13

Als der Prozess gegen Dinah eröffnet wurde, brach Hester zu ihren eigenen Ermittlungen auf. Das Thema des Verkaufs von Opium brannte ihr mit jeder neuen Information, auf die sie stieß, immer dringlicher auf den Nägeln. Schließlich hatte sie, die in ihrer Zeit als Krankenschwester bei den Soldaten grässliche Verwundungen, verheerende Formen der Ruhr und Fiebererkrankungen behandelt hatte, bisher nur die Vorteile von Opium bei der Linderung von Schmerzen erlebt.

Zuletzt hatte sie in der Klinik in der Portpool Lane Prostituierte gepflegt, darunter auch blutjunge Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren. Erst von Dr. Winfarthing hatte sie erfahren, dass Medikamente, die Opium enthielten, bei Kindern auch schlimme Schäden anrichten konnten.

Doch im Fall Dinah Lambourn reichte die Zeit nicht, um Lambourn zu rehabilitieren. Zuallererst mussten sie herausfinden, wer Zenia Gadney ermordet hatte. Und der erste Schritt hierzu war wohl, mehr über sie in Erfahrung zu bringen als die wenigen dürren Fakten über ihr Leben in der Copenhagen Place.

Die Straßenmädchen, die die Klinik in der Portpool Lane nutzten, stammten größtenteils aus der näheren Umgebung, aber manche Patientinnen mit chronischen Krankheiten waren auch schon aus weiter entfernten Vierteln gekommen. Für sie konnte Hester in der Regel nicht viel tun, aber alles, was ihre Qualen linderte, war eine große Hilfe. Jetzt machte sie sich auf die Suche nach einer ganz bestimmten Patientin, an deren Bett sie schon so manche Nacht verbracht und eine Lungenentzündung so weit kuriert hatte, dass sie bis auf Weiteres auf die Straße zurückkehren konnte. Der nächste Besuch würde wahrscheinlich im Winter sein, wenn Hunger, Kälte und Erschöpfung durchaus ihren Tod bedeuten konnten.

Obwohl Gladys Middleton auf die vierzig zuging und seit ihrem zwölften Lebensjahr permanent ge- und verkauft worden war, sah sie erstaunlich hübsch aus. In ihrem dichten schwarzen Haar fehlte jede Spur von Grau. Ihre Haut verlor allmählich ihren Glanz, war aber frei von Schönheitsfehlern – zumindest bei Kerzenlicht. Ihre letzte Erkrankung hatte sie beträchtliches Gewicht gekostet, doch in ihrem Fall war der Verlust von Vorteil. Sie hatte immer noch großzügige Rundungen und trug sie beim Gehen mit erstaunlicher Anmut zur Schau.

Es erforderte fast den ganzen Tag, bis Hester wusste, wo Gladys jetzt lebte. Aber auch, als sie die richtige Pension entdeckt hatte, musste sie warten. Das tat sie in einem Hauseingang, wo sie sich so klein wie nur möglich machte.

Als Gladys schließlich aus einem Gasthaus an der Ecke trat, folgte sie ihr in einem Abstand von etwa fünfzig Metern zu der Pension. Kurz nach ihr trat Hester dort ebenfalls ein, doch inzwischen fehlte von Gladys jede Spur. Aufgeben kam für Hester nicht infrage. Wiederholt landete sie bei der falschen Person, musste sich entschuldigen und versuchte bei der nächsten ihr Glück, bis sie schließlich an die richtige Tür klopfte.

Gladys öffnete ihr vorsichtig. Es war zu früh, um Kunden zu erwarten. Draußen war es noch hell, und ein Freier lief Gefahr, auf der Straße einem Bekannten zu begegnen, was dann natürlich zu peinlichen Fragen und verlegenem Herumdrucksen führte.

»Hallo, Gladys«, sagte Hester mit einem schnellen Lächeln. Es hätte keinen Zweck, so zu tun, als hätte sie nicht vor, sie um einen Gefallen zu bitten. Gladys hatte in ihrem täglichen Überlebenskampf zu viel gesehen, um das nicht zu durchschauen, und würde es nicht schätzen, mit Ausreden hingehalten zu werden, so schmeichelhaft sie auch sein mochten.

Andererseits würde ein kleines Geschenk bestimmt nicht schaden. Hester hielt eine Flasche Tonic Cordial hoch, das, wie sie wusste, Gladys’ Lieblingsgetränk war.

Gladys musterte sie erst entzückt, dann misstrauisch. »Es is’ nich’ so, dass ich nich’ dankbar bin oder mich nich’ freue, Sie hier zu sehen, aber was woll’n Sie von mir?«

»Zunächst nicht in der Tür stehen müssen«, antwortete Hester immer noch lächelnd.

Widerstrebend trat Gladys einen Schritt zurück.

Hester folgte ihr. Das Zimmer war sauberer, als sie erwartet hatte. Hier fehlte jedes Zeichen von Gladys’ Gewerbe, außer vielleicht einem schwachen Geruch nach Schweiß.

»Danke.« Hester ließ sich auf einer Stuhlkante nieder. Die Flasche Cordial hielt sie weiter in der Hand. Sie wollte sie nicht als Geschenk verstanden wissen, sondern als Angebot in einem Handel.

Gladys nahm ihr gegenüber Platz, ebenfalls auf einer Stuhlkante und sehr unsicher. »Also, was woll’n Sie von mir?«, wiederholte sie.

»Eine Information.«

»Ich weiß nix.«

»Unsinn!«, widersprach Hester barsch. »Frauen, die nichts wissen, überleben nicht lange. Lügen Sie mich nicht an, dann lüge auch ich Sie nicht an.«

Gladys zuckte mit den Schultern, womit sie sich in einem gewissen Sinne geschlagen gab. »Worum woll’n Sie mich bitten?«

»Kannten Sie Zenia Gadney?«

Alle Farbe wich aus Gladys’ Gesicht. »Gott im Himmel! Darüber weiß ich wirklich nix, das schwör ich Ihnen!«

»Ich bin mir sicher, dass Sie nichts über den Mord wissen«, bestätigte Hester wahrheitsgemäß. »Was ich von Ihnen hören will, ist, was für ein Mensch sie war.«

Gladys blinzelte sie verwirrt an. »Was meinen Sie damit, was für’n Mensch sie war?«

Wollte sie Zeit schinden, oder verstand sie wirklich nicht? Hester tippte auf die Flasche Cordial. »Dieses Zeug ist ziemlich gut für Ihre Gesundheit.«

»Hm, aber ’ne aufgeschlitzte Kehle wird es bestimmt nich’ kurieren«, erwiderte Gladys heiser. »Oder Eingeweide, die einem rausgerissen und um die Hüften gewickelt werden!«

»Warum sollte irgendjemand Ihnen so etwas antun?« Hester hob die Augenbrauen. »Wie auch immer, der Frau wurde ein schwerer Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Wahrscheinlich bekam sie danach überhaupt nichts mehr mit. Sie hatten keine Affäre mit Dr. Lambourn, oder?«

Gladys starrte sie perplex an. »Natürlich nich’! So einer war er nich’. Er wollte doch bloß wissen, ob es leicht is’, Opium zu kaufen, oder ob ich weiß, was alles in dem Zeug drin is’, das ich nehm, wenn ich was zum Einschlafen brauch oder Bauchschmerzen hab.«

»Und Sie selbst?« Hester gab sich alle Mühe, einen dringenden Ton zu unterdrücken. Sie konnte es sich nicht leisten, Gladys ihre Schwäche und Unsicherheit spüren zu lassen. »Wussten Sie, was es enthält oder wie viel genau man einnehmen muss? Oder wie lange man warten muss, bis man wieder etwas schlucken kann?«

»Ich weiß, wie es wirkt. Da brauch ich doch sonst nix zu wissen, oder?«

»Hat er Sie danach gefragt?«

»Mich selber hat er überhaupt nix gefragt. Er wollte es von denen wissen, die Kinder haben. Ich war bloß dabei.«

Hester kehrte zu ihrer ersten Frage zurück. »Kannten Sie Zenia Gadney?«

»Ja. Wieso?«

»Was für ein Mensch war sie?«

»Das haben Sie mich doch schon gefragt. Was woll’n Sie denn von mir wissen?« Gladys schüttelte den Kopf. »Sie war älter als ich, ruhig, nix Aufregendes, aber sauber. Kommt eben immer darauf an, was die Leute wollen. Manche wollen sie eben ganz gewöhnlich, aber bereit, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wie ihre eigene Frau, bloß einfacher.«

»O ja, ich verstehe. Dann hat sie eigentlich so gut wie überhaupt nichts mit Mrs Lambourn gemeinsam.«

»Wie is’ die denn?«, fragte Gladys neugierig.

Hester erinnerte sich an Monks Beschreibung und an die Wirkung, die Dinah bei ihm hinterlassen hatte. »Attraktiv, aber keine aufregende Schönheit. Groß, dunkel und faszinierende Augen.«

Gladys schüttelte den Kopf. »Hm, Zenia war das glatte Gegenteil. Sie war ein richtiges Mauerblümchen, mausgrau und sehr still. Eigentlich war sie richtig langweilig, aber auch nett, wenn Sie verstehen, was ich meine? Hat nie über andere hergezogen. Is’ nie böse geworden und hat nie Lügen über einen verbreitet. Und gestohlen hat sie auch nie.«

»Woher wissen Sie das alles über sie?«, fragte Hester verblüfft.

Über so viel Dummheit konnte Gladys nur die Augen verdrehen. »Hab eben von ihr gehört, weil sie das gekriegt hat, was wir alle wollen, was sonst? Ein einziger Gentleman, und nett dazu, der bloß ein Mal im Monat zu ihr musste, sie behandelt hat, als ob sie ’ne Dame wär, und ihr alles bezahlt hat. Wenn mir so was passieren würde, dann wär das für mich, wie wenn ich gestorben und in den Himmel gekommen wär. Wie hat sie das bloß angestellt? Das würd ich für mein Leben gern wissen. Es is’ ja nich’ so, als ob sie es verstanden hätte, ’nen Mann zum Lachen zu bringen oder ihm das Gefühl zu geben, er wär der Interessanteste oder Schönste, der ihr je übern Weg gelaufen is’.«

»Glauben Sie, dass Dr. Lambourn sie liebte?«, wollte Hester wissen. »War sie besonders sanft?«

Gladys zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich schätze, sie muss bereit gewesen sein, ein paar wirklich seltsame Dinge mit ihm zu machen. Sonst fällt mir nix ein. Dabei kam er mir so anständig vor, wie eine Frau sich ’nen Mann nur wünschen kann. Und er wirkte so normal. Das beweist nur wieder, dass man nie weiß, was hinter ’nem gewöhnlichen Gesicht wirklich steckt.«

Der Gedanke an gewisse Praktiken war Hester auch schon in den Sinn gekommen, so unappetitlich er auch war. Dabei kannte sie Dinah Lambourn überhaupt nicht. Warum bekümmerte es sie dann nur so sehr, dass diese Frau vielleicht einen Mann mit perversen Neigungen leidenschaftlich geliebt hatte? Vielleicht lag ihre Bestürzung darin, dass sie sich selbst ausmalte, wie sie sich fühlen würde, falls sie jemals einen solchen Hang bei Monk entdeckte. Für sie wäre das unerträglich. Damit wäre alles, was sie mit niemandem sonst teilte und was für sie unendlich kostbar war, für immer zerstört.

Aber würde sie dann die Frau umbringen, die ihm solche Dienste geleistet hatte, wie das jetzt Dinah zur Last gelegt wurde? Womöglich. Zwar nicht so wild, so brutal, aber würde sie sie trotzdem töten? Es befremdete, ja beunruhigte sie, dass auch sie einen Mord nicht von vornherein von der Hand weisen konnte.

Mit einem Schlag hatte die Angelegenheit ein anderes Gesicht bekommen, ein trauriges, hässliches und unvorstellbar schmerzhaftes.

»Glauben Sie, dass Zenia ihn liebte?«, fragte sie Gladys. Gleich darauf befielen sie Zweifel. Diese Frau würde keinen Sinn darin erkennen! Gladys lebte, arbeitete und dachte, um zu überleben. Liebe war ein Luxus, den sie sich wahrscheinlich nie würde leisten können. Vielleicht hatte sie sich noch nicht einmal gestattet, davon zu träumen. In Hunderten verschiedenen Verkleidungen galt das wohl für Millionen von Frauen jeden Ranges von der Dienerin bis hin zur ehrbaren, ja sogar wohlhabenden Dame von höchstem gesellschaftlichen Status. Hierbei konnten auch Kinder eine wichtige Rolle spielen. Weder Hester noch Gladys würden je welche bekommen, aber Hester hatte die Liebe. Dessen war sie sich absolut sicher.

Dann wiederum glaubten viele Frauen, sie hätten die Liebe gefunden. Vielleicht auch Dinah Lambourn.

Sie blickte Gladys an. Diese saß ihr gegenüber, die Stirn in Falten gelegt, auf dem Gesicht einen Ausdruck tiefer Konzentration.

Hester wartete.

Zu guter Letzt sah Gladys auf. »Vielleicht. Is’ ja nich’ wirklich wichtig«, antwortete sie langsam. »Was ihr passiert is’, war schrecklich. Mir is’ egal, was sie getan hatte – das war einfach nich’ richtig.«

Hester war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. »Hatte sie denn etwas so Schlimmes getan?«, bohrte sie nach. Zwar fürchtete sie, Gladys in die Enge und zurück ins Schweigen zu treiben, doch ihr wurde immer klarer, dass die andere Frau mehr wusste, als sie verriet.

»Das isses ja.« Gladys biss sich auf die Lippe. »Sie war irgendwie geheimniskrämerisch, manchmal ein bisschen etepetete, als ob sie was Besseres wär als unsereins, aber auf ihre eigene Art war sie nett. Sie tat so, als wär sie aus ’ner besseren Welt gekommen, aber dann hab ich mir gedacht, dass es vielleicht wirklich so war. Etwas, das sie mal gesagt hat, bringt mich darauf. Tillie Biggs hatte sich an dem Tag blöd gesoffen. Lag im Straßengraben, als gehörte sie dorthin. Da konnte sie wenigstens nich’ mehr rausfallen. Und Zenia war die Einzige, die sich Zeit genommen hat, ihr zu helfen. Wir anderen haben bloß gesagt, dass die dumme Kuh doch selber schuld is’, aber davon wollte Zenia nix wissen. ›Wir alle haben uns irgendwas selber zuzuschreiben‹, hat sie gesagt. Aber das heißt doch nich’, dass wir keine Hilfe brauchen.«

»Was hat sie getan?« Hester spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte und eine Emotion sich ankündigte, die sie nicht beherrschen konnte.

Mit einer kleinen, traurigen Geste meinte Gladys: »Sie hat sie hochgestemmt und in ’nen Durchgang geschleppt, wo ’s trocken war und keiner über sie fallen konnte. Hat sie dort noch gegen ’ne Wand gelehnt und dann so zurückgelassen. Mehr konnte man nich’ tun, und das wusste sie auch.« Sie verstummte, während sie mit sich rang, ob sie noch mehr sagen sollte.

Hester war unschlüssig. Sollte sie Gladys ermuntern oder besser warten? Sie setzte schon zum Sprechen an, überlegte es sich dann aber anders.

»Könnte mir vorstellen, dass sie selber schon in ein paar Straßengräben gefallen war«, fuhr Gladys leise fort. »Einmal hat sie mir erzählt, dass sie verheiratet gewesen war. Vielleicht hatte der Mann sie wegen dem Saufen verlassen. Oder sie war ihm weggelaufen. Ich weiß nich’.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber eine von uns war sie nich’. Auch nich’ aus der Gegend.«

»Woher kam sie eigentlich, wissen Sie das?«, fragte Hester sanft. Gladys’ Antwort hatte eine schmerzhafte Dimension in das Gespräch gebracht, die sie gerne vermieden hätte. Zenia wurde damit viel zu real: eine Frau mit Träumen und spontaner Freundlichkeit, empfänglich für Schmerz.

Gladys zwang sie zurück in die Gegenwart. »Das hat sie nie verraten. Komisch war sie ja. Sie liebte Blumen. Ich meine, sie wusste, wie man sie pflegt, welche Art von Erde sie mögen und all das, denn manchmal hat sie darüber geredet. In welchem Monat sie blühen und so was. Hier haben wir ja keine Blumen. Manchmal stand sie am Pier und schaute übers Wasser. Man konnte fast meinen, sie wär auf der anderen Seite vom Fluss drüben im Süden aufgewachsen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte sie einfach nur für sich sein. Ein bisschen nachdenken. Davon träumen, in ein Boot zu steigen und irgendwohin zu fahren. Na ja, manchmal geht’s mir so.«

Wieder wartete Hester, um den Moment nicht zu zerstören.

Mit einem verlegenen Lächeln blickte Gladys zu ihr auf. »Blöd, oder?«

»Nein«, widersprach ihr Hester. »Wir alle müssen hin und wieder von etwas träumen. Wer kannte sie denn sonst noch? Was für ein Mensch war Dr. Lambourn? Hat sie je über ihn gesprochen?«

»Nein. Aber ich hab mir gedacht, dass sie ihn bei dem Geld für sich allein behalten wollte. Konnte nix davon erübrigen. Hätte ja auch nich’ für mehr als eine gereicht.«

»Neidisch?«, fragte Hester hastig.

»Natürlich. Aber so was wie diesen Mord würden wir doch bei Gott niemand antun! Wofür, in drei Teufels Namen, halten Sie uns?« Gladys war empört, ja verletzt.

»Das habe ich auch gar nicht gedacht«, verteidigte sich Hester, der allmählich die Fragen auszugehen drohten. Nachdem sie Gladys gefunden und mit ihr gesprochen hatte, hielt sie es für denkbar, dass Dinah vorübergehend den Verstand verloren und tatsächlich Zenia Gadney zerfetzt hatte. Konnte sich eine ansonsten normale Frau, die betrogen worden war, so sehr in ihre Gefühle hineinsteigern, dass sie die dunkelste, die blutigste Seite ihrer Natur auslebte? Waren ihre Wunden – Scheitern, Abscheu vor sich selbst, Hass – derart tief, dass sie sie in den Wahn getrieben hatten?

Unvorstellbar erschien ihr das nicht mehr.

Sie wechselte das Thema. »Der Ladeninhaber hat gesagt, Mrs Lambourn hätte in Limehouse Opium gesucht. Das tat Dr. Lambourn doch auch, nicht wahr? Ich meine, er stellte Fragen darüber.«

»Das hab ich gehört. Mich hat er nie gefragt. Aber was hätte ich denn schon wissen können?«

»Sind Sie ihm begegnet?«

»Ja, zweimal. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass er die Leute nach allem Möglichen befragt hat.«

»Über Opium?«

»Ja. Und dann suchte er Agony.«

»Was?« Hester starrte sie perplex an.

»Agony. Ich glaube zwar, dass sie in Wirklichkeit Agatha Nisbet oder so ähnlich heißt, aber jeder hier nennt sie Agony. Wenn jemand wirkliche Schmerzen hat und es nich’ mehr aushält, kommt sie und hilft.«

»Mit Opium?«, fragte Hester hastig.

»Natürlich. Oder kennen Sie was Besseres, wenn die Schmerzen so schlimm sind?«

»Nein«, gab Hester zu. »Hat er sie gefunden?«

»Weiß nich’. Wahrscheinlich schon, denn später hat er nich’ mehr nach ihr gefragt.«

»Können Sie ihn mir beschreiben?« Hester fragte eher aus Neugier und nicht so sehr, weil sie sich noch etwas Hilfreiches versprach. Auch war ihr nicht mehr klar, was sie sich von ihrer Aktion versprach. Sie war mit der Vorstellung aufgebrochen, eine Erklärung für den Mord an Zenia Gadney zu erhalten, die nicht auf Dinahs Schuld hinauslief. Doch jetzt waren ihre Gefühle vollkommen durcheinandergewirbelt worden, und sie konnte sich auf einmal sehr wohl vorstellen, dass Trauer zu Raserei führen konnte. Ihre Zuversicht, dass sie zu einem anderen Ergebnis gelangen würde, hatte sich in das Gegenteil verkehrt.

Konnte sie mit einer solchen Erkenntnis zu Monk und Rathbone zurückkehren? Würde das die Kapitulation bedeuten oder einfach nur Realismus?

Gladys antwortete ihr einmal mehr mit dem für sie offenbar typischen Schulterzucken. »Er war überhaupt nich’ so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.« In ihrem Gesicht spiegelte sich immer noch Überraschung. »Er war höflich, ein richtig feiner Herr. Und er hat mich behandelt, als ob ich was Besonderes wär. Na ja, wirklich hineinschauen kann man wohl nie in die Menschen, was meinen Sie?«

Hester blieb noch ein bisschen länger, doch mehr erfuhr sie nicht von Gladys, außer Auskunft über die Gegenden, wo sie vielleicht die Suche nach »Agony« beginnen konnte. Sie bedankte sich, vergaß geflissentlich die Flasche Cordial und ging.

Inzwischen war es später Nachmittag, und es regnete.

In der Copenhagen Place erkundigte sie sich noch bei einer Reihe von Leuten. Unter anderem sprach sie mit dem Ladeninhaber, bei dem auch schon Monk gewesen war, und hörte sich seine Erzählung über Dinahs Besuch und ihre Raserei an.

Danach trat sie hinaus auf die kalte, zugige Straße. Während von den Dächern das Regenwasser auf sie herabtropfte und die Passanten sie auf dem nassen Fußweg anrempelten, versuchte sie, sich vorzustellen, wie Dinah sich gefühlt haben mochte. Für sie musste eine Welt zusammengebrochen sein. Alles, was sie geliebt und was ihr Glück ausgemacht hatte, war für immer zerstört.

Verblüffend war nur, dass Dinah offenbar schon seit Jahren darüber Bescheid gewusst hatte, dass ihr Mann diese Frau besucht und bezahlt hatte. Was war geschehen, dass Dinah sich von der nachgiebigen Gattin, die das geduldet, wenn nicht sogar akzeptiert hatte, in eine Bestie bar jeder Menschlichkeit verwandelt hatte?

Hätte Hester Monk beim Ehebruch ertappt, dann hätte das ihre Liebe zu ihm verändert. Aber hätte es ihre Werte, den Glauben an Barmherzigkeit, an Ehre, zerstört?

Sie wäre vielleicht bis zur Unerträglichkeit verletzt gewesen. Sie hätte bis zur Erschöpfung geweint und weder schlafen noch essen können. Und wenn die Verzweiflung allumfassend gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht selbst das Leben genommen, aber doch nicht einem anderen Menschen!

Oder?

War es denkbar, dass am Ende Dinah Joel Lambourn ermordet hatte? Hatten Monk oder Rathbone auch das erwogen und sich dabei aus dem Strudel von Emotionen befreit, den Dinahs Schmerz in ihnen ausgelöst hatte?

Aber Lambourns Tod hatte doch wie Selbstmord ausgesehen. Nach der Einnahme von Opium, um die Schmerzen zu betäuben, war er sogar sanft gewesen. Hier war kein Hass im Spiel, nicht einmal Zorn. Doch sein Tod würde Dinah alles rauben: ihren Rang in der Gesellschaft, ihr Prestige und vor allem das Einkommen, an das sie sich gewöhnt hatte. Und was war mit Adah und Marianne? Hatte sie eigentlich an sie gedacht? Konnte eine Frau jemals ihre Kinder vergessen?

Was hinterließ Lambourn? Genügend, dass sie davon leben, die Mädchen erziehen und erfolgreich verheiraten konnte?

Wäre Dinah überhaupt physisch in der Lage gewesen, eine solche Tat allein zu begehen? Hatte sie ihren Mann mitten in der Nacht auf den One Tree Hill gelockt? Ihn dazu überredet, das Opium einzunehmen und dann ruhig sitzen zu bleiben, während sie ihm die Pulsadern aufschnitt? Hatte sie in aller Ruhe die Flasche und das Messer an sich genommen, und war sie dann zurück nach Hause zu ihren Kindern spaziert? Warum sollte sie überhaupt die Flasche und das Messer fortschaffen? Das ergab doch keinen Sinn! Wenn er sich wirklich umgebracht hatte, hätte beides dort bleiben können. Die Tatsache, dass es aus seinem Haus stammte, verriet doch nichts Besonderes. Wozu es dann verstecken? Was sonst hätte Lambourn verwenden sollen?

Und wenn Dinah fähig war, so kaltblütig zu planen, warum dann diese Raserei bei der Verstümmelung von Zenia Gadney? Was könnte sie dazu provoziert haben, nachdem sie jahrelang über diese Regelung Bescheid gewusst hatte? Warum plötzlich zwei Morde innerhalb von zwei Monaten?

Irgendetwas stimmte nicht. Es musste eine andere Antwort geben.

Den Rest des Tages verbrachte Hester damit, mit Bewohnern des Viertels zu sprechen und noch etwas mehr über Zenia Gadney zu erfahren, doch nichts davon konnte das Bild, das Gladys ihr vermittelt hatte, wesentlich verändern: eine stille, melancholische Frau, die sich ihre Jugend mit Alkohol kaputt gemacht, dann aber offenbar ihre inneren Dämonen bezwungen hatte. Die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens hatte sie in der Copenhagen Place verbracht. Bisweilen hatte sie für andere Leute Kleider ausgebessert, aber wohl eher um der Freundschaft, nicht des Geldes willen. Auf diese Weise konnte man Kontakte pflegen und gelegentlich ins Gespräch kommen. Anscheinend hatte sie von Dr. Lambourn ausreichend Unterstützung erhalten, sodass sie bei genügender Sparsamkeit auf keine andere Einkommensquelle angewiesen war.

Mehrere Leute erzählten, dass sie bei fast jedem Wetter auf die Straße hinausgegangen war. Meistens war sie die Narrow Street am Flussufer entlanggelaufen. Bisweilen blieb sie einfach stehen und schaute nach Süden, das Gesicht dem Wind zugewandt, um die über den Fluss gleitenden Lastkähne zu beobachten. Wenn man sie angesprochen hatte, hatte sie immer eine freundliche Antwort gegeben, aber von sich aus hatte sie selten das Gespräch gesucht.

Niemand sprach schlecht von ihr.

Hester ging weiter in die Narrow Street, postierte sich so, wie Zenia das so oft vor dem im Licht glitzernden grauen Wasser getan hatte, und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Eindringlich konnte sie so Zenias Einsamkeit nachempfinden und spürte vielleicht auch etwas von dem Bedauern, das über sie hereingebrochen sein musste. Was hatte ihre Trunksucht ausgelöst? Eine Familientragödie? Der Tod eines Kindes vielleicht? Eine unglückliche Ehe? Sie würden es wohl nie mehr erfahren.

In Zenias Leben hatte es anscheinend nichts gegeben, was zu ihrem schrecklichen Tod geführt haben konnte, außer vielleicht ihre Verbindung mit Joel Lambourn. Ansonsten war sie wahnsinniger Raserei zum Opfer gefallen, weil sie zufällig gerade greifbar gewesen war.

Hester war voller Mitleid mit Dinah aufgebrochen, einer Frau, der nicht nur der geliebte Mann geraubt worden war, sondern auch in einem gewissen Sinne alles, worin sie das Glück in ihrem Leben gesehen haben mochte. Selbst ihre schönsten Erinnerungen waren jetzt für immer befleckt. Und bald würde sie in diesem schrecklichen Ritual des Hängens das eigene Leben verlieren.

Doch jetzt, da Hester vor dem Fluss stand und beobachtete, wie sein graues Wasser an ihr vorbeiwirbelte, galt ihre Anteilnahme nur noch Zenia Gadney. Das Leben hatte für diese Frau so wenig Tröstliches bereitgehalten und ihr in ihren letzten eineinhalb Jahrzehnten so gut wie keine Wärme vergönnt, wie man sie erfährt, wenn man mit anderen lachen oder teilen kann, wenn man sich gegenseitig berührt. Stattdessen war Joel Lambourn einmal im Monat zu ihr gekommen und hatte sie entlohnt. Was konnte er gewollt haben, das so abwegig, so obszön war, dass seine Frau es ihm nicht hatte geben können und er es sich gegen Bezahlung bei einer traurigen Prostituierten geholt hatte?

Sie war froh, dass sie es nicht wissen musste.

Die Bugwelle eines Bootes klatschte laut auf die jetzt bei Ebbe freigelegten Kieselsteine am Ufer. In der Strömung in der Mitte des Flusses zog ein Verband von hoch mit Kohle, Holz und Stoffballen beladenen Lastkähnen vorüber. Die Männer an Bord hielten geschickt das Gleichgewicht, während sie die Boote ebenso kraftvoll wie elegant mit ihren langen Stangen steuerten. Der heftiger werdende Wind trug die Gerüche von Salz und Regen heran. Die Schreie der Möwen dehnten sich zu einem langen, klagenden Kreischen.

Hester hatte das Gefühl, das Thema Zenia Gadney ausgeschöpft zu haben.

Hatte der Versuch, Erkenntnisse über Dr. Lambourns Jagd nach Informationen über Opium zu gewinnen, überhaupt noch einen Sinn? Wahrscheinlich nicht. Das Licht verblasste, und die Luft wurde mit dem einsetzenden Gezeitenwechsel kälter. Es war Zeit, nach Hause zurückzukehren. Dort war es warm, und sie konnte nicht nur den über das Wasser wehenden Wind hinter sich lassen, sondern auch die Eindrücke von Tod, Wut und Verzweiflung – und von Gier, die letztlich alles, was wirklich wertvoll war, zerstört hatte.

Sie würde Scuff noch eine seiner Lieblingsspeisen zum Abendbrot bereiten, seinem Lachen über irgendetwas Banales lauschen und ihm schöne Träume wünschen, sobald er sauber geschrubbt war, nach Seife roch und reif fürs Bett war.

Später würde sie neben Monk liegen und Gott für alles danken, was in ihrer Welt gut war.

Agatha Nisbet, Agony, aufzuspüren, das kostete Hester den ganzen nächsten und die Hälfte des darauf folgenden Tages. Erst musste sie einen schmalen Weg vorbei am Greenland Dock, dann landeinwärts zum Norway Yard laufen. Später unternahm sie einen neuerlichen Anlauf in der Rotherhithe Street. Aber fündig wurde sie erst, als sie sich durch mehrere Dutzend Werften gefragt hatte, bis sie schließlich vor einer nicht mehr benutzten großen Lagerhalle stand. Und die beherbergte eine behelfsmäßige Klinik für verletzte Hafenarbeiter und Seeleute.

Tapfer trat sie ein, hoch aufgerichtet, als gehörte sie dorthin. Zwei Personen beäugten sie misstrauisch, erst eine junge Frau, die schwungvoll die Böden schrubbte, dann ein Mann mit Blutflecken auf den Kleidern, dem Anschein nach ein Krankenpfleger. Sie lächelte ihn freundlich an, woraufhin er sich entspannte und darauf verzichtete, sie zur Rede zu stellen.

Im Weitergehen kam sie an drei Frauen mittleren Alters vorbei. Sie wirkten müde und abgekämpft, und ihre Kleider waren zerknittert, als hätten sie die ganze Nacht darin durchgearbeitet. Das brachte eindringliche Erinnerungen an ihren eigenen Dienst in allen möglichen Krankenhäusern zurück: putzen, Bandagen aufwickeln, Betten frisch beziehen, Kranken und Verletzten beim Essen helfen und vor allem Befehle entgegennehmen. Die Müdigkeit kam ihr wieder in den Sinn, die Kameradschaft, der geteilte Kummer und die Siege.

Auf dem Boden lagen Strohmatratzen, allesamt besetzt von Männern mit blassen Gesichtern, schmutzig, an Armen, Beinen oder sogar am ganzen Körper verbunden. Die glücklicheren unter ihnen schienen zu schlafen. Wenn Agatha Nisbet ihnen Opium verabreicht und die Verletzungen verbunden hatte, sah Hester keinen Grund zur Kritik. Wer etwas daran auszusetzen hatte, sollte einmal selbst ein, zwei Wochen lang hier auf diesem Boden mit gebrochenen Knochen und zerschundenem Körper in langen, bitteren Nachtstunden bei Kälte und Dunkelheit liegen, ohne dass ihm jemand Linderung verschaffte, wenn sogar das Einatmen schier unerträgliche Schmerzen bereitete.

Hester hatte das Ende des riesigen Raumes erreicht und wollte gerade an eine der Türen dort klopfen, als diese aufflog und sie sich plötzlich einer mannsgroßen Frau mit den breiten Schultern eines Kanalarbeiters gegenübersah. Sie hatte grau durchwirktes, braunes Kraushaar. Ihr markantes Gesicht mochte vor dreißig Jahren, in ihrer Jugend, hübsch gewesen sein. Jetzt aber hatten die Zeit und ein schweres Leben sie verhärtet, während Sonne, Wind und Wetter ihre Haut hatten rau werden lassen. Glühende blaue Augen bohrten sich verächtlich in Hester.

»Was woll’n Sie hier, Verehrteste?«, fragte sie mit leiser, leicht quäkender Stimme, die etwas zu hoch war und überhaupt nicht zu dieser wuchtigen Erscheinung passte. Das Wort »Verehrteste« zischte sie voller Geringschätzung.

Hester verkniff sich eine schneidende Bemerkung, die ihr schon auf der Zunge lag. »Miss Nisbet?«, fragte sie höflich.

»Ja, und? Wer sind Sie?«, kam es zurück.

Hester ließ sich nicht einschüchtern. Mit lauter Stimme antwortete sie: »Hester Monk. Ich leite eine Klinik auf der anderen Seite des Flusses. Portpool Lane.«

»Na, so was.« Agatha Nisbets Augen musterten sie kühl von oben bis unten. »Was woll’n Sie dann von mir?«

Hester beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Eine bessere Opiumquelle, als ich sie im Moment habe.«

Agatha kräuselte die Lippen. »Sie meinen, billiger?«

»Ich meine, verlässlicher. Billiger wäre gut, aber ich glaube, dass gute Ware einen guten Preis kostet.« Hester zuckte leicht mit den Schultern. »Es sei denn, man ist neu im Geschäft – dann bekommt man weniger. Händler, die die Kranken mit dem größten Vergnügen übers Ohr hauen würden, gibt es in rauen Mengen.« Sie blickte nun ihrerseits Agatha prüfend an. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie bei Ihnen spätestens beim zweiten Mal auf Granit beißen.«

Agatha zeigte mit einem Lächeln zwei Reihen kräftiger und außergewöhnlich weißer Zähne. »Wenn sie nur ein bisschen Verstand haben, versuchen sie’s auch nich’ beim ersten Mal. So was spricht sich rum.«

»Was Sie haben, ist also garantiert verlässlich?«

»Und ob! Aber das wird Sie ’ne Stange Geld kosten.«

»War Lambourn bei Ihnen?«, fragte Hester hastig.

Agathas Blick wurde misstrauisch. »Der is’ doch tot.«

Hester brachte ein einigermaßen argloses Lächeln zustande. »Eben. Und jetzt wird das Parlament womöglich kein Gesetz zur Regulierung des Opiumverkaufs mehr beschließen, wenigstens nicht in nächster Zeit.«

Agathas Augen verengten sich zu Schlitzen.

Plötzlich befiel Hester ein eiskaltes Gefühl von Angst. Hatte sie am Ende zu viel geredet und ihr eigenes Leben in Gefahr gebracht? Ihr Mund war wie ausgetrocknet, aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen. »So gewinne ich ein bisschen Handlungsspielraum«, fuhr sie mit lauter Stimme fort, die ihr trotzdem schrecklich heiser vorkam.

Agatha stand regungslos da, eine Hand in die Hüfte gestemmt. Wie riesig ihre Faust mit den vorstehenden glänzenden Knöcheln war! Hester konnte den Gedanken daran nicht mehr verdrängen.

»Und was genau meinen Sie?«, fragte Agatha mit einer Stimme, so sanft, dass Hester geglaubt hätte, mit einem Kind zu sprechen, hätte sie nicht den Körper gesehen.

Hester konnte kaum noch schlucken, die Kehle schnürte sich ihr zu, und sie schnappte nach Luft, doch dann bekam sie sich wieder in den Griff. »Dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben kann, wenn ich keine Lieferungen mehr bekomme«, antwortete sie. »So etwas kommt den Herren in der Regierung nicht in den Sinn, oder? Reiche Männer können sich Opium kaufen, damit es ihnen schöne Träume verschafft, die kleinen Leute auf den Straßen und in den Docks, die mit Krankheiten geschlagen sind und Schmerzen leiden, müssen nehmen, was sie bekommen. Muss ich mich deutlicher ausdrücken?« Sie ließ bei der abschließenden Frage einen Beigeschmack von Abscheu durchklingen.

Agathas mächtiger Körper entspannte sich, und sie gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. »Ich mach uns ’nen Tee.« Sie trat einen Schritt zurück, um Hester in ihr Zimmer zu lassen. »Ich hab den besten, den’s gibt. Kommt eigens für mich aus China.«

Hester blinzelte. »Kommt denn nicht jeder Tee aus China?« Sie folgte Agatha in deren Zimmer, das erstaunlich aufgeräumt und blitzsauber war. Ein dezenter Geruch nach Rauch und heißem Metall zog von einem Holzofen in der Ecke herüber. Auf der Heizplatte stand ein dampfender Wasserkessel.

Hester schloss die Tür hinter sich und trat näher.

Agatha wandte sich zu ihr um. »Die meisten, nich’ alle! Es gibt Leute, die sagen, dass sie in Indien auch guten Tee anbauen. Aber das hier is’ der beste. So zart. Die haben ein großes Wissen, die Chinesen.«

Obwohl sie wegen etwas ganz anderem gekommen war, wuchs Hesters Interesse. Sie setzte sich auf den Stuhl, den ihr Agatha anbot, und ließ sich eine Tasse mit blassgelbem Tee ohne Milch reichen. Er hatte einen ungewohnten, doch reinen Geschmack. Unwillkürlich blickte sie sich kurz um und bemerkte ein Regal, vollgestellt mit mindestens dreißig Büchern in verschiedenen Stadien des Verfalls. Man konnte sehen, dass sie gründlich gelesen worden waren. An der Wand gegenüber standen Glasgefäße aneinandergereiht, die alle Arten von getrockneten Blättern, Kräutern, Wurzeln und Pulvern enthielten.

Sie zwang sich, ihr Augenmerk wieder auf die gewaltige Frau zu richten, die sich mittlerweile ihr gegenüber niedergelassen hatte und gespannt auf ihre Reaktion wartete.

Hester nippte erneut an dem Tee. Er hatte wirklich so gut wie nichts mit dem gemeinsam, was sie kannte, doch sie glaubte, den Geschmack mit der Zeit mögen zu lernen. »Danke«, sagte sie laut.

Schulterzuckend hob Agatha ihre eigene Tasse an die Lippen.

»Wie sind Sie auf diesen Tee gekommen?«, fragte Hester und nahm einen weiteren Schluck.

»In London gibt’s viele Chinesen«, antwortete Agatha. »Wissen ’ne Menge über Medizin, die armen Teufel. Haben mir einiges beigebracht.« Sie blickte Hester scharf an. Das war eine Warnung: Ihre Geheimnisse waren gefährlich, und sie würde sie nicht umsonst mit ihr teilen.

Davor hatte Hester großen Respekt. Sie selbst hatte ihre Kenntnisse auf dem Schlachtfeld erworben. »Ich wünschte, wir hätten auf der Krim genügend Opium gehabt«, sagte sie leise. »Wäre hilfreich gewesen, vor allem, wenn wir amputieren mussten.«

Agatha beobachtete sie aus halb zusammengekniffenen Augen. »Das ham Sie oft gemacht, hm?«

Hester nickte versonnen. »Ziemlich oft.« Die Erinnerungen kehrten zurück, und wieder fühlte sie sich, als kauerte sie inmitten des Elends auf dem Schlachtfeld im Schlamm und versuchte, die Schreie aus ihrem Bewusstsein auszusperren, damit sie sich auf die stummen, aschfahlen Gesichter mit den vor Schock eingesunkenen Augen vor ihr konzentrieren und ihr Heilwissen wachrufen konnte.

Agatha nickte bedächtig. »Durchleben Sie’s nich’ noch mal«, mahnte sie. »Damit machen Sie sich bloß verrückt. Kriegen Sie jetzt auch noch Menschen mit grässlichen Schmerzen, aufgeschlitztem Bauch, zertrümmerten Knochen und so was rein?«

Das war die Gelegenheit, die Hester erhofft hatte. »Nicht oft. Aber manchmal. Nierensteine, die nicht von selbst abgehen, oder ein aufgerissener Unterleib nach einer schweren Geburt. Schreckliche Wunden nach Schlägen. Und deswegen brauche ich gutes Opium.«

Agatha zögerte, als träfe sie eine schwere Entscheidung.

Hester wartete. Die Sekunden verstrichen.

Agatha holte tief Luft. »Ich kann Ihnen das beste Opium besorgen.« Ihre Augen bohrten sich in die von Hester. »Guter Preis. Aber ich kann noch mehr. Es zu essen is’ besser, als nix zu machen, aber nich’ so gut, wie es zu rauchen. Aber es gibt was noch Besseres. Ein Schotte hat ’ne Nadel angefertigt, die man in die Vene sticht, genau dort, wo der Schmerz am schlimmsten is’. Das war vor fünfzehn Jahren, wenn nich’ noch länger. Ich kann Ihnen so ’ne Nadel besorgen.«

Ein Schauer der Erregung fuhr durch Hester. »Ich habe davon gehört! Können Sie mir zeigen, wie man sie benutzt? Und wie viel man verabreicht?«

Agatha nickte. »Damit muss man sehr vorsichtig umgehen. Wenn man es falsch macht, kann man jemand umbringen. Und schlimmer noch, wenn man es mehr als ein paar Mal spritzt, passiert was mit den Leuten, und sie wollen es jeden Tag haben, weil sie ohne es nich’ mehr auskommen.«

Hesters Herz pochte zum Zerspringen. »Wie kann man das verhindern?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Das kann man nich’. Man gibt ihnen weniger und beim nächsten Mal noch weniger und dann überhaupt nix mehr. Sie kapieren’s. Die meisten wenigstens. Aber manche eben nich’. Die hören ihr Leben lang nich’ auf, es zu spritzen. Kommen irgendwie an das Zeug ran. Und brauchen immer mehr! Diejenigen, die es verkaufen, werden steinreich davon.« Ihr wutverzerrtes Gesicht ließ Hester zusammenzucken.

»Gibt es andere Wege, Schmerzen zu behandeln?«, fragte Hester leise, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

Eine Pause trat ein – bis Agathas einsilbige Antwort die Stille durchbrach. »Nein.«

»Hat Dr. Lambourn Sie deswegen befragt? Wegen Nadeln?«

»Nich’ am Anfang. Ihm ging’s vor allem um den Tod von Kindern, denen sie Medikamente verabreicht hatten, ohne zu wissen, was drin war. Aber ob so oder so, für ihn is’ nix Gutes dabei rausgekommen.«

»Sie haben mit ihm gesprochen?«, fragte Hester.

»Natürlich. Das hab ich Ihnen doch gesagt. Aber selbst wenn die Regierung seine Untersuchung angenommen hätte, hätte sich für Sie oder mich nix geändert. Die da oben wollten sowieso nix davon wissen. Was kümmert Sie das also noch?« Sie beobachtete Hesters Gesicht mit scharfen, klugen Augen.

»Aber er hat Sie über die Sucht nach dem Rauchen von Opium befragt?«, fragte Hester nach.

Agatha schnitt eine Grimasse. »Nich’ viel, aber ich hab’s ihm trotzdem gesagt. Er hat aufmerksam zugehört.«

»Glauben Sie, dass er sich umgebracht hat?«, fragte Hester unverblümt.

Agatha runzelte die Stirn. »Wie diese Art von Feigling is’ er mir nich’ vorgekommen, aber wahrscheinlich kann man so was nie genau wissen. Warum is’ Ihnen das so wichtig?«

Hester fragte sich, wie viel von der Wahrheit sie ihr anvertrauen durfte. Ein letzter prüfender Blick, und sie beschloss, ganz auf Lügen zu verzichten. Das ohnehin schon heikle Thema Opium in der Medizin wurde durch den Missbrauch des Mittels zur Linderung seelischer Schmerzen oder zur Flucht aus allem Elend mit zusätzlichen Komplikationen befrachtet. Wo war die Trennlinie zwischen Versorgung in einer Notlage und Profitgier? Und spielte einer dieser Aspekte eine Rolle bei Joel Lambourns Tod oder dem von Zenia Gadney?

»Ich halte es für möglich, dass er ermordet wurde und die Szene dann wie ein Selbstmord arrangiert wurde«, erklärte sie laut. »Einige Teile der offiziellen Version ergeben einfach keinen Sinn.«

»Ja? Aber, wie gesagt, was kümmert das Sie?« Agatha musterte Hester immer eindringlicher.

»Denn wenn er ermordet wurde, dann lässt sich hinter dem Mord an Zenia Gadney auf dem Limehouse Pier ein gewisser Sinn erkennen«, erklärte Hester.

Agatha erschauerte. »Seit wann haben die Verbrechen von Wahnsinnigen einen Sinn? Was is’ los mit Ihnen?«

»Mrs Lambourn steht wegen der Ermordung Zenia Gadneys vor Gericht, weil der Doktor das Opfer jeden Monat besuchte und ihr Miete und Lebensunterhalt bezahlte«, platzte Hester heraus.

»Dummes Miststück!«, schimpfte Agatha. »Und was, zum Henker, hat ihr das geholfen?«

»Überhaupt nichts. Allein schon, weil ihr Mann da bereits zwei Monate tot war.«

»Warum hat sie’s dann getan?«, fauchte Agatha mit zornig blitzenden Augen.

»Vielleicht hat sie es gar nicht getan. Sie behauptet außerdem, der Doktor hätte sich nicht selbst getötet.«

Agatha starrte sie an. Ihr Gesicht verriet, dass sie verstand. »Und Sie glauben, das hatte mit seiner Herumfragerei wegen dem Opium zu tun?«

»Sie nicht auch? Im Geschäft mit Opium steckt eine Menge Geld.«

»Und ob!«, stieß Agatha mit ätzender Wildheit hervor, als wäre mit dem Gedanken daran eine schlimme Erinnerung zurückgekehrt. »Vermögen werden damit gemacht oder der Ruf ruiniert. Niemand denkt jetzt noch gern an die Opiumkriege. Haufenweise Geheimnisse, die meisten davon blutig und mit Toten und mit Geld gespickt.« Sie beugte sich etwas weiter vor. »Seien Sie bloß vorsichtig! Sie würden sich wundern, welche hohen Familien damit reich geworden sind und heute kein Wort mehr darüber verlieren.«

»Wusste Dr. Lambourn darüber Bescheid?«

»Er hat nix gesagt, aber er hat sich von keinem was vormachen lassen – und ich genauso wenig. Legen Sie sich bloß nich’ mit den Opiumverkäufern an, Mädchen, sonst treiben Sie bald mit dem Bauch nach oben den Fluss runter. Ich besorg Ihnen, was Sie brauchen, und das mach ich nich’ wegen dem Profit. Diese Scheißkerle werden Sie noch zum Frühstück verspeisen, aber mich kriegen sie nich’.«

»Wusste Zenia von alldem?«, fragte Hester eilig.

Agathas Augen weiteten sich. »Woher, zum Henker, soll ich das wissen?«

»Mir ist nicht klar, wie Sie das machen, aber ich würde mein Geld darauf verwetten, dass Ihnen bei den Dingen, die Sie interessieren, keiner das Wasser reichen kann«, konterte Hester schlagfertig.

Agatha lachte leise, fast lautlos vor sich hin. »Stimmt, aber Wahnsinnige, die Frauen abschlachten, kümmern mich nich’, außer sie sind hinter mir her. Und wenn sie das versuchen …« Sie hob ihre riesigen Hände und knackte mit den Knöcheln. »Außerdem hab ich ein großes Tranchiermesser, das ich zur Not auch benutzen kann. Aber lassen Sie die Finger von fremden Angelegenheiten, Mädchen! Ich besorg Ihnen Ihr Opium, das beste auf der Welt. Anständiger Preis.«

»Und die Nadel?«, fragte Hester zögernd.

Agatha blinzelte. »Und die Nadel. Aber Sie müssen vorsichtig damit umgehen!«

»Das werde ich.« Hester erhob sich, froh, dass ihr langer, schwerer Rock ihre leicht zitternden Knie verbarg. »Ich bin Ihnen zutiefst dankbar.«

Stöhnend verdrehte Agatha die Augen, aber dann ließ sie mit einem breiten Grinsen ihre großen weißen Zähne aufblitzen.