8
Noch immer produzierte die Presse rabenschwarze Schlagzeilen über den Mordfall Zenia Gadney und das Unvermögen der Polizei, ihn zu lösen. Zügig marschierte Monk an einem Zeitungsjungen nach dem anderen vorbei und ignorierte sie, so gut ihm das möglich war. Doch vor dem Singsang, mit dem sie die Details hinausplärrten, um die Leute zum Kauf ihres Blatts zu verlocken, konnte er die Ohren nicht verschließen.
»Schrecklicher Mord in Limehouse immer noch ungeklärt!«, brüllte ein zahnlückiger Junge und hielt ihm seine Zeitung unter die Nase. »Polizei tut nichts!«
Monk schüttelte den Kopf und beschleunigte seine Schritte. Seine Männer leisteten doch ohnehin schon alles Erdenkliche. Orme ermittelte unermüdlich im Limehouse-Viertel. Andere verhörten Leichterschiffer, Hafenarbeiter, jeden, der regelmäßig an oder auf dem Wasser zu tun hatte, fragten, ob sie irgendetwas Merkwürdiges oder irgendjemanden mit auffälligen Verhaltensweisen bemerkt hatten. Bisher war jedoch nichts offenbart worden. Niemand an der Copenhagen Place und in den angrenzenden Straßen gab zu, Zenia Gadney persönlich gekannt zu haben. Für die Straßenmädchen war sie ein Störenfried, jemand, der die sichere Normalität ihres Alltags durcheinanderbrachte und ihnen die Polizei mit ihren lästigen Fragen auf den Hals hetzte. Schlimmer noch, da sie so brutal ermordet worden war, hatte sie potenzielle neue Kunden abgeschreckt. Wer wollte denn schon Mädchen ansprechen, wenn es von neugierigen Polizisten nur so wimmelte? Wenn ein Wahnsinniger durch das Viertel pirschte, erschien es den Freiern offenbar vernünftiger, ihre Gelüste zu zügeln oder woanders zu befriedigen. Man brauchte schließlich nur mit der Fähre nach Deptford oder Rotherhithe überzusetzen oder westwärts nach Wapping oder ostwärts auf die Isle of Dogs auszuweichen.
Für die Prostituierten gab es keine Alternative. Jede Straßenecke, jeder Abschnitt der Bürgersteige gehörte bereits einer anderen. Eindringlinge wurden vertrieben, so wie ein fremder Hund vom heimischen Rudel weggebissen wird.
Diejenigen, die nach übereinstimmender Meinung der Bewohner die Misere verschuldet hatten, waren die Polizisten. Es war ihre Pflicht, solche Verrückten zu ergreifen und zu hängen. Niemand, ob anständig oder nicht, war in Sicherheit, solange das nicht geschah.
Monk hatte eine Vorladung von Barclay Herne erhalten, Staatssekretär in der Regierung und Schwager des verstorbenen Joel Lambourn. Dieser wünschte, Monk wegen Zenia Gadneys Tod zu sprechen, und bat ihn, sich zu einem vertraulichen Gespräch im Ministerium einzufinden. Als Staatsdiener hatte Monk so gut wie keine Wahl. Freilich musste er sich eingestehen, dass er neugierig war zu erfahren, was Barclay zu dem Ganzen sagte. Es konnte doch gewiss nur um Joel Lambourn gehen. In welcher Beziehung konnte der Mann denn schon zu Zenia Gadney stehen?
Monk nahm einen Hansom. Nachdem es in den geschäftigen nassen Straßen des Regierungsviertels eine Stunde lang kaum vorangegangen war, stieg er schließlich vor Hernes Amtssitz in der Northumberland Avenue aus. Ein Diener führte ihn in ein behaglich eingerichtetes Wartezimmer, wo er eine weitere Viertelstunde ungeduldig im Stehen verbrachte und darüber rätselte, was Herne wohl von ihm wollte.
Als der Mann zu guter Letzt erschien, war Monk überrascht. Er hatte mit einer beeindruckenderen und weniger leutseligen Persönlichkeit gerechnet – zumindest an der Oberfläche. Herne war durchschnittlich groß, untersetzt und hatte ein auf den ersten Blick höchst gewöhnliches Gesicht. Erst als er die Tür hinter sich schloss und mit ausgestreckter Hand auf Monk zutrat, korrigierte dieser seinen Eindruck. Sein Lächeln veränderte seine ganze Erscheinung. Seine Zähne waren kräftig und sehr weiß, und seine Augen verrieten hohe Intelligenz.
Er schüttelte Monk die Hand derart fest, dass es fast schmerzte – ein fühlbarer Hinweis auf die Macht dieses Mannes.
»Danke«, sagte er und wirkte dabei völlig aufrichtig. »Freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ein bisschen früh für Whisky.« Er zuckte mit den Schultern. »Tee?«
»Nein, danke«, lehnte Monk ab. Nach der langen Fahrt in der Kälte sehnte er sich nach einem heißen Getränk, aber er wollte die Gastfreundschaft dieses Mannes nicht annehmen. »Was kann ich für Sie tun, Mr Herne?«
Herne deutete auf einen Stuhl und ließ sich seinerseits in einem grünen Ledersessel gegenüber nieder, hinter dem ein munteres Kaminfeuer prasselte.
»Ziemlich beunruhigende Situation«, meinte er bedauernd. »Ich habe erfahren, dass Sie den Tod meines verstorbenen Schwagers untersuchen, und zwar etwas eingehender, als das bisher geschehen ist. Ist das wirklich nötig? Meine Frau trägt das alles sehr tapfer, aber wie Sie sich vorstellen können, ist es höchst unangenehm für sie. Sind Sie verheiratet, Mr Monk?«
»Ja.« Monk hatte wieder Amity Hernes kühle, vollkommen gefasste Miene vor Augen. In einem Punkt gab er ihrem Mann schon jetzt recht: Wenn sie tatsächlich litt, verbarg sie das außerordentlich geschickt. Gleichwohl wählte er seine Worte mit Sorgfalt. »Und wenn meine Frau je einen solchen Verlust erleiden sollte, wäre ich stolz auf sie, könnte sie ihn mit solcher Würde ertragen.«
Herne nickte. »Das bin ich allerdings auch. Dennoch wäre es mir bei Weitem lieber, könnten wir ihr jetzt jeden nur erdenklichen Beistand leisten und die Angelegenheit so rasch wie möglich regeln. Der arme Joel war …« Er deutete ein kaum sichtbares Schulterzucken an und senkte die Stimme geringfügig. »… innerlich nicht so ausgeglichen, wie andere das anscheinend glauben. Schließlich erzählt man nicht jedermann von den Problemen in der Verwandtschaft. Es ist nur zu natürlich, wenn man versucht, sie zu schützen … Sie verstehen?«
»Gewiss.« Monk wartete neugierig darauf, zu erfahren, was Herne nun wirklich von ihm wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es ihm nur darum ging, seiner Frau jede Belastung zu ersparen. Sie noch einmal zu verhören, hatte Monk ohnehin nicht in Erwägung gezogen. Er bezweifelte, dass er etwas anderes zu hören bekommen würde als bei ihrer ersten Aussage, als sie gemeint hatte, Dinah wäre naiv hinsichtlich Lambourns Schwächen gewesen, während ihr Mann es vielleicht nicht vermocht hätte, dem Druck, den sie mit ihrer idealistischen Sicht auf ihn ausübte, standzuhalten.
Herne schien es nun seinerseits Mühe zu bereiten, die richtigen Worte zu finden. Als er schließlich zu Monk aufblickte, trug sein Gesicht einen Ausdruck von Freimütigkeit.
»Unsere Beziehung war nicht immer unproblematisch«, vertraute er ihm an. »Als meine Frau und ich heirateten, lebten wir in Schottland. Um die Wahrheit zu sagen, wir sahen Joel und Dinah kaum. Meine Frau stand Lambourn nicht sehr nahe. Zwischen ihnen klaffte ein erheblicher Altersunterschied, sodass sie getrennt voneinander aufwuchsen.«
Monk wartete.
Anspannung zeigte sich jetzt in Hernes Haltung. Seine Hände waren so starr, dass die Knöchel sich weiß färbten. Mit einem matten, um Entschuldigung bittenden Lächeln meinte er: »Erst vor Kurzem hat es mir gedämmert, dass Joel weit komplizierter war, als er auf seine Freunde und Bewunderer wirkte. Ach, charmant war er gewiss, auf eine sehr ruhige Weise. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis und konnte sehr unterhaltsam sein, wenn er aus dem Nähkästchen plauderte und wirklich höchst ungewöhnliche Dinge zum Besten gab.« Er zögerte. »Und natürlich Witze. Keine von der Sorte, über die man laut lacht, sondern solche, die eher stilles Vergnügen bereiten, Belustigung über die Absurditäten des Lebens.« Erneut hielt er inne. »Es war sehr leicht, ihn zu mögen.«
Monk setzte schon dazu an zu fragen, was Herne nun eigentlich von ihm wollte, überlegte es sich dann aber anders. Vielleicht erfuhr er mehr, wenn er sein Gegenüber einfach weiterplaudern ließ.
Unvermittelt blickte ihm Herne in die Augen. »Aber er war nicht der Mann, den die arme Dinah in ihm sehen wollte.« Erneut senkte er die Stimme. »Er hatte eine einsame, eine viel dunklere Seite. Ich wusste von dieser Frau, die er in Limehouse unterhielt. Er besuchte sie regelmäßig. Wann genau oder wie oft, kann ich allerdings nicht sagen. Sie werden sicher verstehen, dass ich von den Details lieber nichts wissen wollte. Das war ein hässlicher Winkel in seinem Wesen, und ich wäre wirklich froh gewesen, nie etwas davon zu Gesicht zu bekommen.« Er machte eine kleine missbilligende Geste, die offenließ, ob sie dem galt, was er bei Lambourn alles für möglich erachtete, oder nur dem Umstand, dass er mehr über das Privatleben eines Mannes erfahren hatte, als ihm lieb war.
»Wie haben Sie das herausgefunden, Mr Herne?«, fragte Monk.
Hernes Miene nahm einen bedauernden Ausdruck an. »Es hatte mit einer Bemerkung von Dinah zu tun, deren wahre Bedeutung mir erst im Nachhinein aufging. Im Grunde war es sehr peinlich.« Er verlagerte unbehaglich das Gewicht. »Joel wirkte immer so … fantasielos, so trocken. Ich hatte größte Mühe, ihn mir zusammen mit einer verblühten Hure in den Seitengassen einer Gegend wie der West India Dock Road vorzustellen.« Er runzelte die Stirn. »Aber da der arme Mann gestorben ist, bevor diese bedauernswerte Kreatur umgebracht wurde, kann ihm diese entsetzliche Tat ja wohl kaum zur Last gelegt werden. Ich kann mir nur vorstellen, dass ihre finanzielle Lage immer verzweifelter wurde, ihre Instinkte sie verließen und sie unachtsam wurde, nachdem er sie so lange ausgehalten hatte.«
Monk neigte zu der gleichen Auffassung, wartete aber darauf, dass Herne seine begonnene Erklärung zu Ende führte.
»Meine Familie …« Herne stockte, als bereitete es ihm Schwierigkeiten weiterzusprechen. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich nicht öffentlich zu der Verbindung zwischen Joel und dieser Frau äußern würden. Es ist auch so schon schwer genug für Dinah, dass sie von seiner … Schwäche Kenntnis nehmen muss, als würden sein berufliches Scheitern und dann auch noch sein Selbstmord nicht genügen – Gott stehe uns allen bei. Und natürlich geht es mir dabei auch um meine Frau. Sie und Joel standen sich nicht nahe, aber er war dennoch ihr Bruder. Bitte … machen Sie die Verbindung zwischen ihm und dieser Frau nicht öffentlich. Schließlich ist ein Zusammenhang mit ihrer Ermordung völlig ausgeschlossen.«
Monk musste nicht lange überlegen. »Wenn es nichts mit der Überführung des Mörders zu tun hat, dann haben wir auch nicht den geringsten Anlass, Dr. Lambourn zu erwähnen«, erklärte er.
Endlich schien alle Anspannung von Herne abzufallen. »Danke.« Er lächelte. »Ich … wir sind Ihnen sehr verbunden. Wir alle hatten es in letzter Zeit sehr schwer, insbesondere Dinah. Sie ist eine … extrem emotionale Frau.« Er erhob sich und streckte Monk die Hand entgegen. »Danke«, wiederholte er.
Erst nachdem Monk das Büro in der Northumberland Avenue verlassen hatte und auf dem Rückweg zur Wache der Wasserpolizei in Wapping einen Hansom bestiegen hatte, dämmerte ihm, was genau Barclay Herne ihm offenbart hatte. Als er dort, wo The Strand in die Fleet Street überging, in dichtem Verkehr stecken blieb, ging ihm die volle Bedeutung seiner Worte auf. Dinah Lambourn hatte ihm gegenüber zugegeben, dass sie über das Interesse ihres Mannes an einer anderen Frau im Bilde gewesen war, sich aber bewusst entschieden hatte, nicht mehr als lediglich diesen Umstand in Erfahrung zu bringen. Sie hatte ihm gesagt, sie wisse weder, wohin ihr Mann gegangen war, noch den Namen der Frau.
Herne wiederum hatte behauptet, er habe über Dinah von dieser Affäre erfahren, und hatte sich dann über Limehouse im Allgemeinen und über die West India Dock Road im Besonderen geäußert. Die war aber nur einen Katzensprung von der Copenhagen Place entfernt, wo Zenia Gadney gelebt hatte. Ohne ihre genaue Adresse zu kennen, hätte er es kaum besser treffen können. Es war die nächste Straße. Unbeabsichtigt hatte er Monk so verraten, dass Dinah Zenia Gadneys Adresse sehr wohl gekannt und folglich gelogen hatte.
Die bloße Vorstellung war ihm zuwider. Er versuchte, sie aus seinem Bewusstsein auszusperren, doch seine Fantasie lieferte ihm fieberhaft ein Bild nach dem anderen. Dinah hatte Lambourn fast obsessiv geliebt. Sie hatte zu viel Gutes in ihm gesehen und ihn auf einen Sockel gestellt, auf dem sich wohl kein Mann halten konnte. Jeder hatte Schwächen, über die er irgendwann stolpern musste. Das zu ignorieren oder zu leugnen bedeutete, ihm eine Bürde aufzuladen, die zu schwer war, als dass er sie im Alltagsleben tragen konnte.
Die Liebe sah nicht nur das Schöne, sondern akzeptierte auch die Narben und den Makel. Früher oder später provozierte das Gewicht unmöglicher Erwartungen Ausweichversuche: am Anfang vielleicht nur kleinere, mit der Zeit immer größere, wenn der Schmerz zunahm.
War das mit Joel Lambourn geschehen? War der Sockel zu hoch und es dort oben unerträglich einsam gewesen?
Der Hansom kam in dem dichten Verkehr kaum voran. Es regnete jetzt heftiger. Monk sah, wie die Tropfen von der Straße abprallten und das Wasser durch die Rinnen wirbelte. Frauenröcke waren längst durchnässt, Männer, die sich hinter ihren Schirmen verschanzten, rempelten einander an.
Hatte sich Dinah von Joel betrogen gefühlt? Hatte sie einen Abgott aus ihm gemacht, nur um zu entdecken, dass der Sockel, auf den sie ihn gestellt hatte, noch brüchiger war als Lehm, und war die Ermordung Zenia Gadneys ihre Rache an einem gefallenen Gott gewesen?
Oder waren all diese Spekulationen vielleicht doch an den Haaren herbeigezogen? Monk konnte das nur hoffen. Aus tiefstem Herzen wünschte er sich, er hätte unrecht. Er hatte Dinah gemocht, ja bewundert. Aber nun würde er die ganze Wahrheit über sie aufdecken müssen.
Er beugte sich vor und wies den Kutscher an, die Richtung zu ändern und ihn zur Britannia Bridge zu bringen, wo die Commercial Road East den Limehouse Cut kreuzte und in die West India Dock Road überging. Ein weiteres Mal musste er die Läden aufsuchen: den Krämer, den Bäcker und dazu all die Häuser in der Copenhagen Place.
Als er in dem Viertel eintraf, hatte es aufgehört zu regnen. Auf dem Bürgersteig an der Ecke zwischen der Solomon’s Lane und der Copenhagen Place spielte ein gutes Dutzend Kinder Himmel und Hölle. Weiter vorn standen zwei Wäscherinnen, gewaltige Kleiderbündel gegen die Hüften gestemmt, auf der Straße und unterhielten sich. Ein Hund wühlte voller Hoffnung in einem Abfallhaufen. Zwei junge Frauen feilschten bei einem Gemüsekarren mit dem dahinter postierten Mann. Ein junger Bursche mit schief aufgesetzter Schirmmütze schlenderte pfeifend auf der Bordsteinkante vorbei. Es war eine fröhliche Variéténummer, die er zum Besten gab, und er traf jeden Ton.
Monk tat nicht gern, was er jetzt im Begriff war zu tun, doch wenn er nicht jede Gelegenheit nutzte, um seine Idee zu überprüfen, würde sein Verdacht ihn ewig verfolgen. Er fing gleich mit den Wäscherinnen an. Wie hätte sich Dinah wohl gekleidet, wenn sie hierhergekommen wäre, um Zenia Gadney zu suchen? Gewiss nicht modisch. Vielleicht hätte sie sich sogar von einem Dienstmädchen den Umhang geliehen, um den Schnitt und den feinen Stoff ihrer Kleider zu verbergen. An wen hätte sie sich gewandt, und welche Fragen hätte sie gestellt?
»Verzeihen Sie«, sprach Monk die Wäscherinnen an.
»Ham Sie jetzt endlich rausgefunden, wer sie abgemurkst hat?«, blaffte ihn die eine an. Sie hatte blondes Haar, das dort, wo die blasse Wintersonne darauf schien, heller wirkte, und ein breites, doch durchaus hübsches Gesicht.
Es verblüffte Monk, dass sie genau wussten, wer er war. Er trug doch keine Uniform! Aber vielleicht hätte er damit rechnen müssen. Dass er eine auffällige Erscheinung war, wusste er aus langjähriger Erfahrung. Sein hageres Gesicht, der Schnitt seiner Kleider, die aufrechte Haltung und sein forscher Gang hoben ihn vom Durchschnitt ab.
»Noch nicht«, antwortete er der Frau. »Aber wir haben mittlerweile genaue Vorstellungen davon, wer etwas gesehen haben könnte.« Damit wich er zwar der Wahrheit aus, aber das störte ihn keineswegs. »Ist einer von Ihnen eine Frau hier im Viertel aufgefallen, die Mrs Gadney suchte, sich vielleicht nach ihr erkundigte? Ziemlich groß, dunkles Haar, womöglich einfach gekleidet, aber mit dem Gebaren einer feinen Dame.«
Die zwei musterten ihn misstrauisch, dann wechselten sie einen Blick.
»Sie sind ja selbst eingelegt wie ein Hering«, brummte die verwelktere der beiden. »Und welche feine Dame würde schon nach einer wie ihr suchen?«
»Eine, von deren Mann sie Geld angenommen hatte«, antwortete Monk, ohne zu zögern.
»Da siehst du’s, Lil!«, rief die Blonde triumphierend. »Hab ich’s dir nich’ gesagt? Sie hatte nix Gutes im Sinn. Ich hab’s von Anfang an geahnt!«
Monk schnürte sich die Kehle zu. Wie froh wäre er gewesen, wenn er sich geirrt hätte!
»Sie haben sie gesehen?«, fragte er. »Eine Frau, die Mrs Gadney suchte? Sind Sie sicher?«
»Ich nich’! Aber ich hab so was von Madge gehört, die weiter hinten in der Straße lebt.« Sie verdrehte den Kopf und wies ihm mit dem Kinn die Richtung. »Sie war im Laden vom alten Jenkins, als es passiert is’.«
»Als was passiert ist?«, drängte Monk.
»Als diese Frau da war und alle möglichen Fragen über die andere gestellt hat, die sie umgebracht ham, was sonst? Isses nich’ das, was Sie wissen wollten? Schrecklich verkrampft soll sie gewesen sein. Und dann das! Armes Ding.« Plötzlich kniff sie die Augen zusammen. »Sie reden ja grade so, wie wenn sie das gewesen wär, die die andere zerstückelt hat und dann auf dem Pier hat liegen lassen. Hören Sie, sie mag ja vielleicht nich’ ganz richtig im Kopf gewesen sein, aber keine Frau tut so was einer anderen an. Das können Sie mir glauben.«
»Er hat ja gar nich’ behauptet, dass sie das war!«, wies die andere ihre Freundin zurecht. »Hast du Ohren aus Stoff oder was? Er hat bloß gesagt, dass sie vielleicht wissen könnte, wer es war.«
»Vielen Dank«, unterbrach Monk sie und hob begütigend beide Hände. »Ich gehe gleich weiter zum Krämer und erkundige mich dort.« Damit wandte er sich um, überquerte zügig die Straße und bog in die Copenhagen Place ein. Hier war es zwar trockener als in der Stadtmitte, doch der vom Fluss herüberwehende Wind war kalt. Monk wickelte sich fester in seinen Mantel.
Er erreichte den Gemischtwarenladen und trat ein. Dort warteten an der Theke drei Kunden, ein Mann und zwei Frauen. Monk reihte sich geduldig hinter ihnen ein und lauschte ihrem Gespräch, konnte ihm jedoch wenig entnehmen, außer dass sie wütend und auch verängstigt waren, weil es in der Gegend ein rätselhaftes Verbrechen gegeben hatte und niemand es bisher hatte klären können.
»Sie war doch harmlos!«, rief eine der Frauen mit zunehmender Empörung. Sie hatte sich ihr weißes Haar mit Klammern so straff nach hinten gebunden, dass sich ihre Haut an der Stirn spannte und die Falten um ihre Augen beinahe verschwanden. »Hat all die Jahre immer ganz zurückgezogen gelebt. Wie weit isses bloß mit der Welt gekommen, dass so ein armes Ding wie sie zerstückelt wird wie ein Stück Fleisch?«
»Ein Jammer, dass sie das Rädern und Vierteilen abgeschafft haben, sag ich«, bestätigte der alte Mann mit einem verständnisvollen Nicken. »Natürlich müssen sie den Dreckskerl jetzt erst mal kriegen.«
»Hafermehl, Zucker und zwei Eier wie immer, Mr Waters?«, unterbrach ihn der hinter der Theke stehende Jenkins.
»Tun Sie doch nich’ so, als ob Ihnen das gleichgültig wär!«, rief Mr Waters empört. »Sie hat schließlich ihre Lebensmittel immer bei Ihnen gekauft!«
»Das muss für Sie alle sehr schlimm sein«, mischte sich Monk ein, bevor sich die Gemüter noch mehr erhitzten.
Alle drei Kunden wirbelten zu ihm herum. »Und wer sind Sie?«, fragte Jenkins misstrauisch.
»Er is’ von der Polizei«, stieß die andere Frau verächtlich hervor. Sie baute sich vor Monk auf. »Als Nächstes vergessen Sie wohl Ihren Namen, hm? Weswegen sind Sie denn jetzt schon wieder hier? Um uns zu sagen, dass Sie aufgeben?«
Monk lächelte sie an. »Wenn ich aufgegeben hätte, würde ich mich aus Scham nicht mehr hierherwagen«, erwiderte er und fuhr gleich fort, bevor ihr eine passende Erwiderung einfallen konnte. »Ist hier an dem Tag, an dem Zenia Gadney ermordet wurde, oder möglicherweise einen Tag davor, eine große, dunkle Frau aufgetaucht, um sich nach ihr zu erkundigen?«
Beide Frauen schüttelten den Kopf, doch Jenkins starrte Monk stirnrunzelnd an. »Ja, ja, da war eine, und die hat die Nerven verloren. Ja, und? Is’ doch bloß traurig, dass eine so schöne Frau derart überschnappt.«
»Ach, und wenn’s ’ne hässliche alte Schlampe wie wir gewesen wär, dann is’ wohl nix dabei?«, giftete ihn eine der Kundinnen an. »Also, wenn Sie so von uns denken, brauchen Sie nich’ zu erwarten, dass ich noch mal wegen meinem Abendbrot und meinen Kartoffeln zu Ihnen komme.« Sie knallte einen Shilling und zwei Pennys auf den Ladentisch und rauschte davon. Im Gehen schlug sie ihre Einkaufstasche gegen die Tür und stieß einen derben Fluch aus.
»Das tut mir leid«, entschuldigte sich Monk bei Jenkins. »Ich wollte Ihnen nicht Ihre Kunden vergraulen.«
»Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen, Sir«, beschwichtigte Jenkins ihn. »Ihr platzt immer wegen irgendwelchen Kleinigkeiten der Kragen. Sie kommt schon wieder. Also, was kann ich für Sie tun?«
»Erzählen Sie mir von dieser Frau, die einen Tag vor Zenia Gadneys Ermordung bei Ihnen war und sich so fürchterlich aufgeregt hat.«
»Sie wollen sie doch nich’ beobachten, Sir? Sie war nich’ aus der Gegend. War völlig außer sich, das arme Ding. Fantasierte und murmelte vor sich hin. Völlig ohne Zusammenhang. Ich schätze, dass sie sich verirrt hatte.«
»Können Sie mir beschreiben, wie sie aussah, und erinnern Sie sich noch an das, was sie sagte?«
»Daraus konnte ja kein Mensch schlau werden«, brummte Jenkins skeptisch.
»Das macht nichts. Zunächst zu ihrem Aussehen. Bitte.«
Jenkins dachte angestrengt nach. »Ziemlich groß für eine Frau … dunkles Haar, soweit ich es sehen konnte. Aber nich’ schwarz. Sie hatte so ’n altes Tuch, das den halben Kopf bedeckte. Hübsches Gesicht. Ich hab Ihnen ja schon gesagt, dass sie nich’ aus der Gegend kam und sich auch nich’ so anhörte. Aber das arme Ding war halb übergeschnappt. Zu viel Opium, wenn Sie mich fragen. Wenn man es bloß hin und wieder nimmt, richtet es keinen Schaden an. Es is’ nun mal so, dass es hilft, wenn alles andere für die Katz is’. Aber wenn man zu viel davon schluckt, macht es einen wirr im Kopf. Und den allergrößten Schaden richtet es an, wenn man das Zeug raucht. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie das getan hat. Am Hafen unten kann man es in rauen Mengen kriegen. Meistens sind es die Chinesen. Im Osten drüben haben sie ein ganz tückisches Kraut, heißt es.«
Monk biss die Zähne zusammen und holte tief Luft. »Was hat sie denn vor sich hin gemurmelt? Können Sie sich erinnern?«
Jenkins schien seine Ungeduld überhaupt nicht zu registrieren. »Komisches Zeug«, sinnierte er. »Aus dem meisten bin ich nich’ schlau geworden, aber in der Hauptsache ging es um Selbstmord und Huren und so was. Na, wie gesagt, sie war nich’ bei Trost. ’ne Hure war sie jedenfalls nich’, darauf würde ich mein Geld verwetten.« Er schüttelte den Kopf. »Sie war ’ne Dame, auch wenn sie halb übergeschnappt war. Sie hat was von Lügen und Betrug und so was gefaselt. Ich würde sogar behaupten, dass sie ein ganz anderer Mensch is’, wenn sie ihre Sinne beisammenhat. Sie sollten nich’ allzu viel auf ihr Gerede geben, Sir. Und ich glaube nich’, dass sie Mrs Gadney überhaupt kannte. Zwei gegensätzlichere Frauen kann man sich kaum vorstellen.«
»Erkundigte sie sich nach Mrs Gadney? Wollte sie wissen, wo sie lebte oder ob Sie sie kannten?«
»Daran kann ich mich nich’ erinnern. Kam bloß wegen ’nem Tütchen Opium rein, schwadronierte von Leuten, die sich umbringen, und is’ wieder verschwunden.«
»Danke. Sie haben mir sehr geholfen.« Monk kaufte ihm noch eine Flasche Sirup ab, in der Hoffnung, Hester würde einen Pudding mit Sirupsoße für ihn und Scuff auf den Tisch zaubern, dann bedankte er sich noch einmal und trat wieder auf die Straße hinaus.
Auch in den anderen Läden in der Copenhagen Place hörte er sich um. Vom Tabakhändler erfuhr er, dass eine große Frau mit dunklem Haar sich bei ihm nach Zenia Gadney erkundigt, aber zu dem Zeitpunkt einigermaßen gefasst gewirkt hatte. Er hatte ihr erklärt, dass Mrs Gadney ein paar Häuser weiter wohnte. Die genaue Nummer hatte er ihr nicht sagen können, nur dass sich das Haus ungefähr in der Mitte befand.
Zwei weitere Personen hatten die Frau gesehen, ohne allerdings Genaueres über sie sagen zu können. Wie auch immer, die Informationen, die Monk hatte, genügten, um ihn zu zwingen, Dinah Lambourn zur Rede zu stellen.
Weil ihm diese Aufgabe widerstrebte, kehrte er zunächst zur Wache in Wapping zurück, um sich zu vergewissern, dass dort alles seinen geregelten Gang ging. Danach jedoch blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Mantel anzuziehen und hinaus zum Kai zu marschieren. Der kürzeste Weg nach Greenwich war längs des nördlichen Flussufers, also die Seite, wo er sich befand, um dann von Horse Ferry ein Boot zum Greenwich Pier zu nehmen. Das würde eine Weile dauern, aber der kalte Spätnachmittagswind und die vertrauten Geräusche des Flusses würden ihm helfen, sich zu sammeln und sich seine Worte zurechtzulegen.
Er stand auf dem Kai und schaute über das viel befahrene Wasser, das jetzt mit dem Gezeitenwechsel unruhig wurde. Der Himmel verdunkelte sich bereits, und das Licht verblasste. In zehn Tagen war Wintersonnenwende und kurz danach Weihnachten. Er konnte seine Aufgabe immer noch verschieben. Einfach heimgehen und Dinah einen letzten Abend in Frieden zusammen mit ihren Töchtern gönnen. Die armen Mädchen – sie hatten ohnehin schon so viel verloren. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch jemanden hatten – außer Amity Herne. Doch bei dieser Frau konnte er sich nicht vorstellen, dass sie ihnen in der Zeit der Verzweiflung, die ihnen nun mit Sicherheit bevorstand, Wärme und Trost würde geben können.
Gleich darauf schalt er sich. Was für ein hartherziger Gedanke das war! Sie konnte durchaus eine liebevolle Frau sein. Manchmal sprangen die Menschen angesichts einer Notlage über den eigenen Schatten und erwiesen sich als fürsorglicher und tapferer, als man es ihnen je zugetraut hätte.
Ein Aufschub würde auch für Monk selbst einen geschenkten Abend bedeuten, bevor er dann – obschon gezwungenermaßen – vor Dinah trat und die letzte Hoffnung auf ihre Unschuld aufgab.
Aber warum dachte er bei alldem überhaupt an sich? Was konnte diese kleine Enttäuschung denn schon ausmachen?
Eine Fähre näherte sich der Anlegestelle. Sobald sie ihre Passagiere entlassen hatte, konnte er damit nach Hause fahren. In einer halben Stunde wäre er daheim, in seiner eigenen Küche und – wichtiger noch – in der emotionalen Sicherheit all dessen, was zu Hause für ihn bedeutete. Er und Hester könnten gemeinsam überlegen, was sie Scuff zu Weihnachten schenken wollten, was er sich vielleicht alles wünschte und was ihn womöglich überfordern oder in Verlegenheit stürzen würde. Monk dachte an eine Taschenuhr. Der Junge hatte gerade erst gelernt, die Uhrzeit zu lesen, statt sie zu raten. Hester wollte ihm Bücher besorgen. Wäre beides zu viel? Würde Scuff sich dann verpflichtet fühlen, ihnen zwei Geschenke zu machen, jedem eines?
Er stellte sich auf die oberste Stufe, bereit, an Deck zu klettern.
Doch dann überlegte er es sich unvermittelt anders und lief zügig in die entgegengesetzte Richtung, zurück zur Straße. Er würde es jetzt erledigen, sich seiner Aufgabe stellen und sie hinter sich bringen.
Nach einer Stunde, die ihm viel zu kurz erschien, war er bei Dinah im Salon, und sie saß ernst, angespannt und kerzengerade in dem Stuhl gegenüber dem seinen, das Gesicht beinahe blutleer und die Finger mit solcher Kraft ineinander verknotet, dass die Knöchel weiß angelaufen waren.
Vielleicht würde er nie wissen, was er in solchen Situationen sagen sollte, um sie erträglicher zu machen. Er gab sich einen Ruck.
»Mrs Lambourn, als ich zuletzt hier war, sagten Sie mir, Sie wären darüber im Bilde, dass Ihr Mann eine Affäre mit einer anderen Frau hatte, wüssten aber nichts über sie, auch nicht ihre Adresse. Habe ich Sie da richtig verstanden?«
»Natürlich weiß ich es jetzt«, antwortete sie.
»Aber wussten Sie es, bevor sie ermordet wurde?«, beharrte er.
»Nein. Darüber haben wir nicht gesprochen.«
»Wie erfuhren Sie denn von ihr?«
Ihre Augen hoben sich ruckartig zu ihm und senkten sich wieder auf ihre Hände. »So etwas weiß man einfach, Mr Monk«, sagte sie leise. »Kleine Veränderungen im Verhalten, Zerstreutheit, Erklärungen, um die man gar nicht gebeten hat, ausweichende Antworten bei bestimmten Themen. Am Ende habe ich ihn einfach zur Rede gestellt. Er hat es zugegeben, aber keine Einzelheiten genannt. Die wollte ich auch gar nicht wissen. Das verstehen Sie doch sicher?«
Monk nickte ernst. »Aber Sie hatten keine Ahnung, wo sie wohnte?«
Ein fast unmerkliches Kopfschütteln. »Das war eines von den Dingen, die ich nicht wissen wollte.«
»Den Namen auch nicht?«
Ihr Kinn zuckte nach oben. »Natürlich nicht. Es war mir lieber, dass sie … grau blieb, formlos.« Ihre Stimme klang angespannt. Sie zitterte ganz leicht.
Monk war sich sicher, dass sie log, aber in welchem Punkt, das war ihm nicht klar. »Am Tag, bevor sie ermordet wurde, wo waren Sie da, Mrs Lambourn?«
Ihre Augen wanderten in eine andere Richtung. »Wo ich war?«
»Ja, bitte.«
Sekundenlang schwieg sie und atmete langsam durch, als müsste sie sich vor einer großen Entscheidung sammeln, deren Konsequenzen sie ängstigten. An ihrer Schläfe, kurz unterhalb ihres dunklen Haars, zuckte ein Nerv.
Monk wartete.
»Ich … ich war mit einer Freundin in einer Soiree«, sagte sie schließlich. »Wir haben fast den ganzen Tag miteinander verbracht.«
»Der Name Ihrer Freundin?«
»Helena Moulton. Mrs Wallace Moulton, muss man wohl sagen. Ihre …« Wieder dieser tiefe Atemzug. »Ihre Adresse ist The Glebe, Nummer vier, in Blackheath. Warum ist das so wichtig, Mr Monk?«
»Danke.«
»Warum?«, fragte sie erneut, die Stimme trocken, fast knarzend. »Joel konnte ja nichts mit ihrem Tod zu tun haben.«
»Könnte sie in seinen Tod verwickelt gewesen sein?«, fragte Monk.
»Sie meinen …« Plötzlich weiteten sich ihre Augen, und Zorn blitzte darin auf. »Sie meinen: Drohte sie damit, irgendwem von ihrer Affäre zu erzählen? War sie eine Frau von dieser Art? Gierig, hinterhältig, auf Zerstörung versessen? Nun, Joel war kein sehr guter Menschenkenner. Oft hielt er mehr von den Leuten, als sie wirklich verdienten.«
Monk hatte ihr erstes Gespräch noch lebhaft in Erinnerung. »Aber Sie haben mir doch gesagt, dass Sie glauben, er sei ermordet worden, weil seine Untersuchung über den Gebrauch von Opium zutraf«, hielt er ihr vor. »Mit Zenia Gadney hätte das gar nichts zu tun.«
Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Einen langen Moment saß sie wie erstarrt da. Die Sekunden verstrichen im Takt zum Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Dinah verharrte regungslos. Ihre Schultern zuckten nicht; sie gab keinen Laut von sich.
Monk wartete in tiefster Betroffenheit. Er würde nach Blackheath reisen und Helena Moulton aufstöbern müssen. Von ganzem Herzen hoffte er, dass sie Dinahs Angaben bestätigen würde – und dass es andere geben würde, die das bezeugen konnten, auch wenn er diesbezüglich Zweifel hatte.
Endlich richtete sich Dinah auf. »Ich weiß die Antwort nicht, Mr Monk. Das Einzige, was für mich zählt, ist, dass Joel tot ist und nun auch diese Frau. Sie werden herausfinden müssen, wie all das geschehen konnte und wer die Schuld daran hat.« Sie wirkte erschöpft, zu müde, um noch Angst zu haben.
Monk erhob sich. »Danke. Es tut mir leid, dass ich Sie schon wieder belästigen musste.«
Jetzt sah sie ihm direkt in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sie müssen Ihre Pflicht erfüllen, was immer sie mit sich bringt. Wir müssen die Wahrheit erfahren.«
Monk war schon eine Weile gelaufen, als er endlich einen Hansom bekam und sich den Rest des Weges fahren ließ. The Glebe befand sich am Stadtrand, fast schon auf dem offenen Land des Blackheath Village. Da es keine lange Straße war, musste er sich nur einmal kurz erkundigen, um zum Haus von Mr und Mrs Moulton zu gelangen.
Dort wartete er eine halbe Stunde, bis Mrs Moulton von einem Besuch bei einer Freundin zurückkehrte und ihn in den Salon bat.
»Mrs Lambourn?«, rief sie überrascht. Sie war eine Frau von angenehmem Äußeren, die sorgfältig auf Kleider achtete, in welchen sie größer wirkte, als sie tatsächlich war. Ihre Miene verriet vollkommene Verwirrung.
»Richtig. Haben Sie sie am zweiten Dezember getroffen?«
»Himmel, was soll das? Da muss ich in meinen Kalender schauen. War an dem Tag irgendetwas Besonderes?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Monk versuchte, sich seine Ungeduld nicht anhören zu lassen. »Mit Ihrer Hilfe könnte diese Frage vielleicht geklärt werden.«
Sie maß ihn mit einem ernsten Blick. »Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, meine Unternehmungen mit Ihnen zu erörtern, Mr Monk, oder, was diesen speziellen Fall betrifft, die von Mrs Lambourn. Wir sind miteinander befreundet, und sie hat in jüngster Zeit eine entsetzliche Tragödie erlitten. Wenn etwas Unerfreuliches geschehen ist, etwas, das sie nach dem schrecklichen Verlust ihres Mannes noch tiefer ins Unglück stürzt, bin ich nicht bereit, Salz in ihre Wunden zu streuen.«
»Ich werde es so oder so herausfinden, Mrs Moulton«, erklärte er. »Das wird mich natürlich sehr viel mehr Zeit kosten, als wenn Sie es mir einfach sagen, und wird die Befragung einer ganzen Reihe von Leuten erfordern. Doch wenn ich dazu gezwungen bin, werde ich das tun. Auch ich empfinde das als abstoßend. Ich habe Hochachtung vor Mrs Lambourn und tiefes Mitgefühl für sie, aber die Umstände lassen mir keine andere Wahl. Wollen Sie es mir also sagen, oder muss ich so viele Personen verhören, wie es zur Ermittlung der Wahrheit eben erforderlich ist?«
Ihr war anzusehen, dass sie sich in einem Konflikt befand und sehr wütend war. Ihre Augen blitzten erregt, und die Röte stieg ihr in die Wangen. »Egal, was Mrs Lambourn Ihnen über ihren Verbleib am fraglichen Tag gesagt hat, ich habe keinen Zweifel daran, dass es wahr ist«, erwiderte sie eisig.
Monk überlegte fieberhaft. Diese Situation war höchst unangenehm, doch er war noch nie ausgewichen, wenn er gewusst hatte, dass es um seine Pflicht ging, und hier, das war ihm klar, gab es letztlich kein Entrinnen.
Er griff zu einer Lüge. »Sie hat mir gesagt, dass sie den ganzen Nachmittag mit Ihnen in einer Kunstausstellung in Lewisham verbrachte und Sie beide danach Tee trinken waren und bis zum frühen Abend über die Werke diskutierten.«
»Dann wissen Sie ja, wo sie war«, sagte Helena mit einem verkniffenen Lächeln. »Wozu noch der Aufwand, mich danach zu fragen?«
»Sagt sie also diesbezüglich die Wahrheit?«, fragte er sehr leise zurück, während er spürte, wie in seinem Inneren eisige Kälte hochkroch.
»Natürlich.« Helena war kreidebleich, entweder aus Zorn oder vor Angst.
»Wären Sie bereit, das notfalls vor Gericht zu bestätigen, vor einem Richter?«
Sie schluckte und blieb stumm.
Monk erhob sich. »Natürlich werden Sie das nicht, denn Sie waren nicht mit Mrs Lambourn zusammen.«
»O doch«, flüsterte sie, zitterte aber.
»Sie gab an, Sie beide wären in einer Soiree gewesen, keiner Ausstellung, und auch nicht in Lewisham.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Sie sind eine gute Freundin, Mrs Moulton, aber in dieser Angelegenheit können Sie ihr nicht helfen.«
»Ich … ich …« Ihr versagten die Worte. Die Lüge war ihr nicht nur peinlich, nun hatte sie auch Angst um sich selbst.
Sein Ton wurde sanfter. »Darf ich annehmen, dass Sie nicht wissen, wo Mrs Lambourn am fraglichen Tag war?«
»Ja …« Die Antwort war kaum zu vernehmen, doch sie bestätigte sie mit einem schwachen Nicken.
»Danke. Sie brauchen nicht aufzustehen. Ihr Dienstmädchen wird mich zur Tür bringen.«
Damit ließ er Helena zurück, zusammengekauert und am ganzen Leib zitternd.
Monk fuhr erneut zur Lower Park Street. Nun blieb ihm gar nichts anderes übrig, als Dinah Lambourn zu verhaften. Freilich konnte er sich nicht vorstellen, dass sie die Grausamkeit besessen haben sollte, Zenia Gadney erst mit einem wuchtigen Schlag zu ermorden und ihr dann auf dem Pier die Eingeweide herauszureißen. Andererseits war Dinah eine ziemlich große Frau mit robustem Körperbau und hätte wohl in einem Zustand von aus Verzweiflung hervorgegangener Raserei die nötige Kraft aufgebracht. Zenia Gadney war einen halben Kopf kleiner und vielleicht fünfzehn Pfund leichter gewesen. Möglich war das zumindest.
Beim bloßen Gedanken daran wurde ihm schlecht, und doch konnte er die Indizien nicht leugnen. Dinah war in der Gegend gesehen worden, wie sie in einem Zustand wachsenden Zornes und bei zunehmendem Kontrollverlust nach Zenia suchte. Auf die Frage, wo sie gewesen war, hatte sie gelogen. Sie hatte – wie praktisch jedermann – Tranchiermesser in der Küche. Vielleicht hatte sie sogar eines von Joels alten Rasiermessern benutzt.
Über all das hinaus war sie von leidenschaftlicher und zwanghafter Natur. Zenia Gadney hatte ihr das geraubt, was sie am meisten geliebt hatte, den Mittelpunkt ihres Lebens hinsichtlich ihres Platzes in der Gesellschaft, ihrer finanziellen Sicherheit und – was weit über alles andere hinausging – hinsichtlich ihrer Gefühle. Lambourns Liebe zu ihr und ihr Glaube an ihn waren die Grundlage ihrer Identität. Auch das hatte ihr Zenia Gadney gestohlen. Da mochte Dinahs Drang nach Rache alles andere ausgelöscht haben.
Als er vor dem Haus in der Lower Park Street stand, versuchte er, sich auszumalen, was es für sein Leben bedeuten würde, hätte sich Hester jemand anders zugewandt, in seinen Armen gelegen, mit ihm gelacht, gesprochen, ihre Gedanken, Träume und die Vertrautheit der körperlichen Liebe geteilt. Würde er seinen Nebenbuhler töten, ihm am Ende gar die Eingeweide herausreißen wollen?
Vielleicht. Auch wenn das die Vernichtung seines eigenen Glücks bedeutete, alles Guten in der Welt, an dem ihm so viel lag, an das er aus tiefstem Herzen glaubte, und des eigenen Wertes, den er an sich sah.
Auf sein Klopfen hin erschien das Dienstmädchen und führte ihn in den Salon. Dort blieb er stehen und wartete. Er dachte an Dinahs Töchter, Marianne und Adah. Wer würde sich jetzt um sie kümmern? Welche Zukunft lag vor ihnen, nun, da ihr Vater Selbstmord begangen hatte und ihre Mutter wegen der brutalen Ermordung seiner Geliebten gehängt werden würde?
Er selbst konnte sich einfach nicht an Tragödien gewöhnen. Für ihn schliffen sich die Kanten nie ab. Stets verletzten sie ihn aufs Neue.
Dinah trat ein, aufrecht, das Gesicht aschfahl, als hätte sie schon gewusst, dass Monk zurückkehren würde.
»Sie waren nicht mit Mrs Moulton zusammen«, sagte er leise. »Sie war bereit, für Sie zu lügen. Als ich behauptete, Sie hätten ausgesagt, mit ihr in eine Kunstausstellung gegangen zu sein, bestätigte sie das.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Sie wurden in Limehouse gesehen, noch dazu in der Copenhagen Place, wo Zenia Gadney lebte. Sie stellten Erkundigungen über sie an und waren dabei der Hysterie nahe.« Er unterbrach sich, als er auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Verblüffung, ja Fassungslosigkeit bemerkte. Einen Moment lang zweifelte er an seinen Erkenntnissen. War sie am Ende geistig umnachtet und wusste überhaupt nicht, was sie getan hatte?
»Ich habe sie nicht ermordet!«, stieß sie heiser hervor. »Ich bin ihr nie begegnet! Wenn ich … wenn ich das nicht beweisen kann, wird man mich dann hängen?«
Sollte er lügen? Am liebsten hätte er das getan. Aber die Wahrheit würde ihr bald nur allzu schmerzhaft klar werden. »Wahrscheinlich«, antwortete er. »Es sei denn, es gibt einen mildernden Umstand von außergewöhnlicher Bedeutung. Es … tut mir leid. Ich habe keine andere Wahl, als Sie zu verhaften.«
Sie schnappte keuchend nach Luft und geriet ins Schwanken, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. »Ich weiß …«
»Haben Sie im Haus lebende Bedienstete, die für Ihre Töchter sorgen, bis Angehörige, vielleicht Mrs Herne, benachrichtigt werden können?«
Sie stieß ein bitteres kurzes Lachen aus, das in einem Schluchzen endete. Gleich darauf hatte sie sich wieder so weit gefasst, dass sie sprechen konnte. »Ich habe im Haus lebende Bedienstete. Mrs Herne brauchen Sie nicht zu holen. Ich bin bereit, mit Ihnen mitzugehen. Wenn wir sofort aufbrechen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich mag keine Abschiedsszenen.«
»Dann rufen Sie, wen immer Sie möchten, damit sie ein wenig Kleidung, Nachthemden und Toilettenartikel für Sie packt«, wies er sie an. »Wenn Sie das selbst tun möchten, müsste ich Ihnen in Ihre Räume folgen.«
Ihre Wangen färbten sich leicht, nur um im nächsten Augenblick wieder so aschfahl zu werden wie zuvor.
Auf Dinahs Klingeln hin trat eine rundliche ältere Frau mit grauen Haaren ein. Sie starrte Monk voller Abscheu an, willigte aber sofort ein, als ihre Dienstherrin sie anwies, einen kleinen Koffer für sie zu packen und sich so lange um ihre Töchter zu kümmern, wie das nötig sein würde. Der Lakai wurde losgeschickt, einen Hansom zu holen, der wenig später vor der Haustür hielt.
Schweigend fuhren Monk und Dinah zum Greenwich Pier, wo die Fähre in der Dunkelheit wartete. Am anderen Ufer angekommen, stiegen sie in einen weiteren Hansom. In dessen beengtem Innern erwartete sie eine lange, holperige Fahrt über Kopfsteinpflaster durch die kalte Nacht.
Erst als sie sich gesetzt hatten, begann Dinah zu sprechen.
»Etwas können Sie für mich tun, Mr Monk, und ich denke, dass Sie mir das nicht verweigern werden«, sagte sie leise.
»Wenn es möglich ist.« Monk hoffte von Herzen, dass er nicht zu viel versprach, fürchtete er doch, dass ihm die Hände gebunden sein würden.
»Ich werde darauf angewiesen sein, dass der bestmögliche Anwalt für mich kämpft«, erklärte sie mit überraschender Ruhe. »Ich habe weder Zenia Gadney noch sonst wen ermordet. Und wenn es jemanden gibt, der mir helfen kann, das zu beweisen, dann ist das wohl Sir Oliver Rathbone. Ich habe gehört, dass Sie ihn kennen. Trifft das zu?«
Monk blickte sie verblüfft an. »Ja. Ich kenne ihn seit Jahren. Möchten Sie, dass ich ihn bitte, Sie aufzusuchen?«
»Ja. Ich werde jeden Preis bezahlen – jeden –, wenn er mich nur verteidigt. Würden Sie ihm das bitte ausrichten?«
»Natürlich, das verspreche ich Ihnen.« Freilich hatte er keine Ahnung, ob Rathbone diesen allem Anschein nach aussichtslosen Fall annehmen würde. Doch in einem war sich Monk jetzt schon sicher: Geld wäre das geringste Problem. »Ich werde ihn noch heute Abend fragen, sofern er zu Hause ist.«
Sie stieß ein leises Seufzen aus. »Danke.« Endlich schien sie sich etwas zu entspannen und ließ sich, erschöpft von der physischen und emotionalen Strapaze, gegen die Rückenlehne sinken.