte sich Jenkins zu Coniston um.
Der Vertreter der Klage verriet nur für den Bruchteil einer Sekunde ein Zögern, und mindestens ein, zwei Geschworene mussten es bemerkt haben.
»Mr Jenkins«, begann Coniston in freundlichem Ton, da er gespürt hatte, dass der Ladeninhaber die Sympathien der Zuschauer genoss. Das war ein Mann aus dem Volk, hatte wahrscheinlich eine Familie, die er versorgte, und versuchte sein Bestes in einer Situation, die ihm zuwider sein musste. Sicher wollte er die Befragung so schnell wie möglich hinter sich bringen und wieder in sein ruhiges, von harter Arbeit geprägtes Leben zurückkehren, das ihm viele kleine Freuden bot und in dem er seine Meinung frei äußern konnte, ohne dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde.
Rathbone wusste, dass all das nun Coniston durch den Kopf ging, denn er hatte genau dasselbe erwogen.
Coniston lächelte. »Mr Jenkins, ich stelle fest, dass ich eigentlich keine weiteren Fragen an Sie habe. Sie sind ein aufrichtiger Mann, der durch Zufall und ohne eigenes Zutun in eine höchst unangenehme Situation geraten ist. Ihr Mitgefühl, Ihre Vorsicht und Bescheidenheit sind bewundernswert. Sie haben weder Macht über andere angestrebt noch das Licht der Öffentlichkeit gesucht. Bitte nehmen Sie auch meinen Dank an und kehren Sie in Ihr Geschäft zurück, wo Sie sicher dringend gebraucht werden, zumal so kurz vor Weihnachten.« Er verbeugte sich knapp und kehrte gemessenen Schritts an seinen Platz zurück.
Pendocks Gesicht verriet Anspannung. Er blickte auf die Uhr, dann zu Rathbone hinüber.
»Sir Oliver?«
Rathbone hätte gerne mit Monk gesprochen, bevor er seinen nächsten Zeugen aufrief. Aber dafür war es zu früh. Er erhob sich. »Die Aussage meines nächsten Zeugen könnte sich ziemlich lange hinziehen, Mylord, und ich gehe davon aus, dass Mr Coniston den Wunsch haben wird, einige seiner Angaben sehr genau nachzuprüfen.« Nun sah auch er auf die Uhr. Er wollte es vermeiden zuzugeben, dass er Runcorn nirgendwo entdecken konnte. Aber wenn Pendock ihn dazu zwang weiterzumachen, blieb ihm nichts anderes übrig.
»Na schön, Sir Oliver.« Der Richter seufzte. »Der Prozess wird bis morgen Vormittag vertagt.«
»Sehr wohl, Mylord. Danke.«
Kaum hatte Rathbone sein Zimmer erreicht, schrieb er Runcorn eine Nachricht, mit der Bitte, bei der Fortführung der Verhandlung am nächsten Morgen als Zeuge aufzutreten. Ihre geringen Erfolgsaussichten wären davon abhängig. Er selbst würde die Befragung nach Möglichkeit in die Länge ziehen, denn sonst hätte er außer Dinah selbst kaum etwas vorzubringen, es sei denn, Monk hätte noch etwas entdeckt, das es ihm erlaubte, den Verdacht glaubhaft in eine andere Richtung zu lenken. Er werde zumindest versuchen, die Injektion von Opium mit einer Spritze anzusprechen und auf die verheerende Sucht hinzuweisen, die dadurch ausgelöst würde.
Kaum hatte er den Brief zusammengefaltet, in einen Umschlag gesteckt und sein Wachssiegel angebracht, befielen ihn Zweifel. Hatte er am Ende zu viel gesagt?
Müde ging er nach Hause, fand jedoch keinen Schlaf.
Am Morgen nahm Rathbone unausgeruht und zutiefst besorgt einen Hansom zum Gericht. Runcorn hatte nichts von sich hören lassen, und wenn er nicht erschien, würde Rathbone nichts vorbringen können. Nicht, dass er glaubte, Pendock würde eine Entschuldigung, wie triftig auch immer, akzeptieren. Er hatte nicht einmal die Gewissheit, dass Runcorn seine Nachricht überhaupt erhalten hatte. Für den Fall, dass Runcorn sich heute nicht auf seiner Polizeiwache blicken ließ, hatte er sie der Sicherheit halber zu ihm nach Hause geschickt. Aber vielleicht war er erst spät heimgekommen und zu müde gewesen, um die Post zu öffnen.
Am Ludgate Circus war die Straße hoffnungslos verstopft von Einkäufern, Freunden, die einander ein frohes Fest wünschten, und Feiernden, die nicht bis zum Weihnachtstag warten wollten.
Rathbone hämmerte an die Rückwand seiner Kabine, um die Aufmerksamkeit des hinter ihm postierten Kutschers zu gewinnen. »Können Sie nicht einen Weg um dieses Gewühl herum finden? Ich muss zu einem Prozess im Old Bailey!«
»Ich tu ja schon mein Bestes!«, rief der Mann. »Es is’ eben Weihnachten!«
Rathbone schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Schließlich konnte der Mann nichts dafür, und mit Grobheit würde er alles nur noch schlimmer machen. Was, um alles auf der Welt, sollte er dem Gericht nur sagen, wenn sein Zeuge nicht auftauchte? Wen konnte er dann noch kurzfristig aufbieten? Man würde ihn für vollkommen unfähig halten! Das Gesicht brannte ihm jetzt schon beim bloßen Gedanken daran.
Hätte er die Nachricht vielleicht doch zu Runcorns Polizeiwache schicken sollen?
Schon wieder blieb der Hansom stehen. Um sie herum standen Gefährte aller Arten, während die Kutscher teils schimpfend, teils lachend Vorfahrt verlangten.
Rathbone war zu ungeduldig, um noch länger zu warten. Es war ja nur ein kurzer Weg vom Ludgate Hill zum Old Bailey. Vor ihm ragte die mächtige Kuppel der St. Paul’s Cathedral in den Winterhimmel, links von ihm türmte sich der Central Criminal Court auf, das Strafgericht, und unmittelbar dahinter befand sich das Newgate Prison. Er sprang aus der Droschke, warf dem Kutscher eine Handvoll Münzen zu und marschierte eilig los. Bald rannte er.
Er jagte die Stufen zum Gericht hinauf und wäre fast mit Runcorn zusammengestoßen, der in der Tür stand. Warum war er so unendlich erleichtert? Er hätte dem Mann vertrauen sollen! Jetzt war allerdings keine Zeit mehr, mit ihm zu sprechen. Durch seine eigene Schuld war er zu spät gekommen. Nur ein paar Schritte von ihm entfernt stand Coniston, und über die Vorhalle näherte sich Pendock. Wenn er jetzt versuchte, Rücksprache mit Runcorn zu nehmen, würde das wirken, als wäre er hinsichtlich der erwarteten Aussage unsicher. Und Coniston ein solches Geschenk zu machen konnte er sich wirklich nicht leisten.
Fünfzehn Minuten später stand er an seinem Pult, vor ihm seine Notizen, zuoberst ein Brief von Runcorn. Er riss den Umschlag auf und las die wenigen Zeilen.
»Lieber Sir Oliver!
Alles bereit. Habe ein paar interessante Dinge untersucht. Bin mir noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, Mrs Monk ist dem Arzt auf der Spur.
Runcorn.«
Erneut machte sich Rathbone Vorwürfe, dass er ihm nicht genügend vertraut hatte.
»Bitte rufen Sie Ihren Zeugen auf, Sir Oliver«, forderte ihn Pendock auf. Seine Stimme klang rau und angespannt, als hätte auch er wenig geschlafen.
»Ich benenne Superintendent Runcorn von der Greenwich Police«, erklärte Rathbone.
Runcorn trat ein und schritt an den Zuschauerrängen vorbei zum Zeugenstand. Kräftig und vor Selbstvertrauen strotzend, war er eine imposante Erscheinung. Nachdem er den Eid geleistet hatte, wartete er aufrecht stehend auf die Fragen. Seine Hände hingen locker an den Seiten herab – er klammerte sich nicht am Geländer fest.
Rathbone räusperte sich. »Superintendent, Sie sind Kommandant der Polizei im Gebiet Greenwich, richtig?«
»Jawohl, Sir«, antwortete Runcorn würdevoll.
»Wurden Sie alarmiert, als vor knapp drei Monaten Joel Lambourns Leiche auf dem One Tree Hill im Greenwich Park entdeckt wurde?«
»Jawohl, Sir. Dr. Lambourn war in Greenwich eine bekannte und weithin bewunderte Persönlichkeit. Sein Tod war eine Tragödie.«
Coniston stand auf. »Mylord, wir haben bereits in ziemlicher Ausführlichkeit von Dr. Lambourns Tod und der Reaktion der Angeklagten vernommen. Ich vermag nicht zu erkennen, was Mr Runcorn dem bisher Gesagten noch hinzufügen könnte. Mein gelehrter Freund ist verzweifelt und verschwendet die Zeit des Gerichts. Wenn es hilfreich ist, wird die Strafverfolgung den Fakten zustimmen, wie sie bereits präsentiert worden sind.«
Rathbone befürchtete, dass Runcorns Aussage verhindert wurde, bevor er überhaupt begonnen hatte. Noch bevor Pendock den Mund öffnen konnte, protestierte er.
»Mylord, ist es nicht eher Zeitverschwendung, wenn die Anklage zu etwas die Zustimmung erteilt, das sie selbst präsentiert hat?«
»Das alles noch einmal zu hören ist Zeitverschwendung!«, blaffte Pendock. »Wenn Sie nichts Neues zu sagen haben, Sir Oliver, dann haben Sie zwar mein Mitgefühl für Ihre Notlage, aber es ist nicht meine Aufgabe, Wunschdenken nachzugeben. Mr Conistons Einwand wird stattgegeben.« Er wandte sich an den Staatsanwalt. »Mr …«
»Mylord!« Rathbone hob die Stimme, gab sich aber alle Mühe, sie frei von Emotionen zu halten. »Mr Coniston hat Indizien bezüglich Dr. Lambourns Tod vorgelegt, aber aus Gründen, die er selbst am besten kennt, hat er auf eine Vernehmung von Superintendent Runcorn verzichtet, dem Mann, der ursprünglich mit der Untersuchung beauftragt war. Hätte Mr Coniston diesen Todesfall nicht für relevant erachtet, hätte er ihn nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Mehr noch, Eure Lordschaft hätten ihm das nicht gestattet! Mit allem Respekt stelle ich dem Gericht anheim, der Verteidigung das Recht zu gewähren, Mr Runcorn im Lichte der neu entdeckten Indizien zu befragen.«
Kein Laut war im Gerichtssaal zu hören. Niemand rührte sich.
Pendocks Mund war ein dünner, harter Strich.
Coniston starrte erst Pendock, dann Rathbone an.
Runcorn blickte zu den Geschworenen hinüber und lächelte.
Einer von ihnen rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Bleiben Sie beim Thema, Sir Oliver«, sagte Pendock schließlich. »Ob Mr Coniston Einspruch erhebt oder nicht – wenn Sie davon abweichen, werde ich Ihnen Einhalt gebieten.«
»Danke, Mylord«, brachte Rathbone hervor, dem es nur mit Mühe gelang, die Fassung zu wahren. Einmal mehr wurde ihm eindringlich bewusst, dass Pendock ihn mit Habichtsaugen auf den geringsten Protokollfehler hin beobachtete. Was immer der Grund sein mochte, was immer Dinah Runcorn gesagt haben mochte, Pendock würde die Verteidigung mit jedem rechtlich zulässigen Mittel behindern.
Rathbone nahm einen neuerlichen Anlauf. »Sie wurden mit der Untersuchung von Dr. Lambourns Tod beauftragt, als seine Leiche am One Tree Hill entdeckt wurde.« Obwohl er diese Worte an Runcorn richtete, blickte er dabei die Geschworenen an.
»Ja«, bestätigte Runcorn. »Ein Mann, der seinen Hund spazieren führte, sah Lambourns Leiche mehr oder weniger gegen einen Baum…«
Coniston erhob sich. »Mylord, Mr Runcorn unterstellt, dass …«
»Ja, ja!«, stimmte Pendock ihm zu. Er wandte sich zum Zeugenstand um. »Mr Runcorn, hüten Sie bitte Ihre Zunge. Unterstellen Sie nicht etwas, wovon Sie nichts wissen. Äußern Sie sich einfach zu dem, was Sie gesehen haben, ist das klar?«
Das war bis zum Äußersten getriebene Bevormundung. Rathbone sah, wie sich Runcorns Gesicht rot verfärbte, und betete zu Gott, dass er nicht die Beherrschung verlor.
»Ich war im Begriff zu sagen: ›gegen einen Baumstamm gelehnt dasaß‹«, stieß Runcorn zwischen aufeinandergepressten Zähnen hervor. »Wäre er nicht abgestützt gewesen, wäre er umgefallen. Er war ohnehin schon leicht zur Seite gekippt.«
Pendock entschuldigte sich nicht, doch Rathbone sah seinem Gesicht an, dass er sich über sich selbst ärgerte. Auch die Geschworenen mussten das bemerkt haben.
Rathbone verkniff sich ein Grinsen. »Er war tot?«, fragte er.
»Ja. Sogar schon kalt«, bestätigte Runcorn. »Aber die Nacht war frostig gewesen, und es ging ein leichter Wind, der für die Jahreszeit zu kalt war. Seine Handgelenke waren an der Innenseite aufgeschnitten, und es sah so aus, als wäre er verblutet.«
Pendock beugte sich vor. »›Sah so aus‹? Wollen Sie zu verstehen geben, dass das nicht der Fall war, Mr Runcorn?«
»Nein, Mylord.« Runcorns Miene gab keine Regung preis. »Ich versuche lediglich, die Dinge so auszudrücken, wie sie mir zu dem Zeitpunkt bewusst waren. Der Polizeiarzt hat das dann bestätigt. Bei der Autopsie kam später heraus, dass er auch eine beträchtliche Dosis Opium eingenommen hatte, die aber nicht ausgereicht hätte, ihn zu töten. Ich vermutete damals, dass es vielleicht die Schmerzen beim Aufschneiden der Handgelenke betäuben sollte.«
»Damals?«, fragte Rathbone eilig dazwischen. »Erfuhren Sie später etwas Genaueres? Der Polizeiarzt konnte Ihnen doch sicher nicht die Gründe für die Einnahme des Opiums mitteilen, sondern nur die bloße Tatsache?«
Runcorn starrte Rathbone eindringlich an. »Nein, Sir. Ich habe nur meine Meinung geändert. Ich glaube nicht, dass Lambourn sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Ich vermute, dass das Opium dazu diente, ihn schläfrig zu machen, seine Reaktionen zu verlangsamen, ihn vielleicht sogar zu betäuben, damit er sich nicht wehren konnte. Bei einer Selbstverteidigung entstandene Wunden würden sich bei mutmaßlichem Selbstmord nur schwer erklären lassen.«
Coniston stand schon wieder auf.
Pendock blitzte Runcorn an. »Mr Runcorn! Ich werde keine wilden und unbeweisbaren Spekulationen in diesem Gericht dulden! Das ist nicht die Wiederaufnahme eines bereits abgeschlossenen Verfahrens mit amtlichem Urteil – eine Tatsache, von der ich weiß, dass sie Ihnen sehr wohl bekannt ist. Wenn Sie etwas Relevantes über die Ermordung Zenia Gadneys zu bieten haben, dann sagen Sie uns das bitte. Alles andere ist hier nicht statthaft. Haben Sie verstanden?«
»Ja, Mylord«, sagte Runcorn selbstbewusst. Mit erhobenem Haupt stand er da, den Blick nach vorn gerichtet. »Aber da wir jetzt wissen, dass Zenia Gadney auch Joel Lambourns Frau war, ein Fakt, der uns bei seinem Tod nicht bekannt war, scheint sein Ende so kurz vor dem Mord an Zenia Gadney doch eine Reihe von Fragen aufzuwerfen. Es fällt schwer, einen Zusammenhang von vornherein zu bestreiten.«
»Natürlich gibt es einen Zusammenhang!«, bellte Pendock. »Der besteht in Dinah Lambourn, der Angeklagten! Wollen Sie mir etwa sagen, dass sie auch ihren Mann ermordet hat? Damit dürfte der Verteidigung wohl kaum gedient sein.«
Coniston verbarg nicht ganz sein Grinsen.
Die Geschworenen blickten vollkommen verwirrt drein.
»Ich halte es für wahrscheinlich, dass der Täter derselbe ist«, konterte Runcorn. »Zumindest besteht diese Möglichkeit, und es wäre unverantwortlich, sie nicht zu untersuchen. Bei der Vernehmung von Marianne Lambourn konnte ich mich davon überzeugen, dass Dinah Lambourn es nicht gewesen sein kann. Marianne konnte in der fraglichen Nacht wegen eines Alptraums nicht einschlafen und hörte ihren Vater das Haus verlassen. Ihre Mutter ging nicht hinaus.«
Rathbone war verblüfft. War sich Runcorn seiner Sache wirklich sicher? Würde Coniston das Mädchen nach seiner Aussage nicht nach allen Regeln der Kunst niedermachen und jedem im Saal zeigen, dass sie keineswegs ausschließen konnte, nicht doch eingeschlafen zu sein, und dass ihre Aussage darum nichts wert war?
Aber selbst wenn es so kam, würde er wenigstens einen halben Tag gewinnen! Was war mit Monk? Hatte er irgendwelche neuen Erkenntnisse? Wusste Runcorn mehr?
Coniston starrte Rathbone an, eifrig darum bemüht, in seinem Gesicht zu lesen.
»Sir Oliver!«, sagte Pendock drohend. »Waren Sie sich dieser Details bewusst? Wenn Sie irgendwelche …«
Rathbone überlegte fieberhaft. »Nein, Mylord«, versicherte er ihm hastig. »Ich hatte seit letztem Freitag keine Gelegenheit, mit Superintendent Runcorn zu sprechen.«
Pendock blickte Runcorn an.
»Ich habe das erst gestern erfahren, Mylord«, erklärte dieser mit plötzlicher Ehrerbietung. »Ich hatte Anlass zur neuerlichen Untersuchung von Dr. Lambourns Tod, da gewisse Fakten bezüglich seiner Forschungsarbeit über den Verkauf von Opium ans Licht gekommen sind. Dabei geht es um den Handel in England, aber auch um allgemeine Aspekte, insbesondere eine neue Methode, Opium über eine Hohlnadel direkt in die Vene zu spritzen, was die Suchtgefahr um ein Vielfaches erhöht.«
Pendock packte seinen Hammer und drosch ihn wütend auf das Pult. »Das ist ein Prozess gegen Dinah Lambourn wegen der Ermordung von Zenia Gadney!«, donnerte er. »Ich dulde nicht, dass er in einen politischen Zirkus verwandelt wird, nur um die Geschworenen vom anstehenden Sachverhalt abzulenken. Und noch viel weniger werde ich Versuche zulassen, über die Segnungen oder Kehrseiten des Verkaufs oder der Verwendung von Opium zu debattieren!« Er fuhr zu Rathbone herum. »Beweise, Sir Oliver, keine Spekulationen! Und vor allem gibt es bei mir keinen Skandal wegen übler Nachrede! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Vollkommen, Mylord«, antwortete Rathbone mit dem größtmöglichen Anschein von Unterwürfigkeit, zu dem er in der Lage war. »Dieser Ort ist vor allen anderen derjenige, wo niemand Beschuldigungen vorbringen sollte, die er nicht erhärten kann.« So gut er konnte, ließ er sich keine Regung anmerken, doch als sich Pendocks Wangen puterrot verfärbten, wusste er, dass ihm das nicht wirklich gelungen war.
Coniston nieste oder bekam vielleicht sogar einen Hustenanfall. Er nuschelte eine Entschuldigung.
Rathbone wandte sich wieder an Runcorn. »Bitte seien Sie vorsichtig, Superintendent«, mahnte er ihn. »Haben die Fakten, die Sie aufgedeckt haben, einen direkten Bezug zu dem Mord an Zenia Gadney oder der Tatsache, dass dieses Verbrechen Dinah Lambourn zur Last gelegt wird?«
Runcorn überlegte kurz.
Rathbone konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er erwog, wie viel genau er sagen wollte.
»Superintendent?« Rathbone spürte, dass er die Initiative ergreifen musste, bevor Coniston wieder aufsprang.
»Ja, Sir, das glaube ich«, antwortete Runcorn. »Wenn Dr. Lambourn und Zenia Gadney von derselben Person getötet wurden und die Angeklagte das nicht gewesen sein kann, dann war das zwangsläufig jemand anders, und wir müssen ihn überführen. Die Polizei sieht es als immer wahrscheinlicher an, dass es sich um jemanden handelt, über den Dr. Lambourn im Laufe seiner Untersuchung über Opium etwas Bestimmtes erfuhr – jemanden, der ungeheure Profite einstrich, indem er Menschen süchtig machte. Zunächst brachte er sie dazu, es sich bei schmerzhaften Verletzungen wie Knochenbrüchen und Ähnlichem direkt ins Blut zu spritzen, und als sie davon abhängig waren und nicht mehr ohne Opium leben konnten, diktierte er ihnen die Preise …«
Coniston schnellte hoch. »Mylord, kann Mr Runcorn – oder sonst jemand – auch nur die Spur eines Beweises für dieses angebliche Gift vorlegen? Das ist ein Ammenmärchen! Wilde Spekulation!« Er schnappte nach Luft, um dann das Thema zu wechseln. »Und was den Schwur irgendwelcher Angehöriger betrifft, dass Mrs Lambourn in der fraglichen Nacht das Haus nicht verlassen habe, haben wir nichts gehört, was das belegt hätte, außer dem von Dritten überbrachten Wort einer Fünfzehnjährigen, die natürlich zu ihrer Mutter hält. Welches Kind dieses Alters würde denn schon glauben wollen, dass die eigene Mutter seinem Vater kaltblütig die Pulsadern aufgeschnitten und ihm dann beim Verbluten zugeschaut haben könnte.«
Rathbone kam sich vor, als bebte plötzlich der Boden unter seinen Füßen. Nur mühsam hielt er sich aufrecht.
»Sir Oliver«, sagte Pendock mit sichtlicher Erleichterung. »Sie riskieren, sich lächerlich zu machen. Ist das alles nicht ein verzweifelter Versuch, Zeit zu vergeuden, zu welchem Zweck auch immer? Welcher Ritter, glauben Sie, wird zu Ihrer Rettung angesprengt kommen? Sie haben absolut nichts vorgelegt, was Ihr Hirngespinst von einer Verschwörung unterstützen würde. Entweder Sie legen Ihre Beweise auf den Tisch, oder Sie machen Anstalten zu einer glaubwürdigen Verteidigung, Sir! Wenn Sie nichts in Händen haben, dann ersparen Sie Ihrer Mandantin diese zwecklose Tortur und gestatten ihr, sich schuldig zu bekennen.«
Das Blut stieg Rathbone siedend heiß ins Gesicht. »Meine Mandantin hat mir gesagt, dass sie unschuldig ist, Mylord«, entgegnete er mit vor Bitterkeit rauer Stimme. »Ich kann von ihr nicht verlangen zu behaupten, sie hätte eine Frau totgeschlagen und ihr dann den Bauch aufgeschlitzt, nur um dem Gericht Zeit zu ersparen!«
»Nehmen Sie sich in Acht, Sir Oliver!«, warnte Pendock. »Oder ich belange Sie wegen Missachtung des Gerichts!«
»Das würde das Ende noch weiter hinausziehen, Mylord«, schnappte Rathbone, was er im nächsten Moment auch schon bereute, aber da war es zu spät. Er hatte sich Pendock unwiderruflich zum Feind gemacht.
Durch die Galerie wogte ein erregtes Schaudern. Selbst in die Geschworenen kam plötzlich Leben. Ihre Blicke schossen von Rathbone zu Pendock, weiter zu Coniston und schließlich zu Runcorn, der immer noch auf Fragen wartete.
Dinah Lambourn war nicht die Einzige, um die es bei diesem Prozess ging. Auf die eine oder andere Weise war vielleicht jeder im Saal davon betroffen. Sie alle spielten eine Rolle bei der Handhabung des Rechts.
Rathbone wählte seine Worte mit peinlicher Sorgfalt. Dinah Lambourns Leben hing von seinem Geschick ab und von seiner Fähigkeit, Eitelkeiten und persönlichen Groll zu vergessen. Auf sie musste er sich konzentrieren und darauf, die Geschworenen zu zwingen, sich die Wahrheit anzuhören, worin sie auch bestehen mochte.
Rathbone hatte keine Ahnung, was Runcorn noch alles wusste. Und während er ihm ins Gesicht starrte, überlegte er hektisch, welche Fragen der Mann von ihm hören wollte. Worauf konnten sie sich beziehen, damit ihm Pendock nicht gleich wieder in die Parade fuhr? Welches Bindeglied bestand noch zwischen Zenia Gadney-Lambourn und dem Verkauf von Opium zusammen mit Spritznadeln?
»Mr Runcorn, hatten Sie Gelegenheit zu überprüfen, ob Zenia Gadney vielleicht Teile von Dr. Lambourns Forschungsarbeit kannte? Genauer gesagt, Abschnitte über Verbrechen in Zusammenhang mit oder als Folge von dem Verkauf von Opium, das rein genug war, um es direkt ins Blut zu spritzen und damit Degeneration, Wahnsinn oder sogar den Tod herbeizuführen?«
Jetzt beugten sich die Geschworenen weit vor. Ihre Gesichter verrieten Anspannung, Faszination und Furcht.
Runcorn ergriff die Gelegenheit. »Ja, Sir. Wir hielten es für möglich, dass Dr. Lambourn mehr als eine Abschrift angefertigt hatte, zumindest von den heikleren Teilen. Da in seinem eigenen Haus nichts zu finden war, mutmaßten wir, dass er sie bei seiner ersten Frau, Zenia Gadney, hinterlassen haben könnte. Vielleicht glaubte er, dass außer Dinah Lambourn niemand von ihrer Existenz wusste.«
Coniston stand auf. »Dann kann die arme Frau nicht deswegen ermordet worden sein. Das Einzige, was Sir Oliver bisher erreicht hat, ist, dass er ein zweites Motiv für die Angeklagte präsentiert hat, Mylord.«
Pendock bedachte Rathbone mit einem matten Lächeln. »Sie scheinen sich selbst in den Fuß geschossen zu haben, Sir Oliver.«
Runcorn sog die Luft scharf ein. Er blickte Rathbone eindringlich an, dann wanderten seine Augen weiter zum Publikum auf der Galerie.
Rathbone begriff sofort. Er dankte Runcorn mit einem fast unsichtbaren Nicken, ehe er Pendocks Lächeln erwiderte.
»Wenn Dinah Lambourn die Einzige wäre, die die Wahrheit kennt, dann sei dem so, Mylord. Aber vielleicht haben Sie vergessen, dass sowohl Barcley Herne als auch seine Frau, Amity Herne, Joel Lambourns Schwester, sehr wohl über seine erste Ehe Bescheid wussten. Ich glaube, Sie werden das in den Protokollen ihrer Vernehmungen bestätigt finden, Mylord.«
Einmal mehr wich alle Farbe aus Pendocks Gesicht. Er richtete sich kerzengerade auf und ballte die auf dem handgeschnitzten Pult liegende Hand zur Faust. »Wollen Sie unterstellen, dass Barclay Herne diese bedauernswerte Frau ermordet hat, Sir Oliver?«, fragte er bedrohlich langsam. »Ich nehme an, dass Sie sich über seinen Aufenthalt in der fraglichen Zeit kundig gemacht haben. Sollten Sie das versäumt haben, kann ich Ihnen nachhelfen. Er nahm an einem Dinner im Athenäum teil. Ich war auch dort.«
Ein Faustschlag ins Gesicht hätte Rathbone nicht härter treffen können. Binnen Sekunden war aus Sieg Niederlage geworden. »Nein, Mylord«, antwortete er ruhig. »Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass Dinah Lambourn nicht die einzige Person war, der bekannt war, dass Joel Lambourn mit Zenia Gadney verheiratet war und sie, soweit wir wissen, einmal im Monat besuchte. Es ist nicht auszuschließen, dass er selbst oder seine Schwester, Mrs Herne, anderen davon erzählte – vielleicht Bekannten von früher, als Dr. Lambourn noch mit Zenia Gadney zusammen war. Oder soll ich Zenia Lambourn sagen?«
»Warum, zum Kuckuck, sollten Sie so etwas tun?«, fragte Pendock perplex. »So etwas möchte doch sicher niemand an die große Glocke hängen. Das wäre wirklich äußerst peinlich. Ihre Unterstellung ist exzentrisch, um es höflich auszudrücken.«
Rathbone unternahm einen letzten Versuch. »Mylord, wir wissen nicht, ob Dr. Lambourns Untersuchung Hinweise auf den Verkauf von Opium und die besagten Nadeln enthielt oder ob sie sich genauer über das Elend bei der Sucht äußerte, die solche Methoden verursachen können. Ebenso wenig wissen wir über den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten. Aber es besteht weiter eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Personen namentlich benannt werden, entweder als Verkäufer dieses Gifts oder als Süchtige, mitsamt dem körperlichen wie geistigen Verfall, den es auslösen kann. Sämtliche Kopien dieses Dokuments aufzuspüren und sicherzustellen, dass sie nicht in die falschen Hände fallen, könnte darum als Dienst an den darin erwähnten Personen – und vielleicht auch an unserem Land – aufgefasst werden. Opium – wenn es richtig und unter ärztlicher Aufsicht eingenommen wird – ist immer noch das einzige Mittel, das wir haben, um qualvolle Schmerzen zu lindern.«
Daraufhin blieb Pendock lange stumm.
Die Zuschauer warteten. Die Augen aller – auf der Galerie, der Geschworenenbank, hinter den Pulten der beiden Anwälte – waren auf den Richter gerichtet.
Schließlich traf Pendock eine Entscheidung.
»Haben Sie Belege dafür, Mr Runcorn?«, fragte er leise. »Belege, nicht Annahmen und Skandalgeschichten?«
»Ja, Mylord. Aber das sind alles Fragmente, die immer wieder in den zahllosen Berichten über den tragischen Tod von Säuglingen auftauchten, mit dem sich Dr. Lambourn befasste. Er stieß auf die anderen Anhaltspunkte wohl eher zufällig, und wir nehmen an, dass er sich erst in den letzten Tagen seines Lebens zusammenreimte, wer dahintersteckte.«
Rathbone trat einen Schritt vor. »Mylord, wenn wir für den Rest des Tages Zeit hätten, die Beweise vernünftig zu ordnen und zu gewährleisten, dass keine Unschuldigen unbeabsichtigt verunglimpft werden, wären wir in der Lage, sie dem Gericht – oder Eurer Lordschaft in Ihrem Büro – vorzulegen, damit Sie sich Ihr eigenes Bild von ihrem Wert machen können.«
Pendock stieß einen schweren Seufzer aus. »Na gut. Der Prozess wird bis Freitagvormittag vertagt.«
»Danke, Mylord.« Rathbone neigte den Kopf. Plötzlich war ihm fast schlecht vor Erleichterung. Aber seine Freude war wirklich absurd! Er hatte eine Atempause gewonnen, nur über Weihnachten, sonst nichts.
Runcorn stieg vom Zeugenstand herunter und trat auf Rathbone zu. »Sir Oliver, Mr Monk möchte Sie so bald wie möglich sprechen«, raunte er ihm zu. »Wir haben noch mehr.«