11

Als Rathbone gegangen war, blieben Hester und Monk einander gegenüber in ihrer wohlvertrauten, gemütlichen Küche sitzen.

»Was willst du für ihn tun? Was lässt sich überhaupt noch herausfinden?« Hesters Worte drückten eher eine Feststellung als eine Frage aus.

»Ich weiß es nicht.« Monk seufzte. »Ich habe so gut wie jede Untersuchungsmöglichkeit ausgeschöpft. Im Viertel gibt es nichts mehr, was sich noch ermitteln ließe. Keine vergleichbaren Verbrechen, keine Feindschaften, bei denen es um mehr ging als um einen Zank beim Krämer oder verschiedene Ansichten über das Wetter. Die arme Frau hatte anscheinend keine Beziehungen bis auf die mit Lambourn. Ich konnte nicht einmal herausfinden, was sie mit ihrer Zeit anstellte, außer vielleicht in der Nachbarschaft gelegentlich mit kleineren Näharbeiten auszuhelfen. Sie las Bücher, Zeitungen …«

»Könnte sie zufällig ein Gespräch aufgeschnappt und etwas über jemanden erfahren haben?«

»Möglicherweise.« Monk wollte etwas Positives sagen, das Hoffnung bot und zugleich aufrichtig war. »Aber wir sind auf nichts gestoßen, was so etwas nahelegt. Sie war eine beinahe unsichtbare Frau. Aber selbst wenn sie etwas wusste, lässt sich die Verstümmelung damit nicht logisch begründen.«

»Keine Angehörigen?« Ein verzweifelter Ton schlich sich in Hesters Stimme. Unbemerkt fiel ihr eine Haarsträhne in die Stirn.

»Niemand wusste von irgendwem«, erklärte Monk. »Und wir haben die Leute intensiv befragt.«

»Aber ihr versucht es weiter?«, drängte Hester.

»Dinahs oder Rathbones wegen?«, fragte Monk mit einem leisen Lächeln.

Sie zuckte fast unmerklich mit den Schultern. Ihr Blick wurde plötzlich weich. »Teilweise einfach nur der Wahrheit wegen, aber vor allem Oliver zuliebe«, gestand sie.

»Hester … ich kann nicht sehr viel tun. Lambourns Selbstmord fällt nun mal nicht in meine Zuständigkeit. Ich kann ein paar Fragen stellen, darf aber nicht viel Zeit dafür aufwenden. Man wird mir nur sagen, dass die Studie vernichtet wurde, und ich kann das Gegenteil nicht beweisen. Vielleicht bekomme ich sogar zu hören, dass Lambourn sie selbst zerstört hat, weil sie fehlerhaft war. Die Kollegen sind nicht verpflichtet zu überprüfen, was davon wahr ist.«

Hester blickte ihn unverwandt an. »William, es ist lange her, dass du Urlaub hattest. Jetzt könntest du dir doch ein paar Tage freinehmen. Ich werde dir helfen. Ich habe bereits Dr. Winfarthing gebeten, sich in Fachkreisen nach Informationen umzuhören, um seine Ergebnisse mit dem zu vergleichen, was über Joel Lambourn bekannt ist.«

Ein eisiges Angstgefühl überlief Monk. »Hester, falls Lambourn wirklich wegen dieser Studie umgebracht wurde, hast du womöglich auch Winfarthing in Gefahr gebracht!«

»Ich habe ihn vorher gewarnt«, versicherte sie ihm hastig mit leicht geröteten Wangen. »Glaubst du wirklich, dass ihm ernsthafte Gefahr droht?«

Mit ihrer Frage hatte sie ihn in eine Lage manövriert, in der ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr und vor allem sich selbst die Wahrheit zu gestehen. Sie überlegte kurz, ob das von Anfang an ihre Absicht gewesen war.

»Möglich ist es …«, murmelte er. »Wenn das, was Dinah Lambourn über die Untersuchung ihres Mannes sagt, zutrifft, stehen große Geldsummen und möglicherweise auch der Ruf einiger Persönlichkeiten auf dem Spiel. Aber das heißt nicht, dass Lambourn ermordet wurde – oder Dinah unschuldig ist.«

»Ich werde dir helfen«, wiederholte Hester.

Monk gab ihr nur zu gerne nach, zumindest fürs Erste, solange ihn seine eigenen Bemühungen der Wahrheit nicht näher brachten. Was Dinah betraf, war seine Haltung zwiespältig. Obwohl ihm sein Verstand sagte, dass sie schuldig war, bewies sie einen Mut, der ihn zutiefst bewegte. Und wie sie hatte er Schwierigkeiten mit der Selbstmordtheorie, wonach die Verzweiflung über die Zurückweisung seiner Ergebnisse Lambourn in den Freitod getrieben haben sollte. Die Laufbahn des Forschers und die Hochachtung, mit der seine Kollegen sich über ihn geäußert hatten, sprachen doch eher dafür, dass er keiner war, der schnell aufgab.

Aber nicht nur um die Lambourns ging es ihm. Eingedenk seines eigenen Glücks wollte er alles tun, um Rathbone von der Verbitterung über das Scheitern seiner Illusion abzulenken.

Als Erstes sah er auf der Polizeiwache von Wapping nach dem Rechten, ehe er sich ins Archiv der Metropolitan Police begab, um dort zu erfahren, wer die Untersuchung von Joel Lambourns Tod geleitet hatte. Weil es sich um einen bedeutenden Mann gehandelt hatte, war ihm schon jetzt klar, dass sich neben der örtlichen Polizei von Greenwich auch höhere Stellen damit befasst hatten.

Zu seiner Verwunderung las er, dass Superintendent Runcorn die Ermittlungen geführt hatte, ausgerechnet der Mann, der zu Beginn seiner Laufbahn Monks Freund und Partner, später sein Rivale und noch später sein Vorgesetzter gewesen war. Es war nicht ganz eindeutig, ob Runcorn damals Monk entlassen oder ob Monk von sich aus den Dienst bei der Metropolitan Police quittiert hatte, jedenfalls hatte es einen hitzigen und höchst unerfreulichen Wortwechsel gegeben. Bei ihrer Trennung waren sie alles andere als Freunde gewesen. Die folgenden Jahre hatte Monk als Privatermittler verbracht. Das hatte ihm die Freiheit verschafft, selbst zu entscheiden, welche Aufträge er übernehmen oder ablehnen wollte – zumindest in der Theorie. In der Praxis hatte es harte Arbeit bedeutet und finanziell ein Leben am Rande der Armut.

In dieser Zeit hatten sich sein und Runcorns Weg mehrmals gekreuzt. Überraschenderweise hatten sie dabei zunehmend Respekt voreinander entwickelt. Später hatte Monk erkannt, dass sein eigenes Verhalten ohne Not aggressiv und oft intolerant gewesen war. Da er nun selbst als Kommandant bei der Wasserpolizei Männer führte, hatte er am eigenen Leib erfahren, wie schädlich die Aufsässigkeit eines Einzelnen sich auf die ganze Truppe auswirken konnte. Das hatte sein Bild von Runcorn von Grund auf geändert.

Seit Monk sich selbstständig gemacht hatte – wobei er gelegentlich mit ihm zusammenarbeitete –, hatte Runcorn nicht nur Monks Scharfsinn zu schätzen gelernt, dank dem er ihm stets einen Schritt voraus war, sondern auch seinen Mut und die Beharrlichkeit, mit der er die Nachteile ausglich, die ihm durch seinen Jahre zuvor erlittenen Gedächtnisverlust entstanden waren.

Die Erinnerung an den größten Teil seines Lebens vor jenem Unfall hatte Monk nicht mehr wiederherstellen können. Gelegentlich blitzten Bruchstücke auf, jedoch nie Gesamtbilder. Nichts fügte sich je zu einem Ganzen. Inzwischen verfolgte ihn der Verlust der Erinnerung nicht mehr. Er fürchtete sich nicht mehr vor Fremden wie in der ersten Zeit, als ihn stets die Sorge begleitet hatte, sie könnten ihn erkennen, während er nicht beurteilen konnte, ob sie ihm feindlich oder freundlich gesinnt waren oder was sie alles von ihm wussten.

Jetzt wieder Runcorn gegenüberzutreten fiel ihm schwerer als der Umgang mit völlig Fremden. Aber zumindest waren keine Erklärungen nötig. Die Zeit der jahrelangen Feindseligkeit und der Missverständnisse war überwunden.

Auf der Wache von Blackheath, wo Runcorn Superintendent war, stellte sich Monk zunächst mit Namen und Rang dem Sergeant am Empfang vor.

»Die Angelegenheit ist sehr ernst«, erklärte er dem Mann. »Es geht um einen Todesfall, über den ich neue Informationen habe. Demnach könnte es sich um einen Mord handeln. Superintendent Runcorn sollte das umgehend erfahren.«

Binnen zehn Minuten wurde Monk zu Runcorn geführt. Als er eintrat, wunderte er sich nicht über die peinliche Ordnung in seinem Büro. Anders als Monk hatte Runcorn schon immer streng, fast schon besessen, auf Reinlichkeit geachtet. Jetzt gab es bei ihm noch mehr Bücher als zuvor, aber er hatte auch einige recht hübsche Landschaftsmalereien an den Wänden hängen, die auf Anhieb eine behagliche Atmosphäre schufen. Das war neu und passte so gar nicht zum Charakter des Mannes, wie Monk ihn bisher gekannt hatte. Eines der Regale zierte eine äußerst zarte, blau und weiß bemalte Vase. Sie mochte keinen hohen Geldbetrag gekostet haben, war aber wunderschön und bei aller Schlichtheit höchst anmutig.

Runcorn stand sofort auf und trat Monk mit ausgestreckter Hand entgegen. Er war ein massiv gebauter Mann, hochgewachsen und mit dem Älterwerden um die Körpermitte etwas rundlich geworden. Er wirkte grauer, als Monk ihn in Erinnerung hatte, doch von dem inneren Zorn, der früher seinen Gesichtsausdruck verfinstert hatte, fehlte heute jede Spur. Er lächelte. Kurz und fest schüttelte er Monks Hand.

»Setzen Sie sich«, forderte er Monk auf und wies auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch. »Culpepper hat etwas von einem Todesfall gesagt, bei dem es sich um Mord handeln könnte.«

Monk hatte sich auf einen ganz anderen Empfang eingestellt – in einem gewissen Sinne auch auf einen anderen Mann. Fürs Erste war er aus dem Konzept gebracht. Doch wenn er jetzt zögerte, würde ihm das nicht nur zum Nachteil gereichen – was er sich bei Runcorn nicht leisten durfte –, sondern auch Zweifel an seiner Aufrichtigkeit wecken.

»Ich bin mit einem extrem brutalen Mord an einer Frau befasst, deren Leiche vor elf Tagen auf dem Limehouse Pier entdeckt wurde«, begann er, während er sich auf dem ihm angebotenen Stuhl niederließ.

Runcorns Miene verwandelte sich schlagartig in einen Ausdruck tiefsten Abscheus und verriet echte Anteilnahme.

Erneut geriet Monk ins Staunen. Selten hatte er bei Runcorn solche Sensibilität erlebt. Eigentlich konnte er sich nur an ein einziges Mal erinnern, dass er vor einem Grab von tiefem Mitgefühl ergriffen worden war. Vielleicht war das der Moment gewesen, als sich in ihm erstmals wirkliche Wärme und Wertschätzung für den Mann hinter der Fassade von Aggressivität und Berechnung geregt hatten.

»Haben Sie nicht schon jemanden verhaftet?«, fragte Runcorn leise.

»Allerdings. Die Zeitungen haben es noch nicht mitbekommen, aber das ist nur eine Frage der Zeit.«

Runcorn war sichtlich verwirrt. »Was hat das alles mit mir zu tun?«

Monk holte tief Luft. »Dinah Lambourn.«

»Was?« Runcorn schüttelte verstört den Kopf, als traute er seinen Ohren nicht.

»Dinah Lambourn«, wiederholte Monk.

»Was ist mit ihr?« Runcorn schien es immer noch nicht zu begreifen.

»Alle Indizien besagen, dass sie die Person war, die die Frau am Fluss ermordet hat. Deren Name war Zenia Gadney.«

Runcorn starrte ihn fassungslos an. »Das ist lächerlich! Wie hätte Dr. Lambourns Witwe überhaupt eine Prostituierte mittleren Alters in Limehouse kennen sollen, geschweige denn sich für sie interessieren?« Wütend wirkte er nicht, nur ungläubig.

Monk war sich der Absurdität des Ganzen bewusst, als er erklärte: »Joel Lambourn unterhielt in den letzten fünfzehn Jahren eine Affäre mit Zenia Gadney. Er besuchte sie mindestens einmal im Monat und gab ihr Geld. Sie war auf seine Unterstützung angewiesen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Runcorn. »Aber selbst wenn es so war, dann hätte er sie ja nach seinem Tod mittellos hinterlassen. Wahrscheinlich ging sie nur wieder auf die Straße und lief einem elenden Wahnsinnigen in die Arme. Ist das nicht die naheliegendste Antwort?«

»Ja. Nur können wir nirgendwo Spuren von einem Wahnsinnigen entdecken. Ein Mann, der Morde wie diesen begeht, taucht nicht einfach aus dem Nichts auf; davor oder danach hätte es etwas Ähnliches gegeben. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Er schlägt aufs Geratewohl zu, wobei die Brutalität in dem Maße, wie sich sein Wahn verstärkt, immer mehr zunimmt.«

»Jemand, der einfach auf der Durchreise war?«, regte Runcorn an. »Ein Seemann vielleicht. Den kann man unmöglich aufspüren, weil er nicht hierhergehört. Seine vorangegangenen Verbrechen hätte er woanders verübt.«

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Monk im Brustton der Überzeugung. »Aber dieses Verbrechen war eine schrecklich persönliche Angelegenheit, Runcorn. Ich habe die Leiche gesehen. Wer so etwas im Wahn tut, hinterlässt Spuren. Am Fluss wären Leute gewesen, die etwas bemerkt hätten. Auch einen fremden Seemann hätte irgendjemand gesehen. Glauben Sie etwa, dass wir nicht in diese Richtung ermittelt haben?«

»Dinah Lambourn wäre aber auch gesehen worden«, gab Runcorn sofort zurück.

»Das wurde sie auch … von mehreren Personen. Bei der Suche nach Zenia Gadney hat sie ein ziemliches Aufsehen erregt. Kunden, die damals in den Läden waren, erinnern sich lebhaft an sie. Und auch die Inhaber.«

Runcorn schüttelte benommen den Kopf. »Soll ich etwa gegen sie aussagen? Das kann ich nicht. In meinen Augen war sie eine der rationalsten Frauen, denen ich je begegnet bin: eine Frau, die ihren Mann wirklich liebte und nach seinem Tod gebrochen war. Sie war völlig fassungslos.« Sein eigenes Gesicht fiel plötzlich vor Betroffenheit in sich zusammen. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch es verkraften kann, wenn die Person, die er über alles liebt und der er vertraut, sich aus heiterem Himmel das Leben nimmt, ohne ihm je offenbart zu haben, dass sie leidet und sogar sterben will.«

»Ich auch nicht«, meinte Monk, angestrengt darum bemüht, jeden Gedanken an Hester beiseitezudrängen. »Man stelle sich nur vor, was das in ihr angerichtet haben muss, als sie von seiner fünfzehnjährigen Affäre mit einer Prostituierten mittleren Alters in Limehouse erfuhr.«

»Wusste sie es denn?«

»Ja. Ihre Schwägerin hat mir gesagt, dass sie im Bilde war, und Mrs Lambourn hat es mir bestätigt.«

Runcorn saß wie gelähmt auf seinem Stuhl. »Gibt sie zu, diese … Gadney getötet zu haben?«

»Nein, sie behauptet, dass sie es nicht war. Sie hat geschworen, mit einer Freundin, einer gewissen Mrs Moulton, bei einer Soiree …«

»Da haben wir’s!«, rief Runcorn unendlich erleichtert. Endlich ließ seine Anspannung nach, und er machte es sich auf seinem Stuhl bequemer.

»Mrs Moulton dagegen gab an, in einer Kunstausstellung gewesen zu sein. Unter Druck gestand sie dann, dass Dinah Lambourn nicht dabei war.«

Runcorn erstarrte wieder. »Was wollen Sie von mir? Ich kann nicht gegen sie aussagen. Ich weiß doch nichts über sie, außer dass sie sehr würdevoll ist und trauert.« Runcorn sah Monk mit offenem, bekümmertem Blick in die Augen.

Monk fiel sein Unterfangen immer schwerer. Er war über sich selbst überrascht, dass es ihm so sehr widerstrebte, Runcorn Schmerz zuzufügen. Früher hatte er immer mit dem größten Vergnügen nach einem Anlass für einen Streit gesucht.

»Sie hat mich geradezu angefleht, Oliver Rathbone zu bitten, sie zu verteidigen«, begann er zögernd. »Und er hat eingewilligt. Und jetzt will er von mir, dass ich ihm helfe. Ich weiß nicht, ob er sie vielleicht doch für unschuldig hält. Die Fakten sprechen eindeutig gegen sie. Aber die ganze Angelegenheit ist voller Unklarheiten, und es geht um sehr viel mehr als nur um Gerechtigkeit für Zenia Gadney.«

Runcorns Augen weiteten sich. »Nur

Monk machte keine Anstalten, seine Wortwahl zu verteidigen. »Auch um Gerechtigkeit für Dinah Lambourn und Joel Lambourn – und um die Frage des Arzneimittelgesetzes.«

Runcorn runzelte verdattert die Stirn. »Joel Lambourn? Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.«

Monk klärte ihn auf. »Dinah sagt, er hätte sich nicht das Leben genommen, sondern wäre ermordet worden. Der Grund sei seine wissenschaftliche Untersuchung über den Verkauf von Opium und den Schaden, den es anrichtet, insbesondere die Todesfälle unter Babys und Kleinkindern. Sie behauptet, seine Mörder hätten auch Zenia Gadney umgebracht und den Verdacht auf Dinah gelenkt, um zu verhindern, dass sie Fragen zu seinem Tod stellt oder zu großes Interesse an seiner Untersuchung weckt. Diese scheint übrigens verschwunden zu sein – und zwar sämtliche Kopien mitsamt den Notizen.«

Runcorn unterbrach ihn nicht, sondern lauschte ihm mit leicht vorgebeugtem Oberkörper. Er wirkte nach wie vor verwirrt und angespannt.

»Und wenn seine Affäre mit Zenia Gadney ans Tageslicht kommt, was sich wohl kaum vermeiden lässt«, fuhr Monk fort, »dann wird sie natürlich auch ein perfektes Motiv für seinen Selbstmord liefern.« Er beobachtete Runcorns Gesicht und bemerkte den Ausdruck des Abscheus, des Zorns und vor allem des Mitgefühls. Das war ein Runcorn, wie er ihn gar nicht kannte, ein Mann voller Sanftmut. Lag das daran, dass Runcorn sich verändert hatte, oder an einem Wandel in Monk selbst, von dem er erst jetzt erkannte, dass er sich schon vor Langem vollzogen hatte?

Runcorn überlegte lange, ehe er antwortete. Mit wohlabgewogenen Worten, die Augen fest auf Monks Gesicht gerichtet, gestand er dann: »Ich war nie wirklich glücklich über das Urteil zu Lambourn. Ich wollte den Fall gründlich untersuchen und sämtliche losen Enden verknüpfen.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich irgendeine Lösung sehen konnte. Er saß dort ganz allein auf der Erde, mit dem Rücken an den Baum gelehnt, den Oberkörper halb zur Seite gekippt. Seine Pulsadern waren aufgeschnitten, und er war mit Blut bedeckt. Seine Kleider ebenfalls. Ich weiß gar nicht, warum ich so genau hinschauen wollte. Ich fand einfach, dass es entsetzlich ist, wenn ein Familienvater sich so etwas antut.« Er stockte, als müsste er einen Anlauf nehmen für das, was er als Nächstes sagen wollte.

Monk fragte sich, ob Runcorn sich als Junggeselle überhaupt in die Lage eines Mannes versetzen konnte, dessen Frau ihn auf eine Weise liebte, wie Dinah Lambourn ihren Mann geliebt hatte. Doch es wäre nur plump und unnötig grausam, ihn darauf hinzuweisen.

»Die Regierung wollte die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich abschließen«, fuhr Runcorn fort. »Es hieß, Lambourns Studie wäre ein heißes Eisen und er hätte sich eine Reihe schwerer Fehleinschätzungen geleistet. Welche das waren, kann ich nicht beurteilen. Wie ich es verstanden habe, sammelte er Fakten über den Import und Verkauf von Opium, über die Stellen, wo es erhältlich ist, und über die Art und Weise der Etikettierung. Inwieweit kann man da ein Urteil fällen?«

»Das weiß ich nicht«, gab Monk zu. »Vielleicht bezüglich der Anzahl von Beweisen, die er benötigte, um eine persönliche Geschichte zu akzeptieren? Ob die Unterlagen von Ärzten korrekt zitiert und ordnungsgemäß aufbewahrt wurden? Hat man sich näher dazu geäußert?«

»Nein. Nur, dass die Akte um seines Rufs und seiner Familie willen so schnell und mit so wenig Aufhebens wie nur möglich geschlossen werden müsse. Auch wenn ich über die Details wirklich nicht glücklich war, konnte ich die Wünsche der Regierung nachvollziehen und sah auch selbst, dass Schonung angebracht war. Haben Sie denn den Verdacht, dass die Verantwortlichen in der Regierung sich selbst schützen wollen, nicht seine Frau?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Monk sah sich gezwungen, mit offenen Karten zu spielen. »Aber ich brauche Gewissheit. Haben Sie jemals in diese Studie Einsicht genommen?«

»Nein. Die von der Regierung haben sein Haus durchsucht. Ich war nicht daran beteiligt. Die Studie dürfte ohnehin Eigentum der Regierung sein. Sie hat sie in Auftrag gegeben und bezahlt. Es hieß, die Ergebnisse beruhten auf Emotionen statt auf einer wissenschaftlichen Sammlung von Beweisen. Aber das ist auch alles, was ich gehört habe – keine Details.« Runcorn seufzte. »Es wurde nicht direkt gesagt, aber angedeutet, dass Anhaltspunkte für seelische Störungen vorlägen. Es schien die Herren nicht zu überraschen, dass er sich das Leben genommen hat – als hätte er schon länger den Hang dazu gehabt.«

»Wurde seine Affäre mit Zenia Gadney erwähnt?«

Runcorn schüttelte den Kopf. »Nein. Es hieß, er wäre in mehrfacher Hinsicht exzentrisch gewesen. Vielleicht ist es das, worauf sich die Andeutungen bezogen.« Sein Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an, als könnte er sich die Tragödie nur allzu lebhaft ausmalen. »Was haben Sie vor?«

»Mir noch einmal die Indizien vornehmen«, antwortete Monk. »Prüfen, ob Dinah Lambourns Version irgendeinen Sinn ergibt, ob irgendein Element Fragen zu den Theorien von Selbstmord, zunehmender Geistesstörung oder zumindest seelischer Unausgeglichenheit aufwirft.«

»Sind Sie denn absolut sicher, dass er eine Affäre mit dieser Frau in Limehouse hatte?« Runcorns Gesicht spiegelte immer noch seine Zweifel wider. Das verwunderte Monk allerdings. Sein Kollege war doch sicher lange genug Polizist, um sich nicht von scheinbaren Anomalien verwirren zu lassen.

»Dinah hat erst geleugnet, davon gewusst zu haben, es dann aber doch eingeräumt«, wiederholte Monk.

»Irgendetwas stimmt daran nicht«, beharrte Runcorn, den Blick auf die Tischplatte gesenkt, ehe er ihn wieder zu Monk hob. »Ich würde die Gelegenheit begrüßen, die Indizien Stück für Stück überprüfen zu können, ob es nicht doch Fehler gegeben hat, aber wir werden das sehr leise und vor allem inoffiziell machen müssen, sonst schreitet die Regierung ein und hindert uns daran.« Nun verriet seine Stimme kein Zögern, keine Zweifel.

Es verblüffte Monk, wie sehr sich der Mann verändert hatte. Der Runcorn, den er früher gekannt hatte, hätte sich nie einer übergeordneten Behörde widersetzt, weder offen noch heimlich. Er streckte ihm die Hand entgegen. Runcorn ergriff sie. Es war nicht nötig, ihre Vereinbarung mit Worten zu bestätigen.

»Ich kann die Wache gegen vier Uhr verlassen«, kündigte Runcorn an. »Kommen Sie um fünf zu mir.« Er schrieb seine Adresse in Blackheath auf einen kleinen Zettel. »Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß, und dann können wir planen, wo wir anfangen.«

Monks Erstaunen über Runcorn wuchs, als er kurz vor fünf Uhr vor dessen Haus stand. Es war eine gediegene Familienresidenz in einer ruhigen Straße. Der Garten war gepflegt, und von außen erweckte das Anwesen einen Eindruck von Behaglichkeit und sogar Dauerhaftigkeit. Mit Runcorn hätte er so etwas nie in Verbindung gebracht.

Vollends überrascht war er, als ihm nicht Runcorn oder ein Dienstmädchen die Tür öffnete, sondern Melisande Ewart, die schöne Witwe, die er und Runcorn vor einiger Zeit in einem Mordfall verhört hatten. Sie hatte darauf bestanden, mit ihnen zu sprechen, obwohl ihr herrischer Bruder versucht hatte, sie daran zu hindern. Monk hatte schon damals gemerkt, dass Runcorn sie weitaus tiefer bewunderte, als er das eigentlich wollte, und vielleicht schon ein wenig in sie verliebt gewesen war. Damals wäre es ihm freilich peinlich gewesen, wenn sie das bemerkt hätte. Selbst Monk hatte nicht gewagt, irgendetwas zu erwähnen. Wäre die Situation nicht so schwierig gewesen, hätte Monk wohl einen Scherz gemacht. Bei Runcorn hätte er am allerwenigsten damit gerechnet, dass er sich verlieben würde, und dann auch noch in eine Frau von höherem gesellschaftlichen Rang, selbst wenn sie kein Geld hatte und von ihrem Bruder abhängig war, von dem sie sich unterdrückt fühlte.

Jetzt lächelte sie ihn leicht belustigt an, während ein Hauch von Rot in ihre Wangen stieg. »Guten Tag, Mr Monk. Wie schön, Sie wiederzusehen. Bitte treten Sie ein. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee, während Sie den Fall erörtern?«

Endlich fand Monk seine Sprache wieder. Dankend nahm er den angebotenen Tee an. Gleich darauf saßen er und Runcorn in einem kleinen Salon zusammen, der in allem von einem harmonischen Zusammenleben zeugte. An den Wänden hingen hübsche Bilder, eine Vase mit einem kunstvoll arrangierten Blumenstrauß zierte das Sideboard, und in einer Ecke stand ein ordentlich aufgeräumtes Nähkästchen. Die Bücher auf dem Regal, die sich in den verschiedensten Größen aneinanderreihten, waren eindeutig des Inhalts, nicht des äußeren Eindrucks wegen ausgewählt worden.

Monk lächelte unwillkürlich, bis Runcorn seine Aufmerksamkeit etwas verlegen wieder auf das anstehende Thema lenkte.

»Das sind die Aufzeichnungen, die ich damals geführt habe.« Er reichte Monk eine Mappe mit säuberlich beschrifteten Papierbögen.

»Danke.« Monk beugte sich sogleich darüber und las.

Unterdessen brachte Melisande den Tee, heißen Toast und Törtchen und war so rücksichtsvoll, sie gleich wieder mit einer kurzen, freundlichen Bemerkung zu verlassen. Beide Männer begannen zu essen.

Runcorn wartete in geduldigem Schweigen, bis Monk alles gelesen hatte und aufblickte.

Als sie sich nun über den Fall unterhielten, benahm sich Monk so, als wäre nichts Außergewöhnliches zwischen ihnen geschehen. Er konnte ja auch schlecht eine Bemerkung über die Veränderungen in dem Mann ihm gegenüber abgeben, über seinen inneren Frieden, der ihm sein Leben lang gefehlt hatte, aber sich jetzt auf so beeindruckende Weise in seiner ganzen Erscheinung zeigte. An die Anfänge ihrer Freundschaft konnte sich Monk ebenso wenig erinnern wie an die Umstände, unter denen sie sich in bittere Rivalität verwandelt hatte. Das alles gehörte zu dem verlorenen Teil seiner Vergangenheit. Doch er hatte genügend Hinweise auf seine eigenen Eigenschaften erhalten – seine Schroffheit, seine spitze Zunge, seinen ätzenden Sarkasmus, sein gepflegtes Äußeres und seine geschliffenen Umgangsformen –, mit denen Runcorn nicht hatte mithalten können. Runcorn war eher linkisch gewesen, hatte stets in Monks Schatten gestanden und mit jedem Patzer weiter an Selbstvertrauen verloren.

Doch nichts davon hatte jetzt noch etwas zu bedeuten. Runcorn hatte all das abgelegt wie einen nicht passenden Mantel. Und Monk freute sich so aufrichtig für ihn, wie er das früher nie für möglich gehalten hätte. Wahrscheinlich würde Monk nie erfahren, wie Runcorn um die schöne, anmutige Melisande mit ihren vollendeten Manieren geworben und sie am Ende gewonnen hatte. Aber das war auch gar nicht wichtig.

»Sie haben Lambourn am Fundort gesehen?«, fragte er Runcorn.

»Ja. Zumindest hat die Polizei die Stelle als Fundort bezeichnet.«

Monk bemerkte bei seinem Kollegen ein Zögern. »Sie haben Zweifel? Warum?«

Langsam formulierend, als rekonstruierte er die Szene in Gedanken Stück für Stück, erklärte Runcorn: »Er saß leicht zur Seite geneigt, als hätte er das Gleichgewicht verloren. Er lehnte gegen den Baumstamm, seine Hände ruhten auf der Erde, der Kopf hing seitlich herunter.«

»Würde man denn nicht genau das erwarten?«, fragte Monk mit einem Anflug von Skepsis. »Was bringt Sie darauf, dass man ihn dorthin geschafft haben könnte?«

»Zunächst war das nichts als ein Gedanke, weil seine Haltung einfach unbequem schien. Ich habe zwar nicht viele Selbstmorde gesehen, aber diejenigen, die sich das Leben auf relativ schmerzfreie Weise genommen haben, wirkten … entspannt. Würden Sie sich vor einer solchen Tat unbequem hinsetzen?«

»Ein Sturz vielleicht?«, regte Monk an. »Wie Sie gesagt haben, ist er umgekippt, als seine Kraft verebbte.«

»Seine Handgelenke und Unterarme waren mit Blut bedeckt«, Runcorn verzog bei der Erinnerung daran das Gesicht. »Auch die Hose hatte vorn an den Oberschenkeln Spritzer abbekommen, aber noch mehr war auf dem Boden.« Er richtete die Augen auf Monks Gesicht. »Der Boden war mit Blut getränkt. Aber kein Messer weit und breit! Mir wurde gesagt, er müsse es irgendwohin geschleudert haben oder noch ein Stück weit getorkelt sein, ehe es ihm aus den Händen fiel. Aber zu der Stelle, wo er kauerte, führte keine Blutspur. Und wozu, um alles auf der Welt, sollte man ein Messer von sich schleudern, nachdem man sich die Pulsadern geöffnet hat? Hätten Sie dann noch die Kraft, es zu halten oder gar so weit zu werfen, dass niemand es findet?«

Monk versuchte, sich die Situation vorzustellen – vergeblich. »Wie spät war es?«, wollte er wissen.

»Früher Vormittag. Ich traf gegen neun Uhr ein.«

»Wer immer ihn entdeckt hat, muss demnach sehr früh dort gewesen sein«, bemerkte Monk. »Vielleicht um sieben Uhr. Was könnte er so früh an einem Oktobermorgen auf dem One Tree Hill getrieben haben?«

»Spaziergang«, meinte Runcorn. »Ertüchtigung. Hatte schlecht geschlafen und wollte einen klaren Kopf bekommen, bevor der Tag anfing. So hat er es uns erklärt.«

»Könnte er das Messer eingesteckt haben?«

»Da müsste er schon übergeschnappt sein«, entgegnete Runcorn trocken. »Also bitte, Monk! Welcher geistig halbwegs gesunde Mensch stiehlt denn schon ein Messer, mit dem sich ein Selbstmörder gerade die Pulsadern aufgeschnitten hat? Das war ein respektabler Herr mittleren Alters. War in irgendeiner Angelegenheit für die Regierung tätig. In welcher Sache, habe ich vergessen, aber er hat es uns gesagt.«

»Für die Regierung?«, hakte Monk eilig nach.

Runcorn verstand, was er meinte. »Wie gesagt, ich habe nach Blutspuren gesucht, die dorthin führten. Es gab keine. Und das Messer ist nirgendwo gefunden worden. Ich habe die Umgebung in einem Umkreis von hundert Metern danach abgesucht. Das ist ein offenes Gelände. Wenn es dort gewesen wäre, hätte ich es entdeckt.«

»Ein Tier, das es davongetragen hat?«, murmelte Monk ohne jede Überzeugung.

Runcorn verzog die Mundwinkel. »Das Messer nehmen, ohne das Blut an der Leiche zu verschmieren? Sie waren schon einmal besser, Monk!«

»Wer hat dann also das Messer mitgenommen, und warum? Was hat er dort gemacht? War er zugegen, als Lambourn starb, oder danach?« Monk kleidete einen Gedankengang in Worte, von dem er wusste, dass er auch Runcorn beschäftigte. »Das ist unser Ausgangspunkt. Uns steht noch viel bevor.«

»Ich werde mir noch einmal die Zeugen vorknöpfen«, bot Runcorn mit düsterer Miene an. »Wir werden sehr diskret vorgehen müssen, so tun, als ginge es angesichts des bevorstehenden Prozesses nur darum, jeden Irrtum auszuschließen. Die Regierung wollte …« Er zuckte die Schultern. »Ich dachte, das wäre aus Barmherzigkeit geschehen, um den Ruf des Mannes zu schonen, aber jetzt beschleicht mich der Eindruck, dass das ihre Methode war, mich aus dem Weg zu räumen.«

Monk nickte. »Ich werde mir Urlaub nehmen. Der ist ohnehin überfällig. Geben Sie mir die Namen und Adressen einiger Zeugen, und ich werde den Leuten Folgendes sagen: ›Ich versuche sicherzustellen, dass Dinah Lambourns Verteidiger nichts an die Öffentlichkeit zerrt.‹« Er hatte keine Ahnung, ob man ihm glauben würde oder ob man ihn mit aufgewärmten Versionen derselben alten Geschichten und einem Hinweis auf die Ermittlungen der Regierung abspeisen würde, doch etwas Besseres fiel ihm im Augenblick nicht ein.

Nachdem er sich von Runcorn verabschiedet und bei Melisande bedankt hatte, trat er in die Dunkelheit der ruhigen Straße hinaus, bereit, so lange zu laufen, bis er einen Hansom für den zugegebenermaßen nicht allzu weiten Weg nach Hause fand.

Am nächsten Morgen, dem zwölften nach der Entdeckung von Zenia Gadneys Leiche, nahm Monk sein Vorhaben in Angriff. Zuallererst setzte er Orme darüber in Kenntnis. Ihm war immer noch nicht klar, was genau er sich davon versprach oder was eigentlich seine Gründe waren, nur, dass er die Unklarheiten so weitgehend wie nur möglich ausräumen wollte.

Er kehrte nach Greenwich zurück, fest entschlossen, mit allen Zeugen zu sprechen, die Lambourns Leiche gesehen hatten. Den Namen des Mannes, der sie beim Spazierengehen mit seinem Hund entdeckt hatte, hatte ihm bis dahin niemand genannt, aber jetzt hatte ihm Runcorn die Adresse gegeben. Und außerdem würde er diesmal nicht lockerlassen, bis er Constable Watkins aufgetrieben hatte, den Polizisten, der als Erster am Fundort gewesen war.

Ferner würde er noch einmal Dr. Wembley aufsuchen. Ihm konnte er erklären, er müsse die Ergebnisse seiner Ermittlungen gegen etwaige Beschuldigungen absichern, die Dinah vorbringen mochte. Zügig marschierte er unter der blassen Sonne dahin, ohne bewusst nach einer Droschke Ausschau zu halten. Insgeheim hoffte er, er würde herausfinden, dass Lambourn nicht Selbstmord begangen hatte, auch wenn die Regierung die Annahme seiner Untersuchung verweigert hatte und ihm die private Existenz unter den Füßen weggebrochen war.

Dass ihn solche Hoffnungen überhaupt bewegten, ärgerte ihn. Er neigte doch sonst nicht dazu, sich zu Sentimentalität hinreißen zu lassen.

Kurz vor zehn Uhr erreichte er das ruhige, ordentliche Büro von Edgar Petherton in einer Seitenstraße der Trafalgar Road. Das war der Mann, der Lambourns Leiche entdeckt hatte. Monk stellte sich vor und erklärte ihm ohne Umschweife den Grund seines Kommens.

Petherton war in den Fünfzigern, hatte aber bereits silbernes Haar. Seine Augen waren überraschend dunkel, und seine Züge verrieten sowohl Humor als auch Intelligenz. Er lud Monk dazu ein, auf einem der mit Leder gepolsterten Sessel vor dem Kamin Platz zu nehmen, während er sich auf dem anderen niederließ.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?«, erkundigte er sich. Seine Stimme war ruhig und verriet eine lebhafte Neugier. »Sind Sie sicher, dass ich es bin, den Sie sprechen möchten, und nicht mein Bruder? Der arbeitet an der Marineakademie. Sein Vorname ist Eustace, und wir werden oft miteinander verwechselt.«

»Vielleicht täusche ich mich tatsächlich«, räumte Monk ein. »Waren Sie es, oder war es Ihr Bruder, der vor neun oder zehn Wochen früh am Morgen mit seinem Hund spazieren ging und auf die Leiche von Dr. Joel Lambourn stieß?«

Petherton versuchte erst gar nicht, seine Betroffenheit bei der Erinnerung daran zu verbergen. »Leider kein Irrtum, das war ich. Ich habe bereits sämtliche Fragen beantwortet, die mir damals gestellt wurden. Erst von der Polizei und dann von einem Herrn von der Regierung. Innenministerium, glaube ich.«

»Ganz gewiss.« Nun gab Monk die Erklärung ab, die er vorbereitet hatte. »Ich nehme an, dass Sie über diesen extrem brutalen Mord an der Frau gelesen haben, die auf dem Limehouse Pier entdeckt wurde? Anfang dieses Monats?«

Petherton reagierte sichtlich schockiert. »Was, um alles auf der Welt, hat das mit Lambourns Tod zu tun? Der arme Mann war an dem Tag doch schon längst tot.«

»Lambourns Witwe ist wegen des Verdachts auf Ermordung dieser Frau verhaftet und angeklagt worden«, erwiderte Monk. »Wir versuchen, die Hysterie in der Öffentlichkeit einzudämmen, damit wenigstens ein halbwegs gerechter Prozess gewährleistet werden …«

»Mrs Lambourn?« Petherton schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist grotesk! Warum, in Gottes Namen, sollte sie so etwas tun? Da muss Ihnen ein schrecklicher Fehler unterlaufen sein!«

»Das ist möglich«, gestand Monk und fragte sich insgeheim, ob er das wirklich glaubte oder ob er nur irgendwelche verharmlosenden Worthülsen von sich gab. War er wirklich ein solcher Heuchler? Früher war er das doch nie gewesen. Oder hatte er damals nur nicht so sehr auf die Gefühle der anderen geachtet? »Wegen der zu erwartenden Strategie ihrer Verteidigung muss ich jetzt sämtliche Fakten noch einmal überprüfen, damit niemand sie verdrehen kann, um eine unwahre Version zu untermauern.«

»Und wenn sie doch wahr ist?«, fragte Petherton angriffslustig zurück.

»Dann wäre Mrs Lambourn womöglich doch unschuldig, und wir müssten mit verstärkten Kräften weiter nach dem Schlächter dieser armen Frau fahnden.«

Petherton runzelte die Stirn. »Können Sie sich wirklich vorstellen, dass eine Frau, noch dazu eine kultivierte, würdevolle Dame, so etwas einer Geschlechtsgenossin antun könnte?« Er starrte Monk an, als wäre dieser geradewegs einem Monstrositätenkabinett entstiegen.

»Ich bin schon lange bei der Polizei«, erwiderte Monk ernst, »und kann mir sehr vieles vorstellen, was ich vor zehn, fünfzehn Jahren niemals für möglich gehalten hätte. Trotzdem fällt es mir schwer, Mrs Lambourn so etwas zuzutrauen. Das ist auch der Grund, warum ich mich bei diesem Fall mit sämtlichen Details vertraut machen muss. Vielleicht gibt es tatsächlich eine andere Erklärung. Wenn ja, muss ich sie finden.«

»Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe.« Petherton blickte drein, als wünschte er sich sehnlichst, er hätte die Fantasie oder den Mut zu lügen.

»Führen Sie Ihren Hund oft so früh am Morgen spazieren?«, erkundigte sich Monk. »Und ist Ihr Ziel meistens der Greenwich Park?«

»Ziemlich oft, ja. Eigentlich fast immer. Aber um Ihre erste Frage zu beantworten: Nein, so früh normalerweise nicht. Ich konnte nicht schlafen, und es war ein schöner Morgen. Darum ging ich eine gute Stunde früher los, als es meine Gewohnheit ist.«

»Und in der Regel ist der One Tree Hill das Ziel?«

»Nicht so oft. Doch an diesem Tag wollte ich nachdenken. Eine bestimmte persönliche Angelegenheit hatte mich beunruhigt. Aus diesem Grund achtete ich nicht so sehr auf meine Umgebung. Aufmerksam wurde ich erst, als Paddy – mein Hund – zu bellen anfing. Ich befürchtete schon, er wolle sich mit jemandem anlegen. Es war ein ungewöhnliches Kläffen, als hätte ihn etwas verstört. Was natürlich auch der Fall war. Ich rannte ihm hinterher und sah, wie er sich drohend und mit gesträubtem Nackenfell aufgebaut hatte und einen Mann anstarrte, der gegen den Baum gelehnt dasaß, die Beine weit von sich gestreckt. Er war leicht zu einer Seite gekippt, als schliefe er. Nur dass er tot war.«

»Erkannten Sie das auf Anhieb?«, fragte Monk hastig.

»Ich …« Petherton zögerte. Ihm war anzumerken, dass er angestrengt nachdachte. »Ich glaube, ja. Sein Gesicht war extrem blass, fast blutleer. Er sah schrecklich aus. Und natürlich waren seine Handgelenke dunkelrot vom Blut. Auch auf dem Boden war Blut. Ich habe ihn nicht sofort berührt. Ich war ziemlich … erschüttert. Als ich wieder halbwegs klar denken konnte, habe ich mich über ihn gebeugt und ihn am Unterarm berührt, oberhalb der Stichwunden …«

»Sein Ärmel war hochgekrempelt?«, unterbrach ihn Monk.

»Ja. Ja, der Hemdsärmel war weit oben.«

»Jacke?«

»Ich … soweit ich mich erinnere, hatte er keine an. Nein, er trug nur ein Hemd. Ich habe ihn am Arm berührt, und die Haut war kalt. Die Augen waren eingesunken. Ich konnte an seinem Hals keinen Puls spüren. An den Handgelenken habe ich es gar nicht versucht – das Blut …« Er holte tief Luft. »Und ich wollte keine … keine Abdrücke hinterlassen. Ich gebe es zu, ich schreckte davor zurück, die … Finger in sein Blut zu tauchen. Das wäre nicht nur abstoßend gewesen, sondern auch zudringlich. Der arme Mann hatte ohnehin schon die Hölle auf Erden erlebt. Seiner Verzweiflung sollte wenigstens mit … mit Anstand begegnet werden.«

Monk nickte. »Mit Sicherheit die richtige Entscheidung: Respekt zeigen und keine Spuren zerstören. Wo war eigentlich das Messer?«

Petherton blinzelte. »Ich habe keines gesehen.«

»Müsste es nicht dicht neben der Hand gelegen haben?«, hakte Monk in fast beiläufigem Ton nach.

»Dort war es aber nicht. Vielleicht hatte er sich bewegt, und es lag unter dem Körper?«

»Von der Jacke verdeckt?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er keine Jacke anhatte, nur ein Hemd.«

»Trugen Sie eine Jacke?«

»Ja, natürlich trug ich eine. Es war Oktober und früh am Morgen. Fast noch dunkel. Es war kalt.« Verwirrt zog Petherton die Stirn in Falten. »Daran stimmt doch etwas nicht, finden Sie nicht auch? Ein Mann, der vorhat, Selbstmord zu begehen, setzt sich doch gewiss nicht absichtlich Unannehmlichkeiten aus, indem er vor der Morgendämmerung über eine halbe Meile durch die Kälte läuft. Das hatte ich mir noch gar nicht überlegt. Er muss vor lauter Verzweiflung schon halb den Verstand verloren haben, und trotzdem wirkte er so friedlich, als hätte er sich dort nur hingesetzt, gegen den Baum gelehnt und es einfach geschehen lassen.« Er schien auf eine Erklärung von Monk zu warten.

»Er hatte eine Menge Opium eingenommen«, murmelte der Polizist, die Augen auf Pethertons Gesicht gerichtet. »Das ist wahrscheinlich der Grund, warum er so ruhig wirkte. Seine Sinne dürften davon betäubt gewesen sein.«

»Aber wie konnte er dann auf den Hügel steigen?«, fragte Petherton postwendend. »Oder meinen Sie, dass er es einnahm, sobald er oben angelangt war? Dann hätte er aber sicher eine Jacke gebraucht, solange er unterwegs war. Ich frage mich, was damit geschehen ist.«

»Haben Sie dort oben Fußabdrücke von einer anderen Person bemerkt?«, wollte Monk wissen.

Petherton blickte ihn überrascht an. »Ich habe nicht darauf geachtet. Es war ja noch nicht richtig hell. Das Licht reichte gerade aus, um sich zurechtzufinden. Glauben Sie etwa, dass jemand bei ihm war?«

»Nun, wie Sie vorhin gesagt haben, er dürfte mit Sicherheit eine Jacke getragen haben, es sei denn, er war am Vorabend früh aus dem Haus gegangen und hatte nicht vorgehabt, so weit zu laufen.«

Nun begriff Petherton, worauf Monk abzielte. »Oder er wollte nur einen kleinen Spaziergang unternehmen und gleich wieder heimgehen? Jetzt erinnere ich mich wieder: Es war ein sehr milder Abend. Erst in der Nacht wurde es kalt. Ich war selbst im Freien. Habe im Garten bis spät herumgewerkelt.«

Monk änderte seinen Ansatz. »Ist Ihnen vielleicht irgendetwas aufgefallen, das Opium hätte enthalten können, oder ein Gefäß mit Wasser, um Pulver darin aufzulösen?«

»Nein! Ich habe doch nicht seine Taschen durchwühlt!« Wieder nahm sein Gesicht einen leicht angewiderten Ausdruck an.

»Könnte sich eine Flasche oder eine Phiole darin befunden haben?«, beharrte Monk.

Petherton zögerte. »Eine Flasche nicht, aber vielleicht eine kleine Phiole in einer Hosentasche. Was, sagten Sie, ist passiert?«

»Das weiß ich nicht, Mr Petherton. Aber ich muss es herausfinden. Falls tatsächlich etwas verheimlicht worden ist, bitte sprechen Sie um Ihrer selbst und der polizeilichen Ermittlungen willen mit niemandem darüber. Es hat weiß Gott schon genug Tragödien gegeben. Vielleicht findet sich ja noch eine banale Erklärung, auf die nur noch keiner gekommen ist.« Monk sprach leichthin, doch er spürte eine schwere Last auf sich ruhen. Fieberhaft überlegte er, welche Möglichkeiten es außer Selbstmord noch geben konnte, fand jedoch keine schlüssige Antwort. War es denn wirklich denkbar, dass Dinah Lambourn ihren Mann beschattet hatte, ihm vielleicht auf einem Pfad gefolgt war, den er oft nahm, ihn tot auf dem Hügel entdeckt und dann das Messer und die Phiole an sich genommen hatte, um den Verdacht auf irgendjemand anderen zu lenken?

Monk bedankte sich noch einmal bei Petherton und ließ ihn genauso perplex zurück, wie er sich selbst fühlte. Wieder an der frischen Luft, lenkte er seine Schritte westwärts auf diejenige Polizeiwache zu, wo er Constable Watkins anzutreffen hoffte.

Das war freilich weit schwieriger als erwartet. Zuerst wurde er irrtümlich nach Deptford geschickt, eine umständliche Fahrt von über einer Stunde Dauer, nur um dort zu erfahren, dass Constable Watkins schon aufgebrochen und nach Greenwich zurückgekehrt war.

In Greenwich war Watkins an einer Ermittlung beteiligt, und Monk wurde angewiesen zu warten. Nach einer weiteren Stunde fragte er erneut nach, woraufhin ihm der Sergeant mit einem Wortschwall an Entschuldigungen erklärte, dass Watkins fortgerufen worden sei und erst morgen zurückerwartet würde. Und nein, seine Adresse wisse er nicht.

Jetzt war es zu spät, um noch einmal Dr. Overstone aufzusuchen, aber solange Monk Pethertons Geschichte nicht mit Watkins’ Bericht verglichen hatte, hatte das ohnehin keinen Zweck. Kurz, er hatte einen ganzen Tag vergeudet. Wütend stapfte er nach Hause, fester denn je davon überzeugt, dass man ihn absichtlich an der Nase herumführte, wobei ihm allerdings nicht klar war, ob man damit Lambourn schützen oder irgendein Geheimnis verbergen wollte.

Falls dieses Geheimnis Lambourns Schutz diente, würde Monk es dann auch wahren? Nicht, wenn es mit Zenia Gadneys Tod zu tun hatte. Und dass dem so war, war für Monk schon fast zur Gewissheit geworden, als er den Southwark Park durchquerte und seine Schritte zu seinem Haus in der Paradise Place lenkte.

Am nächsten Morgen um halb acht Uhr stand er wieder in der Polizeiwache von Greenwich, sehr zum Verdruss des Sergeants am Pult. Diesmal blieb er dort stehen, bis Constable Watkins eintraf. Der Sergeant versuchte, Monk loszuwerden, doch dann wurde er von einer alten Frau mit tristem Baumwollkleid und löcherigem Schal abgelenkt, die sich lauthals über einen streunenden Hund beklagte.

Monk trat sogleich auf Watkins zu, obwohl der Sergeant bei dessen Eintreten darauf geachtet hatte, ihn nicht wie die anderen alle namentlich zu begrüßen.

»Constable Watkins?«, fragte Monk laut und deutlich.

Der junge Mann drehte sich zu ihm um. »Ja, Sir. Morgen, Sir. Kenne ich Sie?« Seine großen, blauen Augen verrieten nicht die geringste Arglist.

»Nein, Constable, bestimmt nicht«, erwiderte Monk lächelnd. »Ich bin Superintendent Monk von der Wasserpolizei in Wapping. Ich muss Ihnen ganz kurz ein paar Fragen zu einem Vorfall stellen, der Ihnen gemeldet worden ist. Es geht nur darum, bestimmte Fakten zu überprüfen. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee, um damit den Tag anzufangen? Und ein Sandwich?«

»Nicht nötig, Sir, aber … ja, danke, Sir.« Watkins nahm das Angebot an, angestrengt – wenn auch nicht sehr erfolgreich – darum bemüht, seine Vorfreude auf das Sandwich zu verbergen.

Der Sergeant verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und sog scharf die Luft ein. In diesem Moment begriff Monk, dass er Anweisungen von oben erhalten hatte.

»Constable!«, bellte der Mann. »Mr Monk – Constable Watkins ist im Dienst, Sir. Er kann nicht einfach …« Dann blickte er Monk ins Gesicht, und seine Stimme erstarb.

»Ist Ihnen von Ihren Vorgesetzten befohlen worden, Constable Watkins auf keinen Fall zu gestatten, mit der Wasserpolizei bei deren Ermittlungen zusammenzuarbeiten, Sergeant? Oder bei einer bestimmten Untersuchung?« Monk sprach mit klirrender Stimme, die Glas hätte durchschneiden können.

Der Sergeant stritt das stammelnd ab, doch Monk konnte sehen, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Ohne weitere Zwischenfälle verließ Monk mit Watkins die Wache und führte ihn zu einem Straßenverkäufer an der nächsten Ecke, wo es heißen Tee und Sandwiches gab. Es war ein kalter Morgen, und es wurde nur ganz allmählich heller. Vom Fluss her wehte ein eisiger Wind, der die Wolljacken und Schals mit Leichtigkeit durchdrang.

Watkins schien sich unbehaglich zu fühlen, doch offenbar hatte er erkannt, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich zur Verfügung zu stellen. Freilich würde Monk sein Möglichstes zum Schutz dieses Mannes tun müssen.

»Constable, Sie waren der erste Polizeibeamte am Ort von Dr. Joel Lambourns Tod, oben auf dem One Tree Hill, vor ungefähr zweieinhalb Monaten.«

»Jawohl, Sir.«

»Ich habe mit Mr Petherton gesprochen, dem Mann, der Dr. Lambourn entdeckt hat. Er war äußerst hilfsbereit. Aber Sie werden verstehen, dass ich auf die Überprüfung seiner Angaben durch ein besser geschultes Auge angewiesen bin.«

»Jawohl, Sir.« Constable Watkins nippte an seinem Tee, ohne den Blick von Monks Gesicht abzuwenden.

Monk wiederholte aufs Wort genau, was ihm Petherton gesagt hatte, einschließlich seiner Aussage über das Hemd, die hochgekrempelten Ärmel, das Blut an Lambourns Handgelenken und auf dem Boden. »Gab es noch etwas anderes?«, fragte er zum Schluss. »Bitte denken Sie sorgfältig nach, Constable. Es würde nichts nützen, später noch etwas hinzuzufügen. Das würde im besten Fall einen Eindruck von äußerster Inkompetenz erwecken und im schlimmsten Fall nach Unredlichkeit aussehen. So etwas können wir nicht dulden. Der Tod eines Menschen ist eine ernste Angelegenheit, egal, um wen es sich handelt. Dr. Lambourns Bedeutung für die Regierung macht den Fall umso gravierender. Habe ich die Szene so beschrieben, wie Sie sie als Polizeibeamter erlebt haben? Führen Sie sich Ihren Eindruck noch einmal vor Augen und antworten Sie mir dann.«

Watkins schloss die Augen. Nach sekundenlangem Schweigen öffnete er sie wieder und richtete sie auf Monks Gesicht. »Jawohl, Sir, das alles ist absolut zutreffend.«

»Mr Petherton hat die Szene also korrekt und wahrheitsgemäß beschrieben?«

»Jawohl, Sir.«

»Er hat nichts weggelassen? Es gab sonst nichts Auffälliges? Keine Fußabdrücke? Keine Spuren eines Kampfes? Nichts?«

»Nein, Sir. Überhaupt nichts.«

»Danke, Constable. Das war alles. Ich darf Sie nicht noch länger von Ihren Pflichten abhalten. Sie können Ihrem Sergeant sagen, dass ich ihm zu Dank verpflichtet bin und dass alles, was Sie mir gesagt haben, Ihren ersten Bericht bestätigt. Sie haben nichts hinzugefügt oder verändert. Darauf können Sie auch notfalls vor Gericht einen Eid leisten.«

Watkins errötete und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Danke, Sir.«

Monk suchte erneut Dr. Wembley auf, doch der konnte sich an keine neuen Details erinnern, sondern wiederholte lediglich, was er beim ersten Mal ausgesagt hatte. Spät am Abend fuhr Monk bei kaltem Sprühregen zu Runcorn und berichtete ihm von seinen Ergebnissen.

Sie saßen in dem kleinen, gemütlichen Salon, wo im Kamin kräftig eingeschürt worden war, auf dem Tisch zwischen ihnen standen frisch gebrühter Tee und in dünne Scheiben geschnittener, kalter Hühnerbraten. Diesmal war auch Melisande dabei. Eigentlich hatte sie nur das Essen bringen wollen, aber dann hatte Runcorn sie mit einer Geste zum Bleiben aufgefordert. Angesichts ihrer entschlossenen Haltung war Monk gar nicht erst auf die Idee gekommen zu widersprechen. Abgesehen davon wollte er alles vermeiden, was sie belasten konnte. Über ihr Leben wusste er wenig, nur dass sie damals in dem Fall, bei dem er sie kennengelernt hatte, ungeheuren Mut bewiesen hatte, als sie auf einer Aussage vor Gericht bestand. Jetzt schaute er ein-, zweimal zu ihr hinüber und las in ihrem Gesicht nichts als tiefe Anteilnahme und Konzentration.

»Genau dasselbe haben sie mir auch gesagt«, kommentierte Runcorn, als Monk seinen Bericht beendet hatte. Plötzlich nahm sein Gesicht einen peinlich berührten Ausdruck an. »Ich habe mir übrigens noch einmal die Anweisungen angeschaut, die mir damals erteilt wurden. Ursprünglich hatte ich angenommen, sie dienten dazu, Lambourns Ruf und die Gefühle seiner Witwe zu schützen. Jetzt kommt es mir viel eher so vor, als sollte damit die Wahrheit vertuscht werden. Und wenn bestimmte Leute sich schon die Mühe machen, sie zu verbergen, müssen wir uns nach dem Grund fragen.«

»Entweder ist er mit hochgekrempelten Hemdsärmeln dort hinaufgegangen«, sinnierte Monk, »oder aber er hatte eine Jacke an, und jemand nahm sie weg. Andererseits war der Abend davor laut Petherton mild gewesen. Er selbst hatte sich lange in seinem Garten aufgehalten. Erst in der Nacht wurde es kalt und bis zum Morgen richtig frostig. Vielleicht hatte Lambourn gar nicht vor, so weit zu laufen, und schon gar nicht, im Freien zu bleiben.«

Runcorn nickte, unterbrach ihn aber nicht.

»Petherton war sich sicher, kein Messer und kein Gefäß für Flüssigkeiten bemerkt zu haben – es sei denn, dieses war so klein, dass es in die Hosentasche passte. Watkins hat das bestätigt, war sich aber sicher, dass die Hosentaschen leer waren. Sie können nicht beide lügen oder sich getäuscht haben. Und trocken kann man solche Mittel nicht schlucken.«

»Dann war also noch jemand dort draußen«, schloss Runcorn. »Im besten Fall hat er das Messer und den Behälter für die Flüssigkeit einfach nur weggeschafft. Oder aber Mrs Lambourn hatte recht, und ihr Mann wurde tatsächlich ermordet.« Die Stirn in tiefe Falten gelegt, blickte er Monk ins Gesicht.

»Und der andere dachte, es würde ihm gelingen, die Wahrheit zu verschleiern«, überlegte Monk laut. »Aber er war zu sorglos. Kein Messer. Nichts, um das Opium darin zu transportieren. Keine Jacke, um an einem Oktoberabend eine längere Strecke zu laufen. Lag das daran, dass er überrascht wurde und schnell und unvorbereitet handeln musste? Oder war es einfach nur Überheblichkeit?«

Zum ersten Mal meldete sich Melisande zu Wort. »Das war wirklich sehr dumm«, sagte sie langsam. »Das Messer hätte neben ihm liegen müssen – oder das Gefäß, das er benutzte, um das Opium einzunehmen. Warum hat der andere das nicht zurückgelassen? Wenn die Jacke einfach dort geblieben wäre, hätte das nicht so sinnlos gewirkt.« Sie blickte von einem zum anderen. »War irgendetwas am Messer oder am Gefäß, das die Identität dieser anderen Person preisgegeben hätte?«

Eine Antwort darauf erübrigte sich. Runcorn warf Monk einen eindringlichen Blick zu. »Ist es wirklich denkbar, dass der andere ihn mit eigenen Händen ermordet hat, um ihn zum Schweigen zu bringen und seine Studie verschwinden zu lassen? Aber warum?«

»Ja, so langsam halte ich das in der Tat für denkbar«, antwortete Monk mit heiserer Stimme. »Und es muss einen Grund geben, der rationaler ist als der Wunsch, die Studie und damit die Verabschiedung des Gesetzes zu verzögern, womit schließlich höchstens ein Jahr gewonnen wäre.«

Schweigen trat ein. Das friedlich im Kamin flackernde Feuer erzeugte ein warmes Licht und ein sanftes Knistern.

»Was hast du nun vor?«, fragte Melisande in die Stille hinein. Ihre Stimme wie auch ihre Züge verrieten Angst.

Runcorn blickte sie an. Noch nie hatte Monk seine Gefühle so nackt in seinem Gesicht gespiegelt gesehen. Es war, als wären er und Melisande allein im Zimmer. Ihm war offenbar unbedingt daran gelegen, was sie dachte, und doch wusste er, dass er diese Entscheidung ganz allein und auf der Grundlage seiner persönlichen Überzeugung treffen musste. Persönliche Erwägungen durften ihn da nicht beeinflussen.

Monk wagte kaum zu atmen. Er hatte es nicht in der Hand, die Entscheidung zu beeinflussen, sondern konnte nur hoffen, dass Runcorn die richtige traf.

Glühende Asche fiel im Kamin in sich zusammen, und die Kohlen rutschten nach unten.

»Wenn wir nichts tun, beteiligen wir uns an dem Verbrechen«, sagte Runcorn nach langem Nachdenken. »So leid es mir tut, aber wir müssen die Wahrheit aufdecken. Wenn Lambourn ermordet worden ist, müssen wir herausfinden und beweisen, wer das getan hat, wer es vertuscht hat und aus welchem Grund.« Er legte die Hand sanft auf die ihre. »Das könnte sehr gefährlich werden.«

Sie lächelte ihn mit vor Furcht und Stolz glühenden Augen an. »Ich weiß.«

Für sich selbst brauchte Monk die Antwort nicht zu geben. Ursprünglich war er gerade deshalb zu Runcorn gekommen, weil er insgeheim genau diese Entscheidung befürchtet hatte. Jetzt gestand er sich ein, dass er, wäre er sicher gewesen, dass Dinah Lambourn log, ihren Fall Rathbone nicht vermittelt und schon gar nicht seine Nachforschungen angestellt hätte.

Runcorn erhob sich und schürte das Feuer nach.

Sie redeten noch ein bisschen länger und erörterten ihren Bericht an Rathbone sowie ihr weiteres Vorgehen für den Fall, dass er ihnen neue Anweisungen erteilte. Schließlich verabschiedete sich Monk und trat auf die dunkle Straße hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, war aber kälter geworden.

Es war schon spät, und es würde nicht leicht sein, eine Droschke zu finden. Er hätte wohl bessere Chancen, wenn er auf die von Lampen beleuchteten Straßen im Zentrum der Stadt zumarschierte. Dort gab es Clubs und Theater, aus denen andere Nachtschwärmer strömten und sich nach einer Fahrgelegenheit umsahen.

Zügig lief er im Licht der vor einigen Häusern postierten Laternen einen Fußweg hinunter, als er spürte, dass hinter ihm noch jemand war. Sein erster Gedanke war, dass dies ein weiterer Spätheimkehrer auf der Suche nach einem Hansom war. Der Mann lief auf leisen Sohlen und schien sich sehr schnell zu bewegen. Höflich trat Monk beiseite, um ihn vorbeizulassen. Unvermittelt traf ihn ein Schlag an der Schulter, der so schwer war, dass er ihm den Arm betäubte. Hätte er Monk am Kopf getroffen, wäre er bewusstlos umgefallen.

Der Angreifer holte schon wieder aus, doch diesmal trat Monk mit dem Fuß zu und traf ihn mit solcher Wucht zwischen den Oberschenkeln, dass der Mann vornüberkippte. Noch während er stürzte, rammte ihm Monk das Knie unter das Kinn, sodass sein Kopf ruckartig nach hinten flog. Schon befürchtete Monk, ihm das Genick gebrochen zu haben. Der Knüppel, mit dem er Monk erwischt hatte, polterte über das Pflaster und in die Abflussrinne.

Monks Arm war immer noch gelähmt.

Unterdessen wälzte sich der Angreifer auf die Seite und stemmte sich keuchend auf Hände und Füße.

Trotz seiner Erleichterung darüber, dass der Mann noch lebte, trat Monk erneut zu, diesmal in den unteren Brustbereich, damit es dem anderen den Atem verschlug.

Der Mann hustete und würgte.

Monk richtete sich auf. Auf der anderen Straßenseite bemerkte er noch eine Gestalt. Diese machte keinerlei Anstalten, hilfsbereit herüberzulaufen, sondern bewegte sich im Gegenteil ganz ohne Eile. In der rechten Hand hielt sie irgendetwas.

Monk fuhr herum. Vor ihm ragte ein massiver Schatten auf, vielleicht noch ein halb in einem Hauseingang verborgener Schläger. Er wirbelte auf dem Absatz herum. Sein linker Arm hing immer noch bleiern und vor Schmerzen pochend herunter. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte Monk den Weg, den er gekommen war, zum Anfang der Straße zurück.

Zu Runcorns Haus war es etwa eine halbe Meile. Monk hatte keine Ahnung, wie viele Angreifer hinter ihm her sein mochten. Er war in einem Viertel, das er nicht kannte, und es war kurz vor Mitternacht. Obendrein war sein linker Arm zu nichts zu gebrauchen.

Er konnte keinesfalls auf direktem Wege zu Runcorns Haus zurückkehren. Wer immer es auf ihn abgesehen hatte, rechnete gewiss genau damit. So blieb Monk in den breiteren Straßen, schlug mehrere Haken und stürmte durch fremde Gärten, bis er schließlich Runcorns Küchentür erreichte. Verzweifelt hielt er nach irgendwelchen Zeichen Ausschau, dass noch jemand wach war.

Doch kein Licht brannte. Er kauerte sich in den Garten, machte sich zwischen Gemüsebeeten und einem Geräteschuppen so unsichtbar wie nur möglich. Nie hätte er sich träumen lassen, dass Runcorn an einer Tätigkeit im Garten Freude finden würde. Unwillkürlich musste er grinsen, obwohl er allmählich zu frösteln begann. Hier draußen konnte er unmöglich bleiben. Dafür war es viel zu kalt. Überdies setzte nun auch wieder der Regen ein. Von seiner Verletzung ganz zu schweigen. Und dringender noch: Früher oder später würden seine Verfolger auf die Idee kommen, ihn hier zu suchen. Wohl eher früher!

Er hob eine Handvoll Kieselsteine auf und warf sie gegen eines der Fenster im oberen Stockwerk.

Stille.

Er versuchte es erneut. Mit mehr Kraft diesmal.

Endlich ging das Fenster auf, und Runcorn streckte den Kopf heraus, nichts als eine Silhouette vor dem Nachthimmel.

Langsam richtete sich Monk auf. »Sie sind hinter uns her«, sagte er in die Dunkelheit. »Ich bin überfallen worden.«

Das Fenster wurde geschlossen. Gleich darauf öffnete sich die Hintertür. In Nachthemd und Jacke kam Runcorn heraus. Wortlos half er Monk hinein, schloss die Tür wieder und schob den Riegel vor. Dann musterte er Monk von oben bis unten.

»Tja, nun wissen wir wenigstens, dass wir recht haben«, sagte er trocken. »Wir haben ein Gästezimmer. Bluten Sie?«

»Nein. Ich kann nur den Arm nicht bewegen.«

»Das ist sicher bald wieder vorbei. Ich bringe Ihnen ein sauberes Nachthemd und einen kräftigen Whisky.«

Monk lächelte. »Danke.«

Einen Moment lang verharrte Runcorn. »So, wie es früher war, finden Sie nicht?«, sagte er mit bedachtsamer Zufriedenheit. »Nur besser.«