SECHSTES KAPITEL

Im ganzen Haus herrschte Aufruhr. Roxanne war kaum zur Tür herein, als alle auf sie zustürzten und wild durcheinander redeten. Sie hob Nathaniel hoch, der schon im Schlafanzug war, und küßte ihn zur Begrüßung. Es tat ihr leid, daß sie nicht daheim gewesen war, um ihn zu baden.

»Jetzt mal Ruhe«, rief sie, aber kein Mensch hörte auf sie. Nate war begeistert über diese Aufregung und begann mit ohrenbetäubender Stimme ein Seemannslied zu singen. In dem ganzen Wirbel verstand sie nur einzelne Wortfetzen – Telefon, Kaviar, Clark Gable, San Francisco, Kartenspiel –, aber daraus konnte kein Mensch klug werden. »Was? Clark Gable ist aus San Francisco rübergekommen und hat Kaviar gegessen und Kartentricks gemacht?«

Alice lachte, und Nate zupfte seine Mutter krähend an den Haaren. »Wer ist Clark Gable, Mama? Wo ist er?«

»Er ist schon tot, Schatz, und das sind gleich auch gewisse andere Leute, falls sie nicht mal die Klappe halten!« Die letzten beiden Worte schrie sie mit voller Lautstärke, und eine verblüffte Stille trat ein. Ehe irgend jemand von neuem loslegte, deutete sie auf Alice. Wenn einer imstande war, ihr alles ruhig und vernünftig zu erklären, dann sie.

»Du weißt doch, wie gern die Nachtschwester sich alte Filme im Fernsehen ansieht?«

»Ja, ja.«

»Sie hatte wie immer den Apparat laufen, und heute kam San Francisco, dieser Film mit Clark Gable und Spencer Tracy. Lily half deinem Vater gerade dabei, das Abendessen …« Lily begann zu schluchzen und schlug die Hände vors Gesicht. Roxanne geriet in Panik.

»Was ist mit Daddy?« Ohne Nate abzusetzen, drehte sie sich um und wollte die Treppe hinaufstürmen, doch Alice hielt sie zurück.

»Nein, Roxanne, ihm geht es gut, wirklich.« Obwohl sie eine kleine, zerbrechlich aussehende Person war, hatte sie einen erstaunlich festen Griff. »Laß mich den Rest erzählen, ehe du zu ihm gehst.«

»Er fing an zu reden«, sagte Lily. »Über – über San Francisco. O Roxy, er hat sich an mich erinnert. Er hat sich an alles erinnert.«

Nate war so bestürzt über ihre Tränen, daß er die Arme nach ihr ausstreckte. Lily nahm ihn und drückte ihn schniefend an sich, während Nate ihre Wange streichelte. »Er hat mir die Hand geküßt – genau wie früher immer. Und er hat darüber geredet, wie wir mal eine Woche in San Francisco verbracht haben, auf der Terrasse unseres Hotelzimmers Champagner tranken und Kaviar aßen und auf die Bucht hinausschauten. Und wie – wie er versuchte, mir Kartentricks beizubringen.«

»O nein.« Roxanne wußte, daß es hin und wieder vorkam, daß er für wenige Augenblicke ganz klar war, aber jedesmal flammte erneut dieser hartnäckige Funken Hoffnung in ihr auf, daß es diesmal länger andauern würde. »Warum bin ich bloß nicht hier gewesen!«

»Du konntest es ja nicht wissen.« LeClerc nahm ihre Hand. »Lily hatte gerade bei Luke angerufen, als du zur Tür hereinkamst.«

»Ich gehe hoch.« Sie strich Nate über den Kopf, der sich an Lilys Schulter schmiegte. »Später komme ich noch zu dir, um dir einen Gutenachtkuß zu geben, ja?«

»Erzählst du mir auch eine Geschichte?«

»Sicher.«

»Eine richtig lange, mit Monstern?«

»Eine ganz, ganz lange mit gräßlichen Monstern.«

»Grandpa hat gesagt, ich sei gewachsen. Ich hab aber gar nichts davon gemerkt.«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Selbst merkt man das oft nicht.«

»Wieso hat er es dann gesehen?«

»Weil er ein Zauberer ist.« Sie küßte ihn auf die Nasenspitze und eilte zu ihrem Vater.

Er trug einen dunkelroten Morgenrock, sein graues Haar war frisch gekämmt, und wie jeden Tag, wenn sie ihn besuchte, saß er an seinem Schreibtisch. Aber diesmal schrieb er. Mit langen, schwungvollen Schriftzügen, die sie so gut kannte, füllte er Zeile um Zeile.

Roxanne blickte zu der Schwester hinüber, die am Fußende des Bettes stand und eine Karteikarte ausfüllte. Sie nickte ihr verständnisvoll zu, ehe sie das Zimmer verließ.

Max gingen so viele Dinge gleichzeitig durch den Sinn, daß er Mühe hatte, alles niederzuschreiben, bevor die Gedanken wieder verblaßten und ihm verlorengingen.

Daß dies über kurz oder lang geschehen würde, wußte er, und dieses Wissen war für ihn die Hölle. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen den Nebel, der schon irgendwo lauerte, und schrieb wie gehetzt weiter, auch wenn es eine Tortur war, den Stift in den verkrampften Fingern zu halten. Er hatte wieder in die Gegenwart zurückgefunden und war bei klarem Verstand, aber er wußte nicht, ob es nur noch eine Stunde oder einen ganzen Tag andauerte. Deshalb wollte er keinen Augenblick vergeuden.

Roxanne trat näher zu ihm. Sie hatte Angst, etwas zu sagen. Es wäre unerträglich, wenn er aufschauen und sie mit gleichgültigen Blicken betrachten würde, als sei sie eine Fremde. Oder noch schlimmer, als sei sie ein Schatten, irgendeine Illusion, eine Sinnestäuschung, die ihm nichts weiter bedeutete.

Als er aufblickte, war sie zuerst bestürzt. Er wirkte so erschöpft, so blaß und entsetzlich dünn. Seine Augen waren hell, vielleicht zu hell, aber zu ihrer Freude sah sie, daß er sie erkannte.

»Daddy.« Sie sank auf die Knie und preßte überglücklich ihren Kopf an seine magere Brust. Sie hatte gar nicht gewußt, wie sehr sie ihn brauchte. Wie sehr sie es vermißt hatte, seine Umarmung, seine Liebe zu spüren.

Sie atmete tief durch, damit ihre Rührung sie nicht überwältigte. Sie wollte ihn nicht mit Tränen begrüßen. »Rede mit mir. Bitte. Rede mit mir. Sag mir, wie du dich fühlst.«

»Es tut mir leid.« Er beugte sich zu ihr und küßte ihre Stirn. Sein kleines Mädchen. Es gelang ihm nicht, sich an die Jahre zu erinnern, die vergangen waren und in denen aus seinem Kind diese Frau geworden war, die er in den Armen hielt. Deshalb gab er sich damit zufrieden, sie weiterhin als sein kleines Mädchen zu sehen.

»So unendlich leid, Roxy.«

»Nein, nein.« Sie drückte seine Hände so fest, daß es schmerzte, aber es kümmerte ihn nicht. »Ich will nicht, daß es dir leid tut.«

Mein Kind, meine Tochter, dachte er. Wie unglaublich hübsch sie ist. Er sah die Tränen in ihren Augen und spürte ihre Liebe.

»Ich bin auch dankbar.« Er lächelte. »Für dich. Für euch alle.« Er küßte ihre Hände und seufzte. Aber er konnte zuhören. »Erzähl mir, welche neuen Zaubereien du ausgeheckt hast.«

»Ich mache gerade eine Variante des Indischen Seiltricks. Sehr stimmungsvoll und dramatisch. Es läuft gut. Mouse hat es mit einer Videokamera gefilmt, damit ich es mir ansehen konnte.« Sie lachte. »Ich war verblüfft über mich selbst.«

»Ich würde es gern sehen.« Er legte eine Hand unter ihr Kinn, so daß er ihr in die Augen schauen konnte. »Lily hat mir erzählt, ihr arbeitet an einer Schwebenummer.«

Sie brauchte ihre ganze Willenskraft, um seinem Blick standzuhalten. »Du weißt also, daß er zurück ist.«

»Ich habe geträumt, er sei wieder da …« Und da Traum und Realität sich ständig vermischten, war er nicht ganz sicher gewesen. »Hier neben mir hat er gesessen.«

»Er kommt fast jeden Tag, um dich zu besuchen.« Sie wäre am liebsten aufgestanden und hin- und hergelaufen, aber sie brachte es nicht über sich, sich von ihm loszureißen. »Wir arbeiten wieder zusammen, jedenfalls vorübergehend. Er hat eine tolle Sache ausgeheckt, die einfach zu verlockend ist. In Washington findet eine Auktion statt …«

»Roxanne«, unterbrach er. »Was bedeutet es für dich, daß Luke zurückgekommen ist?«

»Ich weiß nicht. Es darf mir nichts mehr bedeuten. Ich will es nicht.«

»Ist dieser Wunsch nicht ein bißchen armselig?« meinte er lächelnd. »Hat er dir erzählt, warum er damals verschwunden ist?«

»Nein. Ich wollte es nicht hören.« Unruhig stand sie auf. »Was für einen Unterschied würde das auch machen? Er hat mich verlassen. Er hat uns alle verlassen. Wenn dieser Job vorbei ist, wird er wieder gehen. Und diesmal wird es mir nichts ausmachen, weil ich das einfach nicht zulassen werde.«

»Es gibt keinen Zaubertrick auf der Welt, mit dem man sein Herz panzern könnte, Roxy. Ihr habt ein Kind zusammen, meinen Enkel.« Max verschwieg, wie bitter es für ihn war, daß er nur undeutliche Erinnerungen an den Jungen hatte.

»Ich habe ihm nichts von Nate gesagt.« Als ihr Vater keine Antwort gab, wirbelte sie herum, um sich zu verteidigen. »Du findest das etwa auch nicht richtig?«

Er seufzte nur. »Du hast immer schon deine eigenen Entscheidungen getroffen. Ob es richtig oder falsch ist, mußte du allein verantworten. Aber nichts kann etwas an der Tatsache ändern, daß Luke Nathaniels Vater ist.« Er streckte eine Hand nach ihr aus. »Ganz egal, was du tust, daran änderst du nichts.«

Ihre Anspannung löste sich, und sie atmete tief durch. »Nein, daran kann ich nichts ändern.« Ach, ich habe dich so sehr vermißt, Daddy, hätte sie am liebsten gerufen, aber sie schwieg, da sie fürchtete, ihn nur unnötig zu quälen. »Es ist so schwer, die ganze Verantwortung zu tragen, Max. So verflucht schwer.«

»Wenn etwas leicht ist, ist es meist auch langweilig, Roxy. Und wer will schon ein langweiliges Leben?«

»Na ja, wenigstens hin und wieder wäre das gar nicht so schlecht.«

Er schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Roxy, Roxy, mir kannst du nichts vormachen. Du blühst erst richtig auf, wenn du das Kommando hast. Der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm.«

Sie lachte und kauerte sich wieder zu ihm. »Okay, vielleicht hast du recht. Aber es würde mir nichts ausmachen, wenn man mir sagte, was ich tun soll – ab und zu jedenfalls.«

»Du würdest nämlich trotzdem tun, was du willst.«

»Klar.« Übermütig schlang sie ihre Arme um ihn. »Aber es macht viel mehr Spaß, wenn jemand zuerst versucht, mich ein bißchen herumzukommandieren.«

»Dann will ich dir etwas sagen: Auch wenn der Weg noch so unsicher scheint, es ist immer besser, loszugehen als regungslos stehenzubleiben.«

»Gratislektion?« murmelte sie und schmiegte sich mit einem Seufzer an ihn.

Roxanne spürte, daß ihre Knie zitterten, als sie wieder nach unten ging, nachdem ihr Vater eingeschlafen war. Er war völlig übermüdet gewesen, und sie hatte beinahe sehen können, wie er mit zunehmender Müdigkeit wieder in dieser fremden Welt versank. Als sie ihn liebevoll zudeckte, hatte er sie Lily genannt.

Sie mußte akzeptieren, daß er sich morgen früh beim Aufwachen möglicherweise an nichts mehr erinnerte. Die Stunde, die ihnen geschenkt worden war, würde genügen müssen.

Traurig und erschöpft blieb sie unten an der Treppe stehen. Sie mußte sich zusammenreißen. Sie war es ihrer Familie schuldig, stark zu sein. Ehe sie in die Küche ging, setzte sie deshalb ein unbekümmertes Lächeln auf.

»Ich habe den Kaffee schon von weitem …« Sie verstummte abrupt. Mitten unter den anderen stand Luke, lässig an den Tisch gelehnt und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Wieder einmal sprachen alle gleichzeitig auf sie ein. Roxanne schüttelte den Kopf und ging zum Herd, um sich eine Tasse Kaffee einzugießen. »Er schläft jetzt. Das viele Reden hat ihn müde gemacht.«

»Vielleicht geht es ihm ja noch länger wieder gut.« Nervös spielte Lily mit ihrer Perlenkette. »Das könnte doch sein, oder?« Als sie den Ausdruck in Roxannes Augen sah, wandte sie den Blick ab. Immer wieder flackerte die Hoffnung in ihr auf, und es war schwer, sie endgültig begraben zu müssen. »Es war so schön, wieder mit ihm reden zu können.«

»Ich weiß.« Roxanne hielt die Tasse mit beiden Händen umfaßt. »Wir könnten ihn noch einmal untersuchen lassen.«

Lily stieß einen kleinen, gequälten Seufzer aus und schob das Sahnekännchen auf dem Küchentisch hin und her. Sie wußten alle, wie anstrengend und verwirrend diese Untersuchungen für Max waren und wie qualvoll für die, die ihn liebten.

LeClerc war der einzige, der ihr antwortete. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das mußt du entscheiden, ma chère

»Ich möchte ihn am liebsten in Ruhe lassen«, seufzte Roxanne. »Aber ich denke, wir sollten uns mit jedem Test einverstanden erklären, zu dem die Ärzte uns raten.« Sie holte tief Luft und blickte in die Gesichter der anderen. »Wie auch immer das Ergebnis ist, diesen einen Abend hatten wir, und dafür müssen wir dankbar sein.«

»Kann ich hoch und mich zu ihm setzen?« Mouse blickte auf seine Schuhspitzen. »Ich wecke ihn auch bestimmt nicht auf.«

»Natürlich, geh nur.« Roxanne wartete, bis Mouse und Alice gegangen waren, ehe sie sich an Luke wandte. »Warum bist du hier?«

»Das fragst du noch?«

»Wir waren uns einig, daß du nicht unangemeldet herkommst«, begann sie, doch die Wut in seinen Augen ließ sie verstummen.

»Meinst du im Ernst, ich wäre zu Hause sitzen geblieben und hätte Däumchen gedreht, nachdem Lily mich angerufen hat und mir von Max erzählte?«

»Schatz.« Lily ergriff ihre Hand. »Ich glaube, Max hätte gewollt, daß Luke herkommt.«

»Aber jetzt schläft er. Es ist also unnötig, daß du noch länger bleibst. Falls er morgen in guter Verfassung ist, kannst du so viel Zeit bei ihm verbringen wie du willst.«

»Verdammt großzügig von dir, Roxanne.«

Sie war so erschöpft, daß sie Mühe hatte, nicht die Fassung zu verlieren. »Ich muß zuerst an Max denken, aber du kannst mir glauben, daß ich dich nicht von ihm fernhalten will, ganz egal, was zwischen uns ist.«

»Was ist denn zwischen uns?«

»Darüber müssen wir doch wohl nicht hier und jetzt diskutieren?«

LeClerc begann leise vor sich hinpfeifend den Herd abzuwischen. Eigentlich sollte er sie allein lassen, aber seine Neugier war viel zu groß. Auch Lily rührte sich nicht vom Fleck. Sie verschränkte die Hände und beobachtete beide gespannt.

»Du bist aus meinem Bett aufgestanden und gegangen. Glaubst du etwa, ich ließ so mit mir umspringen?«

»Ach nein?« Wie konnte er es wagen, so zu reden! Aber sie war schließlich auch nicht auf den Mund gefallen. »Du hast die Unverschämtheit, mir mein Verhalten vorzuwerfen, ausgerechnet du? Du bist eines Abends weggegangen, um einen Job zu erledigen, und einfach nicht mehr wiedergekommen. Eine hübsche Variante der alten Geschichte über den Mann, der ein Päckchen Zigaretten kaufen geht und spurlos verschwindet, Callahan.«

»Ich hatte meine Gründe.«

Lily schaute von einem zum anderen wie ein Tennisfan in Wimbledon.

»Das schert mich einen Dreck.«

»Genau, dir geht es nämlich nur darum, mich so weit zu bringen, daß ich vor dir auf dem Boden krieche.« Er kam drohend einen Schritt näher. »Aber darauf wartest du vergeblich.«

»Dich kriechen zu sehen, interessiert mich nicht. Es sei denn, nackt über zerbrochenes Glas. Gut, ich bin mit dir ins Bett gegangen. Es war ein Fehler, eine elende Dummheit, ein Augenblick gedankenloser Lust.«

Er packte ihre Schultern. »Es mag vielleicht dumm oder gedankenlos gewesen sein. Aber ein Fehler war es nicht.« Seine Stimme wurde immer lauter. »Und wir werden die Sache jetzt klären, ein für allemal, selbst wenn ich dich fesseln und knebeln müßte, damit du mir zuhörst.«

»Das versuch nur, Callahan, und es bleiben von diesen Händen, auf die du so stolz bist, nichts anderes übrig als blutige Stümpfe. Mit deinen leeren Drohungen und deinen jämmerlichen …«

Aber er hörte ihr gar nicht mehr zu. Verblüfft sah Roxanne, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Ungläubig starrte er an ihr vorbei und ließ seine Hände sinken. »O Gott«, war alles was er sagte.

»Mama!«

Roxanne blieb beinahe das Herz stehen, als sie die Stimme ihres Sohnes vernahm. Sie drehte sich wie benommen um. In der Küchentür stand Nate und blinzelte schläfrig. Mit einer Hand rieb er sich über die Augen, mit der anderen zerrte er seinen ramponierten Plüschhund hinter sich her.

»Du bist nicht gekommen, mir einen Gutenachtkuß zu geben.«

»O Nate.« Ihr war plötzlich entsetzlich kalt, als sie sich bückte, um ihr Kind in die Arme zu nehmen. »Es tut mir leid. Ich wollte gleich noch zu dir kommen.«

»Ich hab auch gar nicht das Ende der Geschichte gehört, die Alice mir erzählt hat«, beklagte er sich und schmiegte gähnend den Kopf an ihre Schulter. »Ich bin vorher eingeschlafen.«

»Es ist ja auch schon spät, Baby.«

»Krieg ich noch ein Eis?«

Sie wollte lachen, aber es klang eher wie ein Schluchzen. »Auf keinen Fall.«

Luke starrte den kleinen Jungen regungslos und mit brennenden Augen an. Sein Herz war ihm bis in die Knie gerutscht, und er hatte das Gefühl, als zerreiße ihm etwas in der Brust. Das Kind hatte sein Gesicht. Sein Gesicht. Ihm war, als schaue er durch ein umgedrehtes Fernrohr und sähe sich selbst vor vielen Jahren – in einer Vergangenheit, die er nie gehabt hatte.

Mein Kind, dachte er. Gütiger Gott. Mein Kind.

Nachdem er nochmals ausgiebig gegähnt hatte, musterte Nate ihn ebenfalls neugierig. »Wer ist das?«

Obwohl sich Roxanne immer wieder ausgemalt hatte, wie sie ihren Sohn wohl seinem Vater vorstellen würde, war sie nun völlig ratlos. »Ach … er ist …« Ein Freund? Oder was?

»Das ist Luke«, mischte Lily sich hastig ein und legte Luke eine Hand auf den Arm. »Er war früher mein kleiner Junge, bevor er erwachsen wurde.«

»Ach so.« Nate lächelte freundlich und betrachtete diesen großen Mann mit dem schwarzen Haar, das zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war. Er fand, daß sein Gesicht beinahe so hübsch war wie das eines Prinzen in seinem Märchenbuch. »Hallo.«

»Hallo.« Luke staunte, wie ruhig seine Stimme klang, obwohl ihm die Kehle wie zugeschnürt war. Er mußte ihn unbedingt berühren und sich überzeugen, daß er nicht träumte. »Magst du Hunde?« fragte er und fühlte sich entsetzlich dumm.

»Das ist Waldo.« Gutmütig hielt Nate ihm den Plüschhund hin. »Wenn ich einen richtigen Hund kriege, nenne ich ihn Mike.«

»Das ist ein schöner Name.« Nur mit den Fingerspitzen strich Luke über Nates Wange, als befürchte er, der Junge könne sich auflösen wie eine Erscheinung.

Eher verschmitzt als schüchtern schmiegte Nate sein Gesicht an die Schulter seiner Mutter und strahlte Luke an. »Vielleicht hättest du auch gern ein Eis?«

Roxanne wandte den Blick ab. Der Schmerz und das ungläubige Staunen in Lukes Augen waren noch schlimmer zu ertragen als ihr quälendes Schuldgefühl. »Die Küche ist geschlossen, du gerissener Kerl.« Besitzergreifend drückte sie ihn an sich und schämte sich über den Drang, einfach mit ihm davonzulaufen. Nein, so feige wollte sie nicht sein. »Und für dich ist es höchste Zeit, daß du ins Bett kommst, ehe du dich noch in einen Frosch verwandelst.«

Er quakte übermütig und kicherte.

»Ich bringe ihn hoch.« Lily streckte die Arme nach ihm aus, ehe Roxanne protestieren konnte.

Nate wickelte eine von Lilys Locken um seine Finger und ließ seinen Charme spielen. »Liest du mir noch eine Geschichte vor? Ich hab's am liebsten, wenn du mir vorliest.«

»Na sicher. Jean?« Lily bemerkte amüsiert, daß LeClerc nach wie vor die blitzblanke Oberfläche des Herdes scheuerte. »Komm doch mit uns.«

»Sobald ich hier fertig bin.« Er seufzte, als Lily ihn drohend anfunkelte. »Ich komme ja schon.«

Nate ließ sich eine so günstige Gelegenheit natürlich nicht entgehen und begann sofort zu verhandeln, als sie draußen im Flur waren. »Kriege ich zwei Geschichten vorgelesen? Eine von dir und eine von dir.«

Roxanne schaute Luke schweigend an.

»Ich glaube …« Sie räusperte sich, da ihre Stimme unsicher klang, und versuchte erneut. »Ich glaube, mir ist nach etwas Stärkerem zumute als Kaffee.« Sie wollte sich umdrehen, aber Luke hatte blitzschnell ihren Arm gepackt und hielt sie fest.

»Er ist mein Sohn«, sagte er gefährlich leise. »Herrgott, Roxanne, dieser Junge ist mein Sohn. Meiner.« Er war so fassungslos, daß er sie schüttelte. »Wir haben ein Kind, und du hast es mir einfach verheimlicht. Verdammt noch mal, wie konntest du mir verschweigen, daß ich einen Sohn habe?«

»Du warst nicht hier!« rief sie und holte aus. Ihre Ohrfeige verblüffte beide. Erschrocken ließ sie die Hand sinken. »Du warst nicht hier«, wiederholte sie.

»Aber jetzt bin ich hier.« Er schob sie von sich, ehe er etwas tat, das er sich nie verzeihen könnte. »Ich bin seit zwei Wochen hier. ›Komm nicht unangemeldet vorbei, Callahan‹«, stieß er hervor, doch es klang eher gequält als wütend. »Es ging dir gar nicht um Max, sondern darum, daß ich unseren Sohn nicht sehen sollte. Du wolltest es mir nicht sagen.«

»Doch, das wollte ich.« Sie konnte kaum noch atmen. Nie im Leben hatte sie Angst vor ihm gehabt. Bis jetzt. Er sah aus, als sei er zu allem fähig. »Ich brauchte nur etwas Zeit.«

»Zeit.« Blitzschnell hatte er sie gepackt. »Ich habe fünf verfluchte Jahre verloren, und du brauchtest noch Zeit?«

»Verloren? Du? Und ich? Was hast du denn erwartet, wie ich reagiere, Luke, wenn du zurückkommst? Ach, hallo! Nett, dich wiederzusehen. Übrigens, du bist Daddy geworden. Möchtest du eine Zigarre?«

Er starrte sie einen Moment lang regungslos an und mußte gegen den Drang kämpfen, in blinder Zerstörungswut um sich zu schlagen. Alles in ihm schrie nach Rache. Er sah die Angst in ihren Augen, obwohl sie nicht zurückwich, und ließ sie los. Mit einem wüsten Fluch drehte er sich um und riß die Tür auf.

Draußen atmete er tief die schwül-heiße Luft ein und strich sich wie benommen mit den Händen über das Gesicht. Es kam ihm vor, als sei ihm ein Messer durchs Herz gestoßen worden.

Sein Sohn. Luke preßte die Hände gegen die Augen und stöhnte auf in einer Mischung aus Leid und Wut. Sein Sohn hatte ihn angeschaut, ihn angelächelt und ihn für einen Fremden gehalten.

Roxanne war ihm nach draußen gefolgt. Merkwürdigerweise war sie jetzt ganz ruhig. Es hätte sie nicht überrascht, wenn er sich umgedreht und sie geschlagen hätte. Sie hätte sich notfalls verteidigt, aber sie hatte keine Angst mehr. »Ich will mich nicht dafür entschuldigen, daß ich es dir verheimlicht habe, Luke. Ich habe getan, was ich für das beste hielt. Ob es nun richtig oder falsch war, ich würde es wieder tun.«

Er drehte sich nicht um, sondern starrte weiter auf den Springbrunnen, der sanft vor sich hinplätscherte.

Unser Sohn, dachte er. Wir haben ihn gemeinsam gezeugt, in Liebe und Lust und voller Freude. War er deshalb so schön, so vollkommen, so unglaublich prachtvoll? »Hast du gewußt, daß du schwanger warst, als ich ging?«

»Nein.« Sie ertappte sich dabei, daß sie sich nervös die Hände rieb, und ließ die Arme sinken. »Allerdings gleich danach. Mir war schlecht an jenem Nachmittag, erinnerst du dich? Es stellte sich heraus, daß es die typische Übelkeit in einer Schwangerschaft ist.«

Er steckte seine Hände in die Taschen und bemühte sich, ruhig und vernünftig zu sein. »War es schwierig?«

»Was?«

»Die Schwangerschaft«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Noch immer wandte er sich nicht zu ihr um. Er konnte es einfach nicht. »War es schwierig? Ging es dir schlecht?«

Diese Fragen hatte sie am allerwenigsten erwartet. »Nein«, antwortete sie unsicher. »Mir war ein paar Monate lang übel, aber dann lief alles wunderbar. Ich glaube, ich habe mich nie besser gefühlt.«

Die Hände in seinen Taschen waren zu Fäusten geballt. »Und bei der Geburt?«

»Es war kein Spaziergang, aber es war zu ertragen. Ein bißchen mehr als achtzehn Stunden, und Nathaniel war da.«

»Nathaniel.« Er wiederholte leise den Namen.

»Ich wollte ihn nicht nach irgend jemand anderem nennen. Ich wollte, daß er seinen eigenen Namen hat.«

»Er ist gesund.« Luke starrte weiterhin auf den Springbrunnen. Er bemühte sich die einzelnen Tropfen zu sehen, die durch die Luft perlten und wieder herabstürzten. »Er sieht … gesund aus.«

»Das ist er auch. Er ist nie krank.«

»Wie seine Mutter.« Aber er hat mein Gesicht, dachte Luke. Er hat mein Gesicht. »Er mag Hunde.«

»Nate mag fast alles. Außer Limabohnen.« Sie holte unsicher Atem und berührte zögernd seine Schulter. »Luke.« Er wirbelte so schnell zu ihr herum, daß sie einen Schritt zurückwich. Aber als er nach ihr griff, geschah es nicht im Zorn.

Er schlang einfach die Arme um sie und zog sie an sich. Sie spürte, wie aufgewühlt er war und strich unwillkürlich mit einer Hand durch sein Haar.

»Wir haben einen Sohn«, flüsterte er.

»Ja.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Wir haben einen wunderbaren Sohn.«

»Ich kann nicht zulassen, daß du ihn vor mir versteckst, Roxanne. Ganz egal, was du von mir denkst oder was du für mich empfindest. Das kann ich nicht.«

»Ich weiß. Aber ich will nicht, daß du ihm weh tust.« Sie löste sich von ihm. »Ich will nicht, daß du so wichtig für ihn wirst, daß du ihm fehlst, wenn du wieder gehst.«

»Ich will meinen Sohn. Ich will dich. Ich will mein Leben wiederhaben, und bei Gott, das alles hole ich mir zurück, Roxanne. Und du hörst mir jetzt zu.«

»Nicht heute abend.« Aber er hatte bereits ihre Hand ergriffen und zog sie über den Hof zum Arbeitszimmer. »Laß mich los«, befahl sie wütend. »Für heute reicht es mir. Ich bin schon durcheinander genug.«

»Ich habe fünf Jahre hinter mir, die eine einzige Qual waren, da wirst du es wohl noch ein paar Minuten aushalten können.« Er hob die zappelnde Roxanne kurzerhand hoch, riß die Tür auf und trug sie hinein.

»Was unterstehst du dich?« fauchte sie, als er sie auf einen der Tische setzte. »Du hast gerade von deinem Sohn erfahren, und statt in Ruhe mit mir darüber zu reden, wie es sich unter erwachsenen Menschen gehört, schmeißt du mich durch die Gegend, als sei ich ein Postpaket!«

»Wir werden nicht miteinander reden, weder in Ruhe noch wie Erwachsene oder sonstwie.« Er nahm sich ein paar Handschellen und reagierte schnell genug, um ihrer Faust auszuweichen, doch es war nur eine Finte gewesen. Mit dem zweiten Schlag traf sie ihn auf die Lippe. Sie begann zu bluten. »Statt dessen wirst du mir einfach mal zuhören!« erklärte er, packte ihre Hände und ließ die Handschellen zuschnappen.

»Du hast dich kein bißchen verändert.« Sie hätte sich vom Tisch gerollt, selbst auf die Gefahr hin, dabei mit der Nase auf dem Boden zu landen, wenn er sie nicht festgehalten und die Verbindungskette der Handschellen in einen Schraubstock geklemmt hätte. »Du bist immer noch ein richtiger Bastard und ein Tyrann.«

»Und du bist immer noch stur und dickköpfig«, entgegnete er zufrieden. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Roxanne versank in ein eisiges Schweigen. Wenn er reden will, dachte sie, soll er reden, bis er schwarz wird. Aber deswegen brauchte sie noch lange nicht zuzuhören. Sie konzentrierte sich vielmehr ganz darauf, sich aus den Handschellen zu befreien. Er war nicht der einzige, der Tricks im Ärmel hatte.

»Ich habe dich verlassen«, begann er. »Das kann und will ich nicht abstreiten. Ich habe dich verlassen und Max und Lily und alles, was mir etwas bedeutete. Mit zweiundfünfzig Dollar in der Tasche und den Einbruchswerkzeugen, die Max mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte, bin ich nach Mexiko geflogen.«

Roxanne schnaubte empört. »Samt Schmuck im Wert von etlichen hunderttausend.«

»Ich hatte keinen Schmuck. Ich bin nie an den Safe herangekommen.« Obwohl sie versuchte, nach ihm zu beißen, packte er ihr Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. »Es war eine Falle, hörst du? Es war von Anfang an alles arrangiert. Gott weiß, was mit dir geschehen wäre, wenn du bei mir gewesen wärst. Trotz allem war ich immer dankbar, daß du an diesem Tag krank warst und zu Hause bleiben mußtest.«

»Eine Falle – von wegen.« Sie riß sich los und verfluchte die Tatsache, daß sie bei den Entfesselungsnummern nie so gut gewesen war wie Luke und es auch nie sein würde.

»Er wußte es.« Die alte Wut stieg wieder in ihm hoch. Luke wischte sich das Blut von den Lippen. »Er wußte genau Bescheid. Er wußte alles über uns.«

Trotz des Unbehagens, das sie plötzlich überlief, fauchte sie: »Was soll das heißen? Willst du mir etwa weismachen, Sam wußte, daß wir vorhatten, ihn zu bestehlen?«

»Nicht nur das – er wollte es sogar.«

Sie preßte die Lippen zusammen und lächelte grimmig. »Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Callahan? Er hat mir gegenüber schon vor Jahren Anspielungen gemacht, daß er irgend etwas wisse. Damals, als wir ihm in Washington über den Weg gelaufen sind. Aber wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er es bestimmt irgendwie ausgenutzt und nicht seelenruhig zugeschaut, wie wir in sein Haus einbrechen und ihn um den Schmuck seiner Frau erleichtern.«

»Er hatte auch nicht vor, uns den Schmuck zu überlassen. Und er hat sein Wissen sehr wohl genutzt, Rox, nämlich um mich dafür büßen zu lassen, daß ich ihm damals vor vielen Jahren im Weg war, daß ich ihm seine verfluchte Nase gebrochen und ihn gedemütigt habe. Er hat es genutzt, um euch alle zu treffen, weil ihr die Unverschämtheit hattet, ihn aufzunehmen, ihm helfen zu wollen und ihn später weggejagt habt.«

Ein eisiger Schauder überlief sie plötzlich. »Wenn er so genau wußte, daß wir Diebe sind, warum hat er uns nicht auffliegen lassen?«

»Woher soll ich wissen, was in seinem kranken Hirn vor sich geht?« Luke wandte sich ab. Auf dem Tisch lagen drei Zinnbecher und einige bunte Bälle. Er begann gedankenverloren mit dem alten Spiel, während er fortfuhr: »Ich kann es nur vermuten. Wenn er euch verpfiffen hätte und es euch nicht gelungen wäre, zu entkommen, hätte er bestenfalls die Genugtuung gehabt, euch im Gefängnis zu sehen. So bekannt und angesehen wie die Nouvelles sind, hättet ihr sehr wahrscheinlich von den Schlagzeilen und dem ganzen Rummel letztlich sogar noch profitiert.« Seine Hände bewegten sich immer schneller. »Er wollte euch viel lieber leiden sehen und vor allem mich. Er hatte es seit langer Zeit gewußt, zumindest seit mehreren Monaten.«

»Aber wie denn? Es hat nie den Hauch eines Verdachts gegen uns gegeben. Wie soll so ein mieser kleiner Politiker das alles herausgefunden haben?«

»Durch mich.« Luke geriet aus dem Rhythmus. Er lockerte seine Finger und begann erneut. »Er hat Cobb auf mich angesetzt.«

»Wen?«

»Cobb. Der Kerl, mit dem meine Mutter zusammengelebt hat, als ich von ihr weglief.« Er schaute zu Roxanne, doch sein Gesicht war völlig ausdruckslos. »Der Kerl, der mich geprügelt hat, bis ich die Besinnung verlor, der mich eingesperrt hat, mich an die Abflußrohre im Bad fesselte, der mich für zwanzig Dollar an einen betrunkenen Perversen verkauft hat.«

Sie wurde bleich. Was er sagte, war entsetzlich genug, doch seine tonlose Stimme ließ ihr das Blut erstarren. »Luke.« Sie hätte ihn gern getröstet, aber die Handschellen machten ihr jede Bewegung unmöglich. »Luke, mach mich los.«

»Nicht, ehe du alles gehört hast. Alles.« Er nahm einen der Becher und sah, daß sich seine Finger auf dem Zinn abgezeichnet hatten, so fest hatte er zugedrückt. Es erschien ihm wie der sichtbare Beweis für die Scham, die er immer noch mit sich herumtrug und die er wohl auch nie loswerden würde. »Erinnerst du dich an den Abend, als wir draußen im Regen standen? Du hattest mir von diesem bebrillten Dreckskerl erzählt, der versucht hatte, über dich herzufallen, und ich geriet in maßlose Wut, weil ich genau wußte, wie das war. Der Gedanke war mir unerträglich, daß du … daß irgend jemand dich so behandelt hatte. Dann habe ich dich in die Arme genommen und geküßt. Ich wollte mich dagegen wehren, aber ich konnte es nicht. Ich habe dich so sehr begehrt. Und für einen kurzen Moment habe ich gedacht, es wäre richtig.«

»Das war es auch«, flüsterte sie. Sie hatte das Gefühl, als schließe sich der Schraubstock um ihr Herz und drücke es zusammen. »Es war wundervoll.«

»Und dann habe ich ihn gesehen.« Luke legte die Becher wieder hin. Jetzt war nicht die Zeit, herumzuspielen. Jetzt war es Zeit für die nackte Wahrheit. »Er ging direkt an uns vorbei und schaute mich an. In diesem Moment wußte ich, daß nichts in Ordnung war und wahrscheinlich auch nie sein würde. Deshalb habe ich dich ins Haus geschickt und bin ihm nachgegangen.«

»Was …« Sie biß sich auf die Lippen und erinnerte sich, wie betrunken Luke gewesen war, als er damals heimgekommen war. »Du hat ihn doch nicht …«

»Ihn umgebracht?« Er lächelte so bitter, daß sie fröstelte. »Es wäre besser gewesen, wenn ich es getan hätte. Wie alt war ich damals – zweiundzwanzig, dreiundzwanzig? Herrgott, ich hätte genausogut wieder zwölf sein können, solche Angst hat er mir eingejagt. Er wollte Geld – also gab ich ihm Geld.«

»Du hast ihn bezahlt? Aber warum denn?«

»Damit er das, was er wußte, für sich behielt. Damit er nicht an die Öffentlichkeit ging und erzählte, daß ich mich verkauft hätte.«

»Aber du hast doch gesagt …«

»Meinst du, die Wahrheit hätte irgend jemanden interessiert? Ich war verkauft worden, benutzt worden – und habe mich abgrundtief geschämt.« Er schaute sie an, und die wilde Verzweiflung in seinen Augen traf sie wie ein Stich ins Herz. »Und ich schäme mich immer noch.«

»Du hast doch nichts getan.«

»Ich war ein Opfer. Manchmal genügt das«, erwiderte er mit einem schroffen Schulterzucken. »Also habe ich ihn bezahlt. Wann immer eine Aufforderung von ihm kam, habe ich ihm die Summe, die er wollte, geschickt.«

»Jetzt mal langsam«, sagte sie entsetzt. »Soll das heißen, er hat dich die ganze Zeit über erpreßt, auch noch nachdem wir zusammen waren? Und du hast mir nie etwas gesagt? Du hast mir nicht mal so viel vertraut, um es mir zu sagen?«

»Herrgott! Ich habe mich geschämt! Ich habe mich darüber geschämt, daß ich nicht genug Mut hatte, ihm zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Ich hatte Angst, er würde irgendwann doch noch seine Drohung wahr machen und den Zeitungsschmierern erzählen, daß Max mich …« Er brach ab und fluchte darüber, daß ihm das herausgerutscht war.

Vor Scham und Wut wagte er es kaum, sie anzuschauen.