FÜNFTES KAPITEL

Zum erstenmal in ihrem Leben bekam Roxanne zu spüren, daß die ganze Familie sich gegen sie wandte, obwohl niemand etwas direkt sagte.

Es gab weder Vorhaltungen noch irgendwelche Ratschläge, was ihr beinahe lieber gewesen wäre, doch sie merkte, daß die Gespräche verstummten, wenn sie in ein Zimmer kam, und spürte die traurigen Blicke hinter ihrem Rücken. Sie versuchte, es ihnen nicht übelzunehmen, daß sie sie nicht verstanden. Sie wußten ja nicht, wie allein sie sich damals gefühlt hatte, schwanger und verlassen. Na ja, wirklich allein bin ich vielleicht nicht gewesen, sagte sie sich, während sie Nathaniel beobachtete, der im Hof mit seinen Autos spielte. Sie hatte eine Familie gehabt, ein Zuhause, war rückhaltlos von allen unterstützt worden.

Trotzdem konnte sie nicht vergessen, was Luke ihr angetan hatte. Lieber wollte sie zur Hölle fahren, als ihn jetzt auch noch zu belohnen und ihr Kind mit ihm teilen. Überhaupt, wer konnte sagen, wie sich das auf Nate auswirken würde? Es war viel zu riskant.

Warum sahen die anderen das nicht ein?

Sie schaute auf, als die Küchentür sich öffnete, und lächelte Alice zu, die in den Hof kam. Wenigstens eine Verbündete, dachte Roxanne. Alice kannte Luke nicht und hatte keine emotionale Bindung zu ihm. Sie würde ihr sicher recht geben, daß eine Mutter vor allem ihr Kind beschützen mußte. Und sich selbst.

»Ein böser Unfall«, meldete Nathaniel.

Interessiert sah Alice zu ihm hin. Das dünne blonde Haar fiel ihr ins Gesicht. »Sieht schauerlich aus«, nickte sie. »Ruf besser die Polizei.«

»Die Polizei!« krähte Nathaniel begeistert und begann, wie eine Sirene zu heulen.

»Das ist der dritte Unfall in fünfzehn Minuten.« Roxanne rutschte ein Stück zu Seite, so daß Alice sich zu ihr auf die Bank setzten konnte. »Die Zahl der Opfer wird immer größer.«

»Ja, diese Straßen sind tückisch.« Alice lächelte ihr hübsches, versonnenes Lächeln. »Ich habe versucht, ihm die Vorteile von Fahrgemeinschaften beizubringen, aber ihm ist ein Verkehrsstau lieber.«

»Besser gesagt, Verkehrsunfälle. Ich hoffe nur, das bleibt nicht so.«

»Ich glaube, da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.« Alice atmete genießerisch den Duft der Rosen ein. Sie liebte diesen Hof mit seinen schattigen Plätzen, wo man wunderbar nachdenken konnte. Da sie aus dem Norden stammte, fand sie die Atmosphäre hier im Süden einfach hinreißend. »Nach dem Kindergarten gehe ich mit Nate zum Jackson Square und lasse ihn dort eine Weile herumrennen.«

»Ich wünschte, ich könnte mitkommen. Ich habe immer das Gefühl, daß ich nicht genügend Zeit mit ihm verbringe, wenn ich mich auf ein Unternehmen vorbereite.«

Alice wußte über die beiden unterschiedlichen Sparten, in denen die Nouvelles tätig waren, Bescheid und hatte es mit philosophischer Gelassenheit akzeptiert. Sie war der Auffassung, daß durch die Diebstähle der übermäßige Reichtum einzelner ein wenig besser verteilt wurde. »Du bist eine wundervolle Mutter, Roxanne. Ich habe noch nie erlebt, daß du über deiner Arbeit Nate vergessen hättest.«

»Hoffentlich. Er ist für mich das Wichtigste auf der Welt.« Sie lachte, als er mit lautstarkem Getöse zwei Autos zusammenkrachen ließ. »Meinst du, er hat einen Hang zur Brutalität?«

»Eher eine gesunde Aggressivität.«

»Ein Glück, daß wir dich haben, Alice.« Mit einem Seufzer lehnte Roxanne sich zurück. Aber sie rieb nervös ihre Hände. »Alles schien so ruhig und gut geregelt. Ich hab's gern, wenn das Leben nach einer bestimmten Routine abläuft, weißt du? Vermutlich liegt das an der Disziplin, die man zum Zaubern benötigt und die ich von Kind an gelernt habe.«

»Ich würde nicht sagen, daß du eine Frau bist, die keine Überraschungen mag«, meinte Alice ruhig.

»Es gibt solche und solche. Ich will nicht, daß Nates Leben durcheinandergerät. Und meines auch nicht. Ich weiß, was das beste für ihn ist. Und ich weiß vor allem, was das beste für mich ist.«

Alice schwieg einen Moment. Sie war kein Mensch, der leichtfertig und ohne nachzudenken daherredete, sondern sie überlegte sich stets sorgfältig, was sie sagte. »Möchtest du, daß ich dir versichere, es sei richtig, Nates Existenz vor seinem Vater zu verheimlichen.«

»Es ist richtig.« Roxanne blickte zu ihrem Sohn und senkte vorsichtshalber die Stimme. »Wenigstens vorläufig. Er hat keine Rechte an ihm, Alice. Die hat er damals verloren, als er uns im Stich ließ.«

»Er wußte nicht, daß es Nate gab.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Mag sein. Das kann ich nicht beurteilen.«

Roxanne preßte die Lippen zusammen und fühlte sich verraten. »Du stellst dich also auch gegen mich, wie die anderen?«

»Das siehst du falsch, Roxanne.« Alice ergriff ihre Hand und drückte sie freundschaftlich. »Was immer du tust, wir stehen alle hinter dir. Auch wenn wir nicht damit einverstanden sind.« Seufzend schüttelte Alice den Kopf. »Ich kann nicht sagen, was ich an deiner Stelle machen würde. Und nur du kannst wissen, was du wirklich in deinem Herzen fühlst. Ich mag Luke, obwohl ich ihn erst seit einer Woche kenne. Irgendwie seid ihr beiden euch ziemlich ähnlich.«

»Du meinst also, ich sollte ihm vertrauen und ihm von Nate erzählen?«

»Du mußt tun, was du für richtig hältst. Aber an den Tatsachen änderst du nichts. Luke ist nun einmal Nathaniels Vater.«

Luke, Luke, Luke. Roxanne kochte innerlich, während sie ihn und Lily bei den Proben beobachtete. Mouse und Jake standen etwas abseits und waren mit irgendwelchen Basteleien beschäftigt.

Woran lag es nur, daß sich, seit er zurück war, plötzlich alles nur noch um ihn drehte? Sie haßte diesen Zirkus.

Es war grundfalsch gewesen, daß sie eingewilligt hatte, hier in seinem Wohnzimmer zu proben, das groß wie eine Scheune war. Dadurch hatte sie sich freiwillig in sein Revier begeben, wo er das Sagen hatte.

Aus der Stereoanlage erklang die Rockmusik, die er sich für seine Nummer ausgewählt hatte. Dabei haben wir immer mit klassischer Musik gearbeitet, dachte Roxanne und schob die Hände in ihre Hosentaschen. Immer. Es machte sie allerdings noch wütender, daß die Musik zu ihm paßte – und zu der Nummer, die er entwickelt hatte.

Sie war schnell, aufregend und sexy, und Roxanne wußte genau, daß das Publikum davon begeistert sein würde. Was ihre Stimmung noch mehr verfinsterte.

»Gut.« Luke wandte sich zu Lily und küßte ihre geröteten Wangen. »Wieviel Zeit, Jake?«

»Drei Minuten vierzig«, erwiderte er nach einem Blick auf die Stoppuhr.

»Ich glaube, wir könnten noch zehn Sekunden gutmachen.« Trotz der Klimaanlage schwitzte er, aber er wollte diese Illusion nun einmal besonders schnell vorführen. »Kannst du noch einen Durchgang aushalten, Lily?«

»Sicher.«

Was denn auch sonst, dachte Roxanne bitter. Ganz wie du willst, Luke. Wann immer du willst, Luke. Verärgert drehte sie sich um und zog sich in eine Ecke des Raumes zurück. Sie würde inzwischen die Nummer mit dem tanzenden Kristall proben. Neben dem riesigen Kamin stand ein Klapptisch, auf dem eine Anzahl Requisiten lagen.

Der geschliffene Kristall, der in allen Regenbogenfarben schimmerte, lag gut in ihrer Hand. Sie versuchte, im Geist die Musik Tschaikowskys zu hören, die abgedunkelte Bühne zu sehen, das bunte Scheinwerferlicht und sich selbst, von Kopf bis Fuß in strahlendes Weiß gekleidet und fluchte, als die laute Rockmusik sie immer wieder aus ihrer Konzentration riß.

Luke sah ihren erbitterten Blick und grinste. »Mouse, wie wäre es, wenn du schon mal alles für den Schwebeakt aufbaust?«

»Klar.« Mouse kam bereitwillig herbei.

»Alles tanzt nach deiner Pfeife, was?« sagte Roxanne, als Luke zu ihr kam.

»Das nennt man Teamarbeit.«

»Ich wüßte ganz andere Ausdrücke dafür. Es gefällt dir wohl, daß alle deine ergebenen Sklaven sind?«

»Aber, aber. Sieh die Sache mal so, Rox. Wenn wir diese Geschichte hinter uns haben, brauchst du mich nie wieder zu sehen – falls du nicht willst.«

»Ein sehr beruhigender Gedanke.« Verärgert merkte sie, daß ihr Herz schneller schlug. »Du mußt mir aber zuerst noch mehr über die Sache bei Wyatt erzählen. Irgend etwas verheimlichst du mir nämlich, und so was mag ich gar nicht.«

»Du auch«, erwiderte er ruhig. »Und ich mag so was ebenfalls nicht.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»O doch, das weißt du sehr gut. Da ist irgend etwas, das du mir nicht sagst, denn ich spüre genau, wie alle deswegen förmlich den Atem anhalten. Sag es mir. Wir kommen damit schon zurecht, egal was es ist.«

»Ach?« Sie funkelte ihn wütend an. »Du meinst also, es gibt etwas, das ich dir verheimliche? Was könnte das wohl sein? Laß mich nachdenken … vielleicht, daß ich dich verabscheue?«

»Nein. Das hast du mir seit über einer Woche immer wieder unter die Nase gerieben. Und übrigens verabscheust du mich nur, wenn du dich gewaltsam daran erinnerst.«

»Im Gegenteil, das macht mir gar keine Mühe.« Sie lächelte honigsüß.

»Weil du in Wirklichkeit immer noch verrückt nach mir bist.« Er küßte ihre Nasenspitze. »Aber wir wollen sachlich bleiben, nicht wahr?«

»Genau.«

»Konzentrieren wir uns also auf unsere Arbeit.« Sein Lächeln war beinah boshaft. »Dann sehen wir weiter.«

»Ich will zuerst mehr Informationen.«

»Die kriegst du auch. Genau wie du den Stein kriegst, wenn alles vorbei ist.«

»Warte.« Sie packte seinen Arm, als er davongehen wollte. Unsicher legte sie den Kristall zurück auf den Tisch. »Was hast du gesagt?«

»Daß der Stein dir gehört, ganz allein dir.«

Skeptisch musterte sie sein Gesicht, ob er es tatsächlich ernst meinte, und wünschte, sie könne ihn noch so gut durchschauen wie früher. »Warum?«

»Weil auch ich Max liebe.«

Diese schlichten Worte berührten sie tief. »Am liebsten würde ich dich hassen, Callahan«, brachte sie schließlich heraus. »Ich wünschte wirklich, ich könnte es.«

»Klappt nur leider nicht.« Er strich mit einem Finger über ihre Wange. »Ich weiß genau, wie das ist, denn ich wollte dich vergessen und habe mir von ganzem Herzen gewünscht, ich könnte es.«

Ihr Blick wurde weicher.

»Warum?« fragte sie beinahe gegen ihren Willen, da sie Angst vor der Antwort hatte.

»Weil mich meine Liebe zu dir regelrecht umgebracht hat und ich dauernd an dich denken mußte.«

Ihr Herz schlug immer schneller, und sie spürte, daß ihre Knie zitterten. »Glaub bloß nicht, du kriegst mich doch noch rum, Callahan.«

»Wollen wir wetten?« Er nahm ihr Hand. »Ich bin nämlich ganz sicher.«

»Fast fertig«, meldete Mouse und unterdrückte ein Grinsen, als er die beiden sah.

Roxanne hob die Arme, so daß Mouse die Drähte befestigen konnte, ohne jedoch den Blick von Luke zu wenden. Sie gab es nur sehr ungern zu, aber sie mochte diese Nummer. Sie war erotisch und anmutig, poetisch und dramatisch. Außerdem hatte es ihr Spaß gemacht, sich mit ihm über jede kleine Einzelheit zu streiten.

»Machen wir es mit Musik?« fragte sie.

»Ja. Ich suche sie aus.«

»Warum …«

»Weil du das Licht bestimmst.«

Sie runzelte die Stirn, aber es war schwer, ihm zu widersprechen, wenn er bereitwillig eine Gegenleistung anbot. »Und was für ein Stück ist es?«

»Smoke Gets in Your Eyes.« Er grinste, als sie angewidert stöhnte. »Von den Platters, Rox. Es ist zwar keine Klassik, aber eine klassische Nummer.«

»Wenn du eine Ahnung davon hättest, wie man eine Show thematisch aufbaut, wüßtest du, daß die Musik die gesamte Zeit über einheitlich sein sollte.«

»Als Profi solltest du wissen, daß eine Tempoveränderung mehr Spannung in die Sache bringt. Und jetzt achte auf deinen Einsatz.«

Sie nahm die Ausgangsposition ein, ihr Körper schwankte ein wenig, er streckte die Hände aus und winkte. Unwillig verdeckte sie ihr Gesicht mit den Armen und wandte sich ab. Ganz auf sie konzentriert, folgte er Schritt für Schritt wie ein Spiegelbild ihren Bewegungen, als seien sie durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden. Ihre Finger berührten sich zunächst flüchtig, dann etwas länger.

Roxanne fühlte sich wie unter seinem Bann. Seine Konzentration wirkte so stark, daß es ihr unmöglich gewesen wäre, den Blick abzuwenden.

Luke hob mit einer dramatischen Geste die Hände, Roxanne wich zurück, doch dann blieb sie stehen und wandte sich langsam wie in Trance zu ihm um.

Sie rührte sich nicht von der Stelle, als er näher kam. Seine Hand strich an ihrem Gesicht vorbei. Ihre Augen schlossen sich. Mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen umkreiste er sie, während sich ihre Füße vom Boden lösten, bis sie schließlich waagerecht in der Luft schwebte.

Seine Hände strichen über ihren Körper, ohne sie jedoch direkt zu berühren. Sie zitterte, was nicht allein an ihrer Anspannung lag. Durch ihre Wimpern beobachtete sie ihn und konnte es kaum noch ertragen, daß diese Hände sie nicht endlich wirklich berührten.

Er glaubte förmlich, ihren schnellen Herzschlag zu hören und merkte, daß er ebenfalls viel zu rasch atmete.

Er hatte diese Nummer bewußt romantisch und sinnlich angelegt. Aber er hatte nicht geahnt, welche Wirkung sie auf ihn selbst haben würde.

Er neigte sich dichter zu ihr. Seine Lippen schwebten über ihrem Mund, und er spürte, daß sie den Atem anhielt, um nicht zu stöhnen.

Um ein Haar wäre es vorbei gewesen mit seiner Beherrschung. Er nahm ihre Hand, die sie fest umklammerte, und dann begann auch er sich vom Boden zu erheben. Seine Blicke waren auf ihr Gesicht geheftet, während sie gemeinsam in der Luft schwebten. Als die Musik leiser zu werden begann, schob er eine Hand unter ihren Kopf und senkte den Mund auf ihre Lippen.

Ganz allmählich drehten sich ihre Körper, bis sie wieder in der Vertikalen waren. Als ihre Füße den Boden berührten, hielt er sie weiterhin umarmt.

Jake drückte auf die Stoppuhr und räusperte sich. »Schätze, die Zeit will wohl niemand wissen«, murmelte er und steckte die Uhr in die Tasche. Dann schaltete er schnell ab. »Ach, übrigens, wir müssen noch einkaufen gehen, Mouse.«

»Wieso?«

»Na, wir brauchen doch diese Ersatzteile.«

Mouse blinzelte verwirrt. »Welche Ersatzteile?«

Jake verdrehte die Augen und deutete mit einer Kopfbewegung auf Roxanne und Luke. Sie schauten sich tief in die Augen und schienen nichts von ihrer Umgebung wahrzunehmen.

»Oh, ich brauche auch noch etwas.« Lily seufzte gerührt und packte Mouses Hand. »Ich brauche sogar eine ganze Menge. Gehen wir.«

»Aber die Proben …«

»Ich glaube, davon wollen sie heute nichts mehr wissen«, grinste Jake, als er Mouse aus dem Raum zog.

Die Stille weckte Roxanne aus ihre Benommenheit. »Es … es hat lange gedauert.«

»Schon.« Sanft ließ er seine Hände über ihren Rücken gleiten, ehe er sie von den Gurten befreite, die für diese Levitation nötig waren. »Aber es wird ein verdammt tolles Finale.«

»Wir müssen aber noch daran arbeiten.«

»Ich rede nicht von diesem Finale.« Er streifte ebenfalls seine Gurte ab. »Ich rede von dir und mir.« Ohne den Blick von ihr zu wenden, streichelte er ihre warme glatte Haut. »Und darüber.«

Als er sie küßte, hielt sie sich instinktiv an seinen Schultern fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Glaub nicht, du könntest mich verführen.«

Er strich mit seinen Lippen über ihre Wange und spürte, daß sie zitterte. Er wußte genau, wo er sie küssen mußte. »Sollen wir wetten?«

»Ich kann jederzeit gehen.« Aber ihr Körper drängte sich ihm entgegen, und sie erwiderte leidenschaftlich seine Zärtlichkeiten. »Ich brauche dich nicht.«

»Ich dich auch nicht.« Er hob sie hoch und ging zur Treppe. Wenn ich nur endlich aufhören würde zu zittern, käme ich sicher rasch wieder zur Besinnung, dachte sie und klammerte sich an ihn. Aber neben dieser schrecklichen Sehnsucht, die sie erfüllte, erschien alles andere so klein und unwichtig. Mit einem Stöhnen preßte sie ihr Gesicht an seinen Hals.

»Rasch«, war alles, was sie sagte.

Wenn er gekonnt hätte, wäre er die Treppe hinaufgeflogen. Nachdem er die Schlafzimmertür mit einem Fußtritt hinter sich geschlossen hatte, suchte er wieder ihre Lippen. Er war froh, daß er in weiser Voraussicht wenigstens ein Bett gekauft hatte.

Und es war ein prachtvolles, bequemes Himmelbett, das nachgab wie eine Wolke, als sie daraufsanken. Für einen kleinen Moment nahm er sich Zeit, sie anzuschauen, um sich zu erinnern – und um auch sie zu zwingen, sich daran zu erinnern, wie es vor fünf Jahren gewesen war. Was sie füreinander empfunden und miteinander geteilt hatten.

Er sah ihr an, daß sie sich dagegen wehrte, und begann sie zu küssen. Er war so erregt, daß er das Gefühl hatte, sofort zu explodieren, wenn sie ihn berührte. Deshalb packte er ihre Handgelenke und hielt ihre Arme fest.

Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Das Herz schlug ihr bis in die Kehle, als sie seine Lippen auf ihrem Körper spürte.

Unzählige Male hatte er davon geträumt, in unzähligen einsamen Zimmern, an unzähligen Orten. Doch gegen die Wirklichkeit waren alle Fantasien blaß und farblos. Ihm war, als genieße er ein Festmahl nach langen Jahren des Fastens. Und diesen Genuß würde er sich niemals wieder versagen.

Auch Roxanne gab sich rückhaltlos den Empfindungen hin, die sie überfluteten. Sie hatte beinah vergessen, wie es war, vor Sehnsucht fast zu verbrennen. Jede Berührung seiner Lippen war unendlich vertraut und gleichzeitig doch so fremd, daß sie erschauderte.

Mit vibrierender Stimme seufzte sie seinen Namen. Jedes Aufstöhnen steigerte seine Erregung bis ins Maßlose. Er ließ ihre Hände los und zerrte ihr wie von Sinnen die Kleider vom Leib. Atemlos genoß er den Anblick ihres nackten Körpers. Vor lauter Eile, ihn endlich ganz zu spüren, zerriß sie sein Hemd. Die Hitze, die sich in ihr staute, drohte sie zu verzehren. Sie wollte mit ihm gemeinsam den Gipfel erreichen, sie wollte, daß er das Feuer in ihr noch weiter anheizte. Gleich beim ersten ungestümen Stoß bäumte sie sich ihm entgegen und schrie auf, gequält und triumphierend zugleich.

Er spürte, daß sie ihn mit ihren Beinen umschlang, und stieß wieder und immer wieder zu, bis er ebenfalls befreit aufschrie.

Endlich war er wieder zu Hause.

Er blieb regungslos liegen, ohne sich von ihr zu lösen. Es war alles ganz anders als damals. Früher hätte sie zärtlich seinen Rücken gestreichelt, sich an ihn gekuschelt oder ihm etwas ins Ohr geflüstert, um ihn zum Lachen zu bringen.

Doch heute herrschte nur bedrückendes Schweigen.

Seine Bestürzung verwandelte sich in Zorn. »Sag mir nicht, daß es dir leid tut.« Er richtete sich auf und schaute sie an. »Dir kannst du das vielleicht einreden, aber mir nicht.«

»Ich habe nicht gesagt, daß es mir leid tut.« Es fiel ihr schwer, die Ruhe zu wahren, da sie das Gefühl hatte, ihr ganzes Leben sei gerade in den Grundfesten erschüttert worden. »Ich wußte, daß es passieren würde. Schon als ich in meine Garderobe kam und dich dort sah, wußte ich es.« Sie schaffte es, gleichgültig mit den Schultern zu zucken. »Ich mache oft Fehler, ohne daß es mir leid tut.«

Seine Augen blitzten, und er rollte sich zur Seite. »Du verstehst es wahrhaftig noch immer, einen Tiefschlag zu landen.«

»Darum geht es gar nicht.« Sie zwang sich, ganz sachlich zu bleiben – auch wenn es sie fast umbrachte. »Ich habe es genossen, wieder mit dir zu schlafen. Wir haben im Bett immer schon gut zusammengepaßt.«

Er packte ihren Arm, ehe sie nach ihrem Sweatshirt greifen konnte. »Wir haben in jeder Beziehung gut zusammengepaßt.«

»Das war einmal«, entgegnete sie. »Ich will ehrlich sein, Callahan. Seit du weg warst, habe ich mir nur selten ein Abenteuer gegönnt.«

Er konnte es nicht ändern, aber er fühlte sich geschmeichelt. »Ach ja?«

»Du brauchst gar nicht so selbstzufrieden dreinzuschauen«, erwiderte sie. Es war merkwürdig, daß er sie gleichzeitig in Wut bringen, erregen und amüsieren konnte. »Es war meine eigene freie Entscheidung. Ich war einfach zu beschäftigt.«

»Gib es zu.« Er strich lässig mit einem Finger über ihre Brust. »Ich habe dich für alle anderen verdorben.«

Sie stieß seine Hand zur Seite, ehe sie doch noch den Rest ihres Stolzes über Bord warf. »Du hast mich zufälligerweise erwischt, als ich …« Verletzlich war nicht gerade das richtige Wort. »Eben zum rechten Zeitpunkt. Ich glaube, damals hätte jeder erfahrene Mann diese Wirkung auf mich gehabt.«

»Ach, meinst du?«

Ehe sie reagieren konnte, hatte er sie zurück auf das Bett gedrängt und bewies ihr mit seinen Händen, welches Feuer er entfachten konnte.

»Es ist bloß Sex«, keuchte sie.

»Na klar.« Er küßte die feuchte Haut zwischen ihren Brüsten. »Und ein Diamant ist bloß ein Stein.« Mit den Zähnen neckte er ihre Brustwarzen, bis sie sich hilflos an ihn klammerte.

Sie war vollkommen erschöpft. Als es ihr endlich gelang, die Augen zu öffnen, erfüllte ein sanftes Zwielicht den Raum. Sie schaute sich um.

Das Zimmer war vollkommen leer bis auf das Bett, in dem sie lagen, und einer riesigen Kommode aus dunkel schimmerndem Kirschholz. Daneben lagen zahllose Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut. Weitere hingen über der Türklinke und stapelten sich in den Ecken.

Das sieht ihm ähnlich, dachte sie. Genauso typisch war es, daß er sich zu Seite gedreht hatte, damit sie sich an ihn schmiegen konnte.

Wie oft hatten sie so nebeneinander gelegen? Früher wäre sie zufrieden und mit einem Gefühl unendlicher Geborgenheit direkt in den Schlaf gesunken.

Aber zu vieles hatte sich inzwischen geändert.

Doch als sie sich aufsetzen wollte, hielt er sie fest.

»Luke, was eben passiert ist, ändert überhaupt nichts.«

Er öffnete ein Auge. »Baby, ich bin gern bereit, dir nochmals zu beweisen, daß ich recht habe. Du mußt mir nur ein paar Minuten Zeit lassen.«

»Das einzige, was wir bewiesen haben ist, daß wir immer noch hervorragend aufeinander eingespielt sind.« Ihr Zorn war fast völlig verschwunden. Statt dessen empfand sie eine unendliche Traurigkeit, die noch viel schlimmer war. »Es ist gar nicht nötig … was zur Hölle ist das?« Sie starrte entgeistert auf seine Schulter.

»Ein Tattoo. Hast du noch nie eine verdammte Tätowierung gesehen?«

»Doch.« Skeptisch musterte sie in dem dämmrigen Licht die Abbildung eines zähnefletschenden Wolfs direkt über den Narben auf seinem Rücken und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Jesus, Callahan, bis du übergeschnappt oder was?« meinte sie so unbekümmert wie möglich.

»Tattoos sind in«, entgegnete er verlegen.

»Na klar, und du mußt solche Verrücktheiten natürlich mitmachen. Warum zum Teufel hast du dich von jemandem so verunstalten …« Sie brach erschrocken ab. »Tut mir leid.«

»Schon okay.« Er strich sich das Haar aus den Augen und setzte sich auf. »Mir ging's eines Abends ziemlich mies, ich war ein wenig betrunken und gereizt wie eine wütende Klapperschlange. Statt mich nach einem passenden Opfer umzuschauen, dem ich den Schädel einschlagen könnte, beschloß ich, mir ein Tattoo zuzulegen. Außerdem hat es mich daran erinnert, wo ich herkomme.«

Sie musterte sein verschlossenes Gesicht und das dunkle Funkeln in seinen Augen. »Also, ich glaube beinahe, daß Lily mit ihrer Theorie recht hat, daß du einfach den Verstand verloren hattest.«

»Sag Bescheid, wenn du die Wahrheit hören willst. Ich werde dir alles bis in die letzten Einzelheiten erzählen.«

Sie wandte den Blick ab, ehe sie ihre Vorsätze vergaß und sich wieder von ihm einwickeln ließ. »Das würde auch nichts ändern. Du kannst mir erzählen, was du willst. Die letzten fünf Jahre kannst du dadurch nicht ungeschehen machen.«

»Du läßt es mich ja nicht einmal versuchen.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und strich ihr Haar zurück. »Ich muß mit dir reden, Rox. Es gibt so vieles, was ich dir sagen muß.«

»Wozu, Luke? Die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen. Und du ahnst nicht einmal, wie sehr sich alles geändert hat.« Roxanne merkte bestürzt, daß sie drauf und dran war, mehr zu sagen, als klug war, und wußte, daß sie keine Sekunde länger bleiben durfte. »Wie es weitergehen soll, muß ich mir erst überlegen.«

»Was gibt es da zu überlegen? Es geht auf alle Fälle weiter.«

»Ich habe mich daran gewöhnt, allein zu sein.« Sie holte tief Atem. »Und jetzt wird es Zeit, daß ich nach Hause komme.«

»Bleib bei mir«, bat er leise.

»Ich kann nicht«, erwiderte sie, obwohl die Versuchung beinah unwiderstehlich war.

»Du willst nicht.«

»Gut, ich will nicht.« Sie stand auf und begann sich anzuziehen, ehe sie doch noch schwach wurde. »Ich habe mir mein Leben ganz gut eingerichtet. Ob du bleibst oder wieder gehst, ist letztlich egal. Wenn ich dir etwas schulde, dann Dankbarkeit dafür, daß ich stark genug geworden bin, mit allem fertig zu werden, was auch immer kommen mag.« Sie hob den Kopf und wünschte, sie wäre tatsächlich so kühl und gelassen wie ihre Worte klangen. »Also – danke, Callahan.«

Ihre Kaltblütigkeit traf ihn wie ein Messerstich. »Keine Ursache.«

»Bis morgen.« Sie ging aus dem Zimmer, doch schon an der Treppe begann sie zu rennen.